Humanismus heute ?
Ein Festvortrag für das Leopoldinum Passau,
19. März 1987 - Von-Carl-Amery
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Beginnen wir - wie sich das immer gut macht - unsere Betrachtung über "Humanismus heute" (hinter welchen Titel wir gewissenhaft ein Fragezeichen setzen) mit einer vergnüglichen Tatsache. Das Wilhelmsgymnasium zu München — eine bekannte Anstalt, die nicht nur mein Vater und zwei meiner Söhne, durchlaufen haben, sondern auch Heinrich Himmler — ist in einem Bau aus der Zeit Max des Zweiten untergebracht, einem sehr schicklichen. An der schmalen Südseite trägt er zwei Nischen, in denen ein griechischer Dichter und ein römischer Feldherr untergebracht sind.
Der Feldherr, Julius Caesar, ist durch eine Tafel identifiziert, auf der in Quadrata-Schrift zu lesen steht: Haec studia adolescentiam alunt. Mit den Studien, welche die Jugend kräftigend nähren, sind zweifellos die humanistischen gemeint, und die einladende Geste Caesars bezieht sich offensichtlich auf die hoffende Jugend, die durch die Tore der Schule einziehen soll.
Nun, Jahrzehnte nach meiner Gymnasialzeit stieß ich zufällig auf den Textzusammenhang dieses Zitats. Es stammt aus DE BELLO GALLICO, und zwar aus einem Exkurs, in dem Caesar die gesellschaftlichen Verhältnisse der keltischen Gallier beschreibt. Die jungen Edelinge, so schreibt er, schlagen sich die Tage mit Sport, mit Jagd, mit wilden Ritten und handfesten Gelagen um die Ohren, und mit knochen-trockenem Humor kommentiert er abschließend: HAEC STUDIA ADOLESCENTIA ALUNT — mit einem solchen Programm wird die gallische Jugend großgezogen ...
Typisch fürs 19. Jahrhundert, könnte man sagen — aus dem Bau der Antike werden ein paar Legosteine herausgelöst, aus denen man sozusagen einen auto-thematischen Humanismusbetrieb zusammensetzt, ein Florilegium von Schulweisheiten; alte Humanisten haben das wohl noch im Ohr: O me dareis anthropos u paideuetai — non scholae sed vitae discimus — multa tulit fecitque puer, sudavit et alsit — nulla dies sine linea — und schließlich, in unheilvoll-gradliniger Verlängerung: o xein, anggelein — sowie dulce et decorum est pro patria mori ...
Und der Brockhaus von 1884 (man schrieb damals »Conversations-Lexikon« noch mit C) schreibt denn auch kritisch-offen:
»Wenn hier ursprünglich die Einführung der Jugend in die Literatur und in den Geist der alten Völker der leitende Gesichtspunkt war, so ist nicht zu verkennen, daß in der Folge vielfach das Mittel dazu, der Sprachunterricht, zum alleinigen Zweck wurde und an die Stelle der frischen Lebendigkeit ein geistloser Formalismus trat...«
So weit, so gut — oder so schlecht. Jeder oder fast jeder, der ein humanistisches Gymnasium besucht hat, weiß, daß dies oft so gewesen ist; aber auch jeder oder fast jeder, der es besucht hat, wie etwa der Leopoldinum-Abiturient des Jahrgangs 1940, weiß, daß es oft und oft auch ganz anders gewesen ist. Weniger der Plan von oben, aus den Tiefen der Bildungsgeschichte oder vom Münchener Salvatorplatz, wo das Kultusministerium seit eh und je wirkt, als vielmehr das Charisma und das Verantwortungsgefühl des Lehrers — sowie der kaum konkret greifbare »Geist der Klasse« entschieden darüber, welche Erfahrung überwog. Ich kann mir auch nicht vorstellen, daß das heute anders sein sollte.
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Aber wenn wir die Frage »Humanismus heute?« nicht aufgrund mehr oder weniger gemischter Erfahrungen, sondern prinzipiell stellen, müssen wir etwas weiter ausholen, müssen hinter den »Zögling Törless« und die »Feuerzangenbowle«, hinter Musil und Torberg und Heinrich Spoerl zurück, nach guter Humanisten-Tradition AD FONTES, zum Ursprung der humanistischen Geistesbewegung zurück, um überhaupt einen Stand-Punkt zu finden, von dem aus wir die Frage wenn nicht aushebeln, (dommy pa sto, schon wieder so ein Zitat!), so doch ein Stück bewegen können — aus der Gegenwart, vielleicht, in eine verhangene Zukunft hinein.
Denn eines ist klar: als Gesamt-Phänomen ist die Antike nicht zu bewältigen, ist sie kein gangbares Programm. Sie ist ein Kosmos, der sicher vielfältiger ist als unsere Gegenwart — eine Gegenwart, in der nicht nur jeden Tag eine Tier- und Pflanzenart, sondern auch eine Sprache und eine ethnische Kultur ausstirbt. Bilden, Bildung haben heißt schließlich Vor-Bilder haben, und Vor-Bilder zu suchen heißt im voraus zu urteilen, Vor-Urteile in einem ganz nüchternen, nicht abwertenden Wortsinn zu entwickeln. An welche Antike sollen wir uns denn halten?
An die Lakedaimonier mit ihrer pädagogischen Päderastie, ihrer Geheimpolizei, ihren Kindsaussetzungen? An das freche, unendlich gescheite, unendlich mißtrauische, unendlich ausbeuterische Athen? An die Römer mit ihrer Steinzeit-Religiosität und ihrer unglaublichen Begabung für Propaganda? Keine moderne Literatur reicht auch nur entfernt an eine Seite attischer Prosa heran — aber was hat Thukydides geschildert, was hat Demosthenes bewirkt? Es gibt kein goldeneres Latein als das Ciceros — aber was für eine traurige — und oft genug verdächtige Figur macht er nicht in den Tagen der späten Republik, in einer Epoche der unglaublichsten Schändlichkeiten! Wo finden wir, allein, den echten Homer: in der steinernen Schicksals-Traurigkeit der Ilias oder dem prachtvollen Seefahrer- und Kriminal-Roman der Odyssee?
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Nein, ein Ordnungs-Gitter, ein Auswahl-Schema ist notwendig, um ein humanistisches Programm zu erstellen, so oder so; und die Geschichte des Humanismus im engeren Sinne ist die Geschichte solcher Programme — oft genug von Programmen, die einander bitter bekämpften. Davon soll, bei unserem Weg AD FONTES, zu den Ursprüngen, zunächst die Rede sein.
Die zeitlichen Daten sind ziemlich klar. Der Humanismus läuft zeitgleich mit der Renaissance, ihre Anfänge sind die seinen, und diese Anfänge sind politisch-gesellschaftlich: sie sind der wichtigste Teil der Geschichte des ausgehenden Mittelalters und der anhebenden Neuzeit.
In gewisser Weise hebt der Humanismus an mit der Niederlage Barbarossas gegen Mailand. Dem Vorort eines italienischen Städtebundes, in Koalition mit einem relativ modern organisierten Papsttum, gelang es, sich gegen die geballte Macht des feudal verfaßten Kaisertums zu behaupten. Von da an war der Aufstieg der Signorien, des frühen Abenteurer-Kapitalismus, unaufhaltsam; und seine Ideologie war bereits nicht mehr mittelalterlich. Noch ein paar Jahrhunderte tobte dort der Kampf der Guelfen gegen die Ghibellinen — er endete mit der Enthauptung Konradins, des letzten Staufers. Es bedurfte des Falles von Konstantinopel 1453, um die endgültigen Voraussetzungen eines humanistischen Programms zu schaffen: die volle Einbeziehung der griechischen Quellen, mächtig gefördert durch byzantinische Flüchtlinge, die nach Italien kamen. Aber was wohl ebenso wichtig war: der westeuropäische Norden, der deutsch-französisch-englische Kulturkreis, schloß sich dieser Bewegung an.
Keine Frage: die Bewegung war eine Revolte. Sie trug alle Merkmale einer Kulturrevolution, wie sie noch das XX. Jahrhundert kennt. Das Ursprüngliche wurde gegen die Verfremdung und Verkrustung, die Vernunft gegen den Aberglauben, die Jugend gegen die Herrschaft der Greise aufgerufen: »Die Jugend blüht, die Geister erwachen — es ist eine Lust zu leben«. Die Parole stammt von einem Laien, einem Ritter, einem desperaten Abenteurer — Ulrich von Hutten.
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Aber wichtiger als Hutten war jemand wie Erasmus von Rotterdam — formal wie inhaltlich: Epistolae obscurorum virorum — »Briefe der Dunkelmänner«. Mit diesem Titel schuf der zarte, pazifistische Gelehrte, der Freund des Thomas Morus, einen Topos, eine Kampf-Front, die in kommenden Jahrhunderten so viel wert war wie zehn Divisionen — den Topos des Licht-Kampfes der Vernunft gegen die erstickende, abergläubische Tradition.
Und fast gleichzeitig erstand das humanistisch-pädagogische Programm im engeren Sinne. Federführend war, zum Ruhme Deutschlands sei's gesagt, dabei ein Nürnberger Patrizier, Willibald Pirckheimer. Sein Lehrplan (man muß jetzt von einem solchen sprechen) liest sich heute wie das Manifest einer progressiven Frei-Schule, etwa nach Steiner oder Montessori. Fenster sollten da aufgestoßen, die Jugend vom bedrückenden Drill der Scholastik befreit, mit den bunten, anregenden Bildern der Antike genährt werden — von den Fabeln des Äsop bis zu den griechischen Tragikern. (Schwierigkeiten des Sprachenlernens, so scheint es, haben damals nicht existiert — oder Willibald Pirckheimer und seine Freunde bemerkten sie nicht...)
Hinter all dem stand die Annahme, daß mehrere Jahrhunderte lang der Geist Europas in Fesseln gelegen hatte — und zwar waren diese Fesseln nichts anderes als der Entzug, die Unterdrückung der FONTES, der Quellen abendländischer Bildung, die in der mittelmeerischen Antike lagen und liegen.
Das führt natürlich zwangsläufig zu einer Rückfrage: stimmte diese Annahme überhaupt? Hatte im Mittelalter wirklich ein Wille, eine (sagen wir, von der Kirche gesteuerte) Sabotage der Antike vorgelegen? Hatten sich die Mächte der Unterdrückung wirklich fast ein Jahrtausend lang so finster, so entschlossen vor die Quellen, die FONTES gelegt, daß diese nicht mehr sprudeln konnten, sodaß es der befreienden humanistischen Tat bedurfte?
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Die schlichte Antwort ist Nein. Das Mittelalter (um einmal den vergröbernden Begriff zu verwenden) hatte in diesem Sinne keinen anti-humanistischen, keinen anti-antiken Komplex. Es hatte allerdings ein anderes Ordnungs-Schema, ein anderes Begriffs-Gitter verwendet, um, auf seine Weise, das antike Erbe zu verarbeiten. Und dieses Begriffs-Gitter war, auf gewisse Weise, sogar »wissenschaftlicher« als das der Humanisten der Renaissance.
Einer der besten Belege hiefür, die ich kenne, ist die »Weltchronik« des Otto von Freising, eines der gewichtigsten Historiker des mittelalterlichen Abendlandes. Er verwendet ein langes Kapitel darauf, zu demonstrieren, wie die Vorsehung das augusteische Zeitalter, den Beginn der römischen Kaiserherrschaft, mit dem Erlösungswerk Christi verknüpfte. Die mittelmeerische Ökumene, die PAX ROMANA auf der Grundlage der hellenistischen Kultur, beschreibt er als die unentbehrliche Infra-Struktur (um ein blasses modernes Wort zu gebrauchen) für die Ausbreitung der Frohbotschaft und damit das Wachsen der CIVITAS DEI, der Stadt Gottes in einem (etwas vergröberten und vereinfachten) augustinischen Sinne. Ja, das ist wohl entscheidend für das vor-humanistische Schema der Rezeption der Antike: ihre logische (man ist versucht zu sagen ihre hegelianische) Synthese ist das römische Kaisertum, das nun fast ungebrochen, wenn auch ständig angefochten, die weltliche Grundlage für den mählichen Bau der CIVITAS DEI wurde.
Es ist deshalb völlig logisch, daß der beliebteste mittelalterliche Autor der Antike Vergil war. Er wurde zum Hohenpriester und Kronzeugen des neuen christlichen Äons. Die berühmte Stelle in den Eklogen (die Stelle von dem Kind, mit dem der novus ordo saeclorum, die neue Ordnung des Äons, geboren wird) ist nicht nur in der Kathedrale von Siena in Stein gefaßt — die ganze augusteische Ideologie der Aeneis wurde im Mittelalter voll und freudig rezipiert.
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Der letzte, schon spätherbstliche Beweis für die Stärke dieses Schemas ist Dante. Nicht nur, daß ihn Vergil durch Hölle und Purgatorium führt — im untersten Höllenkreis, dem des Verrats, werden Judas, Brutus und Cassius, also die Archetypen des Abfalls von weltlicher wie himmlischer Herrschaft, gleichwertig von den Kiefern Satans zermalmt. (Dante war, zur Erinnerung sei's gesagt, Ghibelline, also Anhänger der Kaisermacht.)
Diesem Schema widerspricht nun leidenschaftlich der neue Geist des Humanismus. Er setzt neue Wertungen; und er tut dies, nicht zuletzt, mit den Werkzeugen der Philologie. Dem Kaisertum der Antike konfrontiert er neue »Goldene Zeitalter«: ein griechisches und ein römisches — sie sind an der Qualität ihres Griechisch bezw. ihres Lateins erkennbar.
Das »beste« Griechisch: das ist das Attische des perikleischen Athen — und das »beste« Latein ist das Ciceros i. e. der ausgehenden Republik. Diese philologische Klassifizierung eignet sich nicht nur hervorragend zur Polemik (siehe Erasmus von Rotterdam) — sie fällt auch zusammen mit den Interessen der aufstrebenden Mächte, eben der italienischen Republiken und der im europäischen Westen aufsteigenden Königreiche. Dem Imperium wird, zunächst durchaus geschichtsmächtig, die Republik entgegengesetzt.
Gleichzeitig (und darüber täuschen keine christlich-aufklärerischen Bekenntnisse der Humanisten hinweg) wird eine neue Mythologie gleichwertig neben das Christentum gesetzt — eine Mythologie der Antike, die von nun an, mit den größten künstlerischen Gewinnen, einige Jahrhunderte lang die Kunst und die Literatur befruchtet. Während in den Kirchen noch der christliche Kosmos herrscht, dominiert in den Residenzen die sinnliche Pracht der polytheistischen Apotheosen.
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Aber greifen wir nicht vor. Verharren wir zunächst auf dem neuen, dem von der Renaissance, das heißt den Interessen der italienischen Stadtstaaten einschließlich des Kirchenstaates, geförderten Umwertung der Antike. Diese Umwertung hatte von Anfang an revolutionären Charakter — wenn wir revolutio im Wortsinn als »Rückwälzung«, d. h. als Wiederherstellung idealer Zustände verstehen. (Hannah Arendt hat uns gelehrt, diesen Wortsinn in den großen Revolutionen der Neuzeit wiederzuentdecken.)
Da diese Rückwälzung sich aber auf Modelle bezog, die sich in der tatsächlichen Geschichte nur verzweifelt kurz behaupten konnten (das perikleische Zeitalter dauerte von der Schlacht von Salamis bis zum Ausbruch des Peloponnesischen Kriegs, also genau eine Generation lang, und das ciceronianische Latein hielt es vielleicht doppelt so lang aus), konnte diese geforderte Rückwälzung nichts anderes sein als ein letzten Endes geschichts-widersprechender, ein utopischer Entwurf. Mit dem Humanismus wurde die Utopie geboren und zwar in einem ganz konkret literarischen Sinn: der größte englische Humanist, der Kanzler Thomas Morus, schrieb die erste UTOPIA.
Schlimmer als die Utopia des Engländers Morus war die Utopie des Italieners Machiavelli. Sein gewichtigstes Werk war nicht, was im allgemeinen nicht mehr bekannt ist, sein PRINCIPE, sondern eine Geschichte der römischen Republik, der er sich mit allen Fasern seines Wesens verbunden fühlte. Getreu dieser Verbundenheit hat er versucht, die Macht seiner Vaterstadt Florenz durch ein republikanisches Bürgerheer zu sichern — was zu einer katastrophalen Niederlage führte.
Erst unter dem Eindruck dieser Niederlage tat er den verzweifelten Sprung in die politische Verhaltensforschung, in den Raubtierkäfig der Borgias. Und ironischerweise wurde diese Verhaltensforschung (eben der PRINCIPE) zur Bibel, zum Vademecum der politischen Haifische, die bis in unsere Tage die Geschicke der Völker bestimmen.
Worauf es hier ankommt: der Humanismus war und ist nicht nur ein Bildungsprogramm; er war und ist eine Revolte. Und zwar eine Revolte im Namen der REPUBLIK — des Gemeinwesens der Freien, welche Formen auch immer es in den nun folgenden Jahrhunderten aus sich heraustrieb.
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Dieser Charakter des Humanismus; dieses Territorium zwischen Skepsis, Utopie und Republik, hat die Geschichte der Neuzeit entscheidend mitbestimmt. Überall dort, wo REPUBLIK konkret entstand, suchte sie ganz bewußt den Rückbezug auf die antiken Werte. Vermutlich hat es nie eine »antikere« neuzeitliche Gesellschaft gegeben als die der amerikanischen Kolonien, die sich gegen England erhoben — eine lockere Föderation von Gemeinfreien mit einer soliden Sklavenbasis, in der vom negotium, also von der alltäglichen Plackerei freigestellte Gründerväter eine vom Senat, vom Rat der Alten, dominierte Verfassung entwarfen (übrigens nicht ohne Rückgriff auf die föderativen Traditionen der Ureinwohner, wie neuere Forschungen zwingend belegen).
Ihren vollen ideologischen Wert erwiesen diese republikanisch-antiken Traditionen (oder, vielmehr, utopischen Erinnerungen) in der französischen Revolution. Ihre gesamte Rhetorik bis in den bonapartistischen Umsturz hinein beruht geradezu zwanghaft auf römischen Erinnerungen. Der literarisch Interessierte kann diese Fixierung in Büchners »Dantons Tod« auffinden in der Suada der Jakobinerclubs, in den ständigen Redensarten vom »Dolch des Cato« und vom »Dolch des Brutus«. In dieser Phase der französischen Revolution enthüllt sich der zutiefst laizistische, aber auch zutiefst utopistische Charakter des politisch umgesetzten Humanismus.
Freilich, dieser radikale linke Humanismus, dieses antikrepublikanische Pathos blieb begrenzt. Wichtiger als seine Manifestationen waren die Aufklärungen (man muß den Plural verwenden), die gerade im Gefolge des wissenschaftlichen Humanismus im engeren Sinne erstanden. Und am wichtigsten wurde vermutlich die Textkritik mit all ihren Hilfswissenschaften, der sich der wissenschaftliche Humanismus von Anfang an verschrieb.
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In dem Maße, in dem der Weg zurück AD FONTES mit philologisch-historischem Rüstzeug beschritten wurde und die wissenschaftlichen Einsichten sich häuften, in dem Maße wurde unausweichlich und unvermeidlich auch die Bibel, bislang unberührbar von menschlicher Neugier als Wort Gottes, zu einer Quelle wie jede andere. Der ebenso unausweichlich einsetzenden Skepsis konnte der protestantische Raum naturgemäß weniger widerstehen als der katholische; dennoch waren in allen Räumen westlicher Kultur, dem protestantischen wie dem katholischen, die entsprechenden Folgen spätestens im 19. Jahrhundert sichtbar und irreversibel.
Fassen wir, an diesem Punkt unserer Überlegungen angelangt, noch einmal ihren bisherigen Gang zusammen:
1. Der Humanismus nimmt seinen Ausgang vom Aufstieg der italienischen Stadtrepubliken. Sie gewinnen das jahrhundertlange Ringen mit der Kaisermacht, wobei das Papsttum ihr Verbündeter ist.
2. Durch den Drang, den wissenschaftlichen, AD FONTES, zurück zu den Quellen, insbesondere auch den griechischen, wird die Erinnerung an die Antike völlig umgewertet. Nicht mehr eine kontinuierliche, von der Vorsehung gewollte Entwicklung hinauf bis zur römischen Kaisermacht als Verbündeter des Christentums wird jetzt gesehen, sondern in den Vordergrund treten vor allem zwei (kurze) Blütezeiten: das perikleische Athen und das Rom der späten Republik. Ihr Zustand entspricht nicht nur den Idealen der italienischen Stadtrepubliken, sondern läßt sich auch philologisch erhöhen — durch die jeweilige Vorbildlichkeit des klassischen Attischen und des Goldenen ciceronianischen Lateins.
3. Der Humanismus tritt also zunächst der mittelalterlichen Wertwelt als Revolte entgegen. Politisch steht er den republikanischen Freiheits-Idealen nahe, pädagogisch strebt er nach Befreiung von alten Schulzwängen, will der Jugend die buntstrahlende Welt der Antike vor allem über die Literatur vermitteln.
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4. Die Erinnerung an das antike Erbe tritt besonders intensiv in zwei Revolutionen hervor: dem amerikanischen Unabhängigkeitskrieg und der neuen amerikanischen Verfassung, dann in der republikanischen Phase der Französischen Revolution. Insbesondere die Jakobiner orientierten sich radikal am Heroismus der (meist legendären) römischen Republik.
5. und letztens: die Ferne der kurzen Blütezeiten, ihre Unangepaßtheit an die eigenen Verhältnisse, führte zur Geburt der humanistischen Utopie. Der erste Verfasser einer solchen war der eminente englische Humanist und Lordkanzler Thomas Morus.
Nach dieser Vergewisserung ist es hoch an der Zeit, uns wieder ein wenig zu verunsichern — wenn auch tröstlich zu verunsichern. Das Auftreten der humanistischen Revolte führte ja nur in den wenigsten Fällen zu konkret-blutiger Polarisierung. Meist sorgten die Verhältnisse — oft in Gestalt weitsichtiger Fürsten der Welt oder der Kirche, oft in der Form aufstrebender Klassen und Schichten — für eine allmähliche Aufnahme des neuen Bildungsgutes, für Verschmelzung vor allem mit dem christlichen Erbe und den neuen und alten gesellschaftlichen Verhältnissen. Vor allem im Westen zeichneten sich zwei Wege ab, die beide aus den altfeudalen Zuständen herausführten: der englische und der französische. Letzterer durch einen Absolutismus, der eine neue Gesellschaft aus Adeligen und (schon bald) bürgerlichen Beamten und Kaufleuten formte, ersterer durch die immer stärkere Kapitalisierung und (später) Industrialisierung.
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Die neuen oder neu geformten Schichten begrüßten das humanistische Gut als ein Element der Sozialisierung im elegantesten Sinne — eine Sozialisierung, die als Idealtypus den honnete homme beziehungsweise den gentleman hervorbrachte. Gewiß, weder der eine noch der andere waren »christlich« im vollen Anspruch des Wortes (Kardinal Newman hat über den Gentleman in eben diesem Sinne eine höchst bedenkenswerte Studie geschrieben) — aber die beiden Typen waren gewissermaßen neue soziale »Natur«, auf welche die Gnade aufbauen konnte.
Dazu kam, daß spätestens mit der Industrialisierung neue Problemstellungen für den Humanismus auftauchten. Problemstellungen, die einen »christlichen« Humanismus geradezu gebieterisch erforderten. Humanismus, so begriff man, ist der jeweilige Kampf gegen Verkrüppelung, Benachteiligung, Unmündighalten des Menschen — ganz gleich, von welcher Seite diese Verkrüppelung, Benachteiligung, Unmündigkeit betrieben wurde. Die Herren des neuen Zeitalters beeilten sich ja wahrhaftig, solche Zustände in Schwung zu bringen — oft grausamer und effizienter, als dies den alten Mächten und der alten Kirche möglich gewesen war.
So konnte es nicht ausbleiben, daß etwa christlich-konservative Kulturkritiker das frühe Industrie-System mit mindestens der gleichen wütenden Schärfe attackierten wie der junge Marx, daß sie sich, gleich ihm, dagegen wehrten, »daß der Mensch wie eine Sache seiner selbst entfremdet werde«. Doch was blieb, jedenfalls im Westen, war ein gesellschaftlicher Konsens darüber, wie solche Konflikte, selbst bei schärfster Diagnose und grimmigster Verbalisierung, auszutragen seien — auszutragen in einem sozialen Forum von Gentlemen und honnetes hommes.
Ganz anders freilich verlief die Geschichte des Humanismus in Deutschland — und damit kommen wir der Themafrage um mehrere höchst unangenehme Schritte näher.
Fügen wir hier wieder eine wahre Geschichte ein, die illustrierend mehr aussagt als viele Sätze Diskurs.
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Einer der interessantesten Humanisten des 18. Jahrhunderts in Deutschland war Johann Gottfried Seume, bekanntgeworden durch seinen kurzweiligen Bericht über eine Fußwanderung nach Italien. Er war aufklärerisch-protestantisch gesinnt und verliert nicht wenige kritische Worte über die bigotten Zustände der Halbinsel. Aber das war nicht sein schlimmstes Problem. Dies bestand vielmehr darin, daß er ungewöhnlich groß gewachsen war — und damit ein lohnendes Ziel für die unzähligen Soldatenwerber, die damals wie Haifische im deutschen Binnenmeer herumschossen. Naturgemäß fürchtete er vor allem die preußischen — die Fixierung Friedrich Wilhelms auf »lange Kerls« ist bekannt. So trudelte er selbst unstet, in trüben Hauslehrer-Verhältnissen, durch deutsche Lande, bis er doch erwischt wurde — allerdings nicht von den Preußen, sondern ausgerechnet von den Hessen, die ihn denn auch prompt ins graue Tuch steckten und nach Amerika verkauften. Auch auf dieser Odyssee (die ihn nicht mehr ins Kriegsgebiet, sondern nur nach Kanada entführte) schrieb er fleißig Tagebuch.
wikipedia Johann_Gottfried_Seume
Eines Tages, so berichtet er, saß er während der endlos langen Fahrt den St.-Lorenz-Strom hinauf an Deck und las — das war immerhin erlaubt. Der englische Kapitän des Transporters trat auf ihn zu und erkundigte sich, was er denn da so lese. Seumes Auskunft: Homer (natürlich auf griechisch). Der Kapitän, sicher ein Gentleman, klopfte ihm wohlwollend auf die Schulter: »Ein guter Trost«, so sprach er, »für einen Mann in Eurer Lage!«
Das wars. Mehrere Generationen lang war die humanistische Bildung (eine gewaltige Bildung, schon damals) armen Teufeln anvertraut, die endlos mit den Problemen einer unterentwickelten feudal-absolutistischen Gesellschaft zu kämpfen hatten. Man sehe sich nur einmal die Biographien der Besten an — mit der einzigen Ausnahme Goethes! Hofmeister, Zweiter Bibliothekar, Hauslehrer — gelegentlich irgendein wohlwollendes Stift: zu mehr hat es selten gereicht. Und die Betroffenen waren sich ihres schlimmen Loses durchaus bewußt — Schiller hat darüber gedichtet, Lenz, Hölderlin, Büchner. Höhere Bildung als Trost in schlimmer Lage — ja, das wars.
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Gewiß, sie machten das Beste daraus — Lessing, als Bibliothekar in Wolfenbüttel schrieb Texte, die sich ebenbürtig neben die großen französischen Aufklärer stellen können; ein armer homophiler Schulmeister, Winckelmann, zwang anderthalb deutschen Jahrhunderten seine Sichtweise der griechischen Kunst auf: edle Einfalt, stille Größe, man kennt es. (Winckelmann hat nie gewußt, daß die griechischen Statuen bemalt waren, es hätte seine ganze Ästhetik über den Haufen geworfen.) Und Hölderlin — über Hölderlin brauchen wir kein Wort zu verlieren.
Wiederum war es die Weltgeschichte, welche dem deutschen Humanismus den letzten, unheilvollen Stoß ins gesellschaftliche Niemandsland versetzte: die Französische Revolution — vielmehr ihr blutigster Abschnitt, der Terreur.
Vorher, 1789, war sie die allgemeine und unwidersprochene Hoffnung, dafür gibt es unzählige Dokumente. Aber der Terreur, die totalitäre Epoche von 1792 bis 1795, gab all diesen Hoffnungen den Todesstoß. Dies, so stellte sich der deutsche Humanist die Frage, sollte die politische Frucht der republikanischen Aufklärung sein? Dies, die Guillotine, die Schreckensweiber, die Petroleusen, der unbegrenzte Justizterror? Die Heere der Sansculotten, die sich wie Heuschrecken über Europa ergossen?
Goethe, immerhin, von seiner sicheren gesellschaftlichen Warte aus, begriff, was sich mit der Kanonade von Valmy* entschied, sah die neue Epoche der Weltgeschichte und wurde dann Bonapartist. Fast alle andern aber (wenn man von den wenigen Jakobinern absieht, die sich auch physisch nach Frankreich begaben — bezeichnenderweise oft katholische Klosterflüchtlinge), wußten oder glaubten zu wissen, was nun der einzige Ausweg war — der Weg nach innen: »Bildet zu Menschen euch aus«, wie Schiller es formulierte.
* wikipedia Kanonade_von_Valmy ("Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen.", Johann Wolfgang von Goethe)
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Abgelöst von den Wirrungen des Tages, abgelöst von den schnöden Erfordernissen der Politik, widmete man sich der holden Kunst — und der Anschauung des Wahren, Guten und Edlen. Für jemand wie Hölderlin endete das im Wahnsinn, für Büchner in totaler Resignation und frühem Tod — aber auch das waren Ausnahmen, ebenso wie die Minderheit der Intellektuellen, die (Heine allen voran) am guten alten, links-revolutionären Humanismus festhielten.
Vergessen wir keinen Augenblick: dies war die Zeit, in der die ganze gebildete Welt bewundernd auf eben dieses geistige Deutschland blickte — auf seine Musiker, seine Dichter, seine Philosophen und Gelehrten. Ganze Territorien wie etwa die moderne Sprachwissenschaft, alle wesentlichen Richtungen der neueren Philosophie, waren fest in der Hand deutscher Gelehrsamkeit. Die Reaktion auf den Terreur, der Weg in die Reiche des Inneren, war offensichtlich richtig gewesen — die Resultate belegten es, sichtbar für eine ganze Welt.
Aber vielleicht hilft hier wieder eine kleine Geschichte. Eine der originellsten Personen der napoleonischen Zeit, die geistreiche Madame de Stael, wurde von diesem deutschen Geist angezogen wie eine Motte vom Licht und bereiste unser Land — Frucht davon war ihr dickleibiger Bericht »De l'Allemagne«. Sie gab sich wahrhaft redliche Mühe, vor allem in Norddeutschland, wo die bewunderten Lumieres, die großen Leuchten saßen. Alles hat sie natürlich nicht verstanden, was ihr die Philosophen so erzählten.
Interessant für uns ist eine Beobachtung, die sie immer wieder macht: die Deutschen hielten zwar prachtvolle Monologe, sie seien aber gänzlich unfähig zu elegantem gesellschaftlichen Kontakt, zum Eingehen auf den Gesprächspartner. Ja, sie blickten mit Verachtung auf die Kunst der »Conversation« herab — eine Kunst, die ihrer Meinung nach nur dazu dienen könne, die großen Gedanken abzuschleifen, sie als Wechselgeld über die Theke zu schieben.
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Daß diese »Conversation« eine der großen Errungenschaften des Humanismus, ja eines seiner großen Kunstwerke war, wird, wie ich glaube, hierzulande heute noch nicht ganz begriffen. Bezeichnenderweise hat sie auf einem überseeischen Umweg über die USA nach dem letzten Krieg etwas Fuß gefaßt — in der reichlich reduzierten Form des »small talk«.)
Die Neigung zum Monolog ist natürlich nur die Anpassung an einen erzwungenen Zustand, an den erzwungenen Weg nach innen. Was da an Reichtümern in den Labyrinthen der Hirne und der Brust verschlossen wurde, hat man später, in den platteren zwei Dritteln des 19. Jahrhunderts, im »Conversationslexikon« auszustellen versucht — aber welch grotesker Irrtum verbirgt sich nicht hinter diesem Titel! Welcher Irrtum, anzunehmen, daß man sich die Kunst der Konversation einfach durch das Memorieren von lexikalischen Stichworten aneignen könne!
Nun, das Unheil war geschehen, ein Unheil, von dem sich Deutschland nie mehr ganz erholen sollte. Der Humanismus war einerseits endgültig zu einer Sache der Schulen und der Gelehrsamkeit geworden. Als solche, als ein pädagogisches Programm, das mehr und mehr als Lieferant von gesellschaftlichen Privilegien mißbraucht wurde (man denke nur an die unsägliche »Satisfaktionsfähigkeit«, d.h. das Recht, Duelle auszufechten, das mit dem Abitur verbunden war, oder das famose »Einjährige«, also die Mittlere Reife, mit der man sich ein Jahr Militärfreiheit erkaufte!), war der Humanismus zwar unsäglich verunstaltet, war weit von seinen jungen, mutigen Ansätzen entfernt, brachte aber trotz allem immer neue Geschlechter von wackeren, freundschaftsfähigen, hochqualifizierten Jünglingen hervor (Damen kamen erst im 20. Jahrhundert dazu). Und auch ihre Lehrer waren keineswegs immer gewillt, sich jenem Formalismus zu unterwerfen, den der zitierte Brockhaus tadelt.
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Mit Vergnügen habe ich, zum Beispiel, als Vorbereitung für diese Überlegungen Josef Hofmillers Aufsätze über das Gymnasium gelesen — das sind gescheite Vorschläge gewesen, Vorschläge, die immer die Ausweitung des Bildungsangebots, seine bessere Verknüpfung mit der Wirklichkeit, zum Ziele hatten. (Das »offene Fenster« des alten Pirckheimer-Programms war eben nie ganz vergessen.)
Aber andererseits (und dieses Andererseits muß ich aussprechen, kann es nicht vermeiden), andererseits brachte es der deutsche Schulhumanismus nach dem 19. Jahrhundert nie mehr fertig, sich eine Plattform zu verschaffen, auf der er mit dem abgespaltenen Teil des Humanismus, dem linken, zuerst republikanisch-radikal-freiheitlichen, später sozialistischen, Wipfel des humanistischen Baums sich in der Manier etwa der Franzosen in die Konversation eintreten — ja, ihn auch nur verstehen konnte. Dies, verzeihen Sie, halte ich für eine der schlimmsten Katastrophen der deutschen Geschichte. Ohne sie wäre der Aufstieg der Barbarei, die im Dritten Reich gipfelte, unverständlich.
Nehmen Sie, ich bitte Sie herzlich, auf der einen Seite einen hochgebildeten linken Humanisten Eisner; einen libertären ethischen Sozialisten, der in der Bildungstradition des deutschen Humanismus aufwuchs — Heinrich Mann nannte ihn in seiner Grabrede den »ersten geistigen Menschen an der Spitze eines deutschen Staates«. Ich bitte Sie, mich nicht mißzuverstehen: es geht nicht darum, ob Heinrich Mann damit recht hatte oder nicht. Es geht nicht darum, ob Eisner überhaupt recht hatte oder nicht.
Es geht darum, ob es überhaupt vorstellbar war, daß ein kantianisch-ethischer, ein humanistisch geformter Sozialist wie er gleichberechtigt und mit einer echten Chance des Angehörtwerdens in die »Konversation« mit den offiziellen Hütern des humanistischen Erbes eintrat, eintreten könnte. Sie kennen die Antwort auf diese Frage: es war unvorstellbar. Nicht ihm, vielmehr seinem Mörder schlug die volle Sympathie der sogenannten gebildeten Kreise entgegen. Auch dies wollen Sie bitte nicht als eine Wertung betrachten, sondern als Feststellung einer historischen Tatsache.
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Zu diesen Tatsachen gehört, daß der schon erwähnte Josef Hofmiller, ein hochgebildeter Mann, der den bayrischen Kunst- und Landschafts-Essay wenn nicht geschaffen, so doch unwiederholbar geprägt hat; daß dieser hervorragende und scharfsichtige Philologe in seinem Revolutionstagebuch von 1918/19 billigend die Tatsache vermerkt, daß im Mai 19 Weiße Garden ohne jede Rechtsgrundlage unbewaffnete Verdächtige aus einem Lokal am Maximilianeum holten und sofort erschossen. (Ganz ähnlich äußerte sich übrigens Ludwig Thoma.) Zu diesen Tatsachen gehört ferner, daß in den Jahren des permanenten Notstandes von rechts, also zwischen 1920 und 1923, der SPD jeder Schutz gegen die Totschläger der Saalschlachten verweigert wurde — der Sprecher der Bayerischen Volkspartei empfahl ihr zynisch die körperliche Ertüchtigung ihrer Mitglieder.
Und so kam es, wie es kommen mußte: eine humanistische Allianz gegen die vollständige Barbarei, die dann 1933 die Herrschaft antrat, kam nicht zustande, konnte nicht zustande kommen.
Was nun kam, war der individuelle Widerstand. In ihm, das kann ich aus eigenem familiären Leben bezeugen, hat der Humanismus, auch der Humanismus im engeren, bildungspolitischen Sinne, hervorragende Hilfe geboten. Ja, es waren Humanisten, die ich damals im einprägsamsten Alter zwischen zwölf und achtzehn Jahren kennenlernen durfte — Menschen wie den Dichter Bergengruen, den Philosophen Theodor Haecker, den Herausgeber des HOCHLAND Carl Muth, seine Redakteure Friedrich Fuchs und Franz-Josef Schoeningh, und, nicht zu vergessen, meinen hochverehrten Lehrer Anton Glas zu Passau. Ja, es waren alle Humanisten, die schließlich dazu beitrugen, eine der reinsten Flammen des moralischen Widerstandes zu entzünden, die je in Deutschland brannte — die Flamme der Weißen Rose. Dafür gebührt ihnen allen unser Dank.
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Aber — darauf müssen wir bestehen — es war nach 1933 zu spät für irgend etwas anderes als das eigene demonstrative Lebensopfer oder das schmerz- und wutgepeinigte Überwintern. Es war zu spät für das, was doch eigentlich Aufgabe des Humanismus sein sollte: die Zeichen der Zeit so zu deuten, daß der Angriff auf das Humanum rechtzeitig erkannt, rechtzeitig beantwortet wird; daß die Barbarenheere aus der Tatarenwüste rechtzeitig gesichtet, die Schutzwälle rechtzeitig getürmt werden — und das mit allen Händen und Herzen und Hirnen, die dafür zur Verfügung stehen.
Dies ist nicht die Frage eines bestimmten politischen Standpunkts. Es ist vielmehr das Problem eines geistespolitischen Versäumnisses, das weit in unsere unglückselige Geschichte zurückreicht, und an dem wir heute noch genug zu beißen haben. Es war und ist das Problem der gesellschaftlichen und politischen Akzeptanz des notwendigen Konfliktes; das Problem auch der Umgangsformen mit diesem Konflikt. Es geht um die Errungenschaft, welche der große Aufklärer Voltaire in dem durch und durch humanistischen Satz ausdrückt: »Ich teile Deine Ansicht nicht. Aber ich werde bis zum Letzten darum kämpfen, daß sie ausgesprochen wird.« Es geht darum zu begreifen, daß gerade der Schmerz, der Zorn über eine gegnerische Äußerung ein Signal dafür ist, daß mit dem eigenen Standpunkt etwas nicht ganz stimmen kann. Es geht um die zutiefst humanistische Einsicht, daß die Unterdrückung des Gesprächs mit dem Gegner (auch dem radikalsten Gegner!) selten etwas anderes ist als die Unterdrückung der Konversation mit uns selbst, des zivilisierten Umgangs mit uns selbst. Unterdrückung einer Tradition, die unser eigener siamesischer Zwilling ist, wie wir aus den Lenden der großen humanistischen Revolte entsprungen.
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Und damit sind wir natürlich schon in der Gegenwart. In der Gegenwart wie in der Vergangenheit hat der Humanist die Frage zu prüfen: Woher droht hier und heute dem Humanen, der Menschenwürde, die größte Gefahr? Woran ist sie zu erkennen, wie äußert sie sich? Unfruchtbare Reuetränen über die Vergangenheit zu vergießen würde sich nicht lohnen — aber die Erlösung führt, wie ein jüdischer Mystiker gesagt hat, über die Erinnerung. Diese Erinnerung soll uns nicht niederdrücken; sie soll uns vielmehr befähigen zur schärferen Sicht und Einsicht, die uns rechtzeitig das Nahen der Barbaren-Armee erkennen läßt.
So und nur so können wir das Fragezeichen hinter unserem Titel HUMANISMUS HEUTE streichen.
Stellen wir uns also die Schluß-Frage: Wo ist heute die kämpferische Hilfe des Humanismus nötig? Ist sie überhaupt nötig?
Die Antwort kann nur lauten: nie war ein kämpferischer Humanismus nötiger als heute. Ja, der Humanismus, und zwar ganz gleich welcher (ob christlich, existenzialistisch, marxistisch; ob aufklärerisch oder bürgerlich oder ästhetisch — jeder, mit anderen Worten, dem es um die Rettung der Menschenwürde und einer höheren Bestimmung des Menschen zu tun ist), steht vor seiner endgültigen Krise, das heißt vor seiner endgültigen Gefahr und Herausforderung —vor dem endgültigen Nachweis seiner Legitimation.
Denn noch nie war die Menschheit als Ganzes bedroht. Sie ist es heute. GAIA, die alte Erde der Griechen (sie wurde noch als Göttin verehrt) ist drauf und dran, sie als lästigen und existenzbedrohenden Parasitenschwarm abzustreifen. Das sagen nicht irgendwelche sauerkrautbärtigen Wirr-Propheten, das sagen führende Klimatologen, Bio-Chemiker, Natur- und Kulturforscher jeder Couleur, das sagen russische und amerikanische und asiatische Schriftsteller, christliche und buddhistische Fromme. Und die Welt um uns, die uns gerade die Künstler der Antike zu sehen und zu fühlen gelehrt haben, trägt schon deutliche Spuren dieses Verfalls. Im Mittelmeer sterben zum Beispiel die Delphine des Arion.
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In unseren Breiten sterben die Wälder, von denen Generationen unserer Dichter sangen. Mitten in einem strahlenden Mai, dem Mai 1986, haben wir erleben müssen, daß wir wochenlang vor ein paar Kaffeelöffeln radioaktiven Materials in der europäischen Atmosphäre zu zittern hatten. Unversehens - das zeigt uns dieses Beispiel - sind unsere Sinne enteignet; eben jene Sinne, die, Jahrtausende lang unerhört verfeinert, die Freunde und Dolmetscher der Dichter und Künstler, der Philosophen und der Liebenden, des Homer und des Plato, der Sappho und des Augustinus waren und sind — jene Sinne, über die jene bunte vielfältige Welt der Antike auch den Schülern des Willibald Pirckheimer und aller kommenden Humanisten-Generationen vermittelt werden sollte.
Die Summe der Bildungsfächer, die ein humanistisches Curriculum ausmachen, hat man einst sehr genau die »Schönen Künste« genannt — aber noch nie gab es ein Zeitalter so grundlegender, so globaler Häßlichkeit wie heute. Die Schönen Künste und alles, wofür sie standen und stehen, ist praktisch von jeder Mitwirkung an den öffentlichen Angelegenheiten ausgeschlossen. Die Macher und das Machen —die haben das Wort, die haben die Macht, und zwar über alle politischen und ideologischen Grenzen hinweg. Der Humanist, wo bleibt er? Er bleibt im Freizeitsektor, er bleibt in den subventionierten Prozenten der öffentlichen Haushalte, und er bleibt auch in unserem eigenen Freizeit- und Privatsektor, während wir sonst verwendet werden — als Rädchen der großen Maschine, als Bruttosozialprodukt-Vermehrer, als Funktionär eines Welt-Systems, das dem Abgrund zurast.
Wie dieses rationierte, folgenlose Humanistsein im Freizeitsektor funktioniert, das hat Aldous Huxley, der englische Schriftsteller und Kulturkritiker, schneidend in seinem Buch Ape and Essence beschrieben — am Beispiel der jungen Wissenschaftler in der B-Waffen-Rüstung, also der Entwicklung von Epidemien als Kampfmittel:
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»Biologen, Pathologen, Physiologen — nach einem anstrengenden Tag im Labor kommen sie heim zu ihren Familien. Eine Umarmung der süßen kleinen Frau. Etwas Herumtollen mit den Kindern. Ein ruhiges Abendessen mit Freunden, nachher Kammermusik oder intelligente politische, philosophische Gespräche. Zu Bett um elf Uhr, die vertrauten Wonnen ehelicher Liebe. Und am nächsten Morgen, nach Orangensaft und Müsli, zurück an die Arbeit: zur Entdeckung von Möglichkeiten, noch mehr Familien, die genau wie die ihren sind, mit noch tödlicheren Varianten von bacillus mallei zu infizieren ...«
Dies, meine Damen und Herren, ist keine Karikatur. Ich habe vor Jahren ein Interview der Presse mit dem Erfinder der Neutronenbombe, einem gewissen Herrn Cohen, gelesen — ein grausig-genaues Abziehbild dieser Huxley-Vorlage, bis hinunter zum Familienleben und dem netten Grill im Vorgarten. Ich weiß nicht, ob Herr Cohen antiken Studien oblag — vermutlich nicht. Aber angenommen, er hätte es getan — wer glaubt allen Ernstes, dies hätte ihn gehindert, einen interessanten Job anzunehmen?
Zirka vierhunderttausend Wissenschaftler sollen heute weltweit an derlei Arbeiten sitzen, also an der Vorbereitung der Vernichtung der Menschheit und weiter Teile der Biosphäre.
Ein Humanist, der über den deutschen Philosophen Max Scheler promoviert hat, nämlich der regierende Papst, hat diese Wissenschaftler ausdrücklich aufgefordert, diese Arbeitsplätze zu verlassen; von irgendeinem Resultat dieses Aufrufs habe ich nie etwas gehört. Wie viele Humanisten waren unter den Angesprochenen? Mindestens einige hundert; schließlich waren fast alle Atomwissenschaftler, die an der A- und der H-Bombe arbeiteten, Humanisten der alten Schule. Saubere Trennung von Pflicht und Moral, von Dienst und Schnaps — das ist humanistisch zwar unmöglich und verwerflich, hat aber seine antiken Vorlagen.
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Da gibt es etwa den Jüngeren Scipio — getreu seinem Auftrag, radiert er Karthago aus, steht dann auf dem Schutt der Byrsa, von der sich schreiende Mütter mit ihren Kindern in die Tiefe gestürzt hatten, weint menschlich und zitiert den Homer-Vers, den er von seinem griechischen Hauslehrer gelernt hat:
»Einst wird kommen der Tag, wo das heilige Ilion hinsinkt —
Priamos selbst und das Volk des lanzenkundigen Königs ...«Nein. Ich sage Nein und verordne mir Hoffnung — humanistische Hoffnung. Ich verordne Hoffnung und suche Verbündete für ein neues, ein zeitgenössisches humanistisches Programm. In der Antike brauche ich nicht lange zu suchen. Da ist der Homer der Ilias, der zusammen mit Achilleus und Priamos das steinerne Schicksal beweint. Da ist der Aischylos der PERSER, der Sophokles der ANTIGONE, der Euripides der TROERINNEN. Da sind Sokrates und Lukrez, da ist aber auch die unbändige Sappho — Poikilotbron' atbanat' Aphrodita — bunt-thronende, unsterbliche Aphrodite — da sind aber auch die wundervollen Spötter — der Aristophanes der LYSISTRATA, Lukian, Petronius. Da ist sogar der Plautus mit seinen skeptisch-liebenden Zeichnungen unbändigen Alltags.
Und herauf schreitend durch die Jahrhunderte, auf wieviel Bundesgenossen stößt man da nicht, auch in der neueren Literatur auf den Don Quijote, den Simplicius, auf Nathan den Weisen, auf Tolstoj und Dostojewski] und Proust und Tucholsky — jawohl, auch auf den großen Humanisten Tucholsky. Und in der Gegenwart? Ich kenne die Humanisten, die ich in meinem Hoffnungsprogramm hätte, gerne hätte. Russische und lateinamerikanische Schriftsteller, von Jurij Trifonow und Tschingis Aitmatow bis zu Gabriel Garcia Marquez und Pablo Neruda.
Ich kenne die wundervollen Renegaten, die sich entschlossen gegen den Weltvernichtungs-Apparat gewandt haben und wenden — Kernphysiker, Computerspezialisten, Generäle und Admiräle, die der Strahl der humanen Erkenntnis vom hohen Roß geworfen hat. Ich umarme und grüße meine deutschen und europäischen Freunde, mit denen wir die Bewegung der ökologischen Perspektive aufgebaut haben; jener Perspektive, in der der Mensch nicht mehr als Eroberer mit bluttriefendem Schwert inmitten ermordeter Schöpfung steht (»Sie schaffen eine Wüste und nennen es Frieden«, wie bei Tacitus ein erbitterter Brite die Römer beschreibt ...), sondern in der er wieder zum hieros gamos, zur heiligen Hochzeit mit der vielfältigen und heiligen Schöpfung bereit ist.
Dies, so meine ich, wäre der pädagogischen Mühen wert. Dies, in vollem Widerspruch zur Welt der Funktionäre und der Kosten-Nutzungs-Rechner, wäre dringlich zu erstellen — in voller harmonischer Zusammenarbeit mit dem Kultusministerium am Salvatorplatz, da bin ich mir sicher. Denn noch nie wäre der eherne Satz über dem Caesar am Wilhelmsgymnasium wahrer gewesen:
HAEC STUDIA ADOLESCENTIAM ALUNT.
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Cic.Arch.12-14 | |
Der Dichter A. Licinius Archias, geboren 120 v.Chr. in Antiochia in Syrien, kam schon früh nach Rom und trat dort in Beziehung zu Kreisen, die der griechischen Kultur besonders ergeben waren. Er lebte bereits 25 Jahre als römischer Bürger in Italien, als ein gewisser Grattius aus persönlichen Gründen dieses Bürgerrecht anfocht (62 v.Chr.). Cicero übernahm die Verteidigung, weil er dem griechisch hellenistisch gebildeten Archias sehr viel verdankte, was er im folgenden ausspricht. |
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Quaeres a nobis, Gratti, cur tantopere hoc homine delectemur: quia
suppeditat nobis, ubi animus ex hoc forensi strepitu reficiatur et
aures convicio defessae conquiescant. An tu existimas aut suppetere
nobis posse, quod cottidie dicamus in tanta varietate rerum, nisi
animos nostros doctrina excolamus, aut ferre animos tantam posse
contentionem, nisi eos doctrina eadem relaxemus? Ego vero fateor me
his studiis esse deditum. Quare quis tandem me reprehendat, si,
quantum temporis alii tribuunt tempestivis conviviis, quantum
alveolo, quantum pilae, tantum mihi egomet ad haec studia recolenda
sumpsero? Atque hoc eo mihi concedendum est magis, quod ex his studiis haec quoque crescit oratio et facultas, quae, quantacumque est in me, numquam amicorum periculis defuit. Quae si cui levior videtur, illa quidem certe, quae summa sunt, ex quo fonte hauriam, sentio. Quam multas nobis imagines non solum ad intuendum, verum etiam ad imitandum fortissimorum virorum expressas scriptores et Graeci et Latini reliquerunt! Quas ego mihi semper in administranda re publica proponens animum et mentem meam ipsa cogitatione hominum excellentium conformabam. Haec studia adulescentiam alunt, senectutem oblectant, secundas res ornant, adversis perfugium ac solacium praebent, delectant domi, non impediunt foris, pernoctant nobiscum, peregrinantur, rusticantur. |
Du
wirst uns fragen, Grattius, warum wir uns so sehr an diesem Menschen
erfreuen: weil er uns einen Platz gewährt, wo (unser / der) Geist
sich von diesem politischen Lärm erholt und (unsere / die) durch
Zank und Streit ermüdeten Ohren Ruhe finden. Glaubst du etwa, dass
uns entweder das ausreichend zur Verfügung stehen könnte, was wir
Tag für Tag bei der großen Vielfalt der Sachverhalte (Anforderungen
o.a.) vortragen, wenn wir nicht unseren Geist durch die Wissenschaft
bildeten, oder dass unser Geist die so große Anspannung ertragen
könnte, wenn wir ihn nicht durch eben diese (w. dieselbe)
Wissenschaft entspannten? Ich gestehe in der Tat, dass ich diesen
Studien ergeben bin. Deshalb, wer sollte mich schließlich tadeln,
wenn ich für meine Person mir soviel Zeit, wie andere früh am Tage
beginnenden Gelagen zuwenden, wie (sie) dem Würfelspiel, wie (sie)
dem Ballspiel (zuwenden), nehme (w. genommen haben werde), um diese
Studien wieder vorzunehmen. Und dies muss mir um so mehr zugestanden werden, weil aus diesen Studien auch diese Rede und Fähigkeit (zur Rede) erwächst, die, wie groß auch immer sie in mir ist, niemals den Gefahren der Freunde ihren Beistand versagte (w. fehlte). Wenn diese irgendeinem zu unbedeutend erscheint, so fühle ich allerdings gewiss, aus welcher Quelle ich jene höchsten Werte schöpfe. Wie viele ausdrucksvolle Bilder von sehr tüchtigen Männern haben uns, nicht zum Betrachten, sondern zur Nachahmung, sowohl die griechischen als auch die lateinischen Schriftsteller hinterlassen! Indem ich mir diese bei der Verwaltung des Staates vor Augen stellte, bildete (schulte) ich meinen Geist und meine Denkkraft durch das Denken an hervorragende Menschen. Diese Studien nähren die Jugend, ergötzen das Alter, zieren das Glück, gewähren im Unglück (o. dem Unglück) Zuflucht und Trost, erfreuen zu Hause, sind in der Fremde nicht hinderlich, verbringen mit uns die Nacht, sind (mit uns) im Ausland, und verweilen (mit uns) auf dem Lande. |