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2   Leben / Tod  -  Zu einem menschenwürdigen Programm

Amery, Februar 1994

 

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Unser Jahrhundert hat noch sechs Jahre vor sich — aber die Diskussion über seine möglichen und möglichst charakteristischen Beinamen hat längst begonnen. Im Grunde hat diese Sucht, es mit Beinamen zu schmücken, schon mit seinem Anfang eingesetzt.

Bereits vor dem Ersten Weltkrieg wurde der Geist des 20. Jahr­hunderts (was immer man sich darunter vorstellte) hemmungslos beschworen. Und noch vor dem Anbruch seiner zweiten Hälfte stand es - je nach Parteilichkeit! - fest, daß es das Zeitalter des Sozialismus, des Kommunismus, oder aber, ganz andersrum, das Zeitalter Amerikas sei.

Gegenwärtig will man von all diesen Nomina nicht mehr viel wissen; dennoch, die Diskussion, ja der Streit wird weitergehen und umso schriller werden, je unsicherer die Physiognomie, das Profil des Jahrhunderts mit jedem schwindenden Jahr zu werden droht. Sind wir nicht wieder in den Tagen des Balkankriegs von 1912 gelandet? Oder noch weiter zurück, in dem bornierten nationalistischen Morast des wilhelminischen, viktorianischen, boulangistischen Zeitalters?

Und (was wichtiger ist) was ist in diesem unseren Jahrhundert aus den großen konstruktiven Linien geworden, die Generationen von Historikern wohlgemut gezogen haben, um die Entwicklung Europas, die Entwicklung hin zu einer Welt-Zivilisation zu skizzieren? 

Zumindest seit den Tagen der Renaissance, der Reformation, des Kolumbus schienen diese Entwicklungslinien klar genug: mit vielen Schnörkeln und Ellipsen, verschwindend an und ab in dunklen Tunnels und nächtigen Seitentälern, geht der Weg der Neuzeit unbeirrt und unbeirrbar in Richtung Fortschritt; will heißen: in immer reichere Gefilde der Weltbeherrschung, mit immer wirksameren Methoden, die alten Feinde der Menschheit, nämlich die apokalyptischen Reiter (Pest, Hunger, Krieg und Tod) zurückzudrängen und schließlich irgendwann einmal zu besiegen; darüber hinaus aber auch in Richtung von immer mehr Freiheit und Mitbestimmung, zu immer größerem Mut, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, mit immer weniger Chancen für alte Dunkelmänner und Dunkelmächte, Zäune und Gewölbe der Knechtschaft um uns und in uns aufrechtzuerhalten. 

So ward und wird der Weg in die Sattheit, Gesundheit und Freiheit gleichzeitig gedacht als ein Weg ins immer umfassendere Wissen, und über dieses Wissen in immer umfassendere Beherrschung der Natur und der Welt.

Wenn man diese Tendenz der geschichtlichen Perspektive zitiert, muß man sich allerdings schon hüten, nicht von vornherein in Gelächter zu verfallen. Ganz, ganz andere Beinamen für das Jahrhundert liegen nahe: das Jahrhundert des Totalitarismus, das Jahrhundert der Lager (um nur zwei zu nennen, die heute von Osteuropäern vorgeschlagen werden); das Jahrhundert, in dem Gott starb (ein recht nüchternes Epitheton übrigens); das Jahrhundert der Atomspaltung und der Atombombe.

Alle diese Beinamen haben, auf ihre Weise, ihr Recht. Und dennoch scheinen sie alle nicht umfassend genug zu sein. Nicht umfassend und nicht bildhaft genug: denn wenn wir so etwas wie einen künstlerischen Blick auf das Jahrhundert wagen, drängt sich zweifellos ein Grundgefühl auf, das uns Menschen des 20. Jahrhunderts (insbesondere natürlich uns Angehörige der weißen Weltzivilisation) vor allem beherrscht, ja quält: wir blicken auf ein Jahrhundert zahlloser Widerlegungen.

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Widerlegt wurde nicht nur der Optimismus der Renaissance und der Entdecker, der Optimismus der Aufklärer und der Gegenaufklärer, der Weltbau der mittelalterlichen Theologen wie die grimmige Total-Analyse des Marxismus. Widerlegt wurde und wird auch die Besserwisserei der Intellektuellen (ob sie es gemerkt haben oder nicht), die unschuldige Arroganz der Wissenschaft (ob sie es gemerkt hat oder nicht). Und die wilde Flucht der artikulierenden Klassen in Parolen von Vorgestern, die plötzlichen Entdeckungen in Europas Rumpelkammern werden immer kurzlebigere Valeurs zutage fördern, an denen man ein paar Wochen oder Jahre Sinngebung übt, bis sie ihrerseits vom wilden Gelächter der Geschichte verschlungen werden.

Aber halten wir uns nicht unnötig bei diesen Antiquitäten auf. Konzentrieren wir uns auf zwei Entdeckungen des Jahrhunderts, die mir die entscheidenden zu sein scheinen — vielleicht seine einzigen wahrhaft neuen Denkleistungen:

Erstens: das XX. Jahrhundert ist das Jahrhundert der Entdeckung der Gattungsfrage.
Zweitens: das XX. Jahrhundert ist das Jahrhundert der Entdeckung der GAIA-Theorie.

Zu Eins — zur Gattungsfrage: Natürlich läßt sich behaupten, daß die Menschheit an ihrer eigenen Existenzberechtigung schon seit Jahrtausenden zweifelt — zumindest seit dem Gilgamesh-Epos und der Erzählung von der Arche Noah. Aber erst in unserem Jahrhundert ist diesem mythischen Zweifel (der an sich berechtigt genug war und ist) die Evidenz der Wissenschaft zuhilfe gekommen; die Evidenz der Wissenschaft und — vor allem — die Ironie des Erfolgs. 

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Denn der Zweifel an der Fortdauer der Menschengattung, die stetig wachsende Unwahrscheinlichkeit unseres Weiter-Existierens als Spezies auf diesem Planeten ist ja nichts anderes als das Resultat unserer Erfolge; eben jener Erfolge, die wir unter dem Begriff »Fortschritt« zusammenfassen.

Oder will jemand allen Ernstes behaupten, daß die Vervierfachung der Menschenzahl in diesem Jahrhundert kein Erfolgs-Resultat ist? Daß die Benutzung von fündunddreißig Millionen Kraftfahrzeugen durch achtzig Millionen Deutschlandbewohner kein Resultat des Fortschritts ist? Und liegt es nicht ebenso auf der Hand, daß wenn nicht Berge von Einsicht, Legionen von Rationalität und Selbstlosigkeit, übermenschliche Anstrengungen von Menschlichkeit dazwischenkommen — eben jene Erfolge die sicheren Garanten unseres Untergangs sein werden, zumindest sein können? Mit dem unbeirrbaren Instinkt der Arterhaltung, wie sie jeder Tier-Population eignet, haben wir an der Vermehrung unserer Chancen, der Verstetigung unserer Lebensbedingungen, der Erweiterung unserer Lebensräume im weitesten Sinne gearbeitet. Und daß wir (dank dessen, was man ganz nüchtern den »überorganischen Faktor« nennt) damit die Erfolge jeder anderen Art auf Erden (mit Ausnahmen, über die zu reden sein wird) übertroffen haben, macht gera: de das Problem aus. Und es kann und muß, sollten wir noch Wert auf Weiterbestehen der Menschheit legen, mit einer zentralen Einsicht Ernst machen: wir haben die Natur und die Funktion des Todes verkannt.

Darüber wird nun zu handeln sein. Sich davor drücken gilt nicht mehr — bei Strafe der evolutionären Selektion.

Verwunderlich war diese Entwicklung allerdings nicht. Der Tod — das ist zunächst und vor allem der Todfeind, den es um jeden Preis zu besiegen gilt. Unser gesamtes Gefühlsleben ist zunächst und zuunterst auf diese Konfrontation eingestellt; alle Dualismen der Welt, alle Schwarzweiß-Bilder beruhen auf solchen Gegensatz- und Koalitionspaaren:

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Leben-Tugend-Himmel-Fülle-Licht einerseits, Tod-Sünde-Hölle-Not-Finsternis andererseits. Ihre extreme Ausprägung finden diese Gegensatz-Paare in manichäischen Religionssystemen wie etwa dem altpersischen, von Zarathustra gepredigten Ahuramazda-Ahrimanglauben, aus dem sich in unseren Kulturbreiten alle anderen dualistischen Systeme entwickelt haben.

Das jüdisch-christliche Traditions-Erbe ist (damit verglichen) von realistischer Widersprüchlichkeit; darüber wird noch zu sprechen sein.

Diesem Dualismus stehen heute die wissenschaftlichen Tatsachen gegenüber, wie wir sie kennen. Der Tod ist, man verzeihe die Banalität, einfach die Grundvoraussetzung für den Fortgang des Lebens. Ob im verhältnismäßig geschlossenen System eines Teiches oder in der Biosphäre des Planeten: die Tatsachen waren seit Jahrtausenden bekannt. Was in unserem Jahrhundert hinzutrat (damit kommen wir zur Entdeckung Nummer Zwei), ist das Ausmaß dieses ständigen Austausches von Tod und Leben. Die GAIA-Theorie ist wiederum nur die extremste Formulierung des Tatbestands. Sie besagt nichts anderes, als daß sehr bald nach Entstehung des Planeten, aber vor mindestens drei Milliarden Jahren, der Gestaltungsprozeß von lebenden Organismen an der Erde eingesetzt hat und seither höchst stabile Voraussetzungen für sein Weiterbestehen aufrechterhält. Dieser Gesamt-Lebensprozeß ist so ungewöhnlich, hängt von so vielen einzelnen Komponenten ab, daß es schwer ist, die GAIA (das ist die griechische Erdgöttin, nach der James Lovelock und Lynn Margulis ihre Theorie benannt haben) nicht als übergordnete intelligente Instanz unseres Daseins zu empfinden. Dem Naturwissenschaftler ist dies selbstverständlich untersagt, aber die Wunder dieser planetarisch-biologischen Gesamtexistenz sind so überwältigend, daß ein Gefühl tiefer Ehrfurcht fast zwangsläufig auftritt.

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Hier sind einige der Daten, wie sie Wolfgang Krumbein und Betsey Dyer 1988 in dem Papier »Der Bioplanet« zusammengestellt haben:

Zur Zeit leben auf der Erde etwa 1-7 x 10" Organismen, und die Zahl hat sich wohl in den letzten 3 Milliarden Jahren kaum verändert. Dies läßt sich einfach daraus ableiten, daß 99,8 % aller lebenden Organismen mikroskopisch sind, und daß sich ihre Tätigkeit seit jenem frühen Datum kaum geändert hat. Über Einzelheiten wird noch diskutiert, es ist jedoch evident, daß Bakterien 1) so alt sind wie das Leben auf der Erde, daß 2) ihre Arten praktisch unzählbar sind, und daß 3) kaum biochemische oder katalytische Prinzipien auffindbar sind, die nicht von Bakterien seit zweieinhalb Milliarden Jahren angewendet wurden und werden. Sie können sich praktisch an alle Situationen anpassen, können die Geochemie der Erde verändern — und zwar in ungeheuren Quantitäten. Nicht nur die meisten Gebirge haben sie erbaut, man geht heute davon aus, daß sie zumindest die einleitenden Gleitvorgänge der Kontinentalverschiebungen verursachen. 

Verglichen mit dieser Welt der Bakterien sind wir Menschen (und man kann hinzufügen: alle Säuger) wahrhaftig Luxusausgaben, prächtige, in weiches Leder gebundene Unikate, die mit dem grundtiefen und in Jahrmilliarden gegründeten Leben des Planeten herzlich wenig zu tun haben. Aber selbstverständlich sind wir in seinen Stoffwechsel eingebaut, selbstverständlich profitieren wir davon, daß anärobische Bakterien all den Sauerstoff freigesetzt haben (ein höchst reizbares und korrosives Gas), den wir zum Atmen benötigen. Und selbstverständlich haben sie in diesem Zusammenhang die ungeheuren Flöze von Kohlenstoff (festem und flüssigem) in die Erde gebunden, die wir heute in dem stolzen Bewußtsein, damit dem Fortschritt zu dienen, wieder auf die Atmosphäre loslassen.

Lynn Margulis, die ich bereits erwähnte, hat deshalb auf einem GAIA-Symposium in Cornwall 1987 mit vollem Recht von our bacterial heroes, unseren bakteriellen Helden, gesprochen ...

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All dies ist in der Tat geeignet, uns das einzuflößen, was man in frömmeren Zeiten die »Furcht des Herrn« nannte. Leben und Tod lassen sich in solchen gewaltigen Zusammenhängen wahrhaftig nicht mehr als Gegensätze lesen und auffassen, sondern als einander zwangsläufig bedingende Durchgangsphasen in der Bewahrung und Weiterentwicklung des Lebens auf der Erde.

Diese Selbststabilisierung des Planeten sorgt dafür, daß die Werkzeuge, welche jeder lebenden Art zur Verfügung stehen, und wozu ein jeweils ebenso hartnäckiges wie blindes Durchsetzungsvermögen gehört, letzten Endes einander ausgleichen, neutralisieren. Der Lebensdrang der Schlupfwespen, der Haifische, der Löwen und Schimpansen kennt keinen »Todestrieb« im Freudschen Sinne, er braucht keinen zu kennen — Bevölkerungs-Explosionen der Art werden über kurz oder lang von den Gesetzen des planetarischen Equilibriums eingeholt, und noch keine Riesenherde von Grasfressern gab und gibt es, die zum feststellbaren Zeitpunkt nicht von der Rinderpest oder dergleichen dezimiert würde, keine Spezies von Raubtieren, die ihre in fetten Jahren hochgeschnellte Dichte nicht in folgenden mageren wieder verlöre.

Anders der Mensch — und hier kommen wir zum entscheidenden Punkt.

Die Art und Weise, mit der wir uns in etwa zwei Millionen Jahren der Biosphäre bedient haben, unterscheidet sich zunächst überhaupt nicht von der anderer Tierarten. Oberstes, hartnäckig und eindeutig verfolgtes Gebot ist die Vermehrung, die Verstetigung, die zunehmende Sicherheit des einzelnen und des kollektiven Lebens. Dies wurde und wird nicht nur gegen die sogenannte Natur durchzusetzen versucht, sondern auch gegen rivalisierende Gruppen der gleichen Art. Bis vor kurzer Zeit war die sogenannte höhere Gewalt der Erdenwirklichkeit so groß, daß die Vermehrung der Menschheit in engen und engsten Grenzen blieb.

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Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß in diesen Grenzen, solange sie von der Biologie gezogen wurden, unsere zu 98,8 % vorliegende genetische Gemeinsamkeit mit den Schimpansen durchaus auch ähnliche Verhaltensmuster aus sich entließ. Wie wir heute wissen, verwenden die Schimpansen Wekzeuge, lügen, treiben Politik, führen Vernichtungskriege gegeneinander — kurz, sie erfreuen sich der gleichen fortschrittlichen Ausrüstung, die wir als homo sapiens so trefflich zu handhaben wissen. Der Philosoph Max Scheler hat schon bemerkt, daß Alva Edison als Bastler und Glühbirnen-Erfinder durchaus noch in den Reichen der Schimpansen weilt.

Nicht aber als Mensch, und hier kommen wir zum Entscheidenden.

Ich folge hier weiter Max Scheler. Wo, so fragt er, liegt nun wirklich der Unterschied zwischen Mensch und Schimpanse? (Was steckt, so würden wir heute sagen, in den 1,2, Prozent?)

Scheler sieht den grundsätzlichen Unterschied in der Reflexionsfähigkeit des Menschen. Schon der Urzeitjäger, der, von einem fallenden Stein empfindlich verletzt, seine Wut und seinen Schreck soweit zügelt, daß er sich gewissermaßen außer sich selbst stellt, sein Unglück so objektiv betrachtet, wie er es kann (eben als Mensch kann) und daraus seine (wie immer richtigen oder falschen) Folgerungen zieht; der Urzeitjäger, der den Tod seines Bruders miterlebt hat, ihn aber in zahlreichen Nachtträumen wieder sieht und wieder spricht und daraus den Mythos des Doppelgängers formt; das zweckfreie Bewußtsein, das unzähligen widersprüchlichen Eindrücken ausgesetzt ist und — mehr oder weniger erfolgreich, mehr oder weniger mißleitet — versucht, sie zu einem sinnvollen Muster zu ordnen: das ist das Erbe, das ist die Qualität, die den Menschen grundsätzlich von seinen Vettern im Tierreich, selbst den allernächsten, unterscheidet.

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In diesen Reichen und Bereichen schlummert und wirkt Phantasie und Wahnsinn, aus ihnen erwuchs und erwächst die Möglichkeit zu desinteressierter Forschung, aber auch die Möglichkeit zur Herstellung paranoider Bezugssysteme — Edgar Morin, der große französische Anthropologe, hat uns darauf aufmerksam gemacht, daß der HOMO SAPIENS von Anfang an, von seiner Bestimmung her, auch und immer der HOMO DEMENS, der verrückte Mensch, gewesen ist und nach wie vor ist.

Darum ist es wohl etwas voreilig, wie es die evolutionäre Erkenntnistheorie tut, von vornherein zu postulieren, daß der Mensch und seine Erkenntnisfähigkeit aufs Überleben, nicht auf die Wahrheit programmiert sei. Es ist natürlich völlig richtig, daß die Fallen, in welche die Menschheit immer und immer wieder geriet, auf der Fehlinterpretation von Situationen, vor allem von neuen Situationen, beruhen; aber diese Fehlinterpretationen waren oft genug nicht eine Folge der reinen Überlebens-Borniertheit, sondern die Folge der überbordenden und fehlgeleiteten Interpretationswut der Art. Wenn Zehntausende von russischen Menschen ihre Dörfer aufgeben, in die Wälder flüchten und dort wie die Tiere leben, weil der Zar sie zwingen will, das Kreuz mit drei statt mit zwei Fingern zu schlagen, kann man wohl nicht davon reden, daß hier ein Überlebensprogramm am Werk war.

Tatsache ist jedoch, daß die Falle, in die wir heute rennen, keineswegs mehr aus einer Fehlinterpretation resultiert. Im Gegenteil: der Erfolg, der mit der Falle identisch ist, beruht nicht zuletzt darauf, daß nur noch ein winziger Teil des spezifisch menschlichen Erbes, nämlich die wachstumsinteressierte Forschung und Erforschung materieller Grundlagen, als schicksalsbestimmend geduldet wird, und daß alle Götter und Systeme von einst hinter das reine Schimpansen-Programm zurücktreten: es geht um Erhaltung, Vermehrung und Lebenserleichterung für die Menschenart, auf Kosten alles anderen Lebens.

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Dieser Rückzug aufs bornierte biologische Programm, das wir mit allen Arten teilen, und das wir, mithilfe unserer 1,2.% Sonderbegabung, weit über jedes biosphärisch verträgliche Maß hinausgetrieben haben, ist der Grund, warum wir heute vor der Gattungsfrage stehen. Die zwei grundlegenden Verstöße gegen die GAIA-Stabilität (oder vielmehr gegen ihr Flußgleichgewicht) sind beide das Resultat blinden kollektiven Überlebensdrangs: auf den Inseln der hochindustrialisierten Welt ist es die unerhörte Energie- und Schadstoff-Freisetzung, die die unausweichliche Folge unseres Sieges über Hunger, Krankheit und jede Art von Komfortmangel ist — in den übrigen Ländern der Welt die Bevölkerungsexplosion, die auf wesentlich archaischeren Vorstellungen vom kollektiven Überleben beruht, die aber ohne die immerhin teilweise funktionierende Solidarität des Ernährungs- und Gesundheitswesens nicht möglich wäre.

Diese beiden Verstöße müssen wir korrigieren, wenn wir Wert darauf legen, daß das Menschengeschlecht noch eine Zeitlang weiterlebt.

Bisher gibt es keinen entschiedenen Willen, dies zu tun. Man wird doch die famosen Ablaß-Krämereien, die den sogenannten Umweltschutz ausmachen, nicht allen Ernstes als entschiedenen Willen zur Umkehr interpretieren? Und solange die Armen und Ärmsten der Welt gute Gründe für zahlenstarke Familien haben, wird man ihnen umsonst generative Disziplin predigen, insbesondere dann nicht, wenn jeder Einzelne von uns in den hochindustrialisierten Ländern vierzig- oder achtzigmal mehr Energie pro Kopf verbraucht als, sagen wir, ein Mensch in Ruanda oder Bangladesh. Es ist ein sträflicher Irrtum zu glauben, daß die Armen notorisch dumm sind.

Allerdings hat es in unserem Jahrhundert zwei radikale Versuche gegeben, ein solches Programm zu entwickeln. Sie unterscheiden sich in ihrer grundsätzlichen Ideologie, teilen aber das Attribut der absoluten Menschenverachtung.

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Ich spreche von den Programmen des Adolf Hitler und des Pol Pot.

Die Bedeutung des Nazismus (genauer: des Hitler-Rassismus) für unser Thema wird von der Zeitgeschichte bisher kaum wahrgenommen.

Dabei ist er einigermaßen schlüssig nur zu deuten, wenn man ihn als Vorgriff auf die Probleme der Gattungsfrage versteht. Der Kern des Hitlerschen Sozialdarwinismus war die Rasse, nicht der Staat — sehr im Gegensatz zu den übrigen Faschismen —, mit möglicher Ausnahme des ungarischen und des rumänischen. Hitler hat, wie so viele seiner halbgebildeten Zeitgenossen, diesen Sozialdarwinismus aus den trüben Aufklärungsschriften des 19. Jahrhunderts eingesogen, und er wurde sein eigentliches Handlungsprinzip. Wenn schon die Gattungsfrage am Horizont stand; wenn es schon darum ging, so oder so zu überleben — dann war die Geschichte durch Naturgeschichte abgelöst, und eine Rasse von Herrenmenschen konnte und mußte, auf rücksichtslos erweitertem Lebensraum, über die nachhaltige Verwaltung der Ressourcen verfügen — GENERALPLAN OST hieß das. Die Bevölkerungsentwicklung der Untermenschen konnte man elastisch gestalten, und natürlich mußte die eine Gruppe, die restlos auf Zivilisation im bisherigen Sinne angewiesen war, nämlich die Juden, komplett verschwinden. Keine Interpretation des Hitler-Wesens, so behaupte ich, die dieses Kernprogramm übersieht, kann der Logik der Fakten, der Logik von Auschwitz standhalten.

Und es ist mehr als wahrscheinlich, daß dieser Hitlersche Vorgriff heute Nachahmer finden wird. Welche Fetzen dieser Ideologie driften etwa durch die verdüsterten Himmel des Balkan — ?

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Der andere konsequente Versuch, der sich nicht expansionistisch nach außen, sondern nach innen, auf die Lebenswirklichkeit des eigenen Volkes richtete, war das Experiment des Pol Pot. Auch ihm muß man ökologische Folgerichtigkeit attestieren. Die systematische Zurückführung der Khmer auf ein Niveau von Steinzeitbauern, die Liquidierung jeder irgendwie herausragenden Existenz und Intelligenz, war vordergründig eine radikal-marxistische Idee, aber wirklich nur vordergründig. Was dahinter stand, war die blutige Morgendämmerung einer wirklich nachhaltig, da geschichtslos lebenden Menschheit in der Normalität der hungrigen, verlausten, von Krankheit gezeichneten Jahrtausende und Jahrzehntausende der menschlichen Evolution. War die Khmer-Gesellschaft erst einmal auf den Rousseau'schen Urzustand reduziert, konnte ihr schlechthin nichts mehr zustoßen — jedenfalls nichts Schlimmeres als das, worin sie ohnehin existierte. Das verbleibende Problem waren die Fahrräder und Maschinenpistolen für die, welche gleicher waren als die Gleichen ...

Soviel zu den beiden extremen Modellen. Es ist natürlich anzunehmen, daß un- oder halbbewußt ähnliche Strebungen beim Archipel GULAG am Werke waren, daß sich in tödlicher Mischung Mordmacht aus der archaischen Zeit der absoluten Knappheit erhalten hat (etwa bei den Hilfsvölkern Hitlers in Ost- und Südosteuropa). Und natürlich ist es klar, daß die Gattungsfrage in ihrer konkretesten Ausprägung (Tötungsgifte von überallher, immer drangvollere Enge) einen immer größeren Bereich der sich allenthalben vermehrenden Konflikte ausmacht. Hitler als Vorläufer: die Möglichkeit wird in wachsendem Maße zur Wahrscheinlichkeit.

Aber unsere Fortschrittsgesellschaft weist dieses Inferno wenn schon nicht aus Gründen der Moral, so doch aus Gründen der inneren und äußeren Hygiene, des Bedürfnisses nach Reinlichkeit zurück. Und sie hat die Mittel dazu. Hier sei — ohne jede Wertung — an eine Entwicklung erinnert, die sich in weniger als fünfzig Jahren abgespielt hat — und wohl noch weiter spielen wird. Unter den Nazis wurde zunächst — und zwar vor dem Holocaust — ein Programm

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zur Vernichtung lebensunwerten Lebens begonnen, das nicht nur Sterilisation in großem Maßstab, sondern auch Kindstötung en masse betrieb. Es basierte auf Ideen, die schon seit dem 19. Jahrhundert international herumspukten, und zwar den Ideen der sogenannten »Eugenik«. Manche der angewendeten Kriterien waren offen rassistisch; so waren viele der hochgelehrten Eugenik-Experten von der Minderwertigkeit der Neger sozusagen a priori überzeugt. Dan Diner, ein sehr gewissenhafter Zeitgeschichtler, hat darauf hingewiesen, daß die Teams dieses Euthanasie-Programms nach Osten, in die Vernichtungslager, verlegt wurden — nicht zuletzt deshalb, weil das Programm bei allzuvielen Volksgenossen, vor allem bei Christenmenschen, auf zu heftigen Widerstand stieß. Das Entsetzen darüber war eigentlich die einzige Waffe, welche je die Nazis zu einem politischen Rückzug zwang ...

Wichtig für uns ist dies deshalb, weil eine solche Konfrontation in unserer Fortschrittsgesellschaft bald völlig vergessen werden kann. Die Möglichkeiten vorgeburtlicher Diagnose sind so fein entwickelt, daß die Entscheidung über lebens- bezw. unwertes Leben in die vorgeburtliche Phase verlegt werden kann, und dort wird sie völlig diskret und lautlos erfolgen.

Diskretion und Lautlosigkeit: das sind die Kriterien, welche in den großen Reduktionskampagnen der nahen Zukunft entscheidend sein werden. Daß sie kommen, davon bin ich fest überzeugt.

Schon jetzt werden im Zusammenhang mit den sich häufenden Serien düsterer Prognostik die erstaunlichsten Vorschläge gemacht. Sie liegen alle im Bereich der sogenannten technological fixes, der Tricks, mit deren Hilfe man der Atemnot der Menschheit eine Schnaufpause verschaffen will, ohne daß die entscheidenden Strukturen unseres Kulturentwurfs als solche diskutiert werden — denn schließlich hängen ja die Tricktechniker selber von den hohen Renditen unseres Industrie- und Ausbeutungssystems ab.

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Reversible Sterilisation von Männern; hormonale Einengung des fruchtbaren Alters bei Frauen; Einführung bestimmter Enzyme in Wasser-Reservoirs und so weiter: es ist auffällig, wie wenig — im Gegensatz dazu — an den ressourcenverzehrenden Gewohnheiten unserer Gesellschaft gerüttelt wird, denn, um eine mögliche Unklarheit zu beseitigen: Die Abwägung zwischen dem, was wir >Leben<, und dem, was wir >Tod< nennen, hat auf der Waagschale des Todes auch alle präventiven Mittel zu plazieren, die von der Empfängnisverhütung bis zur Euthanasie reichen können und reichen werden.

Fassen wir an diesem Punkt zusammen:

Das Doppelgesicht, das unheimliche, unseres Jahrhunderts wird bestimmt durch das erstmalig massive Auftauchen der Gattungsfrage im öffentlichen Bewußtsein: kann, wird die Menschheit überleben, und zwar in absehbarer Zeit überleben? Die Situation ist als direkte Konsequenz des Erfolges unserer Art im rein biologischen Sinn entstanden. Unsere Zivilisation hat sich dafür entschieden, die Artüberlegenheit des Menschen, also die 1,2 Prozent, die ihn vom Schimpansen abheben, ausschließlich zur Erfüllung eines rein biologischen Programms einzusetzen, das heißt, zur Vermehrung, Verlängerung, Verstetigung des menschlichen Lebens auf Kosten sämtlicher anderen Lebens-Faktoren und Ressourcen des Planeten.

Da auf diese Weise die Konfrontation mit der Lebens/Todes-Wahrheit immer schwieriger und abstrakter wird, verkümmern alle Fakultäten, die — in Geist und Gemüt — dem Menschen und seiner Kultur aus solcher Konfrontation erwuchsen. Während also der gleiche blinde Drang, der auf Petrischalen voller Bakterienkulturen oder beim Entstehen der Bierhefe zu beobachten ist, die Menschheit in eine lebensgefährliche Situation manövriert hat; während sie in dieser Situation immer entschiedener das ablehnt, das, was man früher einmal und heute noch

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in der englischen Juristensprache Acts of God, Höhere Gewalt genannt hat und nennt, als permanent anzuerkennen, und sie immer mehr ausschaltet oder zumindest verhindert, ist noch keine Generation vor uns den Tatsachen von Geburt und Tod so zimperlich und unfrei gegenübergestanden wie wir.

Während wir uns, was unser Verhältnis zum Planeten und seiner Biosphäre betrifft, rein biologistisch verhalten haben und verhalten, nehmen wir nach wie vor an dem Tabu der absoluten und bedingungslosen Unverletzlichkeit jedes einzelnen Lebens teil.

Angesichts der Gattungsfrage wird das nicht mehr lange möglich sein. Entweder bricht das System von sich aus, wegen der eingebauten Streßfaktoren, zusammen — dann sind die gegenwärtigen Konflikte in aller Welt nur Vorboten dessen, was auf uns zukommt. Acts of God, unkontrollierbare Gewalten stauen sich hinter Dämmen, die wir nur noch flickschusternd mit immer neuen Fuhren von Sandsäcken absichern können.

Die unabweisbare Logik der Gattungsfrage kann aber auch zu anderen Reaktionen führen. Am raschesten erreichbar ist eine neue Form von Barbarei, mit modernsten Mitteln der Technik ausgestattet — einer Stammes-Barbarei mit Kategorien von Unter- und Übermenschen, siehe Hitler. Oder auch eine Barbarei des ins Wahnwitzige gesteigerten Rousseauismus a la Pol Pot.

In den örtlichen, regionalen, kontinentalen Katastrophen, die rings um uns bereits stattfinden, werden sich solche Tendenzen auch in mehr oder weniger, hinter National- oder Ideologie-Slogans getarnter Weise bemerkbar und wirksam machen.

Gleichzeitig, und nicht notwendigerweise im Gegensatz dazu, kann sich der wissenschaftlich-industrielle Komplex zu seiner bislang größten Leistung aufraffen: zur Einführung der Prinzipien moderner Land- und Forstwirtschaft gegenüber der eigenen Art, zur möglichst überparteilichen, antirassistischen, emotionsfreien Form des PLANET MANAGEMENT.

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Natürlich wird dabei niemand erwarten können, daß bei der überparteilichen, emotionsfreien Abwägung der Ausgangsfaktoren die Interessen von analphabetischen Hackbauern die gleiche Gewichtung erhalten wie die eines porschefahrenden Genetikers oder Atomphysikers; es müßte schon Bewertung entlang einer gleitenden, nach oben und unten offenen Sozial- und Wirtschafts-Skala erfolgen. Mit anderen Worten: dieses Planeten-Management wäre die vorläufig höchste erreichbare Stufe der Technokratie. Und diese Technokratie könnte, zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte, nicht nur das Leben/Tod-Syndrom der eigenen Art, sondern die unendlich komplexeren Vernetzungen der Biosphäre als ganzer berücksichtigen.

Abgesehen vom moralischen Horror dieser Vorstellung hat sie auch eine entschiedene wissenschaftliche Schwäche: die Logik des Mißlingens wie sie jedem allzuglatt und allzu konfliktfrei durchgeführten Schema innewohnt. So zynisch es klingen mag: ein Jahrhundert des völligen Anarchismus, wo eine mögliche Zukunft auf dem autopoietischen (und damit mörderischen) Weg von Versuch und Irrtum entsehen müßte, wäre dem totalen PLANET MANAGEMENT sogar logisch vorzuziehen.

Menschenwürdige Programme sind das alle nicht, das ist klar. Und ob es den nächsten hundert Jahren vergönnt sein wird, zu einem menschenwürdigen Programm zu gelangen, ist alles andere als sicher.

Es hieße jedoch von unserer Verantwortung als denkende (und zwar desinteressiert denkende) und fühlende Menschen zurückzutreten, wenn wir völlig darauf verzichteten, wenigstens einige der Markierungen abzustecken, die zu einem menschenwürdigen Programm von morgen und übermorgen (wenn nötig nach bisher unvorstellbaren Katastrophen) hinführen könnten. Und das führt zu der Frage: verfügt die Menschheit über Erfahrungen und Traditionen, die es ihr erleichtern könnten, solche Markierungen zu finden?

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Zunächst: die Begrenzungen, innerhalb derer Überleben in Nachhaltigkeit noch möglich ist, sind wissenschaftlich bekannt. Sie lassen sich in dem sattsam strapazierten ökologischen Imperativ zusammenfassen: Handle so, daß Du Deinen Nachfahren eine unverminderte Lebensgrundlage hinterlassen kannst! Der Imperativ ist erstens sehr allgemein und zur Zeit schlechthin undurchführbar. Es gibt keine Menschengruppe, nicht einmal den Säugling an der Mutterbrust, die nicht auf ihre Weise zur Verminderung der Lebensgrundlagen beiträgt. Dieser Imperativ wäre dann anwendbar, wenn sich das Lebensnotwendige aus dem ständigen Energie-Einkommen der Erde aus der Sonne ergänzen würde — ein Desiderat, das nur bei drastisch reduzierter Bevölkerungszahl erfüllbar wäre.

Dies setzt wiederum eine sehr deutliche Markierung. Aber selbst sie bedarf der Spezifizierung. Eine Weltbevölkerung von, sagen wir, zwei Milliarden wäre nach wie vor bio-mörderisch, wenn sie sich an die Ansprüche der industrialisierten Regionen von heute klammerte. Ein drastischer Schnitt in das, was wir als selbstverständliche Werkzeuge unseres Gemein- und Einzelwohls empfinden, wird nicht zu vermeiden sein.

Aber wenn er notwendig ist — wie ist er zu begründen? Wie anders ist er zu erreichen als durch eine lange Epoche des Jammers und der ständig erneuerten Ängste, mit ihren notwendigen Folgekonflikten?

Ich wiederhole hier: dies ist keine Prognose. Dies ist keine Aussage über Wahrscheinlichkeit oder Unwahrscheinlichkeit der Entwicklung. Worum es geht, ist einzig und allein die Festlegung der Kriterien, welche für die Weiterexistenz der Menschheit nach dem Ende der gegenwärtigen Wucherungsphase notwendig — oder doch von Bedeutung sein werden.

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Und so viel steht fest: niemals wird die Menschheit — oder Teile der Menschheit — einem Programm zustimmen, dessen Sinn sie nicht einzusehen vermag, oder dessen Werkzeugen sie nicht zustimmt. Mit anderen Worten: Jedes Programm der Zukunft setzt Kultur im weitesten Sinne voraus. Das Verhältnis von Leben und Tod wurde und wird in jeder Kultur nicht nur von den Möglichkeiten des Bierhefe- oder Schimpansen-Programms bestimmt, sondern von Einsichten und Willensakten, die aus den 1,2 % des reinen Menschheitserbes stammen. Darauf kommt es an. Es kommt darauf an, die Einsicht in die Notwendigkeit (um Hegel zu variieren) mit so machtvollen und konkreten Werkzeugen auszustatten, daß sie durchsetzbar, und zwar nicht nur individuell, sondern kollektiv durchsetzbar erscheint.

Solche Werkzeuge sind bekannt und erprobt. Sie bestanden, solange es Menschen gibt, wahrscheinlich stets darin, Acts of God, Werkzeuge außermenschlicher, höherer Gewalt in menschliche Leistung zu verwandeln. Fasten als Sublimierung des Hungers; Enthaltsamkeit als höhere Form der Selbstkontrolle; desinteressierte Suche nach Erkenntnis und Grundlagen der Erkenntnis statt zweckgerichteter Bastelei — und, wohl als höchste Form dieser Art von Selbstbefreiung, von Souveränitäts-Streben: die Sinnerfüllung des Todes, wie sie Jesus in Johannes 15,13 formuliert: »Niemand hat größere Liebe als die, daß er sein Leben läßt für seine Freunde.«

Ich wiederhole: all das ist bekannt und erprobt. Es kann selbstverständlich erleichtert und ergänzt werden durch die Ergebnisse der Neuzeit, die Werkzeuge, die durch ihre Wissenschaft bekanntgeworden sind. Häufig genug sind diese Werkzeuge nichts anderes als Bestätigungen älterer Weisheit; auf jeden Fall aber erweitern sie den Raum der Entscheidung.

Ist es überraschend, daß es sich für eine so geformte Zukunft nicht mehr um ein Programm, sondern um viele mögliche, das heißt um viele mögliche Kulturen handelt? Wechselnde Anteile von individuellem und kollektivem Kontrollverhalten: verschiedene Formen von Spiritualität; verschiedene Formen der Einsichts-Vermittlung — es wäre töricht, in dieser Phase rigorose Festlegungen vorzunehmen.

Das Überwölbende jedoch steht fest. Menschen, die es fertigbrachten und fertigbringen, so zu leben (bisher war es im allgemeinen nur eine Minderheit), haben sich in allen Kulturen, die den Namen verdienen, der größten Hochachtung erfreuen können. Man nannte und nennt sie Heilige; und zwar ohne Rücksicht auf die jeweilige Religion, in der solche Kanonisierung erfolgt. Hält man sich vor Augen, daß diese Lebensweise — erstens: diese Einzelnen zu äußerster Freiheit führte, und daß — zweitens: sie bisher als einzige die Kriterien der Nachhaltigkeit einhalten konnte und kann, die von der Wissenschaft markiert sind, so wird klar, daß dieser so oft mißbrauchte, von alten Weihrauchschwaden versüßlichte Begriff gewaltige praktische Aktualität hat. 

Er ist, so nüchtern und inhaltsvoll gesehen, sowohl den schlauen Gängeleien heiliger Büros entrückt, wie dem Verdacht des mangelhaften Elan Vital, des mangelnden Lebens-Schwungs, der ihm durch die genannten Gängeleien, aber auch durch die überwältigende Borniertheit des Bierhefe- und Schimpansen-Programms aufgeklebt wurde. Wenn Sie, verehrte Anwesende, diesen Begriff lieber nicht anwenden wollen, so ist das Ihre Sache. Ich bitte Sie aber herzlich, wenn Sie sachlich nichts mit ihm anfangen können, daraus nicht zu schließen, daß das, wofür er steht (jedenfalls in der Form, in der ich ihn hier angewendet habe), in irgendeiner Weise umgangen werden könnte, ohne dem miesesten Defätismus zu verfallen.

Zum Schluß ist es vielleicht notwendig zu betonen, daß uns diese Perspektive, dieses Vor-Programm der Menschenwürde keineswegs der Pflicht enthebt, innerhalb unserer Zeit und unseres Raums auf die Verbesserungen der Bedingungen für Morgen hinzuarbeiten. Weder das Energieproblem noch die Organisation des Finanzwesens oder der Arbeit verliert dadurch an Dringlichkeit — im Gegenteil, alle diese Fragen erfahren zusätzliche Aufwertung.

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