Teil 5
Nachreden
1. Abschied von Toni Richter 10. Januar 2004
217-220
Wir, Verwandte und Freunde, haben uns hier in Stille versammelt, um unseren Abschied von Antonie Richter zu nehmen. Und vielleicht haben sich auch Trauernde aus einer weiteren Öffentlichkeit eingefunden, die durch die Todesanzeige in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG informiert wurden. Die Anzeige wurde von der Hans-Werner-Richter-Stiftung Bansin aufgegeben, und sie spricht zunächst vom unvergessenen Gründer der Gruppe 47, ehe sie auf Antonie, die Gefährtin seines Lebens, zu sprechen kommt.
Nun, dies ist wohl noch nicht anders möglich. Das ist wohl nach wie vor das Jahrtausendlos der Frauen, grundsätzlich nach Rang und Namen des Gemahls, des Eheherrn, definiert zu werden. Und Toni, so glaube ich, hätte es auch nicht anders erwartet. Stark und entschlossen, wie sie war, hat sie ihren Auftrag darin gesehen, an einer Unternehmung mitzuwirken, die zumindest im öffentlichen Bewußtsein mit dem Leben ihres Mannes nahezu identisch wurde. Und vielleicht ist es wirklich der kürzeste Weg, zu ihr selbst zu gelangen, wenn man kurz über die Literaturgeschichte eines halben Jahrhunderts redet.
Diese Geschichte schuldet ihr viel. Es ist müßig zu spekulieren, was aus dieser Gruppe 47 ohne ihre manchmal kaum bemerkbare Präsenz, ihre angestrengte und anstrengende Wachsamkeit geworden wäre.
So aber hat sie durchaus, wenn auch nicht allen sicht- und spürbar, das Profil, ja wahrscheinlich die Funktionsfähigkeit dieses stets schwindenden und stets wiederkehrenden Clubs, dieser einmaligen Clique ohne Statuten und Vereinseintrag ermöglicht — vom ersten gemeinsamen Bad im Bannwaldsee bei Füssen bis zum glorreichen Finale im böhmischen Schloß Dobris 1990.
Und um das zu können, durfte sie auf keinen Fall eine Literatin sein — was sie ja auch nie war und nie geworden ist. Vielmehr waren die Tugenden und Talente einer Gastgeberin, einer Terminsekretärin, einer Spezialistin für Gruppendynamik gefordert; kurz, die Talente, die Liebenswürdigkeit und die Kraft der Frau, wie sie schon das Alte Testament als MULIER FORTIS preist, wie sie als Schlüsselwahrerin in antiken Haushalten und, vielleicht, als zupackende Äbtissin im deutschen Mittelalter figuriert. (Als Chefin eines Reiterhofs für Kinder am äußersten Deich der Nordsee, den sie jahrelang tüchtig managte, war sie davon nicht allzuweit entfernt...)
Diese Kraft wirkte nicht an der Oberfläche, hatte nichts von männischer Verbissenheit. Toni lachte gern, sie liebte elegante Dinge, und sie war eine ausgezeichnete Tänzerin. Sie konnte haushalten in der feudalen Grunewaldvilla, wo Hans Werner eine Zeitlang ein eigenes Hörfunk- und Fernsehprogramm organisierte. Sie assistierte ihm in seiner Existenz als Schriftsteller, sah seine Manuskripte durch und achtete aufs Budget. In München gehörte sie mit ihm in eine eigene und geistreiche Societe, die nur in geringer Schnittmenge mit der Gruppe 47 zu tun hatte — eine Gesellschaft, deren Wert zum Glück an keiner der medialen Münchner Klatschbörsen notiert wurde.
Hans Werner Richter war schon 1990, bei dem Treffen in Dobris, von schwerer Krankheit gezeichnet, und er hat wenig später Abschied genommen. Es kamen für Toni einsame Jahre; aber sie hat ihren Auftrag nicht vergessen, ist ihm weiterhin mit Energie und Geschick nachgegangen. Nachgegangen ist sie den Spuren im Sand, über die Hans Werner eines seiner hübschesten Bücher schrieb; nachgegangen bis unter den hellen Himmel der Ostsee bei Bansin, woher er kam und wo er immer noch, durch alle die Jahre der deutschen Trennung, seine Familie wußte und besuchte.
Bansin, einst ein schicker wilhelminischer Badeort, aber auch eine alte Fischersiedlung, hatte unter der realsozialistischen Dunstglocke schweren Identitätsverlust erlebt; die Aussicht auf eine Ehrung des Andenkens von Hans Werner Richter, des Sohnes, der seinen Weg gemacht hatte, konnte nur willkommen sein. So entstand das Gedächtnishaus im Bansiner Sand, so entstand die Stiftung, die sich das kühne Ziel gesetzt hat: junge polnische und deutsche Autoren auf gegenseitige Augenhöhe zu bringen, um an der manchmal qualvollen, manchmal großartigen gemeinsamen Geschichte der beiden Nationen zu arbeiten. Wer vermag heute zu sagen, ob dies nicht die größte selbständige Leistung von Toni Richter war? Das ist eine Frage ihrer und unserer Zukunft. Es liegt jedenfalls ein Jahrbuch der Stiftung vor, das zu großen Hoffnungen berechtigt.
Nun haben wir wirklich eine Epoche der Literaturgeschichte durchschritten, und unversehens hat sie uns Toni Richter als Mitmenschen, als Person von Fleisch und Blut nähergebracht. Dieses ihr Leben war, unter allem Brokat des Erfolges, ein Leben von großer Einfachheit. Es war, letzten Endes, auch ein Leben des Verzichts. Aber dieser Verzicht war die Frucht einer Einsicht. Ob diese Einsicht bewußt oder unbewußt war — das spielt kaum eine Rolle. Toni Richter lebte und wirkte aus der altmodischen Überzeugung, daß Glück ein Nebenprodukt ist. Ihm als Lebenssinn nachzujagen, ergibt letzten Endes keinen. Was zählt, ist der erfüllte Auftrag, die ausgefüllte Rolle im himmlischirdischen Spiel.
Den Zeitgenossen der Spaßgesellschaft mag dergleichen merkwürdig erscheinen, und sie werden fragen, ob Toni Richter nicht selber wußte, was sie sich damit antat. Oh, sie wußte es.
In dem Dokumentationsband über die Gruppe 47, den sie herausgebracht hat, sind nicht allzuviele Bilder von ihr selbst zu finden. Das schönste ist wohl das auf Seite 110, in einem Bericht über das Treffen von 1963 in Saulgau. Es zeigt Toni mit einem Siegerkranz, der ihrem Mann geflochten worden war, und der auf seinem Haupt wohl nur halb so hübsch ausgesehen hätte. Toni steht er blendend; und sie lächelt fast ungläubig, »überstürzt vom Gewinn«, wie Rilke sagte. Unter ihrem Lächeln steht Melancholie — keine schleierhaft angewehte, sondern eine Melancholie, die sie als Gewürz in ihrem ganzen Lebensentwurf verspürt hat. Einem Entwurf, auf den sie auf keinen Fall verzichtet hätte — denn er erst erbrachte, was sie unter Glück verstand.
Es waren und sind nicht viele, die das verstanden. Leb wohl, Toni.
219-220
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