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3  Nachhaltigkeit als zivilisatorische Herausforderung

Thurn-und-Taxis-Preis für die Forstwirtschaft,  Freising, Januar 2001  

 

Meine Damen und Herren,

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am Beginn eines Milleniums, am Beginn seines zweiten Jahres feiern wir den Träger eines Forstpreises und seine Leistung. Diese Leistung macht es (so viel versteht der Laie auch) den Buchen unserer Wälder leichter, Gesundheit und langes Leben zu erreichen — mit anderen Worten, sie trägt zur Nachhaltigkeit des Waldes nördlicher Breiten bei, dieses lebenswichtigen Biotops. Fast zwangsläufig führt dies zu Gedanken und Überlegungen, die Begriff und Gestalt der Nachhaltigkeit betreffen — also der gewaltigsten Herausforderung, der die menschliche Zivilisation heute gegenübersteht — ja, der sie je gegenübergestanden hat.

Nun ist dieser Begriff der Nachhaltigkeit in den letzten Jahrzehnten zu einer ziemlich billigen Scheidemünze geworden, die hin und zurück über die Wechseltische unserer Gesellschaft geschoben wird. So reden Unternehmer und Finanziers schon von der Nachhaltigkeit eines Vorhabens, wenn es in den nächsten zwei Quartalsabrechnungen noch keine Gewinne abwirft; oder Politiker, wenn sie es tatsächlich einmal fertigbringen, nicht aufgrund neuester Umfrage-Ergebnisse ihren Kurs um 180 Grad zu ändern. In Forstkreisen, auch in bescheidenen, weiß man das ein bißchen besser. 

Da hat man es nämlich immer mit der unmittelbarsten Nachhaltigkeitsprobe und -aufgabe zu tun, die es in unserer atemlosen Zeit noch gibt: dem Wald. Und man weiß, daß dieser Wald als Ganzes das effizienteste Ressourcen-Management ist, das wir kennen; daß er die Kunst alles Lebendigen, sich durch intelligente Ausnutzung des Entropieflusses gegenläufig, stromaufwärts nach Art des hydraulischen Widders zu bewegen und zu entfalten, am besten und zum besten von allen Biotopen ausgebaut hat.

Solche Nachhaltigkeit ist nie statisch, weist sich vielmehr durch ein majestätisches Äonenrad der Sukzession aus. Wem es einmal vergönnt war, dies in einem der interessantesten Wälder Europas, dem griechischen Abhang des Rhodopengebirges, unter kundiger Führung selbst wahrzunehmen, wird sich der Einsicht in solche Harmonie und solche Majestät nie mehr entledigen können.

Nun ist jedoch (das muß klar gesehen werden) die Geschichte der Wälder und ihrer Nachhaltigkeit, soweit sie uns durch historisches Zeugnis überliefert ist, eine Geschichte des Waldsterbens. Die Evolution setzte nämlich uns in Marsch, den homo sapiens sapiens, die unruhigste Art, die sie je hervorgebracht hat. Vor einer geologischen Sekunde erst brach dieser nervöse Wildling aus dem Tanganjika-Graben auf, nahm unverzüglich den gesamten Globus unter die Sohlen (man setzt seine Expansions­geschwindigkeit auf etwa drei bis fünf km pro Jahr an) und hat sich kaum ein paar Jahrzehntausende als Wildbeuter betätigt, als er schon, vor acht- bis sechstausend Jahren, den Drang zur Seßhaftigkeit verspürte.

Was dann geschah, was vor allem im fruchtbaren Halbmond von Euphrat und Tigris geschah, ist schon dokumentierbare Geschichte. Homo sapiens sapiens machte sie (zunächst ohne es zu wissen) aus seiner eigenen, höchst problematischen Ausstattung heraus. Da ist die uralte Raffgier des limbischen Gehirns, das ihm alle verfügbaren Ressourcen zu ergreifen befiehlt — und da sind die brandneuen Fakultäten des Großhirns, seiner grauen Zellen, die erschreckende Dimensionen des Opportunismus erschließen können. 

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Sokrates und Berlusconi an derselben Deichsel — es ist schwer zu sehen, wie das gut gehen soll. Denn es ergibt eine neue Qualität des Opportunismus, der Schnäppchenjagd in der Lebenswelt, die man als die eigentliche Ur-Versuchung und Erblast der Menschheit bezeichnen muß.

(Hierzu eine theologische Bemerkung: seit der Renaissance geraten die Kirchen zunehmend in Erklärungsnotstand, was die sogenannte Erbsünde betrifft, und flüchten in immer schwierigere Abstraktionen; ich glaube, es wäre hilfreich, die evolutionsbedingte Erblast der ständigen Versuchung zum mörderischen Opportunismus, verstärkt durch das Todesbewußtsein und die daraus erwachsende Dauersorge, als die eigentliche Erb-Krankheit zu beschreiben. Der Zustand des Tatorts Erde läßt jedenfalls auf die Größe des potentiellen und des realen Verbrechens schließen. Aber das Nähere müssen wir den Fachleuten auf den Lehrstühlen überlassen.)

Fest steht jedenfalls, daß der Übergang zu Seßhaftigkeit und Ackerbau vom urzeitlichen Menschen durchaus als Kreuz empfunden wurde — siehe die äußerst realistische Beschreibung seiner Folgen im Fluch der Paradiesvertreibung: Schweiß des Angesichts bei steter Plackerei, neugesetzte, aber notwendige Feindschaft gegenüber dem Großteil der Pflanzenwelt, schmerzhaftere Geburten wegen der ständigen Verkrümmung des Rückgrats bei Hacken, Säen und Ernten (und, so können wir heute hinzufügen, bedrohliche Nähe zu Krankheitskeimen, die durch das Aufeinanderhocken von Mensch und Tier prächtig gediehen und gedeihen).

Zum Großangriff auf die alten Hüter der Nachhaltigkeit, die Wälder, wurde die Seßhaftigkeit durch ihr Selektionsprogramm, ihre Software gewissermaßen. Ganz wenige Arten von Pflanzen und Tieren, jeweils kaum mehr als ein halbes Dutzend, wurden der Kultivierung für würdig befunden, und das Land wurde zum Kapital, das die Ernährung von Mensch und Vieh sicherzustellen hatte; zumindest ihren größeren Teil.

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Neue Bedürfnisse, wachsende Bevölkerungen, komplexere gesellschaftliche Organisationsformen: das erforderte neues Land, und dieses Land wurde gewonnen, indem man dreidimensionale Wälder in zweidimensionale Steppen verwandelte — bei uns entstanden so die neuen Gemeinwesen auf -wang und -schwang, auf -roda, -reith und -reut, die vom Triumph des Steppenprogramms künden. So wurde, wie schon erwähnt, die Geschichte der Wälder zur Geschichte ihres Sterbens bis in unsere Tage, und grimmigkonsequente Biologen stehen nicht an, diese Geschichte als den allergewaltigsten, den Ur-GAU, das Ur-Verbrechen der menschlichen Gattung schlechthin zu bezeichnen; ein Verbrechen, dessen letzte Konsequenz auch der Untergang der Spezies sein werde, in den ein breiter Schweif von höherem Leben mitgenommen würde.

Stellen wir, als christlich konditionierte Abendländer, diese apokalyptische Voraussage einmal zurück. Stellen wir lediglich fest, daß die Geschichte der Menschheit zunächst und auf Jahrtausende ohne Rücksichtnahme, jedenfalls ohne effektive Rücksichtnahme auf die biosphärische Nachhaltigkeit verlief. Gewiß, spätestens seit der Romantik blühte und blüht der anklägerische Rückbezug auf die Naturweisheit alter Völker — ein Rückbezug, der Ende der Sechziger- und Anfang der Siebziger-Jahre durch die Öko-Pax-Bewegung wieder sehr mächtig wurde. (In Deutschland erhielten dabei nach alter Karl-May-Tradition die nordamerikanischen Indianer einen Ehrenplatz.) Daß die sattsam bekannte, öko-korrekte Sittenpredigt des Häuptling Seattle nachweislich das Produkt späterer Redakteure ist, nahm ihr nichts von ihrer Bedeutung als Heiliger Schrift der Ökologiebewegung.

Nun kommt es, wie wir wissen, bei Heiligen Schriften selten auf absolute Authentizität an. Wesentlicher ist, daß keine bisher bekannte Kultur, die einen gewissen Komplexitätsgrad erreichte, von den Krankheitssymptomen mangelnder Nachhaltigkeit verschont blieb.

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Schon die Ursprungslandschaft der großen neolithischen Revolution, das Zweistromland, erzeugte die Salzwüste des Schatt-el-Arab und verlegte seine Zentren weiter und weiter flußaufwärts, baute mehr und mehr unempfindliche Gerste an, weil der Weizen kein Bodensalz verträgt. Das stete Schrumpfen der Anbauflächen in China ist bekannt; welche ökologischen Bedingungen die Kleinreiche der Mayas begruben, noch kaum. Und die (übrigens sehr jungen) Großreiche der Azteken und der Inkas steckten, als die Spanier eintrafen, in der klassischen Problematik der Wachstumsspirale — einer Problematik, die theologische Kontroversen auslöste.

Entscheidend für das Geschick der Welt aber wurde der Beginn der Globalisierung, die an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert von Europa ausging. Ihr erstes und wichtigstes Symptom war die Globalisierung der Mikroben, ohne die der Völkermord an den Indianern kaum so gründlich gelungen wäre. Zwanzig Jahre nach der Eroberung Mexikos war die Volkszahl auf zehn Prozent geschrumpft — keine noch so rüstige Mörder-Armee hätte das fertigbringen können. Die mangelnde Immunität gegenüber den Laborprodukten des eurasischen Kulturmassivs hatte schon die große Pest des 14. Jahrhunderts in Europa ermöglicht — im Vergleich zu den Totenheeren der Neuen Welt war sie unbedeutend.

Was die Nachhaltigkeit im engeren Sinne, vor allem die Nachhaltigkeit der Wälder betrifft, wurde zu Beginn der Neuzeit ein weiterer Zerstörungsfaktor multipliziert und globalisiert: der Flottenbau.

Natürlich hatte er schon seit dem klassischen Altertum sein Unwesen getrieben. Attika war zur Zeit des Perikles längst abgeholzt, der große athenische Seebund holte sich das Material für seine Trieren aus den Regionen des Schwarzen Meers. Im Mittelalter waren es vor allem Vene-

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dig und Genua, die das Clearfelling weit talauf vorantrieben — auf dem Peloponnes, in Dalmatien, an den tyrrhenischen Küsten. Aber selbst dieser ungeheure Bedarf war kindisch klein im Vergleich mit den Erfordernissen der neuen Hochseeflotten — der Portugiesen, der Spanier, der Holländer und Engländer.

Und so war es durchaus gerecht, daß der Verfall der ersten neuzeitlichen Supermacht, nämlich Spaniens, nicht so sehr durch den Untergang der großen Armada als vielmehr durch ihren Bau eingeleitet wurde: für diese Riesenflotte wurden die letzten zuammenhängenden Bergwälder der Sierras abgeholzt, so entstanden die trostlosen Mondlandschaften Zentralkastiliens.

Nun, Sie wissen besser als ich, wie die Wälder Europas herunterkamen — gegen Ende des 18. Jahrhunderts erreichten sie wohl ihren elendesten Zustand. Und da begab sich Merkwürdiges. Während der Liberalismus durch Smith und Ricardo eine feste Doktrin erhielt; während er die blendende Wahrheit entdeckte, daß es eben die Selbstsucht und das Eigeninteresse sind, die sich, von unsichtbarer Hand gelenkt, zur Wohlfahrt der Nationen entfalten, war es schiere Waldnot, die Weitsicht und Planung im ältesten Wirtschaftsbereich wieder zu Ehren brachte.

Sicher, da war zunächst Wirtschaftlichkeit am Werk; kühle Einsicht, daß es tollpatschig wäre, das Naturkapital zu dezimieren, aus dem ständiger Ertrag erwächst. Und mit der Erschließung der Steinkohle als Primärenergieträger wurde wesentlicher Druck von den Wäldern genommen: der Heizbedarf wachsender Städte und Produktionsanlagen. Dennoch: der Wald, und gerade der deutsche, gewann nicht nur wirtschaftlichen Respekt zurück. 

Im »Mann ohne Eigenschaften« des Robert Musil wird die Kutschfahrt eines Paares geschildert, am Fuß eines bewaldeten Hügels entlang. Das Wetter ist schön, die Okkasion romantisch, und die Dame gibt sich angemessenen Gefühlen hin, zitiert natürlich auch fromme Dichterworte: »Wer hat dich, du schöner Wald, / aufgebaut so hoch da droben?« Das könne er ihr sagen, meint der Gefährte trocken — es sei die Linzer Bodenbank gewesen.

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Musil pariert damit schon Epigonales, entwaffnet ein Klischee. Aber das Klischee bedurfte, um entstehen zu können, einer echten kulturellen Bewegung, und das war die Waldbegeisterung der deutschen Romantik noch allemal. Daß ihre Texte und ihre Gefühle zum Halbfertigprodukt der Männerchöre wurden, war nicht die Schuld der großen Sänger, deren erster und größter wohl Johann Wolfgang von Goethe mit einem einzigen kurzen Vers wurde: Über allen Wipfeln ist Ruh. Daß diese Texte und Gefühle wiederum zur Montage einer Alibi-Entrüstung gegen das Industriezeitalter verwendet wurden (von dem man schließlich mächtig profitierte), hatte höchst zwieschlächtige Folgen, unter anderen wiederum Halbfertigprodukte für Jugend- und Wandervogelbewegung sowie für das Dritte Reich, das ja so ziemlich alles brauchen konnte, solange es nichts mit Rationalität zu tun hatte.

Aber lassen wir diesen Fest-Anlaß nicht zur Zeitgeschichtsstunde entarten, stellen wir lediglich fest: im Laufe einiger weniger Generationen wurde der vom homo oeconomicus erzeugte und gespeiste Entropiestrom immer voluminöser und reißender, und ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, aufs beste getarnt durch den sogenannten Kalten Krieg zwischen zwei Konfessionen der gleichen ökonomistischen Religion, übernahm der Totale Markt mehr und mehr die Steuerung der Weltgeschicke.

Die Logik dieses Marktes, seiner Produktions- und Allokationssysteme, steht nun allerdings im absoluten Gegensatz zu den Prämissen nachhaltigen Lebensmanagements. Es genügt, ein paar Stichworte zu erwähnen:

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 — Das Leben operiert dezentral, das heißt in Netzen von vielfältigen Beziehungen ohne hierarchischen Mittelpunkt; unser Zivilisationsentwurf drängt dagegen immer mehr zur Zentralisierung und Vereinheitlichung hin.

Das Leben bezieht seine Anstöße zur Weiterentwicklung aus Fehlschlägen, ja Katastrophen, nach dem Versuch-und Irrtum-Verfahren — während wir (besonders bei Anwendung hochkomplizierter Technologien) auf Risiko-Ausschaltung durch redundante Sicherungen bestehen müssen; Sicherungen, die dann in irgendeinem Ernstfall durch die Unberechenbarkeit der menschlichen Psyche außer Funktion gesetzt werden. (Das Protokoll des Tschernobyl-Desasters, soweit zugänglich, ist hier Illustration genug: da waren Fachleute am Werk, die glaubten, alle Tricks und Abkürzungen zu kennen.)

Nachhaltiges Leben verläuft in Regelkreisen, welche die überraschendsten Zweit-, Dritt- und weiteren Folgen ebenso hervorrufen wie verarbeiten — während wir, um den Fortschritt (oder das, was wir darunter verstehen) weiterzutreiben, Probleme isolieren und monokausal behandeln.

Das leider beste und zwingendste Beispiel liefert die Biotechnologie. Seit sie zum wichtigsten Sektor des Produktionsfaktors Wissenschaft, also zu einem plutokratisch höchst aufregenden, Geschäft geworden ist, wird es immer schwerer, objektiv zu bleiben — aber gestehen wir den Beteiligten ruhig die hehrsten Motive zu: phantastische Ertragssteigerungen pro Hektar, bisher unmögliche Angriffe auf seltene und sehr bösartige Krankheiten, bisher ungeahnte, ja unahnbare Lebensverlängerung und dergleichen mehr. 

Jedes einzelne dieser Ziele wird strikt monokausal angegangen, wie es der Praxis, ja dem Ethos von mehreren Jahrhunderten Wissenschaft entspricht: ein Faktor wird verändert, während alles Andere unverändert bleibt — schon der Kontrolle wegen. Mögliche Zweit-, Dritt-, Mehrfacheffekte werden oft nicht einmal der Ritualformel gewürdigt, die Pharma-Werbespots herunterleiern müssen, was Risiken und Nebenwirkungen betrifft.

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Dabei sind diese Risiken immens, was jeder weiß, der sich auch nur nebensächlich über die Wirklichkeiten der Gleichungen höheren Grades unterrichtet hat. Das Unheimliche ist nur, daß solche Wirklichkeiten im öffentlichen Bewußtsein, im öffentlichen Klima, in der öffentlichen Diskussion nach wie vor so gut wie keine Rolle spielen. 

Während außerhalb der Forste in einigen Wohlstandsländern, die mit Prinzipien der Nachhaltigkeit betreut werden, der massive Waldmord, vor allem der Urwaldmord ungebremst weitergeht; während der Zeitablauf der Produktnutzung zwischen Rohstoff und Müllhalde immer hektischer wird; während der tatsächliche Wohlstand der Völker, wenn man das Naturkapital einrechnet, innerhalb einer Generation um 30 Prozent gesunken ist; während aller normalen Voraussicht nach das 21. Jahrhundert zum gefährdetsten der Erdgeschichte werden dürfte, zum »Jahrhundert des ökologischen Engpasses« (so der Naturforscher Edward O. Wilson); während also laufend ein Dauerverbrechen gegen das Leben begangen wird, gegen das der Anschlag vom 11. September 2001 nur ein Taschendiebstahl ist: registrieren alle diese Tatsachen allerhöchstens auf der Seite »Vermischtes« in der Tagespresse, auf einigen Spezialkästchen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, an einigen Wochenenden in kirchlichen und anderen Akademien, wo man sich besorgt, wenn schon wissenschaftlich inkorrekt über die »Bewahrung der Schöpfung« unterhält. 

Nicht ein Wirtschaftsjournalist hält es für der Mühe wert zu erwähnen, daß Ökonomie immer und logischerweise ein Unterfall der Ökologie ist; so genannte Wirtschafts-Weise reden ohne Hinterfragen vom so genannten Wachstum, das fast nie etwas anderes ist als das Wachstum einen malignen Tumors, an dem jedoch die Schicksale von Nationen und Politikern gemessen werden. 

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Der amerikanische Präsident kann also auch die Ratifizierung des Kyoto-Protokolls verweigern, mit der Begründung, daß es der amerikanischen Wirtschaft schaden würde — was ungefähr so rational ist wie die Weigerung, den Drogenhandel zu bekämpfen, weil dies wertvolle Arbeitsplätze in der zur Zeit kraftvollsten Wachstumsbranche kosten würde.

Aber George W. hat kein Monopol auf intellektuelle Schlichtheit. Der Ministerpräsident eines Freistaats, dem anzugehören wir die Ehre haben, hat vor Jahren anläßlich eines so genannten Autogipfels sinngemäß erklärt, die Ökologen könnten doch nicht dauernd mit massiven Forderungen daherkommen, ohne an die Folgen für die Wirtschaft zu denken.

Hier liegen die Prioritäten offen zutage. Die stetig expandierende »Wirtschaft«, das System des Totalen Marktes, stellt seine Rohstoff- und Energie-Forderungen, die wirtschaftsgesetzlich ständig steigen müssen, an die Ressourcen des Planeten, der sie gefälligst zu erfüllen hat. Seine Biosphäre kommt in den Zettelkästen und PC-Speichern allenfalls unter dem Stichwort »Politikfeld Umwelt« vor. Dieses Politikfeld, dieses Umwelt-Gärtlein wird zur Pflege Spezialisten überlassen; dieselben haben sich damit abzufinden, daß etwa über die WTO laufend nationale und regionale Schutzbestimmungen abgebaut werden sollen, um »gleiche Chancen des Wettbewerbs« herzustellen. 

Das Ganze wird mit atemberaubender Chuzpe als reine Defensivstrategie gegen die machtgierigen Eingriffe der Politik geschildert: man wolle ja nichts anderes, als sauer verdientes Eigentum gegen schleichende »Enteignung« schützen.

In Wahrheit ist sowohl die Zerstörung der Politik wie die der geistig-kulturellen Grundlagen durch den Totalen Markt in vollem Gange. Mit der sattsam bekannten und diskutierten Formel vom »Ende der Geschichte«, mit der Vierbuchstaben-Abkürzung TINA (there is no alternative) ist der imperiale Allmachts-Anspruch dieses Marktes erfreulich deutlich dargestellt.

Die Welt wird demzufolge nach ausschließlich betriebswirtschaftlichen Effizienzkriterien eingerichtet — was natürlich der sichere Weg in den kollektiven Selbstmord ist. Seine heroische Akzeptanz ist die geheime Kardinaltugend unseres Imperiums.

Man sieht: die Größe der Weltkrise, der biosphärischen Bedrohung kann kaum überschätzt werden. Vom Hochstand der nachhaltigen Forstwissenschaft ist sie am besten zu beobachten. Jahre der gesellschaftlichen und berufspolitischen Arbeit mit Intellektuellen, insbesondere mit Kulturwort-Produzenten, zwingen mir die Einsicht auf, daß aus dem freien Vorfeld des Kulturbetriebs keine sinnvolle Unterstützung zu erwarten ist — der typische Intellektuelle, ob linker oder rechter, ist absolutes Produkt einer Metropolitankultur, die, zoologisch gesprochen, aus Prädatoren dritten bis fünften Grades besteht. Und wie fähig oder unfähig die politische Klasse ist, ist sowohl am Schicksal der rotgrünen Bundesregierung — wie an den Taktiken der Opposition abzulesen, die sich ausgerechnet das bißchen Ökosteuer als Schlachtfeld ausgesucht hat.

Vielleicht, so wage ich zu hoffen, sind die Kirchen noch imstande, die spirituelle Bedeutung der Nachhaltigkeit für eine künftige Welt zu erfassen und in Verkündung und Orthopraxis darzustellen. Sie träten damit allerdings in Opposition zur herrschenden Allmachtsreligion des Totalen Markts; aber dergleichen ist ihnen, wenn man in die Geschichte zurückblickt, eigentlich immer recht gut bekommen. 

Und es sollte sie eigentlich reizen, zusammen mit den Nonkonformisten aller Lager, ja vielleicht geistig an ihrer Spitze, den gewaltigsten zivilisatorischen Auftrag anzunehmen, der heute in der Welt sichtbar ist. Ich hoffe dies jedenfalls von Herzen.

Danke für Ihre Aufmerksamkeit.

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