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Einleitung der Herausgeber

Von Bassmann und Horbatsch

 

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Die in der vorliegenden Dokumentation veröffentlichten Äußerungen politischer Gefangener aus der Sowjet­union geben Einblick in Verhältnisse, die dem Bürger der Bundesrepublik Deutschland und anderer westeuropäischer Staaten im allgemeinen völlig unbekannt sind. 

Es sind Dokumente, die auf anschaulich-konkrete Weise die Opfer von Menschen belegen, die gegen Widerstände härtester Art ihre in der UN-Charta proklamierten und auch in der sowjetischen Verfassung garantierten Menschen­rechte zu praktizieren suchen. Dabei ist es für den westeuropäischen Betrachter unfaßbar, wie »prisoners of conscience« für Dinge bezahlen, die vielen Leuten in anderen Staaten ob ihrer Selbstverständlichkeit oftmals gar nicht bewußt sind.

Der erzwungene Verzicht auf familiäre Beziehungen oder auf berufliches Weiterkommen sind nur zwei Folgen der von der sowjetischen Justiz verhängten Strafen. Demjenigen, der sich mit dem Problem der »Dissidenten« — das Wort stammt aus dem Lateinischen und bedeutet soviel wie »Abweichler« — näher auseinandersetzt, fällt der Mut auf, mit dem diese Menschen gegen einen scheinbar erdrückenden Machtapparat angehen.

Möglicherweise ist die Erklärung hierfür vielen Außenstehenden unverständlich, doch trifft sie mit Sicherheit zu: auch in unserer, von Egoismus und dem rücksichtslosen Willen zu persönlichem Fortkommen geprägten Welt des 20. Jahrhunderts gibt es Personen, die die Ideale der Menschenrechte als höchste Werte ansehen und sich aktiv für ihre Realisierung einsetzen.

Bezeichnenderweise findet man die unerschrockensten Vorkämpfer einer humanen Zukunft jeweils in solchen Staaten und Gesellschafts­systemen, in denen die Freiheit des Menschen durch latente und manifeste Gewalt am stärksten unterdrückt wird. Ein Vergleich mit der Literatur sei gestattet: eine stattliche Zahl der Bücher, die zu den großen Werken der Weltliteratur gehören, wurden und werden von Autoren geschrieben, die sich in Opposition zu menschen­unwürdigen Verhältnissen befanden und dies literarisch umzusetzen vermochten.

 

Die vorliegende Dokumentation beschreibt auf plastische und erschütternde Weise das System der Repressionen sowjetischen Straflagern. Unterbringung und Behandlung der hier lebenden Gefangenen spotten im Grunde jeder Beschreibung. Wenn schon in der BRD durchaus notwendige und richtige Kritik an Haftbedingungen in bundesdeutschen Gefängnissen geübt wird, so würde man staunen und erschrecken, besäße man exakte Informationen über die Zustände in sowjetischen Lagern und Gefängnissen. 

Es ist bemerkenswert, daß Leute, die sich als »Linke« verstehen, einerseits gegen Mißstände in bundesdeutschen Haftanstalten Sturm laufen, andererseits jedoch nicht zur Kenntnis nehmen (wollen), daß in einem Staat, der seine Gesellschaftsordnung als am weitesten in Richtung auf einen humanen Sozialismus hin entwickelt betrachtet, Menschen unter unglaublichen Bedingungen gefangengehalten werden.

Als eine der schlimmsten Torturen wird von den Gefangenen des Permlagers die ständige Isolation bezeichnet. Es ist klar, daß die permanente Trennung von Ehepartnern, Kindern, Eltern und Freunden eine oft ungeheuer große Qual bedeutet. Die offiziell gültige Besuchserlaubnis löst diesen Druck nicht, sondern verschärft ihn eher noch, weil die Behörden mit diesem Mittel den Gefangenen manipulieren können. Der Lagerinsasse Lew Jagman weist darüber hinaus darauf hin, daß die offiziellen Richtlinien für Besserungsarbeit bewußt unterlaufen werden; so werden Ingenieure als Hilfsarbeiter, Ärzte als Heizer, Philologen als Dreher eingesetzt.

Die systematische Verletzung der Bestimmungen wird erklärbar vor dem Hintergrund, daß die Lagerbehörden ein bestimmtes Ziel zu erreichen trachten: die Umerziehung des Häftlings oder die Brechung seiner Persönlichkeit. Dabei finden Methoden Verwendung, die eindeutig auf die Verletzung der Menschenwürde des Individuums angelegt sind. Nicht nur physischer, sondern auch psychischer Zwang größten Ausmaßes wird ausgeübt.

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Es ist übrigens interessant, in welcher Weise das »Erlernen« der neuen, »richtigen« Vorstellungen vor sich geht. Bekanntermaßen stammt der Großteil der politischen Gefangenen in der UdSSR aus den Reihen der Intelligenz, sind Studenten, Lehrer, Wissenschaftler, Techniker, Journalisten oder Schriftsteller. Diesen während ihrer Ausbildung mit den klassischen Texten des Kommunismus vertraut gewordenen Menschen werden nun als »Lehrer« Personen vorgesetzt, die nicht nur keine Ahnung vom wissenschaftlichen Sozialismus haben, sondern meist noch nicht einmal täglich Zeitung lesen. Die intellektuelle Inflexibilität und geistige Unterlegenheit der Lehrer gegenüber ihren Schülern entlarvt in präziser Form das, was von staatlicher Seite als notwendige Umerziehung bürgerlich dekadenter Individuen zu in sozialistischem Sinn verantwortlich Denkenden und Handelnden propagiert wird.

Übrigens ist hier einem Vorurteil, das auf westlicher Seite besteht und zuweilen von gewissen Gruppen, nicht zuletzt auch von einigen russischen Emigrantenkreisen, ausgenutzt wird, entgegenzutreten: die meisten Angehörigen der innersowjetischen politischen Opposition wenden sich nicht gegen den Sozialismus an sich, sie kämpfen nur gegen einen pervertierten Sozialismus, der unveräußerliche Menschenrechte wie Freiheit des Wortes und der Information, Freiheit der Religion oder die Möglichkeit ungehinderter Bewegung innerhalb und außerhalb eines Staates zu unterdrücken versucht. Diese Menschen wären nicht damit einverstanden, daß z.B. gewisse Kreise in der BRD unter Berufung auf sie die Idee eines humanen Sozialismus diskreditieren.

Sie würden mit Sicherheit auch eine scharfe politische Kritik an Alexander Solschenizyn üben, der bei seinem USA-Besuch im Sommer 1975 den Vereinigten Staaten ernsthaft riet, ihr »militärisches Engagement« in Südostasien notfalls mit erneuten Bombardierungen — wiederaufzunehmen, oder der einen Besuch des faschistischen Spanien zum Anlaß nahm, dieses Land, verglichen mit der Sowjetunion, als freiheitliche Demokratie zu bezeichnen.

An dieser Stelle ist auf ein Faktum hinzuweisen, das gerade im Hinblick auf das Gesellschaftssystem der Sowjetunion besondere Aussagekraft besitzt. Wie der Häftling Sinowij Antonjuk ausführt, erfüllt die Zwangsarbeit in den Lagern der UdSSR eine profane ökonomische Funktion: die Arbeitskraft der Gefangenen wird auf krasse Weise ausgebeutet.

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Die Arbeitsverhältnisse sind dermaßen organisiert, daß ein Maximum an Leistung aus den Lagerinsassen herausgepreßt wird. Der fast immer sehr schweren und mühseligen körperlichen Arbeit entspricht jedoch keineswegs das System der Entlohnung. Eine das Individuum von seinem Produkt entfremdende Arbeit, die dazu noch im Akkord geleistet werden muß, hat, wie Marx es im »Kapital« viele Male belegt hat, die körperliche und geistige Vernichtung zur Folge. Insofern ist das Lagersystem der Sowjetunion ein Instrument, das die Funktion einer direkten Ausbeutung des Menschen besitzt; es ist wohl nicht falsch, es in diesem Punkt mit dem System der Konzentrationslager im deutschen Nationalsozialismus zu vergleichen, das ebenfalls von ökonomischer Bedeutung für die braunen Machthaber waren.

Im übrigen ist festzustellen, daß der in der Sowjetunion so hochgelobte Arbeitsschutz in den Straflagern nicht existiert. Es gibt z.B. Berichte von ehemaligen Lagerinsassen, die in einer Glasschleiferei arbeiten mußten, und zwar dort, wo sie mit geschliffenem, scharfem Glas zu hantieren hatten, aber noch nicht einmal minimalste Schutzvorrichtungen wie Handschuhe und Brillen benutzen durften.

Es ist eine Tatsache, daß die meisten politischen Gefangenen, die in Gefängnissen oder Arbeitslagern der Sowjetunion interniert sind, ihre Überzeugung selbst dann nicht aufgeben, wenn repressive Maßnahmen starken Ausmaßes gegen sie erfolgen. Dies ist um so bewundernswerter, wenn man weiß, welche Mittel von den staatlichen Organen eingesetzt werden, um die Überzeugung der Dissidenten zu brechen. Die Skala der Methoden reicht von »kleinen« Schikanen wie Postentzug oder Besuchsverbot bis hin zu extrem langer und gesundheitsschädigender Arbeit. Ziel der Lagerbehörden ist es, das Individuum gefügig zu machen, bis es bereit sein könnte, sich dem starren Dogmatismus von Staat und Partei zu unterwerfen.

Wenn auch der Großteil der Häftlinge seiner Überzeugung treu bleibt, so existieren doch gewisse Verhaltens­regeln, die notwendig sind, um das Lager nicht zur absoluten Hölle werden zu lassen. So ist es oft lebenswichtig, sich auf den Charakter des Wach- und Aufsichtspersonals einzustellen. Diese Taktik ist eindeutig ein Mittel des Selbstschutzes und der Selbsterhaltung.

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Wenn man die Kategorisierung der Verwaltungskader liest, wie sie von dem Gewissenshäftling Josif Meschener vorgenommen wird, so erhält man einen Einblick in Dinge, die zum Überleben notwendig sein können. Manchen mag dies an Solschenizyns Erzählung »Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch« erinnern.

Die politischen Gefangenen, obwohl sie einem übermächtigen Apparat völlig wehrlos ausgeliefert zu sein scheinen, geben »ich selbst in der harten Zeit des Lagers nicht auf. Sie sind sogar in der Lage, ihre Interessen bis zu einem gewissen Grad durchzusetzen. Als Druckmittel versuchen sie vor allem, Öffentlichkeit herzustellen. Dies ist natürlich bei der Abgeschlossenheit der Lager gegenüber der Außenwelt äußerst schwierig. Dennoch gelingt es, auf verschiedenen Wegen Freunden, Verwandten und Bekannten Informationen z. B. über Mißstände zukommen zu lassen.

Ein Kampfmittel der äußersten Defensive ist der Hungerstreik. Dieses Mittel zur Erzeugung von Aufmerksamkeit bedeutet für die Häftlinge ein schweres Opfer und ist insofern Zeichen unbeugsamer Willenskraft: den ohnehin infolge Schwerstarbeit ausgemergelten Körpern wird die ungeheure Anstrengung eines Hungerstreiks abverlangt. So ist es nahezu unglaublich, daß der ukrainische Historiker Walentyn Moros, der aus Protest gegen seine Verlegung in eine Einzelzelle des berüchtigten Gefängnisses von Vladimir in den Hungerstreik trat, diesen fünf Monate lang aushielt.

Dem westlichen Betrachter mag es verwunderlich vorkommen, daß der oft langjährige Aufenthalt im Lager von vielen Häftlingen nicht als verlorene Zeit angesehen wird, sondern als durchaus wichtige Zeit der Prüfung und Stärkung der eigenen Überzeugung. Das Positive der Lagerzeit liegt nach Aussage vieler Dissidenten darin, daß sie ihre Angst zu überwinden lernten. Das Bewußtsein, die eigene Überzeugung auch gegen Widerstände und Drohungen verteidigt zu haben, gibt diesen Menschen das Gefühl, in ihrer Selbstverwirklichung weitergekommen zu sein. Insofern stellt das Lager trotz allem Leid und aller Not einen Lebensabschnitt dar, der unter der erwähnten Perspektive eindeutig bejaht wird.

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Besondere Aufmerksamkeit verdienen die Sätze Bagrat Schachwerdjans, in denen er darauf hinweist, daß ihm eines völlig unverständlich ist: das Verhalten von Politikern und anderen Bürgern des Auslandes, die von den Repressionen gegen innersowjetische Oppositionelle wissen, aber nichts unternehmen mit der Begründung, dies würde eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines fremden Staates bedeuten.

In der Tat ist damit die Haltung eines Großteils der Menschen etwa in der Bundesrepublik Deutschland umschrieben; Bequemlichkeit wird aktivem Engagement vorgezogen. Dabei muß auf die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), die Ende Juli 1975 in Helsinki stattfand, verwiesen werden; der berühmte »Korb 3«, der die humanitären Fragen regeln soll, verpflichtet die Unterzeichnerstaaten zur strikten Achtung der Menschen­rechte. Die Praxis sieht, nicht nur in der Sowjetunion, leider immer noch ganz anders aus. Denjenigen aber, die auf die Nichtvereinbarkeit der KSZE-Ergebnisse mit der realen Situation in der UdSSR hinweisen und damit ein Engagement verknüpfen, wirft die sowjetische Regierung Einmischung in die inneren Angelegenheiten vor. Als ob der Einsatz für den Menschen vor Staatsgrenzen haltmachen dürfe!

Zu konstatieren ist an dieser Stelle auch, daß die Angehörigen der »Linken« in den westeuropäischen Ländern bewußt oder unbewußt das Problem der politischen Gefangenen in der Sowjetunion verdrängen. Dem in Vergangenheit und Gegenwart bezeugten notwendigen Engagement in bezug auf Vietnam, Kambodscha oder Chile entspricht keineswegs die Erkenntnis über Repression in der Sowjetunion und ein daraus resultierendes Handeln. Die Frage nach dem Warum solchen Verhaltens ist nicht einfach zu beantworten. Sicherlich aber spielt ein falsches Verständnis von Solidarität eine wesentliche Rolle; möglicherweise traut man in gewissen Kreisen nur faschistischen Regimen brutale Angriffe auf die Freiheit des Menschen zu. Man vergißt dabei, daß totalitäre Regime sich nicht durch ein bestimmtes ideologisches Vorzeichen offenbaren.

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Ralph Giordano hat die Masse derer, die sich berechtigterweise gegen die Unterdrückung in Chile wenden, die Existenz politischer Gefangener in der Sowjetunion aber leugnen, einmal mit dem treffenden Wort »Internationale der Einäugigen« umschrieben. Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen; höchstens die Bemerkung, daß solche Einäugigkeit im Grunde einer Blindheit gleichkommt. Diese gewollte Blindheit aber ist ein wichtiger Faktor zur Stabilisierung undemokratischer, d.h. die fundamentalen Rechte des Menschen unterdrückender Verhältnisse.

1975, das Internationale Jahr der Frau, war Anlaß für einige Frauen aus dem Lager Baraschevo in Mordowien, auf die Erniedrigung und Unterdrückung gerade der Frauen hinzuweisen. Die Amnestie für weibliche Häftlinge, die von der Regierung der UdSSR im Mai 1975 verkündet wurde, war hinsichtlich der politischen Gefangenen reine Augenwischerei. Ausgenommen von der Begnadigung blieben nämlich alle Frauen, die sich, so die offizielle Begründung, besonderer staatsgefährdender Verbrechen schuldig gemacht hatten. Unter diese Kategorie fallen jedoch alle Gewissenshäftlinge, weil sie »antisowjetische Propaganda und Agitation« betrieben haben.

 

Einen erschütternden Blick auf die Existenz moderner Folterpraktiken, die teilweise furchtbarer sind als diejenigen, die man aus dem Mittelalter kennt, erlaubt der Brief Tatjana Schytnikowas, in dem sie auf das Schicksal ihres Mannes Leonid Pljuschtsch hinweist. Der qualifizierte Kybernetiker, ein Mann von hoher Intelligenz, befand sich vier Jahre in Haft, davon rund drei Jahre in einer psychiatrischen Sonderklinik in der ukrainischen Stadt Dnjepropetrowsk, bevor er im Januar 1976 auf den öffentlichen Druck der westeuropäischen Staaten hin entlassen wurde und ausreisen durfte. 

Als Folge der pseudomedizinischen »Behandlung« konnte man einen zeitweiligen Verlust seiner Fähigkeit zu sprechen und zu lesen feststellen. In der Tat ist dies die vielleicht schlimmste Tortur, der zahlreiche Dissidenten in der Sowjetunion ausgesetzt sind. Sie werden auf unbefristete Zeit in solche Kliniken eingeliefert, weil man sie als geisteskrank bezeichnet. Wladimir Bukowski, der lange Jahre in einer solchen Klinik verbringen mußte, gab nach seiner Entlassung Informationen über die dort geübten Praktiken.

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Die Opponenten werden mit Menschen zusammengelegt, die im Zustand geistiger Umnachtung oder psychischer Unzurechnungsfähigkeit schwere Verbrechen wie Mord, Vergewaltigung, Raubüberfälle etc. begangen haben. Das Eingesperrtsein mit diesen kranken Personen stellt für die inhaftierten Intellektuellen eine furchtbare Folter dar. Gewaltsame Injektionen von Medikamenten, meist in Überdosen, zerstören die Willenskraft der Dissidenten und machen sie zu kraftlosen, in ihrer Persönlichkeit zerstörten Geschöpfen, denen dann Widerrufe ihrer früheren Ansichten und Beschimpfungen ihrer früheren Freunde abgepreßt werden können.

Pljuschtschs Frau war, wie ihr Brief deutlich macht, so weit, daß sie nichts anderes mehr von den Behörden verlangte, als zusammen mit ihrem kranken Mann ausreisen zu dürfen. Sie hatte — und niemand ist legitimiert, sie deswegen zu kritisieren — infolge der fürchterlichen Repressionsmaßnahmen, die die Vernichtung des nichtangepaßten Individuums zum Ziel haben, resigniert; Emigration erschien als die einzig verbliebene Möglichkeit des Überlebens.

Eine besonders unmenschliche Repression stellt auch die Maßnahme dar, Gefangenen, die innerhalb des Lagers durch ungebrochenen Willen und Fortsetzung ihres Engagements auffallen, die Besuchserlaubnis zu verweigern. Man muß sich vorstellen, was das für Menschen bedeutet, die ihre Verwandten ohnehin nur wenige Male im Jahr sehen dürfen. Noch schlimmer aber ist es, wenn die Repression so weit reicht, daß man die Verwandten Tausende von Kilometern anreisen läßt und ihnen dann an der Pforte des Lagers mitteilt, daß die Besuchserlaubnis gestrichen wurde. Das menschliche Elend, das aus derartigen Maßnahmen erwächst, ist mit Worten nicht auszudrücken.

Es ist fast überflüssig, zu erwähnen, daß die Briefe der Lagerinsassen oder ihrer Verwandten der totalen Zensur unterliegen. Hinzu kommt eine besondere Repressalie, die in der Erklärung Sinowij Antonjuks an das ZK der KPdSU zum Ausdruck gelangt: selbst die Sprache der Briefe wird reglementiert, indem man z.B. einem Ukrainer nicht erlaubt, den Briefwechsel in seiner Heimatsprache zu führen, sondern ihn zwingt, auf russisch zu schreiben.

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Die Russifizierungsversuche des Staates sind bereits an diesem Punkt zu erkennen. Besonders alarmierend ist der Aufruf einer Gruppe politischer Gefangener aus dem Permlager 36 am Ural, in dem auf die erniedrigenden Umstände des Lageralltags hingewiesen wird. Nicht nur die Gefangenen selbst werden gezwungen, sich erniedrigenden Leibesvisitationen zu unterziehen, sondern auch ihre Verwandten müssen sich bei Betreten des Lagerkomplexes eine Durchsuchung gefallen lassen, im Rahmen derer sie sich völlig auszuziehen haben. Weiterhin sind sämtliche Kontakte der Gefangenen zur Außenwelt abgeschnitten. Bei Transporten und auch im Lager selbst werden sie mit brutalen Verbrechern zusammengelegt, von denen die intellektuellen Gewissenshäftlinge oft genug schwer tyrannisiert werden. Medizinische Versorgung, hygienische Zustände und Ernährung der Häftlinge sind miserabel.

Eine schwere Anklage stellt der offene Brief Semjon Glusmans dar, aus dem die folgenden Sätze keines Kommentars bedürfen: 

»Täglich und stündlich wird in mir die Persönlichkeit und das Lebende getötet. Der Hund, der mich hinter dem Stacheldrahtzaun bewacht, bekommt kalorienreichere, wertvollere Nahrung, ihm kann man kein verfaultes Kraut oder stinkenden Fisch vorsetzen. Heute trage ich eine dünne Baumwolljacke vom berüchtigten Stalinschen Schnitt, mit einem Namensschild auf der Brust. Ich bin kahlgeschoren, ich habe immer Hunger, ich erfriere auf dem Zementfußboden der Strafzellen, man verlangt von mir in Reih' und Glied zu marschieren, jeden Augenblick kann man mich nackt ausziehen und zwingen, unendlich viele Kniebeugen zu machen. Ich bin ein Sklave, jeder Sadist hat die Macht und das Recht, mich zur erstbesten entwürdigenden Arbeit zu zwingen. Ich bin der Strafgefangene Glusman, ein besonders gefährlicher Staatsverbrecher.«

Der Kampf einer großen Zahl von Dissidenten geht um die elementarsten Menschenrechte sowie um die freie Entwicklung der nationalen Kulturen, die in der Verfassung der einzelnen Sowjetrepubliken zwar ausdrücklich garantiert sind, aber vom zentralistisch gelenkten Parteiapparat oft mit Füßen getreten werden.

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So klafft eine große Diskrepanz zwischen dem in den Verfassungen der einzelnen Republiken verankerten Recht zur freien Entfaltung der Wissenschaft und nationalen Kultur verschiedener Volksgruppen und der vom Moskauer Parteizentrum angestrebten »Sowjetisierung«, die für alle nichtrussischen Völker der Sowjetunion starke Einschränkungen und zuweilen völlige Aufgabe der kulturellen Eigenständigkeit mit sich bringt. In der UdSSR, deren Namen bereits auf das offizielle Selbstverständnis einer Union gleichberechtigter sozialistischer Sowjet­republiken hinweist, hat in der Praxis längst die RSFSR, die Russische Föderative Sozialistische Sowjetrepublik, eine klare Führungsrolle eingenommen, die ständig weiter ausgebaut wird.

In der Tat stellt die offizielle Nationalitätenpolitik einen innergesellschaftlichen Konfliktherd ersten Ranges dar. Die Probleme kristallisieren sich in der zweitwichtigsten Sowjetrepublik, der Ukraine, am deutlichsten heraus. Dieses Gebiet ist für die politische Führung in Moskau aufgrund seines hochentwickelten industriellen Standes von großer Bedeutung. Während Lenins Vermächtnis impliziert, Privilegien bestimmter Gruppen innerhalb des Sowjetverbandes bedingungslos abzuschaffen und statt dessen allen Nationalitäten und Volksgruppen in der UdSSR kulturelle Autonomie zu gewähren — was insbesondere auf die Beseitigung elitärer russischer Ansprüche abzielt —, wurde die RSFSR unter Stalin im Verhältnis zu den übrigen Sowjetrepubliken klar favorisiert.

So war seit der Machtübernahme Stalins immer stärker zu beobachten, daß die führenden politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Positionen in der gesamten Sowjetunion von Angehörigen des russischen Volkes besetzt wurden. Die Fortsetzung dieser Praxis unter Chruschtschow und Breschnew führte zur Herausbildung einer oppositionellen Bewegung in den betroffenen Republiken. Als wichtigstes theoretisches Werk wäre Iwan Dzjubas Studie »Internationalismus oder Russifizierung?« zu nennen, in dem der Autor aus marxistischer Perspektive die nachstalinistische Nationalitätenpolitik der Sowjetregierung untersuchte.

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Der Opposition gegen die offizielle Nationalitätenpolitik ist bei unterschiedlicher Akzentuierung der einzelnen Positionen gemeinsam, daß einerseits die Prinzipien des Föderalismus — in einem multinationalen Staat wie der UdSSR von höchster Wichtigkeit — ausgebaut, andererseits unangemessene Maßnahmen zur Zentralisierung zurückgenommen werden sollen. Insofern ist diese Opposition keineswegs als separatistische Bewegung zu disqualifizieren; es geht ihr vielmehr um eine angemessene Füllung des Grundsatzes der Selbstverwaltung, der durch eine Reihe nicht zu rechtfertigender Abhängigkeiten der nichtrussischen Völker von der RSFSR ausgehöhlt zu werden droht. 

Es wäre deshalb eine grobe Fehleinschätzung, wollte man die Personen, die sich um Demokratisierung und Verwirklichung der Leninschen Nationalitäten­politik innerhalb der UdSSR bemühen, als Nationalisten in der negativen Bedeutung des Wortes abstempeln; Bemühungen um Aufrechterhaltung einer nationalen Kultur sind noch lange nicht reaktionär, sondern sind durchaus — wie etwa das Beispiel vieler junger afrikanischer Staaten beweist — als progressiv zu bezeichnen» Reaktionär ist vielmehr, wenn die Sprache von Autoren derart überwacht wird, daß allein die Verwendung mundartlicher Ausdrücke, die vom Russischen abweichen, sowie farbiger und bildhafter Sprache als Indiz zur Diffamierung von Schriftstellern als »Nationalisten« ausreicht.

Oftmals scheint es, als würden die sowjetischen Bürger, die als »Dissidenten« gebrandmarkt werden, einen sinnlosen Kampf gegen einen sie erdrückenden, übermächtigen Apparat kämpfen. Sicherlich kann man vom Vorhandensein politischer Opposition in der UdSSR noch lange nicht auf einen etwa bevorstehenden Sturz des Regimes schließen. Dennoch besitzt diese Opposition eine eminent wichtige Bedeutung: sie ist Symptom für einen nicht mehr umkehrbaren Emanzipationsprozeß der sowjetischen Gesellschaft im Hinblick auf absolute Geltung von Grund- und Menschenrechten. Sie ist Produkt einer Gesellschaftsordnung, die es trotz gewaltiger Fortschritte und Erfolge nicht erreicht hat, Freiheit und Gerechtigkeit für alle, auch für das Individuum, zu gewährleisten. 

Walentyn Moros formuliert in unübertrefflicher Präzision die Schwäche der Staatsmacht und die Stärke des einzelnen, nicht angepaßten Menschen so: 

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»Der leere Mensch — das ist wahrscheinlich die Hauptanklage gegen die Despotie und ihre unausbleib­liche Folge. Die geistige Leere des Menschen beginnt in dem Augenblick, in dem der Despot Verstand, Ehre und Gewissen zu seinem Monopol erklärt und verbietet, sie eigenständig herauszubilden ... Nichts kann den freien, nicht reglementierten Gedanken des Individuums ersetzen, dessen schöpferische Fähigkeit allein den Fortschritt vorantreibt. Der Fortschritt aber existiert dank derjenigen, die sich ihre Fähigkeit zu denken, die sich ihr eigenes Ich erhalten haben entgegen allen Versuchen, es zu vernichten. Der Mensch ohne eigenes Ich wird zum Automaten, der alles ausführt, der aber nicht schafft. Er ist geistig impotent.«

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Grundwiderspruch sowjetischer Politik ist, daß der Öffnung und Liberalisierung nach außen keineswegs die innenpolitischen Aktivitäten des Staates und der Partei entsprechen. Das Prinzip der friedlichen Koexistenz, das man mit gewaltigem Aufwand anderen Staaten gegenüber demonstriert, hat innenpolitisch eher eine Verschärfung der Angriffe auf alle nicht angepaßten Individuen zur Folge. Die Intention dieser zweischneidigen Politik liegt auf der Hand: eine liberalere Haltung nach außen scheint man nur dann für möglich zu halten, wenn die Lage im Inneren stabil bleibt. Eine angestrebte innere Stabilität zielt jedoch auf die Vernichtung jeder Opposition.

 

An dieser Stelle muß noch auf ein Faktum verwiesen werden, das dem aufmerksamen Leser zumindest ansatzweise bereits aus den vorstehenden Ausführungen bewußt geworden sein sollte. Es geht in dieser Dokumentation nicht darum, den Sozialismus an sich zu attackieren oder gar zu diskreditieren. Die Publikation ist nicht als antikommunistisches Pamphlet zu klassifizieren; sie läßt sich nicht einordnen in die Reihe der literarischen und nicht-literarischen Versuche, allein die osteuropäischen sozialistischen Staaten als die Bereiche darzustellen, in denen fundamentale Menschenrechte verletzt werden. Der Horizont endet nicht an den Grenzen der UdSSR; die Dimension reicht über das konkrete Beispiel Sowjetunion hinaus. Dieses Land steht exemplarisch dafür, wie menschliche Grundrechte überall auf der Welt, in Staaten mit höchst unterschiedlichen Gesellschaftssystemen, mit den Füßen getreten werden. Insofern ist die UdSSR nur ein Fall unter vielen.

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Das Engagement zugunsten menschlicher Grundrechte darf nicht haltmachen vor nationalen, ideologischen und parteipolitischen Grenzen. Legitim ist allein die Berufung auf die unveräußerlichen Menschenrechte, wie sie am 10. Dezember 1948 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York proklamiert wurden. Zu den Unterzeichnern der Deklaration gehörten damals fast alle in der UNO vertretenen Staaten; die meisten von ihnen geben in ihren Verfassungen sogar eine Garantie für die Praktizierung solcher Rechte ab. Schlimm ist, daß trotz der verfassungsmäßigen Garantien das Recht der freien Meinungs­äußerung in Wort und Schrift, das Recht auf friedliche Demonstration, das Recht auf ungehinderten Ausdruck der religiösen Überzeugung oder das auf Freizügigkeit in vielen Staaten täglich und stündlich vergewaltigt wird. 

Indonesien, Brasilien, Chile, Südafrika, Rhodesien, Iran, die Sowjetunion, die CSSR, Spanien, Indien, Uruguay: nur einige Namen aus einer großen Zahl von Nationen, die das Eintreten für fundamentale Menschenrechte auf ihre Fahnen geschrieben haben, die aber dennoch zulassen oder sogar noch unterstützen, daß Menschen innerhalb ihres staatlichen Bereiches für die Praktizierung ihrer Grundrechte verfolgt, gefangengenommen und oft barbarisch gefoltert werden. Darauf zu bestehen, daß etwa nur in den Staaten Osteuropas die Freiheit der Meinung unterdrückt wird, gleichzeitig aber zu leugnen, daß in Chile, Indonesien oder im Lande des Schah politisch unbequeme Menschen inhaftiert und durch brutale Quälereien in ihrer menschlichen Würde verletzt werden, käme einer unheilvollen Komplizenschaft gleich. Ziel aller wirklichen Demokraten kann nur sein, die Verletzung menschlicher Grundrechte überall auf der Welt anzuprangern und darauf hinzuwirken, daß sie bedingungslos respektiert werden.

Von ungeheurer Wichtigkeit scheint dabei der Kampf gegen die Folter zu sein. Sie stellt ein Krebsgeschwür unserer Zeit dar. Folter ist der Versuch von Mächtigen, das Individuum in seiner Menschlichkeit und Persönlichkeit zu zerbrechen, um die eigene illegitime Macht zu stabilisieren. Es muß das Ziel aller der Freiheit verpflichteten Personen, Gruppen und Gesellschaften sein, Folter an politisch, religiös oder rassisch »Andersartigen« — wie es einmal die Gefangenenhilfsorganisation amnesty international ausdrückte — genauso undenkbar werden zu lassen wie Sklaverei.

Dahinter steht die Vision einer freien Gesellschaft. Als frei wird nicht eine harmonische, konfliktfreie, paradiesische Idylle verstanden, sondern eine Gesellschaft, in der das rational-argumentative Austragen notwendiger­weise bestehender Konflikte bestimmende Regel des Zusammenlebens ist und in der Gewalt als Mittel zur Unterdrückung von Meinungen geächtet wird. Kritische Toleranz gegenüber dem Anders-Sein des anderen, der Verzicht auf die gewaltsame Durchsetzung eigener Interessen, aber dennoch kein Vertuschen von Konflikten: das wäre in der Tat eine Gesellschaft des Friedens. 

Die Vertreter der sowjetischen Intelligenz, die in Opposition zu der von Staat und Partei propagierten Ideologie stehen, weil sie den Absolutheits­anspruch dieser Ideologie ablehnen, stellen keine isolierte Gruppe in ihrem Land dar. Sie sind vielmehr stellvertretend für eine große Zahl von Menschen, die sich meist selbst als Marxisten verstehen und beim Ausbau der Sowjetunion zu einer entwickelten sozialistischen und schließlich essentiell kommunistischen Gesellschaft mithelfen wollen.

Bei aller Anerkennung der Leistungen des sozialistischen Systems nehmen sie auch für sich das gesetzlich verbriefte Recht eines jeden Sowjetbürgers in Anspruch, auf wesentliche Mängel der sozialen Ordnung hinzuweisen. Dazu gehört für sie die theoretisch zwar vorhandene, praktisch aber nicht realisierte Existenz unveräußerlicher Menschenrechte wie Freiheit der Meinung und Information, Versammlungsfreiheit und freie Wahl des Wohnsitzes. 

Ausgehend von dem Bewußtsein, daß der Kommunismus von einem humanen Charakter bestimmt sein muß, riskieren sie einen hohen, und doch enorm wichtigen Einsatz. Die Zukunft wird erweisen, daß sozialistische Gesellschaften nur dann eine Chance haben, wenn sie in höherem Maße als bürgerlich-kapitalistische Staaten die Ideale der Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit für alle realisieren können. 

Die Intellektuellen, die heute als Dissidenten bezeichnet werden und für ihren Kampf Gefängnis und Arbeitslager auf sich nehmen müssen, sind Pioniere dieser besseren Zukunft.

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