Start     Weiter 

 Reportage aus dem Berija-Reservat 

von Walentyn Moros  (1936-2019)

 dissidenten.eu  walentyn-moros     en.wikipedia  Valentyn_Moroz    goog  Walentyn+Moros     wikipedia  Stefanija_Schabatura (1938-2014)

28-57

Ende der Verfolgung. Der Flüchtling tritt aus dem Gebüsch. »Ich ergebe mich, nicht schießen! Ich bin unbewaffnet!« Der Verfolger kommt fast auf Tuchfühlung heran, zieht sachlich den Verschluß seiner Maschinenpistole und schickt drei Kugeln in die lebendige Zielscheibe. Man hört noch zwei Salven: zwei weitere Flüchtlinge, die sich auch ergeben hatten, werden erschossen. Die Leichen werden auf die Chaussee getragen. Schäferhunde lecken das Blut auf. Die Opfer werden wie immer ins Lager gefahren und zur Abschreckung vor das Tor geworfen. Und dann bewegen sich die Leichen plötzlich: zwei von ihnen leben noch. Jetzt kann man nicht mehr schießen — ringsum stehen Menschen.

Das ist nicht etwa der Anfang eines Kriminalromans. Es ist auch keine Geschichte über Flüchtlinge aus Buchenwald oder Kolyma. Das geschah im September 1956, nach dem XX. Parteitag, der den Personenkult verurteilt hatte, als die Kritik an den Verbrechen Stalins in vollem Gange war. All das kann Algidas Petrusjawitschus bestätigen, derzeit im Lager 11 in Mordowien. Er ist am Leben geblieben. Zwei andere — Lornetas und Jurscha — sind ums Leben gekommen. Solche Vorfälle waren alltäglich.

Als schmaler Streifen zieht sich das grüne Mordowien von Ost nach West. Grün auf der Karte, grün auch in Wirklichkeit. Inmitten des slawischen Meeres eine kleine Insel klingender mordwinischer Namen: Windrej, Jawas, Potjma, Ljambir. In der nordwestlichen Ecke liegt das Staatliche Mordwinische Naturschutzgebiet. Hier regiert das Gesetz. Jagen ist streng verboten.

Aber es gibt hier ein Gebiet, auf keiner Karte verzeichnet, wo man das ganze Jahr über jagen kann. Jagen auf Menschen. Wollte man eine genaue Karte Mordowiens anlegen, müßte man ihre nordwestliche Ecke in Quadrate einteilen, Quadrate, in Stacheldraht eingefaßt und mit Wachtürmen übersät. Das sind die politischen Straflager Mordowiens, das Land des Stacheldrahtes, der Schäferhunde und der Menschenjagd, Hier, zwischen Stacheldraht, wachsen Kinder auf. Ihre Eltern mähen nach Dienstschluß Heu und graben Kartoffeln. »Vater, hast du heute gefilzt? Was hast du gefunden?« Dann werden sie älter und eignen sich die erste Lebensweisheit dieser Gegend an: »Lager = Brot«. Für einen gefangenen Flüchtling bekommt man ein Pfund Mehl.

In den Aldaner Lagern war es einfacher: Der Jakute brachte einen Kopf und bekam Schießpulver, Salz und Schnaps. Wie bei den Dajaken der Insel Borneo, nur überbrachte man den Kopf nicht dem Häuptling, behängt mit Ketten aus Menschenlahnen, sondern dem Major oder Kapitän, der Fernunterricht an der Universität nahm und Vorträge über die Gesetzlichkeit hielt.

In Mordowien mußte man dieser Tradition absagen: Moskau liegt zu nah. Ist nämlich so eine Trophäe einmal in die Hände eines ausländischen Journalisten gefallen, kann man lange nachweisen, das Ganze sei eine Falschmeldung, erdacht von der gelben Presse.

Drei Litauer wurden erschossen, obwohl sie nicht zum Erschießen verurteilt waren. Der Art. 183 des Strafkodex sieht für Flucht eine Strafe von drei Jahren Haft vor, und der Art. 22 des Strafkodex der Ukrainischen SSR verbietet sogar, die Häftlinge physisch zu strafen oder ihre Menschenwürde zu verletzen! Das Gericht der Litauischen SSR (eines seiner Verfassung nach souveränen Staates) gab dem KGB die Erlaubnis, sie im Isolator zu halten — nicht mehr.

29


Auch die Ukrainische SSR ist ihrer Verfassung nach ein souveräner Staat, der sogar eine Vertretung in der UNO hat. Ihre Gerichte verurteilen Tausende von ukrainischen Bürgern — und schicken sie außer Landes. Ein in der Geschichte ungewöhnlicher Präzedenzfall — ein Staat verschickt seine Häftlinge ins Ausland. Vielleicht hat aber die Ukraine keinen Platz für Straflager, wie etwa Monaco?

Für 7 Millionen Russen war jedenfalls genügend Platz da. Tausende von Ukrainern wurden in den Osten verschickt und vom grauen Nichts verschluckt. Verschlungen von den Gruben auf Solowki, vom Sand in Mangischlak, dann von den stalinistischen Bauten, diesen Pyramiden des 20. Jahrhunderts, die Millionen Sklaven kosteten.

Sie wurden nicht nur in Häftlingswaggons transportiert, auch die »freiwillig« Ausgesiedelten frißt der Fleischwolf der Russifizierung in den unendlichen Steppen Sibiriens und Kasachstans, und sie sind für die ukrainische Nation verloren.

Die alten Völker legten das Totenreich, aus dem niemand wiederkehrt, dorthin, wo die Sonne untergeht. In künftigen ukrainischen Legenden wird dieses Reich im Osten liegen.

Das Zivilisationsniveau einer Gesellschaft zeigt sich darin, wieweit sie sich um das Schicksal ihrer Bürger kümmert. Als etwa bei einem belgischen Grubenunglück italienische Gastarbeiter verschüttet wurden, häuften sich Proteste und Staatsnoten, Parlaments­anfragen der italienischen Regierung.

Auch die Ukraine hat ein Parlament: den Obersten Sowjet der Ukrainischen SSR. Ich weiß nicht, ob es dort Leute gibt, die sich an ihr Recht erinnern, Fragen zu stellen. Ich weiß nicht, ob diese Leute sich überhaupt an irgendwelche Rechte eines Deputierten erinnern, außer an das Recht, bei Abstimmungen die Hand zu heben.

Aber ich weiß, daß der Oberste Sowjet der Verfassung nach die höchste Gewalt im Staate ist. Und er hat einer seiner untergeordneten Instanzen, dem KGB, aufgetragen zu verhaften, zu verurteilen und über das weitere Schicksal von Menschen zu verfügen, die »antisowjetischer Tätigkeit« schuldig sind.

30


Verehrte Deputierte des ukrainischen Parlaments, laßt uns doch wenigstens einmal die Schläfrigkeit verjagen, laßt uns einmal die Gespräche über Zuchtsauen, Betonmischmaschinen und den volkswirtschaftlichen Nutzen beiseite legen. Über diese Fragen mögen Spezialisten entscheiden. Laßt uns wenigstens einmal das Land des süßen Gähnens verlassen, uns nach Mordowien versetzen und prüfen:

 

   Gericht über den Gedanken   

 

Im Jahre 1958 brachte der Professor für Philosophie am Medizinischen Frunse-Institut, Mahmed Kulmagambetow (z. Z. im Lager 11), einen Antrag ins Rektorat. Es war sein Entlassungsgesuch. Begründung? Kein Einverständnis mit dem Vorlesungsprogramm. Es war eine Sensation. Jene Herde von Karrieristen, die sich um die Wette an den Trog drängen, die Gewissen, Würde, Überzeugung wegwerfen, um höher zu steigen, um den Nachbarn die Beute zu entreißen, sie konnten nicht begreifen, warum ein Mensch auf 120 Rubel verzichtet, nur weil sich seine Ansichten geändert haben.

Kulmagambetow wurde Arbeiter, und 1962 wurde er verhaftet. Das Gericht in Kustabei verurteilte ihn wegen »antisowjetischer Tätigkeit« zu 7 Jahren Gefängnis und 3 Jahren Verbannung.

Worin bestand nun diese »antisowjetische Tätigkeit«? Wichtigster Belastungszeuge war der Leiter der Kaderabteilung des Trusts »Sokolowrudstroj«, Machmudoiw. Das einzige, was er vor Gericht aussagen konnte, waren die Worte Kulmagambetows: »Ich will nicht etwas lehren, woran ich nicht glaube.« Es war seine Antwort auf die Frage gewesen: »Warum arbeiten Sie nicht in Ihrem Beruf?«

Die anderen Beschuldigungen waren von der gleichen Art. Sogar der Richter mußte zugeben: »Eigentlich gibt es nichts, wofür man dich verurteilen könnte, aber deine Gedanken sind gefährlich.«

31


Der Fall ist typisch, er ist alltäglich in der Praxis des KGB. Aber er ist einzigartig in der Offenheit der Willkür. In der Regel bemühen sich die KGB-Leute, wenigstens den Schein einer »antisowjetischen Tätigkeit« zu komponieren. Aber hier, in der fernen Provinz, hielten sie nicht einmal das für nötig und gaben zu, daß Kulmagambetow für seine Ansichten verurteilt wurde.

Tausende und Abertausende werden nach diesem Schema verurteilt, nur spielt sich das Ganze gewöhnlich etwas feiner ab.

Der Art. 126 der Verfassung der UdSSR verkündet die Freiheit des Wortes, der Publikation, der Manifestation, der Organisation. Der Art. 19 der Erklärung der Menschenrechte der UNO spricht von der »Freiheit, Informationen und Ideen zu suchen, zu erhalten und zu verbreiten, mit welchen Mitteln auch immer und ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen«.

Also ist der Art. 62 des Strafkodex der UdSSR nichts anderes als eine Verletzung der oben angeführten Rechte, ein stalinistisches Überbleibsel. Der Satz »Agitation und Propaganda mit dem Ziel, die Sowjetmacht zu schwächen oder zu untergraben« — unter der Bedingung, daß das KGB selbst den Grad der Untergrabung bestimmt —, dient einzig und allein einer unbeschränkten Willkür.

Meine Freunde und ich wurden wegen »Propaganda für die Trennung der Ukrainischen SSR von der UdSSR« verurteilt. Dabei nennt der Art. 17 der Verfassung der UdSSR deutlich das Recht jeder Republik, aus dem Verband der UdSSR austreten zu können. Das Recht eines jeden Volkes auf Selbständigkeit ist auch in den politischen und sozialen Menschenrechten fixiert, die von der 21. UNO-Vollversammlung angenommen wurden.

Das KGB liebt die Phrase »nationalistische Literatur«. Was bedeutet in der Ukraine dieser Begriff und wo ist das Kriterium der Bestimmung »nationalistisch«? Noch vor kurzem galten die Werke von Öles, Hrintschenko, Serow als nationalistisch, heute sind sie es nicht mehr. Die Mäuse haben die Broschüren, in denen Theoretiker den Historiker Hruschewskyj als »Feind

32


des ukrainischen Volkes« bezeichnen, noch nicht ganz durchgenagt, da stellt ihn die wissenschaftliche »Historische Zeitschrift« (»Istorytschnyj Schurnal«) in der Novembernummer 1966 als ukrainischen Gelehrten von Weltrang dar und zitiert eine staatliche Erklärung, in der vom Verdienst Hruschewskyjs am ukrainischen Volk die Rede ist. Die Werke Hruschewskyjs werden nun wieder zum Druck vorbereitet, wie auch die des bislang totgeschwiegenen Schriftstellers Wynnytschenko.*

In den 30er Jahren wurde der größte Teil der bedeutenden Namen aus der ukrainischen Kultur ausgelöscht. Die verblutete ukrainische Kultur sollte keinen Damm gegen die Russifizierung bilden. Der beste ukrainische Historiker, Hruschewskyj, wurde versteckt, statt dessen schob man den Ukrainern die widerliche zweibändige »Geschichte der Ukrainischen SSR« unter, in der als größter nationaler Held Peter d. Erste auftritt, der Henker der ukrainischen Freiheit. Zur gleichen Zeit standen Solowjow und Kljutschewski, genauso »bürgerliche«, genauso »unsowjetische« Historiker frei auf den Bücherregalen — es sind eben russische Historiker.

Es wurde alles getan, um dem jungen Ukrainer vollwertige geistige Kost nur in der russischen Kultur zu bieten, um ihn zu russifizieren.

Und wenn das KGB konsequent wäre, würde es alle bedeutenden Ukrainer als Nationalisten abstempeln, mit Taras Schewtschenko und dem Großfürsten Wolodymyr (Wladimir dem Großen) an der Spitze, der sich schon im 10. Jahrhundert mit nationalistischer Agitation befaßte, indem er den heute verfemten ukrainischen Dreizack auf Münzen prägte.

Diese Tatsachen dürften genügen. Man kann aus ihnen schließen: Die Leute, die wegen »antisowjetischer Agitation und Propaganda« verurteilt werden, sind Andersdenkende, oder überhaupt Denkende, deren Geist nicht in das Prokrustesbett der stalinistischen Schemen paßt, die das KGB so eifrig verteidigt. 

Es sind Leute, die es wagen, sich auf die in der Verfassung verkündeten Rechte zu berufen. Leute, die gegen die schändliche Allmacht des KGB, gegen die Verletzungen der Verfassung protestiert haben. 

Es sind Leute, die nicht jene doppelbödige Sklavenweisheit anerkennen wollen, die empfiehlt, die Worte der Verfassung »Recht der Ukraine auf Austritt aus der UdSSR« zu lesen als »Schweig, solange du lebst«.

Wem aber wurde das Monopol übertragen, die Nonkonformisten umzuerziehen?

 

*  Nach erneuter Kursverschärfung vom Plan gestrichen

33


   Die Nachkommen Jeschows und Berijas  

 

Die Charakteristik eines Menschen oder eines Milieus kann immer nur subjektiv sein. Darum ist es ganz nützlich, wenn man Selbstbeschreibungen zur Hand hat. Und es ist besonders nützlich, daß der Verfasser dieser Zeilen eine hübsche Reihe von Aussagen besitzt. Aussagen von KGB-Leuten über sich und ihr System.

Die KGB-Leute sind nicht gerade wortkarg und machen überhaupt keine großen Umstände, wenn sie mit Häftlingen sprechen. Sie sind seit jeher davon überzeugt, daß ihre Worte niemals über die schalldichten Mauern ihrer Amtszimmer hinausdringen, daß das Eis des Schweigens und Entsetzens, auf dem sie ihr Golgatha errichtet haben, niemals brechen wird.

Aber jedes Eis schmilzt einmal, und die Worte, die man uns während der Gerichtsverhandlungen und im Lager ins Gesicht brüllte, hallen in tausendfachem Schall in der ganzen Welt wider, wie aus einem riesigen Lautsprecher.

 

  Wo liegen die Wurzeln des KGB?  

 

Die Wege, auf denen die KGB-Leute in unsere Wirklichkeit gekommen sind, führen ins Gestrüpp des stalinistischen Dschungels. Im Charzysker Wahlkreis, Bezirk Donezk, wurde als Deputat ins ukrainische Parlament der General Schulschenko gewählt, der Vertreter des Vorsitzenden des KGB beim Ministerrat der Ukrainischen SSR. Wie machen solche Parlamentarier ihre Karriere?

Um 1967 General des KGB zu werden, muß man zunächst ein Leutnant oder Kapitän Berijas im Jahre 1937 gewesen sein. Was taten die Kapitäne des KGB im Jahre 1937? 

34


Sie brachten auf Kolyma Menschen um, die ihre Norm nicht erfüllten, oder einfach nur so, zum Vergnügen. Das ist kein Geheimnis, darüber schreiben sogar Moskauer Zeitschriften.

In der Ukraine wurden Unschuldige drei Tage nach ihrer Verhaftung erschossen. Wenn man sie aber hört — an allem war Berija schuld, und sie führten nur Befehle aus. Die gleichen Argumente gebrauchten auch die Verteidiger auf dem Nürnberger Prozess. Nur Hitler sei an allem schuld. Aber diese Auslegung hat sich nicht durchgesetzt. In der deutschen Sprache ist sogar ein eigener Begriff dafür entstanden: »Schreibtischmörder«. Ich zweifle nicht daran, daß er eines Tages auch in der ukrainischen Sprache eine Entsprechung findet.

Vielleicht haben sich die KGB-Leute aber geändert, vielleicht sind sie anders geworden? Nein, sie selbst nennen sich ja stolz Nachkommen Stalins.

Der Bevollmächtigte des ukrainischen KGB in den Lagern von Mordowien, Kapitän Krut, erklärte mir: »Was habt ihr eigentlich gegen Stalin? Gut, es gab Mängel, aber im ganzen verdient er hohe Anerkennung.«

Und im Gespräch mit dem inhaftierten Lemberger Psychologen Mychajio Horyn bedauerte Krut offen: »Schade, daß wir hier in Mordowien sind und nicht im Norden.«

Der Vorsitzende der Untersuchungsabteilung des georgischen KGB sagte 1963 während der Verhandlung zum Dichter Sauri Kobalija (z. Z. im Lager II): »Weißt du auch, daß ich 1937 hier war? Vergiß das nicht!«

Heute tragen sie keine »Stalinka« mehr, und sie studieren im Fernunterricht an den Hochschulen. Fernkurse im wahrsten Sinne. Das Studienbuch wird ins Institut gebracht, und die Professoren, von der Wiege an vom Wort KGB hypnotisiert, geben Noten, ohne den Studenten je gesehen zu haben. Kasakow, Vertreter des KGB aus Iwano-Frankiwsk, bekannte mir gegenüber: »Ihr sprecht vom Totalitarismus. Ich bin doch überhaupt kein Totalitarist!«

Und der Bevollmächtigte des ukrainischen KGB im Lager 11, Haraschtschenko, wischte mit einem Satz alle Nachweise des Inhaftierten Masjutko über die ungelöste nationale Frage in der Ukraine vom Tisch: »Sie sprechen von nationalen Fragen. Aber wenn eine Witwe den Kolchosvorsitzenden um Stroh bittet, wird er es ihr etwa verweigern?«

35


Solchen Intellektuellen hat man vorbehaltlos aufgetragen, Fragen zu lösen, die selbst in Fachzeitschriften als umstritten gelten.

Kasakow, Krut und der Lemberger KGB-Mann Lytwyn verhörten mich zu dritt. »Na, was fehlt dir eigentlich? Du hast doch eine gute Arbeit gehabt, eine Wohnung ...« Viele Stunden lang versuchten sie mich davon zu überzeugen, daß der Mensch nur aus einem Magen und soundsoviel Metern Darm bestehe. Eine Überzeugung? Schutz der Ukraine vor der Russifizierung? An diesem Punkt verließ das Gespräch für meine Partner offensichtlich seine reale Basis und erhob sich in die Sphäre von Ammenmärchen. Sie verhehlten nicht, daß sie es nicht mehr ernst nahmen.

Eine Überzeugung ... Natürlich steht viel davon in Büchern, und man spricht nicht offen darüber, daß man eine Überzeugung vertritt. Aber daß eine Überzeugung wirklich die Grundlage menschlichen Handelns sein könnte — so etwas war ihnen in ihrer Umgebung noch nicht begegnet.

Mychajio Horyn hörte im Lemberger KGB: »Heute ist der Tag des Tschekisten«. — »Was für ein Tag?« — »Zahltag«.

Spricht einer ernsthaft von einer Überzeugung, dann ist das ein Mythos, der die Sinne betäubt und den Menschen vom normalen Lebenswandel abhält, der auf drei Punkten beruht: Geld, Macht und Frauen.

Eine Überzeugung dagegen ist eine Art psychischer Entladung, zwar nicht immer ganz verständlich, aber man muß mit ihr rechnen wie mit einem Faktor neben drei anderen, die normal und verständlich sind.

Kapitän Koslow aus Iwano-Frankiwsk erklärte mir das so: »Den einen kauft man mit Geld, den anderen mit Frauen, und manche fängt man mit einer Überzeugung.«

Daß eine Überzeugung im menschlichen Gehirn selbständig entstehen könnte, wird nicht angenommen. Das sind also die Leute, denen man auf getragen hat, das geistige Leben der Gesellschaft zu »regulieren«.

Es wäre naiv, diese Sachlage für eine zufällige Verletzung der sozialen Entwicklung der Gesellschaft zu halten. Die Ordnung, in der der Dichter einen Katalog erlaubter Metaphern und der Maler eine Liste erlaubter und verbotener Farben erhält, hat feste Wurzeln in der Vergangenheit, sie ist eine Folge bestimmter Kräfte und Verhältnisse. Vor unseren Augen werden diese Kräfte immer schwächer, und die Verhältnisse hören auf, die Norm für menschliche Beziehungen zu sein. Die KGB-Leute merken das und schieben die Schuld auf Chruschtschow, er habe die Idole gefällt, vor denen man sich früher, ohne zu überlegen verbeugt habe. Mit dem gleichen Erfolg kann man den Hahn als Ursache des Morgens ansehen, aber diese Erkenntnis ist schon zu hoch, als daß sie noch in die Gehirnkästen der Generale und Majore mit den blauen Ordensschleifen passen könnte.

36


   »Als Stalin lebte, herrschte Ordnung«   

 

Diese Worte des Kapitäns Wolodin — sie fielen bei der Vernehmung Masjutkos — verdeutlichen die Entstehung und die heutige Rolle des KGB besser als ganze Bände.

Es gibt verschiedene Arten von Ordnung. Wenn im Frühjahr das Tauwetter einsetzt und auf den Flüssen ein Chaos von Eisschollen treibt, dann ist das nichts anderes, als eine Ordnung, ein Naturgesetz, ohne das ein weiteres Leben undenkbar «st. Dann gibt es noch die Ordnung der Friedhofsruhe, bedingt durch das Absterben alles Lebenden.

Analog dazu gibt es auch in der Gesellschaft eine Stabilisierung, die durch harmonische Gleichschaltung aller gesellschaftlichen Kräfte und Faktoren erreicht wird, und es gibt eine »Ordnung«, die nach ihrer Vernichtung aufgebaut wird.

Es ist nicht schwer, diese Ordnung herzustellen, aber der Reifegrad eines Volkes wird nicht an ihr gemessen, sondern an seiner Fähigkeit, gesellschaftliche Stabilität zu erreichen, wobei der intellektuellen Tätigkeit des Individuums ein maximaler Raum gewährt wird, denn das allein ist die Kraft des Fortschritts.

37


Vernunft ist eine individuelle Sache. Also ist die Geschichte des Fortschritts die Geschichte der Entfaltung der Persönlichkeit. Die sogenannte Masse schafft allein nichts, sie ist das Baumaterial der Geschichte. »Alles, was mit der Tätigkeit des Verstandes erreicht wurde, müssen wir im Kopf des Einzelnen schaffen ... Nur das Erwachen eines niederen, minderentwickelten Grades, das man allgemein als Stimmung bezeichnet, taucht als Epidemie bei mehreren Personen zugleich auf. Die intellektuelle Leistung ist die Sache einzelner Individuen.« (Ratzel)

Die Emergenz von etwas Neuem (Fortschritt) ist nur als Übertretung der bestehenden Norm, als eine Entstehung von vorher nicht Existentem möglich. Die Natur des Schaffens selbst beruht auf Nichtdagewesenem, auf Unwiederholbarem, und der Träger des Letzteren ist das Individuum. Jedes individuelle Bewußtsein umfaßt eine Seite des allumfassenden, unendlichen Seins. Eine unwiederholbare Seite, die nur diese Persönlichkeit selbst und keine andere widerspiegeln kann. Nach der Anzahl dieser Bewußtseinsseiten vervollständigt sich unser Weltbild. Darin liegt der Wert der Persönlichkeit. Mit dem Verschwinden eines jeden individuellen Gesichtspunktes geht eine der Möglichkeiten verloren, und somit erlischt im millionenseitigen Mosaik des menschlichen Geistes eine Seite.

In der Gesellschaft gab es und wird es immer Kräfte geben, denen die Entwicklung unbequem ist und für die die Erhaltung des Status quo eine Erhaltung ihrer Privilegien bedeutet. (Ein typisches Beispiel hierfür sind Stalin und die Stalinisten, die ihn überlebt haben!). Dennoch steht die Zeit nicht still, das Heute wird in vierundzwanzig Stunden zum Gestern, und die Kräfte, die sich den Veränderungen entgegenstellen, schützen immer den gestrigen Tag. Aber wer wird zugeben, daß er gegen den Strom des gewaltigen Flusses, gegen den Strom der Geschichte schwimmt?

Darum wiederholen alle Gleichmacher, vom sturen Unteroffizier Prischibejew bis zum genialen Platon auf verschiedenem Niveau die These: »Veränderungen zerstören die Ordnung, sie zerstören die Gesellschaft!« Und weil der Kern jeder Veränderung in der Einzigartigkeit des Individuums liegt, bemühen sie sich in erster Linie, dieses Individuum zu standardisieren, in ihm jegliche Originalität zu töten.

38


Das läßt sich nie vollkommen erreichen, doch war der Grad der Gleichmacherei seit jeher ein Maßstab für die Macht der Bremse, die den Kräften des Rückschritts zur Verfügung steht.

Platon vertrieb Homer aus seinem Idealstaat und lobte den Tyrannen, der befohlen hatte, die Saiten von der Leier zu reißen, die über die »vorgeschriebenen« sieben hinaus gezogen waren. Warum? Platon weist mit ursprünglicher Offenheit nach, daß Poesie und Musik das trojanische Pferd sind, das unbemerkt Veränderungen in den Geist des Volkes bringt. Also ist es am besten, die Poesie und die Musik zu vertreiben, und da das unmöglich ist, ist es zweckmäßig, sie zu standardisieren und sich vor Unklarheiten und Neuerungen zu schützen. Die späten Reaktionäre waren nicht mehr so offen und maskierten sich mit den »Interessen der Werktätigen«.

In den 1930er Jahren wurde die Neuerungsbestrebung zu einem negativen Begriff, und das poetische Experiment war »wenn auch nicht immer eine Katastrophe, so doch immer ein Aufstand, ein schöpferischer wie ein ideeller« (Radjanska Literatura, 1938, Nr. 78, Seite 228), der dazu führt, daß »die Kunst beginnt, der Maskierung der feindlichen Ideologie zu dienen« (Literaturna Gaseta, 24. 6. 1934). »Die Poesie des sozialen Realismus kann sich nicht mit dem Nebelhaften versöhnen, sei es noch so schön.« (Witschysna, 1949, S. 147).

Aber das Problem liegt darin, daß Veränderungen nicht die Gesellschaft zerstören, sondern nur die veralteten gesellschaftlichen Normen, die zur Bremse geworden sind. Es ist falsch, der Tradition die Evolution entgegenzustellen. Sie ist nämlich keine Negation der Tradition, sondern ihre natürliche Fortsetzung.

Eine Explosion muß nicht zwangsläufig zerstören: sie beseitigt auch Hindernisse beim Bau neuer Straßen. Und wenn ein Mensch zu einem andersdenkenden wird, heißt das noch lange nicht, daß er sich außerhalb der gesellschaftlichen Norm stellt. Das Allgemeine ist eine Abstraktion, es existiert real und wird nur durch das Partielle und Individuelle deutlich. »Die Krähe sitzt im Wald« ist eine Abstraktion, real muß die Krähe auf einem der Bäume sitzen. Wenn der Mensch ein andersdenkender wird, zerstört er die gesellschaftliche Norm nicht, er bereichert sie vielmehr.

39


»Einheit und Einheitlichkeit sind zwei verschiedene Dinge.« (F. Bacon) Und Einförmigkeit muß nicht eine Bedingung der Einheit sein.

Das ist der Punkt, an dem man jeden Despoten überführen kann, wenn er Einheit und Einförmigkeit gleichsetzen will. Auch der Gesichtspunkt eines Despoten, den er allen in Form von »Wahrheit« aufbinden will, ist individuell wie alle anderen und hat keine größeren Rechte als die anderen. Also dient die Aufrechterhaltung einer Ordnung, in der alle Gesichtspunkte in das Prokrustesbett der »Wahrheit« passen müssen, die vom großen Dalai-Lama verkündet wird, keineswegs der Gesellschaft, sondern dem Dalai-Lama selbst, für den Entwicklung Untergang bedeutet.

Ein Afrikaforscher (Segeli) schrieb über die Afrikaner:

»Wenn der Häuptling gern jagte, besorgten sich alle seine Leute Hunde und gingen mit ihm auf die Jagd. Wenn er Musik und Tanz liebte, zeigten alle eine Neigung für diese Unterhaltung. Wenn er Bier mochte, betranken sich alle damit. Die Häuptlinge entlohnten ihre Kriecher. So gibt es in allen Stämmen der Betschuanen Leute, die die Kunst beherrschen, das Gehör ihres Führers mit Lobliedern zu seiner Ehre zu erfreuen. Sie entwickeln hierbei eine bedeutende Redekunst und haben stets eine große Auswahl von Bildern zur Verfügung, sie sind geschickt im Tanz mit der Streitaxt und einer Kürbisrassel. Der Häuptling belohnt die süßen Reden mit einem Ochsen oder einem Schaf. Diese Lieder, die bis ins Unendliche ein und dasselbe Thema behandeln, nehmen leider in der Poesie der Neger einen bedeutenden Platz ein.« 

Hieße es nicht »Neger«, wäre jeder davon überzeugt, eine Beschreibung unserer jüngsten Vergangenheit vor sich zu haben. Die Lieder mit der Streitaxt, die bis ins Unendliche vor dem Thron des Häuptlings wiederholt werden, nehmen nicht nur in der Dichtung der Neger den ersten Platz ein. Und wenn wir uns erinnern, wie schnell jedes Wort, nicht nur Stalins, sondern auch Chruschtschows aufgenommen wurde, wenn wir uns erinnern, daß die Aphorismensammlung »In der Welt der klugen Gedanken« zur Hälfte aus dem betrunkenen Gelalle Chruschtschows besteht, bleibt nur das Eingeständnis, daß die Afrikaner etwas zurückbleiben.

40


»Unser Volk ist so — man braucht nur mit dem Auge zu zwinkern, und schon hat es begriffen!« (Chruschtschow)

Fast wie Zwillingsgesellschaften. Aber das ist bei weitem nicht der Fall. Den Afrikanern hat diese Ordnung niemand aufgezwungen, sie war eine natürliche Erscheinung, diktiert vom Niveau der Entwicklung. Der Häuptling war für sie das Idol, Gegenstand der Begeisterung, Zauberer, Arzt, Weiser und Heerführer zugleich, eine Halbgottfigur. Deshalb war auch die sklavische Anbetung echt und beeinträchtigte nicht die innere Harmonie der Persönlichkeit. Die Lieder eines afrikanischen Hofpoeten sind Lobpreisungen des Häuptlings und vollwertige künstlerische Werke zugleich, denn das schöpferische Ich des Sängers war nicht entzweit.

Ratzel schrieb über die Afrikaner des 19. Jahrhunderts, »daß sie sich nur einer absolut unbestreitbaren Macht unterordnen, deren Ursprung im Dunkel der Vergangenheit verborgen ist oder die sie, wenn sie der Gegenwart entspricht, mit dem Glauben ans Übernatürliche verbinden können«, und deshalb müsse »man sogar die besten Anführer der Afrikaner im eigentlichen Sinne des Wortes Despoten nennen. Wenn sie selbst auch keine Despoten sein wollen, so werden sie von ihren Untergebenen dazu gezwungen.«

Also war der Urdespotismus etwas Natürliches, das mehr auf freiwilliger Verehrung als auf Gewalt aufgebaut war. (Hier liegt die Lösung des Geheimnisses, das die Europäer immer wunderte: Wie konnte ein afrikanischer oder amerikanischer Despot auf weiten Gebieten fast ohne militärisch-bürokratischen Apparat die Macht in den Händen halten?)

Wie aber kann man den Despotismus des 20. Jahrhunderts aufrechterhalten unter Völkern, wo der Machtausübende längst aufhörte, ein Gott zu sein und nur der erste unter gleichen ist, eine Person, die zur Ausführung bestimmter Funktionen gewählt ist? Wie kann man den Despotismus der Steinzeit in der Seele eines Ukrainers festigen, der schon im Mittelalter einen Oberbefehlshaber wählte und selbst einer werden konn-

41


te, der die Philosophie eines Skoworoda hervorgebracht hat, einen Hymnus an die menschliche Persönlichkeit, wenn auch in scholastischem Gewand, mit der Devise »erkenne dich selbst« auf der ersten Seite? Eine Philosophie, für die das »Ich« die Grundlage für alles, selbst für das Reich Gottes bildet, und in der selbst Gott nichts anderes ist als ein vollwertiges »Ich«. »Wer sich erkannt hat, hat den ersehnten Schatz Gottes gefunden. Er hat seine Quelle und Verwirklichung in sich selbst gefunden«. »Ein wahrhafter Mensch und Gott sind ein und dasselbe.«

Wie kann man einen heutigen Künstler, für den ein despotischer Feldwebel einfach kein vollwertiger Mensch ist, dazu zwingen, vor seinem Thron einen Tanz mit der Streitaxt zu vollführen?

Niemand hat Chruschtschow zu einem Gott gemacht — im Gegenteil, er war eine allgemeine Witzfigur. Und trotzdem kamen Scharen von Kriechern auf einen Wink seines Fingers angelaufen. Und wo liegt die Ursache? Sehr einfach. Wenn die Vergötterung vergeht, tritt die rohe Gewalt in Erscheinung. Nur der Zwang kann einen heutigen Menschen dazu bringen, einen Despoten auszuhalten. Je mehr sich der Mensch mit der Entfaltung der eigenen Persönlichkeit seiner Versklavung widersetzt, desto größere Gewalt muß der Despotismus mobilisieren, um Normen an der Oberfläche zu halten, die einst widerstandslos existierten, und dann verliert er endlich die Züge des Patriarchaten und verwandelt sich in einen Starrkrampf, der alle Bewegungen des gesellschaftlichen Organismus lahmt.

Im 20. Jahrhundert bildete sich eine früher unbekannte Praxis der Kontrolle aller Erscheinungen des gesellschaftlichen, sogar des familiären Lebens heraus. Das ganze Leben des Menschen, von der Wiege bis zur Bahre, steht unter Kontrolle. Sogar die Freizeit wird standardisiert, eine Unterlassung des Herdengangs ins Museum gilt als Sünde. Die Formen des Despotismus werden immer widerlicher und arten in ein Auschwitz aus. Man sieht hierin einen Regreß, das »Ende der Welt«, in Wirklichkeit ist das aber ein Beweis des Gegenteils. Der Despotismus hört auf, die Norm für menschliche Beziehungen zu sein, und muß immer neue Anstrengungen unternehmen, um an der Oberfläche zu bleiben.

42


Aber sogar bei der größten Standardisierung und Kontrolle wird der Despotismus auf ein Problem stoßen, das sich nicht mit bürokratischen Mitteln lösen läßt. Man kann die Menschen alle in die gleiche graue Kleidung stecken, man kann graue Kasernen bauen, alle Bücher außer dem offiziellen Talmud verbrennen, immer bleibt ein Spalt, durch den der Lichtstrahl dringt, der für den despotischen Schimmel tödlich ist. Es bleibt die geistige Welt des Menschen.

Der Kapitän des KGB, Kasakow, der von Iwano-Frankiwsk nach Mordowien geschickt wurde, um zu überprüfen, inwieweit ich »umerzogen« (d. h. als Persönlichkeit gesunken) war, eröffnete mir ehrlich: »Wir können leider nicht sehen, was in Ihrem Kopf vorgeht. Ja, wenn das möglich wäre, und man all das entfernen könnte, was Sie hindert, ein normaler Sowjetmensch zu sein, müßte man nicht soviel reden!«

Es wäre wirklich sehr bequem, Gedanken in menschliche Köpfe einzusetzen oder daraus zu entfernen wie ein Element in ein Elektronengehirn. Es wäre leicht, die Erinnerung an Vergangenes auszulöschen. Man startet etwa eine Kampagne für die Verurteilung des Personenkults, setzt allen ein bestimmtes Programm in den Kopf, holt es am nächsten Tag heraus, und über Stalin wird kein Wort mehr verloren. Oder man beschließt, die Nationalsprachen und die Nationen zu liquidieren. Dieselbe Prozedur, und keinerlei Schwierigkeiten mit Dingen, die sich schwer programmieren lassen, wie nationale Würde, der Wunsch, die kulturellen Errungenschaften zu bewahren. Zudem hätte man die Garantie, daß es nirgends etwas Unbekanntes, Unkontrollier­bares gäbe.

Aber das ist nur ein Traum. Einen Gedanken kann man nicht fangen und hinter Gitter setzen. Welch Schrecken — der Gedanke, auch wenn er mit Gewalt in das menschliche Hirn eingepflanzt ist, er liegt dort nicht wie ein Element in der Elektronenmaschine, sondern wächst, entwickelt sich (manchmal in der entgegengesetzten Richtung als geplant), und keine Apparatur kann diesen Vorgang kontrollieren. So mancher Tyrann ist schon schweißgebadet erwacht, gelähmt von der Erkenntnis seiner Unfähigkeit, diese unsichtbare, aber doch unaufhaltsame Bewegung in den menschlichen Köpfen aufzuhalten.

43


Die Angst vor dieser niemandem unterworfenen Macht schloß Stalin an seinem Lebensende in ein freiwilliges Gefängnis ein und trieb ihn zum Verfolgungswahn. Diese Angst ist auch Ursache des Wunsches, jeden Homer aus dem Staat zu vertreiben, die »überflüssigen Saiten von der Leier zu reißen«, und auch des ewigen Hasses des Feldwebels auf den Intellektuellen, der sogar in Uniform oder in Sträflingslumpen unstandartisiert und entsichert bleibt. »Genossen, fürchtet die, die ihre Gedanken hinter der Unklarheit des Ausdrucks verbergen. Darin verbirgt sich das Wesen der feindlichen Klasse.« (Prokowskij).

Sie ist Ursache des totalen Kampfes nicht gegen Andersdenkende (von ihnen ist erst gar nicht die Rede), sondern gegen Selbständigdenkende.

Bei meiner Verhaftung wurde auch ein Gedicht von Iwan Dratsch beschlagnahmt, die »Ballade über die Flügel«. Ich fragte nach dem Grund. Das Gedicht ist gedruckt worden, und auch der Autor selbst wird in der letzten Zeit sogar gelobt. Man erklärte mir, weder gegen das Gedicht, noch gegen den Autor lägen irgendwelche Einwände vor, aber das Gedicht sei mit einer Schreibmaschine geschrieben, aus jemandes eigener Initiative. Und dieser unbekannte Jemand verbreitete es auch aus eigener Initiative.

Das ist die größte Sünde überhaupt — der Mensch hat eigene Gedanken und übernimmt sie nicht in fertiger Form. Man darf alles tun, wenn es befohlen wurde. Alle dürfen nur aus einer streng kontrollierten Quelle mit destilliertem Wasser trinken. Alle übrigen Quellen werden zugeschüttet, auch wenn sich ihr Wasser durch nichts von den anderen unterscheidet.

1964 fragte mich ein Vertreter des wolhynischen KGB, der den Auftrag hatte, jedes Erscheinen eines denkenden Wesens am Pädagogischen Institut zu fixieren und sofort das Gefahrensignal aufleuchten zu lassen: »Was ist das für ein Verein denkender Menschen?«

44


Die Idee, einen Verein denkender Menschen zu gründen, war in Form eines Scherzes bei einem Gläschen entstanden, hatte aber das KGB ernsthaft verstört. Die Verfassung gestattet die Bildung von Vereinen, das weiß auch das KGB. Aber unter der Bedingung, daß der Befehl, einen Verein zu gründen, von oben kommt. Dann ist alles in Ordnung, selbst wenn dieser Verein ein Erdbeben organisieren sollte. Aber wenn einer selbständig auch nur einen Verein zum Schutz des Hornviehs gründen wollte, würde sich das KGB ohne Zweifel mit dieser Sache beschäftigen.

Wie läßt sich denn auch wirklich diese ewige Selbstbewegung der Gedanken aufhalten, wenn sie die Etappen der Standardisierung und Sterilisierung lebend überdauert haben?

Es gibt noch ein letztes Mittel — sie einzufrieren. Einfrieren in eisiges Entsetzen. Indem man eine riesige Gefriertruhe für menschliche Gedanken baut. Erschießung drei Tage nach der Festnahme, rätselhaftes Verschwinden in der Nacht, Erschießung wegen Nichterfüllung der Norm, Kolyma, von wo niemand wiederkommt, das sind die Bausteine, mit denen Stalin •ein Reich des Grauens errichtet hat. Das Grauen erfüllte Tage und Nächte, und die Erinnerung daran lahmte jegliches Denken. Das Ziel war erreicht. Die Menschen hatten Angst zu denken, das menschliche Gehirn hörte auf, selbständige Kriterien und Normen zu erzeugen und hielt es für normal, sie fertig geliefert zu bekommen.

Der Despotismus beginnt dort, wo der Mensch aufhört, die Gewalt über sich als etwas Schlechtes zu empfinden, und anfängt, sie für die normale Sachlage zu halten. (»Die Obrigkeit erzeugt Angst.« — »Na und? Dafür ist sie doch da!«)

Auf den Ruinen der menschlichen Persönlichkeit wuchs eine Generation von Menschen der Angst.

45


  Ein Schräubchenimperium  

 

Stalin erkannte die Kybernetik zwar nicht an, trotzdem hat er sich diesem Gebiet sehr verdient gemacht: er hat den programmierten Menschen erfunden. Stalin ist der Schöpfer des Schräubchens.

Es gab Leute, die nach der Lektüre von Solschenizyns Werk* sagten: »Man würde sich am liebsten in eine Ecke verkriechen und durch nichts bemerkbar machen.«

Man kann sich gut vorstellen, um wieviel größer dieser Wunsch vor zwanzig Jahren war, als die Leute Zeugen von Massen­erschießungen und anderen Schrecken waren, und als man abends nicht wußte, wo man morgens sein würde. Der Wunsch durch nichts, durch gar nichts aufzufallen, sich in der Masse zu verkriechen, jemand anderem ähnlich zu werden, um keinerlei Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, wurde allgegenwärtig. Und das bedeutete eine völlige Nivellierung der Persönlichkeit.

Früher bedeutete die Loslösung eines Individuums aus der Masse der Materie den Anfang neuen Lebens, die Entstehung der organischen Welt. Jetzt begann der umgekehrte Prozess, die Vermassung der Individuen, die Rückkehr zu einem anorganischen Sein ohne Individualität. Eine Persönlichkeit zu sein kommt einer Sünde gleich. Die Gesellschaft wird vom Geist grauer Gesichtslosigkeit beherrscht. »Was willst du? Bist du eine besondere Persönlichkeit?« Diesen Satz hört man unzählige Male, vor und nach der Verhaftung.

Die Brigademethode dringt sogar in das Gebiet der Dichtung vor und schafft das Phänomen eines Kollektivpoems. 1937 erschien das Kollektivpoem »Iwan Holota«, unter dem in alphabetischer Reihenfolge wie im Telefonbuch Baschan, Holowaniwskyj, Johansen, Kulyk, Perwomajskyj, Rylskyj, Sosjura, Tereschtschenko, Tytschyna, Fefer, Usenko, Uschakow unterzeichneten. Aber auch das schien noch zu wenig, ein Jahr später kam der Befehl, ein Heldenlied über Ostap Netschaj zu schreiben. Darunter stehen zwanzig Unterschriften. Das dürfte wohl ein Rekord sein.

Hier die Eindrücke eines ehemaligen Mitglieds der KP der Westukraine, der fünfmal in Polen verhaftet wurde und nach 1939 endlich in die Ostukraine kam, von der er in der Haft jahrelang geträumt hatte.

»Der Zug durchschnitt die Linie, die schon lange nicht mehr existierende Grenze. Die erste Station

* Ein Tag aus dem Leben des Iwan Denissowitsch 

46


liegt bei Schytomyr, eine Menschenschar steht auf dem Bahnsteig. Das erste, was ins Auge fällt, ist die Einförmigkeit, die für uns ungewohnte Farblosigkeit der Leute, die wattierte Jacken tragen. Eine Frau in einem roten Mantel sieht aus wie eine exotische Blume, hier fremd und sogar fehl am Platze.«

Die Kleidung kann wohl bunt, sogar grell werden, aber die Farblosigkeit verschwindet nicht. Wie sich die Schräubchen auch empfehlen, wie sie sich auch mit Teppichen bedecken, die leihweise aus den Staatsläden genommen werden, wenn eine Delegation kommt, ein Außenstehender wird immer die Farblosigkeit bemerken. Sie liegt in der Luft, die Menschen atmen sie aus, können sich ohne sie nicht mehr vorstellen. Sie ist zum täglichen Brot geworden.

Schließlich stellt die herrschende Macht sich als einzigen Anfang hin, der »Verstand, Ehre und Gewissen« in sich trage, und dann wird feierlich die »moralisch-politische Einheit der Gesellschaft« proklamiert. Die ewige Frage »Wohin gehen?« verwandelt sich für das Schräubchen in die Formel, die keinerlei geistige Anstrengung erfordert: »Wohin man dich führt.«

Ein Mensch, der nicht mehr selbständig Gut und Böse unterscheiden kann, wird zu einem Schäferhund, dessen Zorn nur auf Befehl hervorgerufen wird, und der nur dann das Böse sieht, wenn man es ihm zeigt.

Das Schräubchen hat in der Zeitung gelesen, daß die Afrikaner ohne besondere Erlaubnis nicht in den Städten Südafrikas leben dürfen, und es hält dies für Willkür. Aber sein eingefrorener Verstand ist nicht in der Lage, die Tatsachen zu koordinieren und zu dem Ergebnis zu kommen, daß die ihm seit seiner Geburt bekannte geltende Vorschrift, nur mit besonderer amtlicher Erlaubnis in eine andere Stadt umzuziehen, genauso eine Verletzung des Art. 13 der Menschenrechte ist: (»Jeder Mensch hat das Recht, seinen Wohnort frei zu wechseln und einen neuen im Gebiet eines beliebigen Staates zu wählen«).

Daß in unserer Wirklichkeit der »Wohnstreifen« gesetzlich verankert ist, und zwar nicht nur für Juden wie früher, sondern für alle. Für den, der nicht in einer Großstadt geboren wurde, ist ein Getto vorgezeichnet, dessen Grenzen an die Vororte von Kiew, Lemberg, Odessa reichen.

47


Das Schräubchen schreibt erboste Gedichte über Buchenwald — das ist erlaubt! »Eure Herzen wurden zu Asche, aber eure Stimmen sind nicht verbrannt«. Doch die Asche derer, die in der sibirischen Tundra verkohlt sind, berührt das Schräubchen nicht. Und es wäre ein Fehler, das für Angst zu halten, es ist bereits ein Charakterzug.

Alle verurteilen die Verbrechen des Faschismus an der jüdischen Bevölkerung, gehen aber ruhig über die Grabplatten jüdischer Friedhöfe, mit denen die Bürgersteige vieler Städte gepflastert sind. Die Bürgersteige haben die Deutschen gepflastert, das stimmt. Aber die Deutschen sind schon lange weg, doch über die entehrten Namen der Toten geht man bis heute auf den Gefängnishöfen in Lemberg und in Iwano-Frankiwsk. Über sie gehen auch die Studenten und Dozenten des Pädagogischen Instituts in Iwano-Frankiwsk. Im Institutshof lag vor meiner Verhaftung ein großer Haufen solcher Grabplatten auf Vorrat herum. Sie wurden zerschlagen und für wirtschaftliche Zwecke verwendet — begleitet von Vorlesungen über Ästhetik und Philosphie im angrenzenden Hörsaal. Das wird so lange dauern, bis von oben der Befehl kommt, sich über die Barbarei der Deutschen zu empören und aus diesen Platten ein Denkmal zu errichten. Aber bis dahin kann man sie mißachten.

Das Schräubchen ist das Traumziel jedes Gleichmachers. Eine gehorsame Schar von Schräubchen kann man Parlament oder Gelehrtenrat nennen, und es wird mit ihnen keinerlei Sorgen, keinerlei Überraschungen geben.

Ein Schräubchen, das man zum Professor oder zum Akademiker ernennt, wird niemals etwas Neues sagen, und wenn es mit etwas überrascht, dann nicht mit einem Wort, sondern mit blitzartigen Veränderungen seiner Ansichten in kürzester Zeit.

Man kann eine Schar von Schräubchen Rotes Kreuz nennen, und sie werden in Afrika Kalorien berechnen, aber nichts über den Hunger im eigenen Land sagen. Das Schräubchen wird aus dem Gefängnis entlassen und schreibt sofort, daß es niemals dort gewesen sei, es nennt die, die sich für seine Entlassung eingesetzt haben, auch noch Lügner (wie der Schriftsteller und Humorist Ostap Wyschnja). Das Schräubchen schießt, wohin man befiehlt und kämpft danach auf Befehl für den Frieden.

48


Und das Letzte und Wichtigste: Nachdem alle Menschen zu Schräubchen geworden sind, kann man unbesorgt jede beliebige Verfassung verabschieden, beliebige Rechte erteilen. Der ganze Zauber beruht darauf, daß das Schräubchen gar nicht auf die Idee kommt, diese Rechte auch in Anspruch zu nehmen.

Es ist nicht weiter erstaunlich, daß das Schräubchen mit aller Gewalt angepriesen, daß es als Ideal hingestellt wird. Irgendwo In einem Schulkorridor lesen die Schüler Gedichte von Symonenko: »Wir sind nicht unzählige, standartisierte Ichs, wir sind unzählige, verschiedene Welten«, und daneben an der Wand erzählt ein von der Pionierführerin aufgehängtes Plakat von einer Pionierin, die bei einem Brand die Kälber gerettet hat. Alles war bereits von den Flammen erfaßt, das Dach drohte einzustürzen, aber sie trieb dennoch die Kälber hinaus. Wenn das Mädchen dabei umgekommen wäre, dann hielten die Schräubchen das nicht etwa für anormal, im Gegenteil, sie würden diesen Fall als ein ganz besonderes Beispiel hinstellen.

Die Schräubchengesellschaft hat Gesetze, die Tiger und Würgetiere vor Wilddieben schützen. Der »Humanismus« reicht soweit, daß in Moskau Leute für die Tötung des Schwans Borka ins Gefängnis gesperrt wurden. Man kann nur hoffen, daß der Humanismus irgendwann auch mal Menschen betrifft. Aber solange das Leben einer Pionierin weniger gilt als das von Kälbern, kann man die Losung »Alles für die Menschen, alles zum Wohle der Menschen« nicht ernst nehmen. Den Wert der Persönlichkeit erkennt man nur dort, wo sie als etwas Einzigartiges, Einmaliges betrachtet wird. Dort, wo sie ein Schräubchen, ein ersetzbares Detail geworden ist, mißt man den Wert eines Menschen an der Kraft seiner Muskeln. Humanismus ist in so einer Gesellschaft eine falsche Parole, die nichts mit der Realität gemein hat.

Das Kalb ist die materiell-technische Basis, die Hauptsache, und im Vergleich mit ihr ist die geistige Grundlage (die in der Pionierin liegt), ein häßlicher Überbau. Das Kalb ist eine fertige Produktion, die Pionierin ein Rohstoff, den man Arbeitsreserve nennt. In der Kannibalenzeit hätte sicher die Pionierin einen höheren Wert: sie wäre wenigstens ein materielles Gut neben dem Kalb.

49


In der »Iswestija« stand ein »Erziehungsartikel« über einen Heizer. Ein Dampfer, der einen Zug nach Finnland übergesetzt hatte, ging in einer finnischen Hafenstadt kaputt, und man hätte das Feuer im Heizkessel löschen müssen, um ihn zu reparieren. Aber der Heizer entschloß sich, »den Finnen zu zeigen, was Arbeit ist« und das Schiff bei ungelöschtem Heizkessel zu reparieren. Das heißt, der Heizer entschloß sich, den »Rat« seiner »Betreuer« zu befolgen, die ihn sorgsam über die Grenze begleiteten, damit er sich nicht verirrte. Die Zeitung hatte allerdings vergessen, darüber zu schreiben. Wie dem auch sei, das Feuer im Kessel wurde nicht gelöscht, und der Heizer machte die Reparatur unter Einsatz seines Lebens. Die Finnen, schreibt die Zeitung, waren von der Tat des Heizers tief beeindruckt. Ja, die Finnen waren sicher tief beeindruckt, doch weniger von dem Mut. Sie sahen einfach zum ersten Mal, wie ein Mensch sein Leben geringer schätzt als einen Zentner Kohlen.

Trotzdem gilt so etwas bei den Schräubchen als Heldentat.

Hinter der Trommel her 
trotten die Kälber. 
Das Fell für die Trommel 
liefern sie selber

 

  Ein Fest auf den Ruinen der Persönlichkeit  

 

Ein kluger Ingenieur antwortete auf die Frage, warum er Ingenieur und nicht etwa Kunstexperte geworden sei: »Hier gibt es weniger x«. Hierin liegt eben der prinzipielle Unterschied zwischen den sogenannten exakten Wissenschaften und den humanistischen, die mit einem Fuß auf der Ebene der Logik, mit dem anderen auf der Ebene des Irrationalen neben der Kunst stehen. Ein Vertreter der sogenannten technischen Intelligenz ist fest davon überzeugt, daß sich »die Philosophie mit Quatsch befaßt«, »Wasser durch ein Sieb schüttet«, weil er die einfache Tatsache nicht erkannt hat: Die Philosophie, auf die er von oben hinuntersieht, zieht das Objekt der Erforschung erst aus

50


dem Nebel irrationaler, unterirdischer Tiefen und gibt es ihm in die Hände, damit er es mit dem Zentimetermaß nachmessen kann. Aber der gesamte Komplex der geistigen Beschäftigungen, die den Menschen ausmachen, unterwirft sich eben weder dem Zentimetermaß noch dem Sekundenzeiger. Diese Sphäre ist für die exakten Wissenschaften unerreichbar. »Mathematik, Physik, Medizin, Mechanik, je mehr wir uns mit ihnen beschäftigen, desto größeren geistigen Hunger verspüren wir, und unser unbeholfenes Erstaunen kann sich nicht vorstellen, daß «je alle Dienerinnen einer Herrin und ein Schwanz an einem Kopfe seien, ohne den der ganze Körper nicht wirklich ist.« (Skoworoda)

Ein Chemiker, der Elemente in einen Kolben füllt und herausnimmt, kann genau demonstrieren, welches von ihnen die Ursache der Reaktion ist. Ein Historiker kann niemals, auch wenn er von seinem Recht sicher überzeugt ist, die Ursachen eines historischen Ereignisses so deutlich demonstrieren. Er kann kein Experiment vorführen, er hat es mit Abstraktion zu tun.

Nach dem verlorenen Krieg gegen Japan 1894 meinten die Chinesen, daß die Ursache ihrer Niederlage die Umstellung auf Feuerwaffen sei. Man erklärte ihnen, daß die Ursache in der totalen Unterdrückung der Persönlichkeit lag, die dann auch zu einem Stillstand in der materiellen Produktion geführt hatte, doch niemand konnte es ihnen mit mathematischer Genauigkeit beweisen. Nicht umsonst schreibt Shaw: »Die wichtigste Lehre der Geschichte ist eben, daß die Menschen nicht aus der Geschichte lernen.«

Ja, es ist viel schwerer, der Geschichte eine Lektion zu entnehmen als der Chemie. Das kam den Despoten immer zugute: sie stellten sich als Urheber aller gesellschaftlichen Errungenschaften hin und ihre Gegner als Urheber alles Schlechten.

Nicht jeder begreift, daß die von Stalin vor Jahrzehnten eingeführte »Ordnung« die Ursache für das Chaos in der heutigen Landwirtschaft ist, daß das »Ideengut«, mit dem man die Leute jahrzehntelang gefüttert hat, die Ursache für die sprichwörtliche Ideenlosigkeit unserer Jugend ist und nicht etwa die »bürgerliche Propaganda«.

51


Wenn man den Menschen daran gewöhnt, alle geistigen Werte, ohne zu überlegen, aus einer Quelle zu nehmen, wenn man ihm den Mechanismus zu seiner eigenen Entwicklung weggenommen hat, müßte die Gesellschaft, wie es scheint, zu einem unzerstörbaren Monolith werden. Alle Voraussetzungen dafür scheinen vorhanden zu sein: erstens die Gleichheit der menschlichen Bedürfnisse und Werte, zweitens die unbestreitbare, aber naive Anbetung eines Idols, das zur Gleichmacherei führt. Es könnte scheinen, daß eine solche Gesellschaft auf militärischem Gebiet stark sein müsse. Nehmen wir das Beispiel China, wo die medizinischen Gesetze 4000 Jahre lang unverändert blieben. Die Chinesen hielten ihr Imperium wirklich für einen unzerstörbaren Monolithen, den mächtigsten der Erde. Aber zu Beginn des 20. Jahrhunderts schnitten die europäischen Länder fast widerstandslos Stücke vom riesigen zentralistischen China ab.

Der russische Adlige beobachtete die Demonstrationen und Revolutionen in London oder Paris, die dort bereits zu einer normalen Erscheinung geworden waren, mit Verachtung, er sah in ihnen ein Symptom der Schwäche, verglichen mit der unerschütterlichen Ruhe seines Mütterchen Rußland. Man schuf sogar den Mythos vom »Verfaulten Westen«, der bis auf den heutigen Tag weiterlebt. Der Spießer, der ihn täglich aus Zeitungen und Romanen verinnerlicht, kommt gar nicht auf die Idee, daß diese Weisheit ihren Ursprung bei den Slawophilen und bei Dostojewski hat. Schon Mitte des 19. Jahrhunderts waren in der Zeitschrift »Moskwitjanin« Belehrungen an die Adresse des »alten, blinden, altersschwachen Europa« zu lesen. Mütterchen Rußland blühte und duftete in Eingestalt und Unteilbarkeit, der »Verfaulte Westen« aber lebte weiter vor sich hin, wobei er allerdings so schlau war, die Relativitäts- und die Quantentheorie zu entwickeln. Rußland nahm sie an — mit 50jähriger Verspätung und mit der Einschränkung, daß Lomonosow diese Entdeckungen schon 200 Jahre früher vorausgesehen habe — und sprach weiter vom »Verfaulten Westen«. Ein typisches Beispiel von Gehirnathrophie!

»In Petersburg singt man Liedchen, die in Paris gerade passé sind« schrieb Tschernyschewski vor 100 Jahren. Er könnte das heute auch noch schreiben.

52


Rußland war also mächtig, der Westen verfault. Aber dann kam der Krimkrieg, und allen wurde klar, daß von einem gleichen Kampf dieser Mächte keine Rede sein konnte. Die russische Flotte mußte bei der Einfahrt in die Bucht von Sewastopol versenkt werden, sie konnte nicht nur nicht siegen, sie konnte nicht einmal zum Kampf gegen die Flotte der Franzosen und Engländer antreten.

Es war eine Konfrontation zweier Welten: der, die die Persönlichkeit für die Grundlage jeglicher Stärke hielt und der, die in ihr gerade das Hauptübel sah. Zuweilen siegte auch die zweite, aber den endgültigen Sieg trug immer die erste davon. Das demonstrierten bereits in der Antike die griechische Phalanx und die römischen Legionen, die gegen die gigantischen Armeen der asiatischen Despoten antraten wie David gegen Goliath und dennoch siegten, weil hier Individuen gegen Schräubchen antraten.

Solche Konfrontationen öffneten vielen, aber bei weitem nicht allen die Augen. Die Mehrzahl sah immer nur die Folgen:

»Ja, mit ihren Waffen und mit unserer Ordnung, da würden wir Wunder vollbringen!« Das ist es ja eben, daß gerade die »Ordnung« die Ursache für die Rückständigkeit in der Produktion wie auch in der Bewaffnung ist. Nichts kann den freien, nicht reglementierten Gedanken des Individuums ersetzen, dessen schöpferische Fähigkeit allein den Fortschritt vorantreibt. Der Fortschritt aber existiert dank derjenigen, die sich ihre Fähigkeit zu denken, die sich ihr Ich erhalten haben entgegen allen Versuchen, es zu vernichten. Der Mensch ohne eigenes Ich wird zum Automaten, der alles ausführt, der aber nichts schafft. Er ist geistig impotent, er ist der Dünger des Fortschritts, nicht aber sein Motor. Alle totalitären Konzeptionen, in welcher Form sie auch auftreten, sehen den Menschen eben gerade so — als Düngemittel. Aber hat der Mensch die lange Entwicklung zum homo sapiens nur mitgemacht, um ein Düngemittel zu werden und die Erde zu einem Beet zu machen, auf dem Despoten und Utopisten verrückte Experimente zur Befriedigung ihrer Eitelkeit machen?

53


Kein Programm kann alles für eine vollkommene gesellschaftliche Entwicklung Notwendige voraussehen — das kann nur die uneingeschränkte schöpferische Kraft der Persönlichkeit. Ehe sie zu einem Faktor der gesellschaftlichen Entwicklung wurde und Unterstützung von Seiten des Staates erhielt, mußte die Kybernetik erst einmal als individuelle Idee in einem individuellen Gehirn entstehen. Peter der Erste trieb Tausende von Sklaven in den Ural und führte so Rußland an die Spitze der Eisenproduktion der Welt, gleich neben England. Aber schon ein Jahrhundert später hatte England Rußland auf diesem Gebiet bereits ums Dutzendfache überholt.

Man kann auch weiter nach der Methode Peters des Ersten verfahren, sie verlangt nicht allzuviel Gehirn. Aber dann sollte man nicht auf dauerhafte Resultate warten.

Der Mechanismus von Ursache und Folgen, an dessen Anfang die schöpferische Persönlichkeit und an dessen Ende das praktische Resultat steht, ist sehr kompliziert und für das menschliche Auge nur schwer erkennbar.

Der Wilde konnte zwar keinen Zusammenhang herstellen zwischen dem Schuß an einem und dem Tod eines Lebewesens am anderen Ufer, den Mechanismus der Zusammenwirkung von Pulver, Kugel und Gewehr begriff er aber in einer halben Stunde.

Ließe sich doch der Mechanismus der gesellschaftlichen Ursachen und Folgen ebenso einfach erklären!

Dieselbe Starre verbreitet das Schräubchen auch in der moralisch-ethischen Sphäre.

Es ist ein großer Fehler, den heutigen Babelturm in China für eine Ausgeburt des Fanatismus und die Rotgardisten für Fanatiker zu halten.

Während der Beerdigung Stalins drängten sich tausendköpfige Herden zum Staub des irdischen Gottes, wobei sie Dutzende Willensschwacher erwürgten, und die Welt dachte auch, es seien Fanatiker. Drei Jahre vergingen. Der einbalsamierte Leichnam des Dalai-Lama wurde erst mit Dreck überhäuft und dann überhaupt aus dem Mausoleum geworfen. Na und? Gab es einen Aufstand? Haben Tausende von Fanatikern das Heiligtum mit ihrem Körper verteidigt? Nicht ein Hahn hat gekräht. 

54


Die Herde trampelte über die Leiche des Führers und fraß dann seine Überreste. Die man für Fanatiker voller blinder Ergebenheit gehalten hatte, waren in Wirklichkeit leer. Es zeigte sich, daß alles einfach gute Arbeit war.

Es wurde befohlen, Stalin zu lieben, und alle legten einen Trauerflor an. Ihr Zorn, ihr Leid, ihre Freude, ihr Enthusiasmus — alles war vorprogrammiert. Der »Zorn« gegen den »Verräter Tito«, den die »Öffentlichkeit« heute auf ihren Meetings äußert, wird morgen automatisch zu »Enthusiasmus«, und die »Öffentlichkeit« wird ordentlich aufgereiht an der Chaussee vom Flughafen zum Zentrum stehen, brav Transparente haltend und winkend.

Also brauchen sich die »Alten« in ihren bequemen Sesseln nicht zu wundern, woher diese »Jungen« kommen, denen »nichts heilig ist«. Die Geschichte mit Stalin hat gezeigt, daß auch den Alten nichts heilig war — sie haben es wegen ihrer Blindheit und der totalen Athrophie ihrer Denkfähigkeit nur nicht gemerkt. Die »Jungen« aber haben endlich gemerkt, daß der König nackt ist. Das ist gut. Nur der, der seine Illusionen verloren und den zerschlagenen Trog erkannt hat, nur der wird nach neuen Werten suchen.

Der leere Mensch — das ist wahrscheinlich die Hauptanklage gegen die Despotie und ihre unausbleibliche Folge.

Die geistige Leere des Menschen beginnt in dem Augenblick, in dem der Despot Verstand, Ehre und Gewissen zu seinem Monopol erklärt und verbietet, sie eigenständig herauszubilden.

Jedes Lebewesen hat das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung. Und wenn sich dieses Bedürfnis nicht in der geistigen Sphäre äußern kann, werden die geistigen Fähigkeiten des Menschen überflüssig, sie regenerieren und treten auf den zehnten Platz. Sogar der Gedanke, daß der Mensch etwas selbständig machen könnte, taucht nicht mehr auf.

Vor und während der Verhandlung wurde uns mehrfach wiederholt, daß wir »eine Ausgeburt von Antonenko-Dawydowytsch und seiner Kumpane« seien. Eine Überzeugung ist aus dem Blickwinkel eines KGB-Mannes etwas, das nur von außen in den menschlichen Kopf hineingetragen werden kann.

55/56

Und als innerhalb der jungen ukrainischen Intelligenz eine Bewegung gegen die chauvinistische Gewalt entstand, begann das KGB zuallererst zu suchen: Wer hat das eingeschleppt? Wer hat sie beeinflußt?

Aus der geistigen Sphäre vertrieben, konzentriert sich der Instinkt der Selbstverwirklichung mit doppelter Energie auf der materiellen Sphäre, und das Ergebnis ist ein Mensch, »befreit« vom geistigen Innenleben, dafür aber mit einem besonders stark ausgeprägten materiellen Bedürfnis.

Leidenschaften der niedrigsten Art werden zum ausschließlichen Verhaltensmotiv. Doch wagt niemand, das laut zu sagen.

Offiziell heißt es, das Schräubchen werde von Motiven wie Ergebenheit, Selbstlosigkeit, Ehre u. a. gelenkt. Da das Schräubchen diese Motive jedoch selbst nicht empfindet, kommt es zu dem Schluß, daß all diese moralischen Prinzipien einfach lächerlicher Aberglaube sind, über die zwar alle sprechen, deren Befolgung auf dieser Welt jedoch nur Nachteile bringt.

So entsteht eine doppelte Moral, die Lüge wird zur gesellschaftlichen Norm. Dem Diktator wird aus Trägheit alle göttliche Ehre zuteil, seine Portraits hängen an allen Säulen, aber der wirkliche Gott ist der Mittelstürmer. Nur im Stadion und im Cafe erwachen die Schräubchen für kurze Zeit aus ihrem lethargischen Traum.

Das Schräubchen entwickelt die immerhin virtuose Fähigkeit, alles, was es berührt, zum Absterben zu bringen. Befiehlt man ihm, in irgendeinen neugegründeten Naturschutzbund einzutreten, wird es nicht nein sagen, und nach einem Monat wird der Bund so viele Mitglieder haben wie es Schräubchen gibt, aber die Natur wird davon auch nicht besser. Der Bund ist totgeboren wie jeder andere. Das Schräubchen läßt sich zu keiner lebendigen, nützlichen Arbeit heranziehen, es ist wie eine Amöbe: eine formlose, gallertartige Masse ohne festen Rand, die durch jedes beliebige Netz fließt.

Man kann die übelsten Experimente machen — die Schräubchen werden sie schweigend akzeptieren, und es entstehen Fabriken an Orten, wo erst nach 20 Jahren Energie hingeführt werden soll oder wo keine Rohstoffe vorhanden sind. Die gesamte Produktion ist dazu bestimmt, lange Jahre im Verfallstadium zu vegetieren.

So wurde auf den Ruinen der Persönlichkeit eine Ordnung errichtet, die die Erde erstarren ließ.

»Das ist schlimmer als die Pest. Die Pest tötet wahllos, der Despotismus dagegen findet seine Opfer unter der Blüte der Nation«, schrieb Stepnjak-Krawtschinski.

56-57

#

 

www.detopia.de       ^^^^