Offener Brief von Semjon Glusman an seine Eltern
wikipedia Semen_Hlusman *1946 in Kiew
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Semjon (Slawa) F. Glusman, ein Kiewer Psychiater, wurde 1946 geboren. Er wurde für seine Dissertation »Die gerichts-psychiatrische Fernuntersuchung des Falles Gngorenko« zu 10 Jahren Lagerhaft strengen Regimes verurteilt. Glusman hat sich aktiv gegen die Zwangseinweisung Andersdenkender in psychiatrische Kliniken eingesetzt. Sein offener Brief, der im Samisdat verbreitet wird, wurde erstmals in der Pariser Zeitung »Russkaja Mysl« am 20.3.1975 abgedruckt.
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Meine Lieben!
Am 9. August habe ich erfahren, daß Ihr vergeblich hierhergekommen seid, um mich zu besuchen. Ich habe es erst aus Eurem Brief erfahren, bis dahin hatte niemand etwas von Eurem Kommen gesagt. Sie hatten Angst etwas zu sagen, sie hatten Angst vor der Reaktion meiner Freunde. Es fällt mir diesmal nicht leicht. Euch zu schreiben. Ich will versuchen, Emotionen zu vermeiden, denn Papier fängt doch so schnell Feuer.
Ich weiß nicht, wie der Lagerkommandant meine Sünden geschildert hat. Meine Besuchserlaubnis wurde gestrichen, weil ich mich geweigert hatte, am Bau des Lagergefängnisses mitzuarbeiten. Zweimal saß ich im Strafisolator. Aber erst am 26. Juni wurde auf Befehl des Überwachungsdienstes des KGB meine Besuchserlaubnis gestrichen. Das KGB hatte erfahren, daß Ihr kommen würdet. Die Provokation ist bestens gelungen. Die Worte Pimenows während des einmonatigen Hungerstreiks sind realisiert: »Wir werden jetzt sauberer arbeiten«. Juristisch ist alles begründet ... Nur eine »Kleinigkeit« wißt Ihr noch nicht: während dieser ganzen Zeit gab es verschiedene Gelegenheiten, mich zu beschäftigen, und ich hatte etliche Male darum gebeten . . . Aber die »Interessen der Staatssicherheit« erforderten etwas anderes.
Erinnert Euch an das vergangene Jahr: für den Preis eines Kompromisses mit mir selbst habe ich die Besuchserlaubnis bekommen. Kurz vor Eurem Brief war ich zum Umgraben des Kontrollstreifens zur Spurensicherung rund um das Lager abkommandiert worden. Kurz gesagt, ich war damit beschäftigt, mich selbst zu bewachen ...
Vom Standpunkt eines Häftlings ist dies eine unmoralische Handlung. Ich tat es Euch, nicht unserem Wiedersehen zuliebe. Das war mein einziger und letzter Kompromiß. Der Überwachungsbevollmächtigte des KGB, Utir, hat einmal gesagt, ich hätte eine schwache Stelle - meine Eltern. Er irrt sich - ich habe keine schwachen Stellen. Diesen Luxus kann ich mir nicht mehr leisten. Und genauso wie ich praktisch kein Recht habe, Briefe zu schreiben, kein Recht auf qualifizierte ärztliche Hilfe, auf ein Wiedersehen mit den Angehörigen, auf Menschenwürde, so habe ich auch kein Recht auf Emotionen. Das ist also mein Lageralltag - kalt, hungrig und leidenschaftslos.
Ihr schreibt von einer »Umwertung der Werte«. Täglich und stündlich wird in mir die Persönlichkeit und das Lebende getötet. Der Hund, der mich hinter dem Stacheldrahtzaun bewacht, bekommt kalorienreichere, wertvollere Nahrung, ihm kann man kein verfaultes Kraut oder stinkenden Fisch vorsetzen. Heute trage ich eine dünne Baumwolljacke vom berüchtigten Stalin'schen Schnitt, mit einem Namensschild auf der Brust. Ich bin kahlgeschoren, ich habe immer Hunger, ich erfriere auf dem Zementfußboden der Strafzellen, man verlangt von mir, in Reih und Glied zu marschieren, jeden Augenblick kann man mich nackt ausziehen und zwingen, unendlich viele Kniebeugen zu machen. Ich bin ein Sklave, jeder Sadist hat die Macht und das Recht, mich zur erstbesten entwürdigenden Arbeit zu zwingen. Ich bin der Strafgefangene S. F. Glusman. Ein besonders gefährlicher Staatsverbrecher. Aber ich bin nicht Jakir und auch nicht Dzjuba. Wahrscheinlich nennt Ihr sie »Anführer«. Wie bei einer Bande. Ich habe nicht die Fähigkeit, auf dem Stacheldraht Rosen zu sehen, ich leide nicht an chronischem Alkoholismus, um zu lernen, Halluzinationen zu haben.
Während des Untersuchungsverfahrens haben sie mir die »Reueerklärungen« von Franko, Selesnenko und Cholodnyj gezeigt. Sie versuchten mich zu überzeugen: »Selesnenko sitzt gerade gegenüber im Restaurant >Kiew<, trinkt Kognak und ißt Schaschlik, und Sie sitzen im Gefängnis.«
Ich bin nicht gewohnt, zum Schaschlik Kognak zu trinken, aber mein kulinarischer Geschmack war kein Grund für »Reueerklärungen«. Ich hätte mich von mir selbst lossagen
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müssen, von den moralischen Grundsätzen, die mir in Eurer Familie schon von kleinauf vermittelt worden sind, vom Onkel Lew, von Deinem Freund Mischa Jaworskki, Vater, der »irgendwo« umgekommen ist. Der Untersuchungsrichter Gunichin versuchte mich zu überzeugen, daß es während des »Personenkults« keinen »bedeutenden« Mißbrauch gegeben habe, daß nur 5 Millionen Personen verhaftet worden seien, und das meistens wegen krimineller Vergehen, daß nur »ganz wenige« umgekommen seien . . . Soll ich das fortsetzen? Ihr seid doch Zeugen des Jahres 1937 ...
Mir wird die Verbreitung der »verleumderischen Unwahrheit« vorgeworfen, daß Komsomolsk am Amur von Strafgefangenen erbaut sei. Erinnert Ihr Euch an den verstorbenen Schriftsteller Abraham Kogan, Euren Bekannten? Er hat an diesem großen Bauvorhaben des Komsomol teilgenommen. Hier im Lager sitzen Teilnehmer ähnlicher Bauten. Soll es das alles nicht gegeben haben? Erinnert Ihr Euch an die »Ärzteaffäre« - hat es sie nicht gegeben? Die Greueltaten Garanins, die Lageraufstände, die nächtlichen Verhaftungen, hat es das alles nicht gegeben? Ihr, nicht ich, Ihr seid deren Zeitgenossen. Neulich wurde hier im Lager ein baufälliges Gebäude abgerissen, Baujahr 1949. Auf einem Balken unter der Decke fanden wir die Inschrift: »25 Jahre Katorga, 12 sind noch geblieben. Maximow, A. Gr.« Die Inschrift auf dem Balken - das einzige, was von einem Menschen übriggeblieben ist. Von den frühen Strafgefangenen im Ural hat kaum einer überlebt. Mit den Strafgefangenen des Ural wurden die Strafgefangenen von No-rilsk und Workuta geschreckt. Jetzt schreckt man mit ihnen die Gefangenen in Mordowien.
Doch sogar im schlimmsten Fall droht mir kein Vergessen. Dank meiner bekannten und unbekannten Freunde, dank der »Chronik der laufenden Ereignisse«. Eine ganz junge Zeugin, fast noch ein Mädchen, antwortete auf die Frage des Richters:
»Die >Chronik der laufenden Ereignisse< existiert, damit die Menschen die Wahrheit erfahren über solche Geheimprozesse wie dieser hier.«
Dieses Mädchen gehört nicht zu den »Anführern«, sie gehört nicht einmal zu den untersten Rängen des Samisdat.
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Würde mein Umdenken nicht einen Verrat an ihr bedeuten? Und wo soll ich zum Umdenken ansetzen? Bei der negativen Einstellung zum Personenkult, die mir meine Lehrer in der Schule, im Institut vermittelt haben? Bei den Büchern, Filmen oder gar bei den offiziellen Materialien unserer Partei? Soll ich Dutzende meiner persönlichen Bekannten vergessen, die selbst das ganze Grauen dieser zeitgenössischen Opritschina erlebt haben? Ich bin Arzt - ich habe den Tod gesehen und mich irgendwie an ihn gewöhnt. Aber ich habe den Tod einzelner, wirklich einzelner Menschen gesehen, wenn die Wissenschaft ohnmächtig und das Ende nicht mehr abzuwenden war. Und nur sehr schwer kann ich mir den Tod von Millionen vorstellen, Junger und Alter. Hungertod, Tod durch Erschießen, Tod durch Folter. Der Tod von Millionen ist kein einzelner Tod, das ist millionenfacher Tod. Ein durch nichts gerechtfertigter Tod unschuldiger Menschen.
Und der Staatsanwalt hat mich gefragt: »Weshalb betonen Sie den Personenkult so sehr - hat es in Ihrer Familie Repressierte gegeben?«
Und Ihr belehrt mich in Euren Briefen, Ihr glaubt den Worten eines Berufspolizisten, eines Menschen ohne Überzeugung, und verstärkt damit den Druck gegen mich. Er, Pimenow, hat einmal zu meinem Freund Meschener gesagt: »Ich kann Sie auf den Kopf stellen, wenn ich will«. Gerade in dieser Akrobatik liegt der Humanismus des sozialistischen Straf Systems. Ich spüre es an der eigenen Haut. Gestern wurde z. B. Pryschljak in den Strafisolator verlegt, er ist 62 und siecht seit 22 Jahren im Lager dahin (ich bin erst 27). Der Grund für diesen »humanen« Akt war seine Weigerung, den Zaun im Kontrollstreifen für Spurensicherung zu streichen. Lassen wir den moralischen Aspekt beiseite, der Streifen war vorher durchgepflügt worden, und wer kann garantieren, daß der Mensch nicht bei einem »Fluchtversuch« erschossen wird? Das ist schon vorgekommen . . . Am 3. Mai 1970 wurden z. B. in Mordowien vor den Augen von -zig Gefangenen 12 Schüsse auf einen Menschen abgefeuert, der Krankenhauskleidung trug. Sie schössen trotz der Rufe der Gefangenen: »Schießt nicht, das ist ein Irrer!« Obwohl Baranow (so hieß er) nach der ersten Verletzung die
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Hände erhoben hatte. Das ist nur ein Beispiel, und nicht einmal das schrecklichste. Die Geschichte des »Archipel Gulag« kennt Schlimmeres.
Und wißt Ihr auch, daß ein Schritt zur Seite oder Stehenbleiben während der Transportmärsche als Fluchtversuch gilt (meine persönliche Erfahrung)? Daß man mich nachts bei 50 Grad Frost »für alle Fälle« auf den Schnee gelegt hat und ein Polizeiwachhund über mir an der Leine riß? Das alles sind meine Werte. Und sie sind mit nichts vergleichbar. Deshalb wird es auch keinen Kompromiß geben. Kann ich etwa die Bedingungen der Karzer im Durchgangsgefängnis von Charkiw vergessen, den Zynismus der Wachsoldaten in den Transportwaggons oder die »Umerziehung« einer verurteilten Prostituierten, die der Transportleiter für die Nacht in sein Abteil brachte?
Ist alles wirklich in Ordnung im »fernen Königreich«? Ihr seid Kommunisten. Warum wurde Euch, verdienten Bürgern des »sozialistischen und demokratischen Staates« dann nicht erlaubt, das Material meines Gerichtsfalles wenigstens oberflächlich einzusehen? Warum wurdet Ihr nicht zur Gerichtsverhandlung Eures Sohnes zugelassen, warum wurde Euch das Gerichtsurteil nicht ausgehändigt? »Die Interessen der Staatssicherheit« bestanden in dem Versuch, alles zu verheimlichen, wessen ich beschuldigt wurde. Die Nobelpreisrede von Albert Camus, die Parodie auf den Roman Kotschetows »Was willst du eigentlich?«, der Aufsatz Heinrich Bölls im »Reporter«, der offene Brief Arkadi Belenkows an den Schriftstellerverband der UdSSR. Die Zeugenaussagen, die alle eindeutig jegliche »antisowjetische Agitation und Propaganda« in meinen Handlungen und Äußerungen bestritten. Noch vor dem Abschluß der Untersuchungsverhandlungen habe ich mein Urteil erfahren. Der Chef der Untersuchungsabteilung, Oberstleutnant Borowin, N.P. hat es mir gesagt. Übrigens, was die Überzeugung angeht. Da fand folgender Dialog statt:
B.: »Sie haben noch Zeit. Bereuen Sie, geben Sie uns die Angaben, die uns interessieren, und Sie bekommen keine 10 Jahre.«
Ich: »Glauben Sie wirklich, daß man allein aufgrund einer Verhaftung und Untersuchung seine Überzeugung ändert?«
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B. unterbrach mich: »Wen interessiert schon Ihre Überzeugung - darum geht es doch gar nicht ...«
Braucht diese Variante des Dialogs zwischen Faust und Mephisto noch einen Kommentar?
Ihr habt es schwer, unsagbar schwer. Alle Eure Hoffnungen zerschlagen (unleserlich) . . . statt einer wissenschaftlichen und medizinischen Karriere, schließlich - meine Familie - nichts hat stattgefunden. Aber ist das wirklich so? Ich habe eine Dissertation geschrieben: »Gerichts-psychiatrische Fernuntersuchung im Fall Grigorenko«, und ich danke dem Schicksal, daß ich unverheiratet bin. Die Überwachungsoffiziere des KGB, die im Besuchstrakt des Lagers abhören, werden nicht Zeugen meines Ehebruchs sein. Zumindest von dieser Erniedrigung bin ich verschont.
Und ich kann nicht meine Überzeugung als Arzt und Psychiater und als naher Freund des psychisch absolut gesunden Leonid Pljuschtsch »umwerten«. Ihr wißt, daß im September 1973 der Mitarbeiter des zentralen KGB, Djagas Georgi Trofi-mowitsch, zu mir kam. Ohne jegliche Erlaubnis des Staatsanwaltes wurde ich heimlich zum Besuchstrakt ITK-36 gebracht, wo ich drei Tage lang bearbeitet wurde. Aber die Absprache fand nicht statt. Ich habe mich geweigert. Und alles zeigte deutlich, daß jemandem sehr an meiner Hilfe gelegen war. »Plötzlich erklärt sich Glusman bereit, die >Erfindungen< des Westens über Einweisungen gesunder Menschen in sowjetische psychiatrische Anstalten richtigzustellen«. Der gebotene Preis war nicht gering.
Würdet Ihr so ein »Umdenken« gutheißen? Ihr, bewußte und ehrliche Menschen, Ärzte? Nein, Ihr würdet so etwas nicht gutheißen. Denn gerade dann wäre ich ein Verbrecher vom Typ Ilse Koch und Daniil Lunz geworden. Ich bin nicht stark genug, über mein eigenes Gewissen hinwegzugehen. Aber auch nicht schwach genug. Hier im Konzentrationslager lebe ich ein vollwertiges geistiges Leben. Ich bin glücklich, trotz allem, was ich auch aushallen muß. Auch wenn der Hungerstreik die einzige Möglichkeit ist, seine Würde zu dokumentieren angesichts des Ekels, der mich und meine Freunde im Glück umgibt
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(das ist kein Schreibfehler, ich bin wirklich glücklich), auch wenn die Weigerung, am Lagergefängnis mitzubauen, nur eine der wenigen Möglichkeiten ist, die moralische Stärke seiner Überzeugungen und der gesellschaftspolitischen Opposition zu beweisen.
Ich bin Jude und mein Judentum wird nicht durch die Erinnerung an die Opfer des Völkermordes bestimmt, die Verfolgungen aus Aberglauben, die zum Dogma der Moral erhoben wurden, - nicht nur durch die Erinnerung. Mein Judentum ist geprägt vom Bewußtsein an das Heute eines Volkes, das seinen eigenen Staat, seine Geschichte, Zukunft und zum Glück auch Waffen besitzt. Mein Großvater Abraham, der in Babi Jar erschossen wurde, hat mir kein »Umdenken« erlaubt. Denn jeden September empört sich sein Geist - und Ihr wißt warum.
Meine Lieben! Ihr habt es sehr schwer. Ich verstehe. Ihr habt Angst zu warten. Aber glaubt an die Ehrlichkeit meines Briefes, der die Zensur umgeht: Mit mir ist alles in Ordnung. Was die Zukunft auch bringen sollte - ich bedauere nichts und bin mit meinem Schicksal wirklich zufrieden. Ihr könnt das schwer verstehen. Eure Generation ist angeschlagen vom Jahr 1937 und den folgenden Jahren. Angst, Angst, Angst. Es ist unerträglich, Angst vor den eigenen Wünschen zu haben. Während der Untersuchung und des Prozesses taten mir meine Zeugen leid. Sie sprachen stotternd, sahen weg und waren blaß. Sie sprachen über mich, meine Ansichten, Worte, Handlungen, sie sprachen aus purer Angst. Sie wünschten mir nichts Böses, sie hatten nur Angst. Irgendeine transzendentale, kafkaeske Angst. Ist es kein Glück, daß ich frei davon bin, daß mein Gewissen rein ist? Ist das denn wenig?
Ihr habt es schwer, aber wollt Ihr, daß ich Jan Palachs Mutter verrate (mir wurden doch auch Äußerungen zur Besetzung der Tschechoslowakei 1968 zur Last gelegt)? Sie hat keinen Sohn mehr. Wie kann man da ein »Umdenken« anders nennen als Verrat?
Man braucht nicht unbedingt bezahlte »Informationsquelle« des KGB zu werden oder Aussagen über Gleichgesinnte zu machen, es genügt, was Dzjuba getan hat. Ich bin gezwungen, diesen Brief zu beenden. Ich habe keine Zeit mehr, man drängt
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mich zur Eile. Er wird Euch verworren vorkommen, nichts zu machen. Meine Lebensbedingungen sind wirklich ganz spezifisch. Und ich weiß auch nicht, wann ich Euch noch mal eine Nachricht schicken kann, die die vielen Zensoren umgehen wird, wann ich Euch noch mal die Wahrheit über mich schreiben kann. Wundert Euch nicht, daß meine Briefe an Euch lackiert sind, ich kann doch Eure Fragen nicht beantworten. Ich kann nicht über meine Freunde schreiben, ich darf nicht einmal ihre Namen nennen, die Strafen, die eigenen Krankheiten, die Verpflegung und vieles andere. All das ist streng gehütetes Staatsgeheimnis.
Deshalb lebt wohl, meine Lieben, ich küsse Euch
Slawa
Brief von Tatjana Schytnikowa
an das Internationale Mathematikerkomitee zur Verteidigung
von L. I. Pljuschtschhttps://de.wikipedia.org/wiki/Leonid_Pljuschtsch 1938-2015
Mein Mann ist nun schon dreieinhalb Jahre in Haft. Davon verbrachte er ein Jahr im Gefängnis und zweieinhalb Jahre in einer Spezialklinik in Dniepropetrowsk.
Ans Gefängnis denkt er wie an ein verlorenes Paradies. Dort konnte er sich unterhalten, lesen, und vor allem, dort wurde er nicht »behandelt«.
Über Leonid Iwanowitsch sind im Westen zwei Bücher und eine ganze Reihe von Artikeln erschienen, eine Menge Unterschriften stehen unter den Dokumenten zu seiner Verteidigung. Aus verschiedenen Ländern kamen Anrufe von Psychiatern, Mitgliedern von Assoziationen und Komitees zur Verteidigung der Menschenrechte und der politischen Gefangenen, von unbekannten Menschen kamen Briefe voller aufrichtigen Mitgefühls.
Ich fühle mich nicht einsam, auf Gedeih und Verderb der riesigen und grausamen Staatsmaschinerie ausgeliefert, die mir die Kinder und die Freiheit nehmen kann, wie sie mir den Mann schon genommen hat.
Aber das wichtigste waren nicht einmal das Interesse und das Mitgefühl. Bei jeder neuen Aktion zur Verteidigung von Leo-
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nid Iwanowitsch (einem Buch, einem Artikel, einem Auftritt, einem Gesuch, Unterschriftenaktionen oder Anfragen), von der ich etwas erfuhr, dachte ich: jetzt ist es soweit, sie werden ihn freilassen. Na ja, auch wenn sie ihn nicht freilassen, sie werden zumindest mit der Folter durch »heilende« Präparate aufhören, sie werden einhalten und nachdenken - wenn auch nicht aus Erbarmen oder gutem Willen, so doch wegen des Prestiges und der moralischen Autorität. Ist es denn sinnvoll, ist es »pragmatisch«, wegen eines ungehorsamen und nicht genügend loyalen Staatsbürgers die Empörung und den Protest beispielsweise von 500 französischen Mathematikern zu provozieren?
Es hat sich herausgestellt, daß der Sowjetstaat seine eigenen Vorstellungen von »Entspannung«, Prestige und moralischer Autorität hat.
Heute, nach dreieinhalb Jahren, kann ich mit Sicherheit sagen: mein Dialog mit dem Staat hat nicht stattgefunden und kann nicht stattfinden, denn der Staat kennt auf alles nur eine Antwort. Ich schicke Beschwerden, Erklärungen, Gesuche, Dokumente an alle möglichen sowjetischen Instanzen - vom Bezirksgericht bis zum ZK - und Leonid Iwanowitsch wird weiter »behandelt«.
Und obwohl internationale Organisationen, die Presse, die öffentliche Meinung im Westen sich für meinen Mann einsetzen - Leonid Iwanowitsch wird weiter »behandelt«!
Das KGB schlägt mir unmittelbar sowie über irgendwelche dunklen Kanäle vor, zu schweigen, mich zu beruhigen, und dann werde sich, nach ihren Worten, alles zum Nutzen beider Seiten entscheiden. Und Leonid Iwanowitsch wird trotzdem, sogar in der Zeit dieser Gespräche mit mir, weiter »behandelt«!
Die Dosis wird ständig vergrößert, die Besuchszeiten werden verkürzt, er bekommt keine Bücher zum Lesen, er bekommt seine Post nicht - diese Eskalation hat auch ein Ende.
Sie können die Dosis vergrößern, doch Leonid Iwanowitsch wird immer schwächer. Ich will damit sagen: Leonid Iwanowitsch Pljuschtsch, der Mathematiker Pljuschtsch, wie er in den Sendungen des Westrundfunks genannt wird, der Pljuschtsch, über den Artikel und Bücher geschrieben worden sind, der
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Leonid Iwanowitsch, den ich, den seine Kinder, seine Verwandten, seine eigenen Freunde kannten — dieser Leonid Iwanowitsch existiert nicht mehr. Es gibt einen Leonid Iwanowitsch, der bis zum Äußersten leidet, der das Gedächtnis verliert, die Fähigkeit zu lesen, zu schreiben und zu denken, einen sehr, sehr kranken und vom Leben erschöpften Menschen.
Und die, die ihn unmittelbar, mit ihren eigenen Händen töten, wissen das, sie wissen, daß sie ein Verbrechen begehen. Früher dachte ich, daß ich es mit ergebenen Beamten zu tun habe, die man nicht einmal wirklich beschuldigen kann, weil sie nicht wissen, was sie tun, doch heute bin ich überzeugt - sie wissen genau, was sie tun!
Sie wissen es alle - von den Ärzten des Serbski-Instituts, die einen psychisch gesunden Menschen bewußt einer psychiatrischen »Behandlung« ausgesetzt haben, bis zu dem wachhabenden Natschalnik, der dem Posten mit einer MP befahl, das Guckloch in der Tür zu verdecken, damit unser enger Freund, der mit mir nach Dniepropetrowsk gekommen war, nicht sehen konnte, was sie aus Leonid Iwanowitsch gemacht haben.
Während unserer Begegnungen hat mich mein Mann oft nicht erkannt. Er kam zu mir nicht aus einem Krankenzimmer, sondern aus einer Folterkammer, und ich durfte mir nicht einmal erlauben, seinen Folterknechten zu sagen, daß sie Henker sind, denn ich ging weg, und er blieb als Pfand da.
Wenn der Arzt hereinkommt, der ihn »behandelt«, sehe ich, wie mein Mann mit der letzten Willensanstrengung das Licht der Liebe und des Verstandes in seinen Augen löscht, den Kopf einzieht und die aufgezwungenen Spielregeln seiner Rolle als Patient einer psychiatrischen Klinik einhält.
Das ist die einzige Chance, sich zu retten, zu überleben. Das Geistige, Persönliche in ihm ist noch nicht endgültig getötet, doch wer kennt die Grenze zwischen den physischen und moralischen Qualen und der Katastrophe, und dem Tod des ganzen menschlichen Wesens.
Ich habe eine Beschwerde an die Staatsanwaltschaft gerichtet und darin das Personal des psychiatrischen Krankenhauses des bewußten Mordes an meinem Mann beschuldigt. Die Beschwerde blieb unbeantwortet.
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Meine Lage ist schrecklich — die Kinder sind bis zum Äußersten erschöpft, sie leben in ständiger Anspannung und Angst um mich. Wenn ich nach Hause komme, sehe ich jedesmal die blassen verschreckten Gesichter meiner Söhne. Sie haben Angst, daß auch ich eines Tages nicht mehr da bin, genauso wie der Vater.
Unser Bekanntenkreis wird kleiner. Man meidet uns wie Aussätzige, mit mir zu reden beweist großen Mut, zu dem nur sehr wenige Menschen imstande sind. Rundherum geht das gewohnte, normale Leben weiter, mit seinen Freuden und Sorgen, das Leben, aus dem man uns ausgeschlossen, ausgestrichen hat, denn für meine Mitbürger gibt es nichts Schlimmeres als das Mal der politischen Unzuverlässigkeit, das das KGB verteilt.
Mir ist bewußt, daß es in der Welt Probleme erstrangiger Bedeutung gibt, daß wir in einer tragischen Epoche leben, in der die Bedrohung des Unterganges der ganzen Menschheit individuelle Katastrophen auf die zweite Stelle schiebt. Und dennoch bin ich sicher, daß es im gegebenen Fall weniger um das Schicksal eines einzelnen Menschen geht, als vielmehr um das Wesen des menschlichen Lebens überhaupt und um die Prinzipien, deren Verletzung allein unsere Fähigkeit unter Zweifel stellt, dem Bösen und dem Tod Widerstand entgegenzusetzen.
Es gibt keinen »Fall Pljuschtsch«, es gibt den Fall der Freiheit der Menschenwürde. Wenn sich die Welt an die Verfolgung des freien unabhängigen Denkens gewöhnt, an den Mangel an Moral und an die völlige Straffreiheit für Handlungen des Staates, der für die ganze Menschheit verantwortlich ist, was können wir dann von der Zukunft erwarten, worauf können wir hoffen, welches »Morgen« bestimmen wir unseren Kindern?
Denken Sie nicht an uns, denken Sie an sich selbst. Mein erschreckendes »Heute« kann zu genauso einem »Morgen« für eine riesige Masse von Menschen werden, wenn man aufgibt, wenn auch nur einen Augenblick lang der Gedanke auftaucht, daß die Anstrengung, den Verstand und das Gewissen zu retten, vergeblich ist.
Leonid Iwanowitsch wollte nicht viel — er wollte in seinem Land leben, ihm als schöpferische, d.h. freie Persönlichkeit Nutzen bringen. Sie haben ihn in ein Irrenhaus verschleppt.
Jetzt verlange ich nur noch eins — die Annahme meiner Dokumente zur Emigration. Sie sollen mir meinen Mann so krank wiedergeben, wie sie ihn gemacht haben, und sie sollen uns allen erlauben, dieses Land zu verlassen.
Das Recht auf Emigration ist das einzige aller Rechte, dessen Realisierung ich verlange.
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Kiew, Februar 1975,
Tatjana Schytnikowa
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