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Einleitung    Bahro-1977

"Der real existierende Sozialismus ist eine prinzip­iell andere

Ordnung als die von Marx entworfene."   Seite 14, hier gekürzt

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Die kommunistische Bewegung trat an mit dem Versprechen, die Grundprobleme der modernen Menschheit zu lösen, die Antagonismen der mensch­lichen Existenz zu überwinden. Die Länder, die sich selbst sozialistisch nennen, bekennen sich offiziell unverwandt zu diesem Programm. 

Aber welche Perspektiven tun sich den Menschen auf, wenn sie in der gegenwärtigen Situation ihre Blicke auf die Praxis unseres gesellschaftlichen Lebens richten? Ist in irgendeiner Weise abzusehen, wie die neue Ordnung ihre Überlegenheit durch eine effektivere Organisation und Ökonomie der Arbeit zur Geltung bringen will? 

Hat sie den versprochenen Durchbruch zur Humanisierung des menschlichen Zusammenlebens erreicht und schreitet sie - soweit er nicht vollendet ist - täglich darin fort? Was war das für ein besseres Leben, das wir schaffen wollten? War das nur jener mittelmäßige, in sich selbst perspektivlose Wohlstand, mit dem wir dem Spätkapitalismus so erfolglos den Rang abzulaufen suchen, seinen Vorsprung auf einem Wege, der nach all unserer überlieferten Überzeugung in den Abgrund führt? 

Wir wollten eine andere, höhere Zivilisation schaffen! Jene neue Zivilisation, die heute notwendiger denn je zuvor ist und deren Entwurf nichts mit der Illusion einer widerspruchsfreien »vollkommenen Gesellschaft« zu tun hat.

Einstweilen hat sich herausgestellt, wir bauen die alte Zivilisation nach, wir setzen in einem tiefsten, nicht politischen, sondern kulturellen Sinne einiger­maßen zwanghaft, d.h. unter sehr realen Zwängen, »den kapitalistischen Weg« fort. Aus unserer Revolution ging ein Überbau hervor, der nur dazu gut zu sein scheint, dies so unentrinnbar systematisch und bürokratisch geordnet wie möglich zu tun. Wie eigentlich alle Beteiligten wissen, hat die Herrschaft des Menschen über den Menschen nur eine Oberflächenschicht verloren. Die Entfremdung, die Subalternität der arbeitenden Massen dauert auf neuer Stufe an.

Völlig verstrickt in die alte Logik internationaler Großmachtpolitik und -diplomatie, verbürgt die neue Ordnung nicht einmal den Frieden — nicht zu verwechseln mit dem »Gleichgewicht der Abschreckung«, an dessen erweiterter Reproduktion sie aktiven Anteil nimmt. Sieht man auf das Verhältnis zwischen den Hauptmächten des real existierenden Sozialismus, so zeichnen sich apokalyptische Konturen ab. 

In der Sowjetunion scheint die liberale intellektuelle Opposition zumindest darin mit der Regierung einig, daß die strategische Hauptaufgabe des Landes in der industriellen und militärischen Aufrüstung Sibiriens besteht. Und China gräbt sich ein, es baut eine neue Große Mauer gegen den Norden, aber diesmal unter der Erde und allerorten. 

Das »sozialistische Weltsystem« und die kommunistische Weltbewegung sind von grundlegenden inneren Widersprüchen zerrissen, die hauptsächlich in der unbewältigten Geschichte der Sowjetunion wurzeln, jedenfalls von dorther angepackt werden müßten. Leider gehören die regierenden kommunistischen Parteien Osteuropas heute zu den Mächten der Beharrung, zu den hartnäckigsten Verfechtern des Status quo. Für die Periode nach dem Untergang des Kolonialismus, der jetzt in Südafrika seine letzten Stunden erlebt, haben sie in ihrer gegenwärtigen Verfassung überhaupt keine Politik.

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In großen Teilen der vom Kolonialismus befreiten Südhalbkugel der Erde reift eine Hungerkatastrophe heran, deren Folgen allen bisherigen Klassenkampf und Krieg in den Schatten stellen können. Diese Herausforderung können die Völker der industriell entwickelten Länder nicht mit Führungen bestehen, die aus Gründen der Machterhaltung in jedem Fünfjahrplan besseres Brot und bessere Spiele versprechen müssen. Es geht nicht um eine neue Predigt der Armut, wohl aber des Maßes und - viel wichtiger - des wahren Horizonts weiterer menschlicher Selbstentfaltung auf diesem Planeten. Wer soll diese Orientierung repräsentieren, wenn nicht die kommunistische Bewegung im weitesten Sinne? 

Der »sterbende Kapitalismus« erweist sich auf seine nach wie vor barbarische Weise immer noch als Entwicklungsform der Produktivkräfte, investiert seinen Überschuß in die endlose Vermehrung natur­wissenschaftlich gezüchteter Vernichtungswaffen, um die Völker der agrarischen Länder niederzuhalten und der ganzen übrigen Welt so viel wie möglich von seinem Willen aufzuzwingen. Indem er das Gesetz des technischen Fortschritts diktiert, treibt er die weniger entwickelten Länder einschließlich der Sowjetunion nicht nur dazu, einen verhältnismäßig größeren Anteil ihres Nationalprodukts für die Rüstung aufzuwenden, sondern hält sie im Sog der darauf beruhenden Zivilisation. So wie das sterbende Rom das Leben in den Provinzen rund um das Mittelmeer vergiftete, breitet sich noch immer der Einfluß der spätbürgerlichen Lebensweise aus, mit deren Fortsetzung die Existenz der Menschheit unhaltbar wird.

Die Kommunisten der kapitalistischen Länder sind gegenwärtig dabei, ihre Aufgabe in diesem welthistorischen Kontext neu zu überdenken. Sie bereiten — am deutlichsten ist das in Italien, Spanien, Japan — eine neue Offensive vor, um die Mehrheit ihrer Völker für den großen Konsens über die notwendigen Umgestaltungen der überlieferten Zivilisation zu gewinnen.

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Im offiziellen osteuropäischen Kommunismus dagegen gibt es, nach dem bedruckten Papier und dem Schwall von den Rednertribünen zu urteilen, überhaupt kein den Massen zugewandtes politisch-theoretisches Denken. Die jüngste — die Leninsche Synthese des revolutionären Gedankens — ist nun über ein halbes Jahrhundert alt. Insgesamt haben sich seit Lenins Tod Veränderungen vollzogen, die mehr umfassen und tiefer einschneiden als seinerzeit zwischen Marx und Lenin. Was wäre vom marxistischen Standpunkt selbstverständlicher als die Tatsache, daß die von Lenins Werk ausgehende praktische Veränderung der Welt den Rahmen seiner Theorie überschreitet und in manchen Punkten geradezu sprengt? Was könnte seine geschichtsprägende Schöpferkraft stärker unterstreichen als dieses Resultat, das so charakteristisch ist für den Nachruhm aller großen Verwandler der Welt?

Insbesondere hat sich der Aufstieg der Sowjetunion auf andere Weise und mit anderem Ergebnis vollzogen, als Lenin vorausgesehen hatte. Der Fortschritt schlug noch einmal die Bahn antagonistischer Konflikte ein und forderte Millionen unschuldiger Opfer. Heute erkennen die Völker der Sowjetunion und der osteuropäischen Länder mehr und mehr, daß das neue System seinen erklärten Prinzipien wenig entspricht, seine eigentlichen Ziele verfehlt, keine Grenzen mehr überschreitet. Die ideelle Substanz ist ausgehöhlt. 

In der Konsequenz zeichnet sich überall, zuletzt auch in der Sowjetunion selbst, jener für die bestehende Machtstruktur katastrophale ideologische Bankrott ab, der 1968 in der CSSR sichtbar wurde. Die polnischen Ereignisse seit Dezember 1970 dürften nur noch den I-Punkt auf die Erkenntnis gesetzt haben, daß der schwelenden Krise unseres Systems nicht bloß temporäre Ursachen, sondern tiefe sozialökonomische Widersprüche zugrunde liegen, die im Wesen der Produktionsverhältnisse wurzeln. Politisch gesehen waren in Ulbricht, Rakosi, Novotny, Gomulka usw. die eigentlichen Organisatoren der Konterrevolution (mit und ohne Anführungszeichen) immer zuvor an der Macht.

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Jedenfalls trägt die Krise einen allgemeinen Charakter. Der übernationale Charakter der Kräfte, die in der CSSR durchgebrochen waren, ist von niemandem unmißverständlicher anerkannt worden als von den Führern des Warschauer Pakts selbst durch ihre seit Anfang 1968 ununterbrochene Intervention. Der Inhalt der Umgestaltung in der CSSR brachte nichts anderes an den Tag als die wirkliche Gesellschaftsstruktur, die aus den osteuropäischen Revolutionen und zuvor aus der Oktoberrevolution hervorgegangen ist. Und das Tempo der Umgestaltungen, zuvörderst die rasche Gestaltveränderung der Kommunistischen Partei selbst, bewies, wie dringlich diese neue Struktur, zumindest in den industriell entwickeltsten Ländern, darauf wartet, den Panzer abzuwerfen, der sie im Larvenstadium geschützt hat, jetzt aber zu ersticken droht. 

Das 1968 entfesselte soziale Potential, das man mit Gewalt wieder in die überkommene Zwangsjacke gesteckt hat, bleibt da und wird — zunächst durch passive Resistenz — weiter gegen den inadäquaten Überbau rebellieren, bis eines Tages auch in der Sowjetunion der Anachronismus dieses Systems historisch vollendet ist. Dann wird der halben Reformation Chruschtschows auch dort eine gründlichere Volksreformation folgen, die die herrschenden politischen Strukturen nicht nur neu adaptiert, sondern in ihrer sozialen Substanz verändert. 

Die Krise, die die ganze Entwicklung seit 1917 der unvermeidlichen historischen Überprüfung unterwirft, ist natürlich ein Prozeß, der in den verschiedenen Ländern mit verschiedenem Tempo voranschreitet und nicht in allen Sphären des gesellschaftlichen Lebens stets die gleiche Intensität erlangt. Es wird weiterhin Vorstöße und Rückschläge, es wird auch Zeitabschnitte relativer Stabilisierung geben, wie zum Beispiel die erste Hälfte der siebziger Jahre. Doch sie hat alle Länder des sowjetisch geführten Blocks ergriffen, sie betrifft alle Gebiete des Lebens und sie beruht letztlich auf der Zuspitzung des allen Marxisten in seiner Bedeutung geläufigen Widerspruchs zwischen den modernen Produktivkräften und den zum Hemmnis für sie gewordenen Produktionsverhältnissen. 

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Die Abschaffung des Privateigentums an den Produktionsmitteln hat eben zunächst keineswegs ihre Verwandlung in Volkseigentum bedeutet. Vielmehr steht die ganze Gesellschaft eigentumslos ihrer Staatsmaschine gegenüber. Die monopolistische Verfügung über den Produktionsapparat, über den Löwenanteil des Mehrprodukts, über die Proportionen des Reproduktionsprozesses, über Verteilung und Konsumtion hat zu einem bürokratischen Mechanismus geführt, der dazu neigt, alle subjektive Initiative abzutöten oder zu privatisieren. Die veraltete politische Organisation der neuen Gesellschaft, die tief in den ökonomischen Prozeß einschneidet, bricht ihren sozialen Triebkräften die Spitze. 

Das Zentrum der Krise, die dort nur noch nicht den gleichen Reifegrad erreicht hat wie etwa in der DDR und CSSR, ist die Sowjetunion selbst, obwohl sich zunächst an der Peripherie die Erde hebt. Alles was die sowjetische Führung unternimmt, um auf dem Boden der bestehenden Zustände deren Konsequenzen zu entgehen, kann ihre Zuspitzung nicht aufhalten. Hat doch auch der 21. August die geistige Polarisierung in den übrigen Ländern des Blocks beschleunigt. Gerade der allgemeine, umfassende und fundamentale Charakter der Krise, gerade der Umstand, daß ihr Herd in der Sowjetunion liegt, läßt die Perspektiven der Erneuerungs­bewegung und ihre Aufgaben in einem ganz anderen, hoffnungsvolleren Lichte erscheinen. 

Die Diskussionen der sowjetischen Ökonomen und Soziologen kreisen ohnehin schon immer enger um die entscheidenden Punkte, und nicht zufällig leben unter der Oberfläche die Argumente der frühen zwanziger Jahre wieder auf. Die Sowjetunion muß sich reformieren, um in ihrer inneren Entwicklung mit den Ansprüchen der Massen Schritt zu halten und ihre internationale Position zu wahren. Die überlebten Kräfte werden daran gehindert werden, ihre besonderen Kasten­interessen vornanzustellen.

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Zunächst gilt es, den Spielraum für die öffentliche Diskussion über die »brennenden Fragen unserer Bewegung« zu erobern. Für die marxistische, kommun­istische Minderheit in den herrschenden Parteien unserer Länder, für alle, die mit einem Gefühl der Verantwortung an den morgigen Tag denken, bedeutet die verhältnismäßig langfristige Grundsituation, in der sie sich befinden, nicht nur eine Geduldprobe, sondern eine echte geistige Herausforderung.

Hat nicht die Geschichte der Sowjetunion, Chinas, Jugoslawiens, der anderen revolutionierten Länder einen ungeheuren und dramatischen Stoff aufgehäuft — vom Kronstädter Aufstand bis zum Aufstand an der polnischen Küste, von der Spaltung der bolschewistischen Avantgarde nach Lenins Tod bis zu den Kämpfen um die Volkskommunen und um die »Große Proletarische Kulturrevolution« in China, von Jugoslawiens Aufbruch in den »Selbstverwaltungs­sozialismus« bis zu dem halbherzigen Umschwung in der Sowjetunion nach Stalins Tod?! 

Es muß in alledem einen Zusammenhang geben, der die aktuelle Szene erhellt! Man kann sich nicht die Aufgabe stellen, alle diese Probleme in einem einzigen Wurf detailliert aufzurollen, obwohl es zu einigen von ihnen eine Unmenge Literatur gibt, die unserer Öffentlichkeit bewußt vorenthalten bleibt und daher auch nicht kritisch aufgearbeitet wird. Aber man kann sich, auch ohne irgendwelche monographischen Ansprüche, eine Einstellung zu diesem ganzen Komplex erarbeiten. Und man kann sich vornehmen, das vorläufige Ergebnis, zu dem man gelangt, in einem Entwurf von der Art der Marxschen Ökonomisch-Philosophischen Manuskripte niederzuschreiben.

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Marx hat seiner Vorarbeit zum »Kapital« vom Jahre 1859 den Titel »Zur Kritik der Politischen Ökonomie« gegeben. Wenn ich mich im Untertitel »Zur Kritik des real existierenden Sozialismus« an dieses große Vorbild anlehne, so bleibe ich mir vollauf der Tatsache bewußt, wie weit meine Kritik des real existierenden Sozialismus noch von jenem Grad der Ausarbeitung und Kohärenz entfernt ist, die Marx erst zwanzig Jahre nach seinen Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten erreichte. Aber ich habe mir das gleiche Ziel gesetzt: die Analyse einer Gesellschaftsformation vom revolutionären Standpunkt. 

Man wird sich erinnern, daß »Kritik« bei Marx vornehmlich wissenschaftliche Analyse mit der Absicht praktischer Weltveränderung hieß. Je tiefer er in das Wesen der untersuchten Verhältnisse eindrang, um so mehr konnte er auf Denunziation und Invektiven verzichten und die Propaganda seiner Ideen der Sprache der von ihm aufgedeckten Tatsachen und Zusammenhänge überlassen.

In diesem Sinne habe ich mich in den verschiedenen Stadien der Arbeit an meinem Thema immer stärker darum bemüht, den Ausdruck der Empörung über den bestehenden Zustand auf seinen rationellen Kern zurückzuführen und allemal zuerst in seiner immanenten Logik zu begreifen, was jedem bloß idealischen Bewußtsein so provozierend als irrational ins Auge springen muß.

Alles bloße Ressentiment gegenüber den bestehenden Verhältnissen muß möglichst vermieden werden. Die Stunde der Theorie und der Geschichte muß beginnen. Die Stunde der Politik wird früher oder später folgen. 

Der I. Teil des Buches befaßt sich mit dem Phänomen des nichtkapitalistischen Weges zur Industriegesellschaft. Unser real existierender Sozialismus ist eine prinzipiell andere Ordnung als die in der sozialistischen Theorie von Marx entworfene. Man kann diese Praxis mit jener Theorie vergleichen, aber man darf sie nicht an ihr messen. 

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Sie muß aus ihrer eigenen Gesetzmäßigkeit erklärt werden. Alle Deformationstheorien von Chruschtschow bis Garaudy lenken nur von dieser Aufgabe ab. Die Analyse führt zu einem allgemeinen Begriff des »nichtkapitalistischen Weges«, der die meisten nominell sozialistischen Länder einschließt, und auf die Suche nach dem Ursprung des nichtkapitalistischen Weges in der Hinterlassenschaft der sogenannten asiatischen Produktionsweise. Darauf basiert die nachfolgende Auseinandersetzung mit dem Fortschritt Rußlands von der agrarischen zur industriellen Despotie und mit dem Schicksal der bolschewistischen Partei in diesem Prozeß. 

Man muß versuchen, dem historischen Charakter der stalinistischen Herrschaftsstruktur gerecht zu werden. Die politische Geschichte der Sowjetunion handelt nicht vom Versagen, sondern von der Transformation des »subjektiven Faktors« durch die Aufgabe der Industrialisierung Rußlands, der er sich unterziehen mußte. Heute verdeutlichen die neuen Aufgaben — und nicht irgendwelche politisch-moralischen Prinzipien — den Anachronismus der alten Partei.

Im II. Teil wird die Struktur des real existierenden Sozialismus systematisch behandelt (nach der historischen Behandlung im I. Teil): seine bürokratisch-zentralistische Arbeitsorganisation, sein Charakter als geschichtete Gesellschaft, die ausgeprägte Ohnmacht der unmittelbaren Produzenten, die relative Schwäche seiner Produktivitätsantriebe, seine politisch-ideologische Organisation als quasi-theokratischer Staat. Das Wesen des real existierenden Sozialismus wird verstanden als Vergesellschaftung in der entfremdeten Form der universalen Verstaatlichung, die auf der noch nicht zu ihrem Umschlagspunkt vorgetriebenen alten Arbeitsteilung beruht. 

Der Schlußteil wendet sich der Alternative zu, die im Schoße des real existierenden Sozialismus und in den industriell entwickelten Ländern überhaupt heranreift. Sie trägt den Charakter jener umfassenden Kulturrevolution, jener Umwälzung der ganzen bisherigen Arbeitsteilung, Lebensweise und Mentalität, die Marx und Engels vorausgesehen haben. 

Die allgemeine Emanzipation des Menschen wird immer dringlicher, aber die Bedingungen dafür müssen neu studiert, ihre Inhalte zeitgemäß definiert werden. Die soziale Dialektik ihrer nächsten Etappe wird durch das Ringen um den Abbau der Herrschaftsstrukturen in der Arbeit und damit im Staat gekennzeichnet sein, aber unter Umständen, da die Schichtung der Gesellschaft nach intellektueller Kompetenz noch dominieren wird. Daher setzt die Kulturrevolution eine wahrhaft kommunistische Partei, einen neuen Bund der Kommunisten voraus. 

Die Kommunisten müssen sich von der Staatsmaschine distanzieren und zuvor der Herrschaft des Apparats in ihrer eigenen Organisation ein Ende machen. Sie müssen neu die alte Losung des Manifests auf ihre Fahne schreiben, wonach »die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist« und sich mehr denn je bewußt sein, daß dieses Programm den Rahmen jeglicher bloß nationaler oder kontinentaler Fragestellungen sprengt. 

Die reale Gleichheit alles dessen, was Menschenantlitz trägt, wird zu einer Frage der praktischen Politik auf Tod und Leben. Die Welt verändert sich in einem ebenso ermutigenden wie bestürzenden Tempo — bestürzend deshalb, weil der Gesamtprozeß noch immer spontan auf Situationen zutreibt, die niemand gewollt hat. 

Der Friede kann nur gewonnen, der weitere Aufstieg des Menschen als Gattung und als Individuum nur gesichert werden, wenn die Unterschiede in den Entwicklungs­chancen fallen, in jedem Lande und in der ganzen Welt.

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Rudolf Bahro, 1977, Einleitung

 

 

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