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6. Gesellschaftsschichten im real existierenden Sozialismus  

Bahro-1977

"Menschen, die die dialektischen Strukturen der Philosophie, der Kybernetik, der Mathematik und der Kunst in ihr Bewußtsein aufge­nommen haben, können sich prinzipiell über jedes noch so komplizierte Problem verständigen,  und zwar tiefer­greifend, als es für die gleichberechtigte soziale Kommunikation erforder­lich wäre — und sie müssen darüber keineswegs unfähig geworden sein, eine beladene Karre zu schieben, ohne sie unterwegs umzu­kippen."  Seite 208

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Klassen sind sowohl real als auch begrifflich das Produkt jener Gesellschaftsformationen, in denen der soziale Zusammen­hang in den Händen jeweils typischer Privateigentümer zusammenlief, die die Arbeitsbedingungen unter ihrer Leitung monopolisierten. Gegenwärtig ist diese eigentliche Klassen­gesellschaft im Welt­maßstab in voller Auflösung begriffen, nicht zuletzt in den klassisch kapitalistischen Ländern. 

Selbstverständlich existieren dort noch die für den Kapitalismus charakteristischen Klassen, ähnlich wie, sagen wir, in den dreißiger Jahren des vorigen Jahr­hunderts in Deutschland noch die Klassen und Stände der Feudalgesellschaft existierten. Deshalb sind die einseitig auf Schichtungsmodelle der Sozialstruktur ausgerichteten Interpretationen der spätkapitalistischen Verhältnisse insofern heuchlerisch, als sie die Fortexistenz des Kapitalverhältnisses bagatellisieren. Aber die Beschreibung der dortigen Wirklichkeit nach den traditionellen Kriterien der Klassenstruktur reicht auch nicht mehr aus.

Diejenigen (neuen) Züge der Sozialstruktur in spätkapitalistischen Industriegesellschaften aber, die sich mit den Stratifikations­modellen mehr oder weniger auf­schluß­reich beschreiben lassen, finden sämtlich in den Ländern des real existierenden Sozialismus ihr sehr verwandtes Gegenstück, und zwar einfach deshalb, weil sie unmittelbarer als die traditionellen Klassenmerkmale den Stand der Produktivkräfte ausdrücken. 

Unsere Sozialstruktur - und daher sind Schichtungs­modelle bei uns eine viel angemessenere Beschreibung - ist geradezu die subjektive Daseinsweise der modernen Produktivkräfte. Sie ist Sozial­struktur des gesell­schaftlichen Gesamtarbeiters, also bereits jenseits der kapitalistischen. Vergegenwärtigen wir uns die Charaktere der Arbeitsfunktionen, in die sich die Menschen nach wie vor so oder anders teilen müssen, unter dem Gesichtspunkt der Hierarchie des Wissens, das zu ihrer Ausführung erforderlich ist, dann ergibt sich etwa folgende Matrix (Tafel 1, S. 193):

Es ist diese Hierarchie der Arbeitsfunktionen bzw. Bewußtheitsebenen, die in der qualifikationsabhängigen Schichtdifferenzierung — der protosozialistischen Industriegesellschaft auf einem bestimmten historischen Niveau der gesellschaftlichen Arbeitsteilung festgeschrieben ist. Nicht die Differenzierung der Arbeits­funktionen und ihrer Anforderungen schlechthin, erst die Unterordnung der Individuen erzeugt die soziale Schichtung und das bürokratische Phänomen. Dabei ist die Beziehung zwischen Sozialstruktur und Produktivkräften bei uns zwar unmittelbarer (Komparativ) als im Spätkapitalismus, aber doch nicht unmittelbar. 

Und dies hängt eben mit dem im vorigen Kapitel behandelten fundamentalen Residuum aller Herrschaftsverhältnisse zusammen, mit der Verselbständigung der »allgemeinen« Arbeit, mit der immer noch nicht überwundenen Existenz einer besonderen Agentur des allgemeinen Fortschritts. Die institutionalisierte, durch die gesamte technisch-ökonomische und Bildungspolitik ständig reproduzierte Abgrenzung der verschiedenen Sphären, die dominierende Tendenz zur Festlegung und Beschränkung der Individuen auf je bestimmte Funktionsniveaus erzeugt die Pyramidengestalt, zu der sich der gesellschaftliche Gesamtarbeiter im arbeitsteiligen Produktions- und Leitungsprozeß organisiert.

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Tafel 1

B:

1. Vereinzeltes Erfahrungswissen für die zu isolierten Hilfsfunktionen in den verschiedensten Sphären des allgemeinen Reproduktionsprozesses abgesunkenen elementaren Verrichtungen, aus denen sich einst die integrale (alle höheren Funktionen undifferenziert mit in sich enthaltende) Lebenstätigkeit einfacher Gemeinwesen aufbaute.

2. Systematisiertes, berufsspezifisch verallgemeinertes Erfahrungswissen in Produktion und Verwaltung.

3. Angewandte Einzelwissenschaft in Technologie, Ökonomie, Medizin, Pädagogik, Lenkung und Leitung usw.

4. Einzelwissenschaften von Natur und Gesellschaft als aktive Strukturen abstrakten, systematisierten Gesetzeswissens.

5. Zu geschlossenen Ideologien und Mentalitäten ausgearbeitete Motivation in Gestalt von Philosophie, Kunst, politischer Strategie.

 

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Es mag genügen, ein äußerst vereinfachtes Modell anzunehmen und dabei einstweilen die Vielfalt der Bereiche des allgemeinen Reproduktions­prozesses zu ignorieren. 

 

Das folgende Schema skizziert die Sozial­struktur der protosozialistischen Industrie­gesellschaft in ihrer Differenzierung nach Bildungsgraden, Leitungsebenen, Funktionen des Reproduktions­prozesses und Zweigen der Arbeitsteilung im Bereich der Wirtschaft 

(Tafel 2, S. 194):

 

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Abgesehen von zwei hier nicht erfaßten Faktoren, nämlich von dem überlegenen Entwicklungsstand der Technik im Spätkapitalismus einerseits und von dem relativen Überschuß an Qualifikation in unseren Ländern andererseits, deckt sich diese Struktur völlig mit der vom Kapitalismus erzeugten, solange man eben hier den speziellen politischen Überbau und dort das fortexistierende Kapitalverhältnis außer Betracht läßt. Wenn man verbietet, für einen bestimmten Erkenntnisprozeß von den konträren Aspekten der beiden Produktionsverhältnisse zu abstrahieren, plädiert man in Wirklichkeit dafür, diese skizzierte Struktur als »naturnotwendig« und »ewig« hinzustellen, während sie in Wirklichkeit die gemeinsame historische Basis beider Industriegesellschaften und das Unterpfand ihrer endlichen Konvergenz im Sozialismus darstellt.

Wenden wir uns zunächst dem Verhältnis von Leitung und Ausführung zu, lesen wir dazu eine berühmte und in unserer Apologetik hochbeliebte Stelle aus dem »Kapital« unter dem Gesichtspunkt, daß der spezifischen Rolle des Kapitals eine allgemeinere Notwendigkeit zugrunde lag, die sich auch in einer anderen als der kapitalistischen Form noch geltend machen, also Stellvertreter der Ausbeuter, sagen wir: »Delegierte des Gesamtkapitalisten« auf den Plan rufen kann. 

Marx schreibt: 

»Alle unmittelbar gesellschaftliche oder gemeinschaftliche Arbeit auf größrem Maßstab bedarf mehr oder minder einer Direktion, welche die Harmonie der individuellen Tätigkeiten vermittelt und die allgemeinen Funktionen vollzieht, die aus der Bewegung des produktiven Gesamtkörpers im Unterschied von der Bewegung seiner selbständigen Organe entspringen ... ein Orchester bedarf des Musikdirektors« (MEW 23/350). 

Anschließend spricht er über den Doppelcharakter dieser Direktion als notwendiger Arbeitsleitung einerseits, Agentin der Kapitalverwertung andererseits. An anderer Stelle fügt er bei Behandlung desselben Problems ausdrücklich hinzu: 

»Ganz wie in despotischen Staaten die Arbeit der Oberaufsicht und allseitigen Einmischung der Regierung beides einbegreift: sowohl die Verrichtung der gemeinsamen Geschäfte, die aus der Natur aller Gemein­wesen hervorgehn, wie die spezifischen Funktionen, die aus dem Gegensatz der Regierung zu der Volksmasse entspringen« (MEW 25/397). 

Ich werde dasjenige Sonderinteresse, das bei uns spezifisch zu der Arbeitsleitung hinzutritt, noch analysieren, unterstelle aber hier bereits, daß daraus (nicht allein daraus) weitgehend analoge Resultate in bezug auf das Verhältnis zwischen Leitern und Geleiteten hervorgehen müssen ... Grundlegend ist zunächst die »möglichst, große Selbstverwertung des Kapitals«, d.h. der bei uns in Staatskapitalform auftretenden Fonds, vor allem der Anlagefonds, d.h. der Gebäude und Ausrüstungen. Deshalb fördert man die eingestandenermaßen ungesunde Schichtarbeit genau derjenigen Menschen, die keine allgemeine und Leitungsarbeit zu verrichten haben! 

Daraus geht auch bei uns ein Verhältnis wechselseitigen Druckes zwischen Management und Ausführenden hervor, das insbesondere die unteren Leitungsorgane, exemplarisch die Meister, aber auch das operative techno­logische Betreuungspersonal, in eine permanent prekäre Situation zwischen den Grundinteressen bringt. 

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Infolge der Tatsache, daß den Arbeitern Technik und Technologie samt den Erfordernissen des ökonomischen Umgangs mit Material, Maschinerie und Arbeitszeit in Staatskapitaleigenschaft bzw. -funktion gegenübertreten, wird das ganze technisch-ökonomische Personal, einschließlich der Spezialisten und selbst der einfachsten Verwaltungsangestellten, mit Mißtrauen und latenter Feindschaft betrachtet. 

»Die Angestellten arbeiten nicht.« Vordergründig ist diese Reaktion gewiß irrational, aber sie generalisiert richtig, daß dieses gesamte Personal (das ich in Tafel 2 zusätzlich eingerahmt habe) die Macht der vergegen­ständlichten gegen die ihr unterworfene lebendige Arbeit repräsentiert. Da sich an der Rolle des fixen Kapitals, wie sie Marx beispielsweise in den »Grundrissen« (S. 584 ff.) beschreibt, bei uns nur fiktiv etwas geändert hat, ist insbesondere erklärt, warum zwischen Forscher und Ingenieur einerseits und dem Maschinenarbeiter andererseits die eigentliche Trennungslinie — schärfer als die zwischen Meister und Arbeiter — im Betrieb verläuft. 

Wie Marx im »Kapital« sagt, »wächst mit dem Umfang der Produktionsmittel, die dem Lohnarbeiter als fremdes Eigentum gegenüberstehn, die Notwendigkeit der Kontrolle über deren sachgemäße Verwendung« (MEW 23/351), und man kann aus der nur zu evidenten Notwendigkeit einer solchen Kontrolle in unseren Betrieben auf die wirklichen Eigentumsverhältnisse zurückschließen: unsere Arbeiter behandeln die Fonds nicht wesentlich anders als die kapitalistischen Lohnarbeiter das vergegenständlichte Kapital. So darf man auch im folgenden Satz »Staat« für »Kapital« einsetzen: »Der Zusammenhang ihrer Funktionen und ihre Einheit als produktiver Gesamtkörper liegen außer ihnen, im Kapital, das sie zusammenbringt und zusammenhält. Der Zusammenhang ihrer Arbeiten tritt ihnen daher ideell als Plan, praktisch als Autorität des Kapitalisten gegenüber, als Macht eines fremden Willens, der ihr Tun seinem Zweck unterwirft« (Ebenda). Die Substitution, die wir hier vornehmen, zielt nicht darauf ab, den Unterschied zwischen Kapitalist und Staat (der letztlich auch mehr und noch etwas anderes ist als »Gesamtkapitalist«) zu negieren oder zu verwischen. 

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Sie soll nur eine gemeinsame Grundstruktur vor aller Differenzierung betonen; vielleicht wird dies besonders deutlich, wenn man an ein etwas abseitiges, dafür aber gut bekanntes Beispiel erinnert: an das Verhältnis zwischen dem Deichgrafen Hauke Haien und der Mehrheit seiner halbpatriarchalischen friesischen Dorfgemeinschaft, das Theodor Storm in seiner genialen Novelle vom Schimmelreiter gestaltet. Man begegnet dort demselben Muster, das nun, jenseits des Kapitalismus, als immer noch konsistent hervortritt. Die aufs Kapitalismus-Spezifische gerichtete Beschreibung von Marx habe ich als Paradigma für dies Allgemeine benutzt.

In diesem Sinne sei nun die für den weiteren Gedankengang interessierende Pointe zitiert: 

»Wenn daher die kapitalistische Leitung dem Inhalt nach zwieschlächtig ist, wegen der Zwieschlächtigkeit des zu leitenden Produktionsprozesses selbst, welcher einerseits gesellschaftlicher Arbeitsprozeß zur Herstellung eines Produkts, andrerseits Verwertungsprozeß des Kapitals, so ist sie der Form nach despotisch. Mit der Entwicklung der Kooperation auf größerem Maßstab entwickelt dieser Despotismus seine eigentümlichen Formen. Wie der Kapitalist zunächst entbunden wird von der Handarbeit. ., so tritt er jetzt die Funktion unmittelbarer und fortwährender Beaufsichtigung der einzelnen Arbeiter und Arbeitergruppen selbst wieder ab an eine besondre Sorte von Lohnarbeitern (ich füge hinzu: die funktionell übrigbleibt, wenn der Kapitalist historisch abtritt! R.B.). - Wie eine Armee militärischer, bedarf eine unter dem Kommando desselben Kapitals (erst recht desselben Staates! R.B.) zusammenwirkende Arbeitermasse industrieller Oberoffiziere (Dirigenten, managers) und Unteroffiziere (Arbeitsaufseher, foremen, overlookers, contremaitres), die während des Arbeitsprozesses im Namen des Kapitals kommandieren. Die Arbeit der Oberaufsicht befestigt sich zu ihrer ausschließlichen Funktion« 

(MEW 23/351). 

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Marx hat dann im 3. Band des »Kapitals« (MEW 25/395 ff.) diese zunächst innerhalb der Figur des Kapitalisten vor sich gehende Arbeitsteilung im Hinblick auf ihre Verselbständigung zu besonderer Lohnarbeit positiv gewertet: sie macht den Kapitalisten produktiv überflüssig, und das alte Verhältnis löst sich dahin auf, daß statt des Kapitalisten die vereinigten Arbeiter den Dirigenten einstellen und bezahlen. 

Wer wollte aber leugnen, daß es nun die Dirigenten sind, die die Arbeiter anstellen? Wer wollte leugnen, daß es die Dirigenten sind, die ihnen als Einzelnen vereinigt gegenübertreten, nämlich hierarchisch vereinigt im Staat? Das Bild von den »Offizieren des Kapitals« erweist sich als nützlich, um die wirkliche Stellung der einfachen Arbeiter und Kooperationsbauern in unserem sozialen System zu bestimmen. Sie sind nach wie vor so »soldatisch organisiert«, wie Marx und Engels schon im Manifest (MEW 4/469) schrieben. Ihr Platz kommt nicht bloß metaphorisch dem von gemeinen Soldaten verschiedener Truppenteile nahe, die sich gleichermaßen dem undurchschaubaren Funktionieren der vielstufigen Rangpyramide vom Unteroffizier bis zum Armeegeneral und Oberbefehlshaber unterworfen sehen. 

Bezogen auf die Summe der unterworfenen Individuen verjüngt sich die Pyramide nach oben. Über dem atomisierten einzelnen Individuum aber erscheint sie geradezu in der umgekehrten Form eines Trichters, der sich über ihm von Sphäre zu Sphäre immer mehr verbreitert. Jede höhere Ebene ist ein größerer Himmel. Denn je höher die Ebene, desto größer die Stäbe. Der Einzelne kann gar nicht daran denken, mit dem Staat unmittelbar zu verkehren. Er erreicht, genau so, wie es Kafka symbolisiert hat, immer nur »den niedrigsten Torhüter des Gesetzes«. Die Kleine-Leute-Mentalität ist wesentlich die Widerspiegelung dieses Sachverhalts.

Wie in der Armee die Meuterei, so ist in unserer vorgeblich sozialistischen Gesellschaft die massenhafte Rebellion der einzige Weg für die unmittelbaren Produzenten, nachdrücklich auf die allgemeine Marschrichtung Einfluß zu nehmen. Andernfalls bleibt ihre Initiative auf die Durchführung von Befehlen respektive Beschlüssen beschränkt.

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Es ist Schuld der Verhältnisse, wenn sie auf unproduktive und regressive Formen des Protests verwiesen sind. Falls es eines Beweises für die Rechtmäßigkeit dieser ganzen Ableitung bedarf, so muß man ihn nicht primär in der Theorie suchen. Den nachhaltigsten Beweis lieferten im Dezember 1970 die Arbeiter der polnischen Küstenstädte, und die neuerliche Wiederholung der Konfrontation, diesmal mit einer flexibleren Führung, hat doppelt unterstrichen, daß man nur mit einer wirklichen Systemveränderung über die zugrundeliegende Konstellation hinausgelangen kann.

Was die Arbeitsteilung innerhalb der industriellen Leitungs- und Planungsfunktion betrifft, muß ich wieder daran erinnern, daß sie zwar im Kapitalismus völlig neu erzeugt worden ist — die frühen industriellen Bourgeois waren vielfach zugleich auch ihre Werkmeister, Buchhalter und Verkaufsagenten —, daß aber formell mit der modernen Wirtschaftsbürokratie vergleichbare Hierarchien von Leitungsfunktionen auch in anderen Produktionsweisen existiert haben, und speziell in der Ökonomischen Despotie auch mit ausgesprochen arbeitsorganisatorischem Zweck. 

Allerdings war die Aufseherpyramide nie so vielstufig wie heute, und speziell der leitungsfunktionelle Überbau real-sozialistischer Gesamtstaatswirtschaften kennt quantitativ und darum schließlich auch qualitativ in der Vergangenheit nicht seinesgleichen. Die Systematik der Hierarchie und die Anzahl der Ebenen folgt — je näher zur Basis, desto unabhängiger von den Produktionsverhältnissen und erst recht von der Willkür der leitenden Subjekte — im wesentlichen der Gliederung des Produktionsprozesses selbst. Von der Schicht bis hinauf zum Kombinat ist es meist wirklich die Kombination der Herstellungsprozesse selbst, die sich mit größeren oder geringeren Toleranzen in den Leitungsstrukturen durchsetzt. 

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Schon über die Frage, wie viele unmittelbare Produzenten ein Leiter optimal dirigieren kann, wird durch den Charakter des zu absolvierenden Arbeits­prozesses entschieden. Produzierende Einheiten vom Betrieb bis zur Gesamt­wirtschaft sind unter dem kybernetischen Aspekt, dem Aspekt der Steuerung und Regelung, der sich seit Beginn der Zivilisation verselbständigt, biologischen Organismen analog, die sich ja auch hierarchisch geregelt anpassen und reproduzieren. Die Hierarchie der Leitungsebenen existiert objektiv als Gliederung des Informationsprozesses, der den Zusammenhang der Teilarbeiten vermittelt.

Gesamtgesellschaftliche oder vielmehr gesamtstaatliche Planung und Leitung einmal gegeben, kann auch die »Autonomie« der sogenannten Teil- bzw. Subsysteme immer nur in einem eng umschriebenen Sinne gegeben sein, der etwas qualitativ anderes meint als in der Autonomieforderung für das Individuum beschlossen liegt. Die Autonomie des industriellen Subsystems ist ein Ermessens-, aber nur bedingt ein Freiheitsspielraum für das menschliche Selbstbewußtsein. 

Ich will an dieser Stelle offenlassen, ob die humanistische Autonomieforderung für das Individuum eine Utopie verfolgt — jedenfalls intendiert sie seit der alten Gnosis die Hypothese, das menschliche Individuum könne unmittelbar mit »Gott«, mit der Gesamtheit korrespondieren, sie erkennen, an ihr partizipieren. Das schloß — zumindest jenseits der mystischen Höhepunkte — nie absolut seine Einordnung, seine Eigenschaft als Glied, als »Subsystem« eines beschränkteren Zusammenhangs aus. Nur handelt es sich um die Wesensverschiedenheit zwischen einem »Reich der Freiheit« und dem Reich der Notwendigkeit, wie es insbesondere in der Produktion gegeben ist.

Die Frage der Emanzipation darf nicht so gestellt werden, als könne man sich die Aufgabe stellen, die Leitungsstruktur der Produktion aufzulösen. Die einzige Möglichkeit besteht darin, die Menschen aus ihrer Unterordnung unter die moderne Verbundmaschinerie herauszuführen und so die »Verwaltung von Sachen«, die Regelung von Produktionsprozessen von der Herrschaft über Menschen zu entlasten. 

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(Ich betrachte den Leitungsapparat hier vorerst in seiner Rolle gegenüber den unmittelbar produktiven Funktionen des Produktionsprozesses, nicht hinsichtlich seiner inneren Widersprüche, die das Profil des bürokratischen Managements en detail bestimmen.)

Ursprünglich stand nun der noch undifferenzierten frühkapitalistischen Leitungsfunktion, etwa in der von Marx exemplarisch gemachten Manufaktur-Produktion von Nähnadeln, ein im Prinzip ebenso undifferenzierter, d.h. unqualifizierter Arbeiter gegenüber, der direkt als in wenigen Wochen anlernbar vorausgesetzt wurde, der Typus eines ausgesprochenen Nicht-Fachmannes, konkret-historisch insbesondere die Negation des Handwerkers. Dieser Typus bildet heute die unterste Schicht des Gesamtarbeiters, in der neben einem erschreckend hohen Frauenanteil auch ein verhältnismäßig hoher Prozentsatz von genetisch oder milieugeschädigten Menschen fixiert ist.

Inzwischen hat sich jedoch innerhalb der produktionsausführenden Funktion eine neue Berufsskala von nie dagewesener Breite und eine eigene Schichtung herausgebildet, die, soweit ich sehe, vierstufig aufgebaut ist und auf seiten des subjektiven Faktors in jener technischen Spezialistenschicht gipfelt (s.S.194), welche dem übrigen Produktionspersonal in der derzeitigen formationellen Struktur noch als Agent der entfremdeten Technik und Technologie gegenübertritt. 

Ihr am nächsten stehen die außerhalb der Produktionsgrundprozesse tätigen Facharbeitergruppen. Die romantische Kulturkritik, die nicht von dem Heimweh nach der ihren Sinn in sich tragenden Handwerksarbeit loskommt, weiß oft nicht, daß in der modernen Industrie, die u. a. zahllose Formteile erzeugt und verbraucht, eine insgesamt gesehen größere Menschenzahl als je zuvor allein in dem Spezialhandwerk des Werkzeug- und Formenbaus beschäftigt sein dürfte, das als konkrete Arbeit in hohem Grade befriedigend sein kann. 

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Ähnlich ist es im Sondermaschinenbau und in den Versuchsabteilungen. Auch die begabteren Facharbeiter der in jedem Betrieb vorhandenen mechanischen Werkstatt finden von Zeit zu Zeit Gelegenheit zu schöpferischer Hand- und Maschinenarbeit. Diese Arbeiter stehen insbesondere über der Maschinerie wenigstens ihres Arbeitsbereiches, besitzen also zumindest einen gewissen technischen Überblick und genießen darüber hinaus den erheblichen Verhaltensspielraum, der sich aus ihrer nicht unbedingten Ersetzbarkeit ergibt. 

Monotonie herrscht vornehmlich in der eigentlichen Grundproduktion, in der Fertigung, Montage, Prüfung, Verpackung und Lagerung der Massenartikel, wo die Arbeitsplätze als solche oft gar nicht den Facharbeiter verlangen und wo auch von vornherein die niedrigsten Lohngruppen vorgesehen sind. Diese Situation ergibt sich gerade daraus, daß die entsprechenden Tätigkeiten automatisierungsreif sind oder werden.

Aber während es sich bis hierher um eine qualitativ seit der Umwälzung vom Neolithikum zur bronzezeitlichen Zivilisation präsente Differenzierung und Spezialisierung handelt, obwohl auf unvergleichlich größerer Stufenleiter, erzeugt der moderne Industrialismus in den wissenschaftlich-technischen Spezialisten (das Wort erst einmal im weitesten Sinne genommen) einen völlig neuen Produzententyp. Zwar hat dieser Typ im orientalischen, antiken, mittelalterlichen Baumeister und Ingenieur auch seine Vorläufer, aber nie im Sinne einer relativ autonomen, fest in der allgemeinen Arbeitsteilung verwurzelten sozialen Schicht. Die Zivilisation, die auf der Scheidung der intellektuellen Potenzen vom unmittelbaren Arbeitsprozeß beruht, hat über den Industriekapitalismus dahin geführt, den unmittelbaren Produktionsprozeß zu intellektualisieren, die Handarbeit allmählich aus ihm zurückzuziehen. 

Die »Verwandlung der Wissenschaft in unmittelbare Produktivkraft« erschöpft sich nicht in der naturwissenschaftlichen Fundierung der Technologie, wie sie sich im Gefolge der ersten industriellen Revolution durch die eher indirekte Zusammenarbeit von Naturforscher und Mechaniker vollzog. 

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Der moderne Ingenieur, besonders der Hochschulingenieur, der beide in sich vereint, ist die exemplarische Schlüsselfigur des reifen Industrialismus. Sein Gegenstand sind die komplexen Maschinensysteme, , die wir im Stoffwechselprozeß mit der Natur zwischen uns und unsere Arbeitsgegenstände schieben. Im Taylorismus negativ und in der Automatisierung und elektronischen Datenverarbeitung positiv schafft die Ingenieurarbeit die materiellen Voraussetzungen, die Grundproduktion »auf den Kopf zu stellen«.

»Ingenieurarbeit« ist natürlich nur eine generalisierende Metapher für den ganzen Komplex der Produktionsvorbereitung, der von der Grundlagenforschung in verschiedenen Phasen über die Entwicklung, Konstruktion und Projektierung bis zur Installation und reproduktiven Pflege der neuen Technik reicht. Außerdem unterscheidet sich der Spezialistentyp, der in den Leitungsstäben mit Hilfsfunktionen befaßt ist, z.B. im Zusammenhang mit Organisation und Datenverarbeitung, soziologisch und sozialpsychologisch immer weniger vom Techniker im engeren Sinne. Auch die zahlreichen Ökonomen, die nicht an der Konzipierung der maßgebenden wirtschaftspolitischen Entscheidungen ihrer produzierenden Einheit teilhaben, kommen diesem Typus nahe. Ich gehe nur davon aus, daß dem Ingenieur die Schlüsselrolle in der gegenwärtigen Entwicklungsetappe der Produktivkräfte zufällt. Wenn schon — und insoweit im Spätkapitalismus noch mit Recht — der Begriff der Arbeiterklasse verwandt werden soll, so ist der Ingenieur, der technische und ökonomische Spezialist, ihr privilegierter Repräsentant. Er kann verhältnismäßig leicht ins Management überwechseln, wie auch der Rückzug aus dem »Establishment« in umgekehrter Richtung möglich ist. 

Das Neue, das seit etwa hundert Jahren Anlauf nimmt, besteht einerseits darin, daß die unteren Leitungsfunktionen tief in den materiellen Produktionsprozeß selbst eingegliedert sind, indem sich administrative mit technischen Anweisungen und Eingriffen verbinden. 

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Andererseits greifen, vermittelt durch die Spezialisten, die unmittelbaren Arbeitsfunktionen aus der Produktionsvorbereitung und -Organisation in die administrative Sphäre über und diktieren den leitenden Subjekten Entscheidungen. Das Spezialistentum — dies ist trotz seiner Kontrastellung zu den älteren Schichten des Produktionspersonals unbedingt festzuhalten — stellt in seiner Eigenschaft als lebendige Kopfarbeit keine neue Fraktion der Arbeitsteilung innerhalb der Leitungstätigkeit, sondern eine innerhalb der Produktion dar. Und das Spezialistentum neigt dazu, die Leitungsfunktionen unter sich zu subsumieren, zumindest seiner Kontrolle zu unterwerfen.

Allerdings bezahlt es einstweilen dafür mit seiner schleichenden Bürokratisierung, zumindest mit seiner Subsumierung unter die innerbürokratischen Kontrollmechanismen. Aus diesem Grund hält es einstweilen oft einen passiven Abstand zum Management und zeigt eine sichtliche Abneigung gegen die Übernahme von Leitungsfunktionen. Außerdem stößt freilich auch die offizielle Indoktrinierung und politische Verpflichtung der »Leitungskader« ab, zumal sie die geeigneten Kandidaten nicht nur in den Geruch des Karrierismus, sondern auch der menschlichen Prinzipienlosigkeit bringt.  Die Funktionen sind immer noch fast durchgängig mit der Auflage der Parteimitgliedschaft verknüpft, und es ist andererseits allzu offenbar, daß heute nur noch sehr wenige, dann meist junge Menschen aus einem unberechnenden Bedürfnis zur Partei streben. Doch ist dies eine Erscheinung, die im Unterschied zu der allgemeinen Bürokratisierungstendenz schon durch eine politische Veränderung verschwinden kann. 

Die Ingenieurarbeit — diesbezüglich darf es keine Illusion geben — ist selbst noch nicht allgemeine Arbeit, ist unter die extreme Arbeitsteilung innerhalb der Wissenschaft und Technik subsumiert. Und der Spezialist ist im Regelfall durchaus kein Intellektueller im traditionellen Sinne. 

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Er ist nicht selten ebensoweit vom »Philosophen«, von der Regierungsfähigkeit entfernt wie die Köchin. Aber er hat mit seiner Unterwerfung unter das wissenschaftlich-technische Spezialistentum am ahumanen, »rein objektiv«, d.h. ungesellschaftlich aufgefaßten Gegenstand der Natur und Technik und bei aller Befangenheit im Mechanizismus, Positivismus, Scientismus ein Abstraktionsvermögen erworben, das sich auch als Werkzeug der subjektiven, und darüber vermittelt der historischen Reflexion verwenden läßt. Daher steht der Ingenieur der »Philosophie« potentiell weitaus näher als die Köchin, und der soziale Gegensatz zwischen Spezialistentum und dem etablierten allgemeinen politischen und wirtschaftlichen Management dürfte das progressiv bewegende Moment in der nächsten Phase des Übergangsprozesses sein.

Selbstverständlich betone ich das Hervortreten des Spezialistentums im gesellschaftlichen Gesamtarbeiter nicht etwa zu dem Zweck, den unmittelbaren Produzenten an der Basis der Pyramide jene bereits vorhandenen Aktivitäten abzusprechen, die ihre spezielle Rolle im Arbeitsprozeß überschreiten. Dank der universellen Naturanlage des menschlichen Gehirns, dank unseres fundamentalen biologischen Vorlaufs vor den sozialen Realisationsmöglichkeiten ist es ja selbst den erklärten Kasten-, Sklaven- und Rassen­unterdrückungs­systemen nie gelungen, die menschliche Subjektivität auf ihre hauptsächliche Arbeitsfunktion zu reduzieren. Heute mehr denn je existiert auf allen Ebenen teils aktuell, teils potentiell ein menschlicher Qualifikationsüberschuß, der unter den bestehenden Produktionsverhältnissen prinzipiell nicht herausgefordert bzw. ausgenutzt werden kann, vielmehr einem ständigen Druck auf seine Reduktion unterliegt. 

»Plane mit, arbeite mit, regiere mit!« schallt es aus den Lautsprechern, und das meint: Jeder möge an seinem Platz mehr systemkonforme Aktivität zeigen. Sobald jemand die Grenzen der bestehenden Regelungen und Institutionen überschreiten möchte, vernimmt er jedes Mal den wirklichen Regierungstenor: »Schuster, bleibe bei deinem Leisten!«

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Und dies auf allen Ebenen, beileibe nicht nur des politischen Lebens. Man muß Edward Gierek für die Ehrlichkeit danken, mit der er das Problem unserer Gesellschaften nach der polnischen Dezemberkrise von seinen beiden Enden her zusammenfaßte zu der Losung: »Ihr werdet gut arbeiten, und wir werden gut regieren!« Die bisherige klassengesellschaftliche Arbeitsteilung läuft eben darauf hinaus, daß die überwältigende Mehrheit der Individuen entscheidend durch die früh vorprogrammierte Unterordnung unter eine bestimmte hauptberufliche Tätigkeit geprägt und beschränkt wird, so daß sie dann höchstens passiv an anderen Sphären partizipieren kann. Aber es kommt alles darauf an, ob ein solcher Realismus fatalistisch und damit apologetisch, oder kritisch und damit revolutionär ansetzt. Kritisch und revolutionär kann dieser Realismus nur sein, wenn er die Herrschaft der alten Arbeitsteilung weder als unabänderliches Fatum noch ihre Überwindung als Aufgabe ungeborener Generationen ansieht. Dazu muß erneut ins Bewußtsein gehoben werden, was Marx unter der Aufhebung der alten Arbeitsteilung verstand.

Die unwissenden Kritiker dieser »Marxschen Utopie« führen mit Vorliebe die Inflation hochspezialisierter Verrichtungen auf den verschiedensten Ebenen und Gebieten menschlicher Tätigkeit gegen sie ins Feld. Abgesehen davon, daß die Integrationstendenz in der Wissenschaft auch die horizontale Disponibilität — durchaus zugunsten der Individuen — fördert, handelt es sich dem Wesen nach gar nicht darum, diesem oder jenem bestimmten Fachmann Zugang zu so und so vielen weiteren Spezialdisziplinen seines Funktionsniveaus zu verschaffen. Nicht zwischen dem Schlosser und dem Laboranten, auch nicht zwischen dem Geologen und dem Physiker greift die Entfremdung gravierend ein. 

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Menschen, die die dialektischen Strukturen der Philosophie, der Kybernetik, der Mathematik und der Kunst in ihr Bewußtsein aufgenommen haben, können sich prinzipiell über jedes noch so komplizierte Problem verständigen, und zwar tiefergreifend, als es für die gleichberechtigte soziale Kommunikation erforderlich wäre, und sie müssen darüber keineswegs unfähig geworden sein, eine beladene Karre zu schieben, ohne sie unterwegs umzukippen. 

Aber das ist es ja gerade, daß die herrschende Arbeitsteilung die vertikale Universalität verhindert! Sie verhindert sie so sehr, daß man beobachten kann, wie z. B. Menschen, deren Jugendentwicklung und Arbeitspraxis Facharbeiter aus ihnen gemacht hat, dann in mittleren Jahren auch mit dem attestierten Abschluß eines qualvollen Fernstudiums nicht wirklich über das ursprüngliche Strukturniveau ihres Bewußtseins hinausgelangen.

Über unserer Gesellschaft prangt in großen Lettern das Prinzip »Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Leistung«, und zugleich verabschiedet man in ihrem Namen einen Plan, der die Proportionen reguliert, in denen die heranwachsenden Mitglieder der Gesellschaft je verschiedene Niveaus von Leistungsfähigkeit und Konsumbefriedigung, überhaupt von menschlicher Realisation erreichen werden. 

In Orwells Satire von der »Farm der Tiere« wird die Losung an der Scheunenwand, nach der alle Tiere gleich sein sollen, später ergänzt durch den Zusatz: »Aber einige sind gleicher als die anderen«. Man muß das, um auf den realen Kern dieser einschneidenden Korrektur zu kommen, in eine ökonomienähere Sprache übersetzen. 

Dann lautet der Satz: Es eignen sich alle Individuen die Sozietät (die menschliche Zivilisation und Kultur) an, aber einige sind gesellschaftlicher als die anderen. Die Aneignung der Kultur ist eine Frage der aktiven, bewußten Teilnahme an ihren verschiedenen Funktionsniveaus und Ausdrucksbereichen. Und wer seine Energie acht Stunden jedes Tages auf Tätigkeiten konzentrieren muß, die relativ niedrige Grade und isolierte Felder von Bewußtseinskoordination beanspruchen, der wird mit großer Wahrscheinlichkeit von der Mitbestimmung auf breiterer Ebene und höheren Niveaus ausgeschlossen, weil er nicht dazu kommt, sich das erforderliche Differenzierungs- und Abstraktionsvermögen zu erwerben, und dann gehört er fundamental zu den Unterdrückten der gegebenen Gesellschaft.

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Die Ausflucht, in der Verteilung der Individuen auf die verschiedenen Sphären spiegele sich im real existierenden Sozialismus nur die natürliche Verteilung der Anlagen und Talente wider, muß entschieden zurückgewiesen werden, weil die Unterschiede der Bildungsfähigkeit größtenteils in der kindlichen, besonders frühkindlichen Sozialisation erzeugt werden, die unter dem Diktat der herrschenden Arbeitsteilung und ihrer geplanten Reproduktion steht.

Individuell ist es natürlich möglich, sich über die Schranken einer untergeordneten Teilarbeit zu erheben, was dann meist über kurz oder lang dazu führen wird, eine allgemeinere Arbeit auszuführen: irgendeine wirtschaftliche oder politische Leitungsfunktion, eine wissenschaftliche oder künstlerische Tätigkeit.

Dies gilt in demselben Sinne — wenn auch bei quantitativ größerer Chance für den Einzelnen — wie die Aussage, jeder Schuhputzer könne im Kapitalismus ein Rockefeller werden. Auch in bürgerlichen Gesellschaften gibt es — jedenfalls im Vergleich mit der Vergangenheit — keine direkten Einschränkungen des Zugangs zu synthetischen Funktionen und zu ihren Bildungsvoraussetzungen mehr. 

Übrigens herrschte im alten China seit der Han-Zeit juristische Gleichheit in bezug auf den sozialen Aufstieg durch eine bürokratische Karriere für ziemlich breite Volksschichten. Die Bauern konnten mit der Gentry um die Prüfungsergebnisse konkurrieren. Das Problem ist also wirklich nicht neu. Es handelt sich hier um den subjektiven Aspekt von »Ökonomie der Zeit«, um »Zeit für Entfaltung der menschlichen Wesenskräfte«.

Es sind zwei eng miteinander zusammenhängende Mechanismen, die den Handarbeitern, genauer gesagt all denen, die ihren derzeitigen Normalarbeitstag mit abstrakter Teilarbeit verbringen müssen, den Zugang zur gesellschaftlichen Synthesis verlegen.

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Der erste Mechanismus besteht in der Unterentwicklung der Lernmotivation schon bei den Kindern der benachteiligten Schichten. In komplizierten Gesellschaften, wo der Weg der Erkenntnis des allgemeinen Zusammenhangs (nicht bloß der Übernahme einer manipulierten Ansicht darüber) ein Stufenprozeß von der Erscheinung zum Wesen n-ter Ordnung ist, bedarf es der Schulung und Übung des Abstraktions- und Reflexionsvermögens, um die entscheidenden Verhältnisse zu begreifen. In diesem Punkte sind die individuellen Chancen in unserer Gesellschaft im großen und ganzen (unbeschadet geringfügiger Differenzen) ebenso ungleich verteilt wie in der spätkapitalistischen. 

Ich zitiere zur näheren Ausführung eine Arbeit aus der Schule Mitscherlichs, in der folgender Gedankengang entwickelt wird:

»Die Frage, ob schon in der Kindheit jene Verhaltensweisen sich entwickeln, die nach gängiger Definition zu <Intelligenz> rechnen und unmittelbar bedeutsam für die Entwicklung von Reflexion sind, hängt von der Zeitperspektive ab, die das Kind im häuslichen Milieu internalisiert.« 

Gemeint ist die Zeitperspektive der Erwachsenen in dem Sinne, ob sie mit einem qualitativen Erwartungshorizont, mit der Hoffnung auf Veränderung (Verbesserung) und Aufstieg (in irgendeinem mehr oder weniger weitgreifenden Sinne) leben, oder ob sie sich mit der Monotonie eines Zeitablaufs abgefunden haben, der ihnen immer nur die Wiederkehr der gleichen Verrichtungen und Vergnügen bringen wird, wo also Zeit nur in sinnleeren Minuten, Stunden und Tagen gemessen wird. 

In einem solchen Zeitraster... 

»sind weder Revolution noch Hoffnung für das Individuum denkbar, kaum Neugier, kein exploratory drive, kein strategisches Denken, also auch keine Entwicklung, und damit sinken die Chancen für das Sichbilden von intelligentem Problemlösungsverhalten und Reflexion. In diesen <Zeitperspektiven> ... reproduziert sich primär die Arbeitsgestalt: ob monoton mit sehr geringen Freiheitsgraden in der Wahl der Organisation der eigenen Arbeitsabläufe, ohne motivierende Hoffnung auf Aufstieg, Entwicklung, Veränderung, abhängig, disponiert, Gegenstand der strategischen Entwürfe anderer oder ob eher wechselförmig, mobilisierend, disponierend, mit (partiellen) Organisationsstrategien oder Problemen. 

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Auch das Ausmaß der Fragmentierung der Arbeit dürfte von Einfluß sein. Wie die Beobachtung lehrt, honoriert die Gesellschaft bei Arbeitern und kleineren Angestellten eher die Stabilität (die berühmte <Treueprämie>) und gibt für neugierige Erkundungen schon am weiteren Arbeitsort kaum Lustprämien ... Selbst die Deutlichkeit, mit der Intelligenzfunktionen mit wachsendem Lebensalter abgebaut werden, scheint von der Art der Tätigkeit, der Arbeitsgestalt mit abhängig zu sein. Arbeiterkinder wären dann weniger <intelligent> als Kinder der Mittelschicht, insofern sie im Schatten latenter Depression von Vätern (Müttern) aufwachsen, für die schon in zeitigem Lebensalter die Entwicklung sistiert; die um die <verlängerte Pubertät> des Schülers und Studierenden gebracht sind (ganz zu schweigen von den wiederholten Pubertäten des begabten Menschen in sehr privilegierter Position), und die im Alter auch noch zeitiger dumm werden: sie wissen ja, daß sie Arbeiter bleiben — ein Wissen, das verinnerlicht ist, der Artikulation nicht mehr bedarf; sie sind für immer <die da unten> ... 

Wäre dies zutreffend, so erklärten sich die geringere Intelligenz und Reflexionskraft der sozialen Unterschicht aus der gesellschaftlichen Ohnmacht der Lohnabhängigen, die sie — mehr oder weniger — zur Hinnahme, zur konsumptiven Haltung, zur Unterdrückung, zur Perspektivelosigkeit zwingt und damit Verzicht auf Intellektualität impliziert« (Brückner, Leithäuser, Kriesel: Psychoanalyse, Frankfurt M. 1968/38 ff.).

Hilft also dieser erste Mechanismus erklären, wie die bestehende Arbeitsteilung schon für subalterne Individuen der nächsten Generation sorgt, so geht es bei dem zweiten Mechanismus um die jeweils aktuelle Blockierung des Durchbruchs zu einer Teilnahme an der gesellschaftlichen Synthesis.

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Hier können wir uns an Überlegungen des französischen Marxisten Lucien Seve (in seinem Buch »Marxismus und Persönlichkeit«, Berlin 1972) zum Thema »Zeitplan der Persönlichkeit« halten. Seve meint damit, daß die Proportionen, in denen das Individuum seine Zeit für abstrakte (dem psychischen Wachstum verlorene) Lohnarbeit und passive Reproduktion seiner Kräfte und Bedürfnisse einerseits bzw. für produktive und konsumptive Lernprozesse, d.h. für den Erwerb neuer Fähigkeiten andererseits verausgaben kann, sich in allmählich verfestigten Proportionen der psychischen Zuwendung, des psychischen Kraftaufwandes für bestimmte Klassen von Handlungen niederschlagen. U

nter diesem Gesichtspunkt differenziert sich jede moderne Industriegesellschaft skalar zwischen den Extremen solcher Menschen, die (Parasiten einmal vernachlässigt) ihre gesamte notwendige Arbeit in der Form produktiver Konsumtion, also als schöpferische Tätigkeit leisten können und jenen anderen, denen die notwendige Arbeitszeit schlechthin für die eigene Entwicklung verlorengeht.

Durch die bloße Tatsache, daß bestimmte Teile, Gruppen, Schichten für sich in Anspruch nehmen, hauptamtlich, hauptberuflich ein Leben lang abgesonderte allgemeine und schöpferische Arbeit in Politik, Wissenschaft und Kunst zu leisten, daß sie die Arbeit monopolisieren, die durch sich selbst zur Entfaltung der individuellen Wesenskräfte führt — durch diese Tatsache verurteilen sie andere Gruppen und Schichten zu hauptberuflicher Beschränkung, wenn nicht Abstumpfung der Gehirne. Und natürlich projizieren sie diesen Zustand kraft ihres entscheidenden Einflusses auf die Planung der Investitionen, auf die Bildungsinstitutionen, auf die Massenkommunikationsmittel materiell in die Zukunft. 

So wie sich der Bourgeois keine Zukunft vorstellen konnte, die seine eigene privilegierte Stellung nicht reproduziert in sich enthielt, können sich die meisten unserer Politiker und Funktionäre, ebenso unserer Wissenschaftler und Künstler keine Perspektive vorstellen, in der sie selbst als Privilegierte nicht mehr vorkämen.

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Betrachtet man die mit der Struktur des gesellschaftlichen Gesamtarbeiters korrespondierende Sozialstruktur unserer Gesellschaft als Ganze, so stellt man einerseits auf den ersten Blick den relativ kontinuierlichen »vertikalen« Übergang von einer Schicht zur anderen, von einem materiellen und kulturellen Lebensniveau zum andern fest. Bis auf statistisch nicht durchschlagende Ausnahmen, die übrigens leicht beschnitten werden könnten und in kritischen Situationen u. U. auch beschnitten werden, existiert eine verhältnismäßig gleichmäßige Verteilung der Individuen über die verschiedenen Merkmalsskalen, die man anlegen kann.

Es ist auch bedeutungsvoll, daß die Einkommensdifferenzierung, obwohl sie durch den Kumulationseffekt bei bestimmten bessergestellten Kreisen zeitweise zunimmt, nicht die Schärfe der maßgebenderen Abstufung nach Bildungsgraden und Positionen im Reproduktionsprozeß der Gesellschaft erreicht, auch dann nicht, wenn man die Privilegien der arrivierten Würdenträger einrechnet. Es gibt — als Nachwirkung der alten marxistischen Ehrbegriffe — in dieser Frage immer noch unverkennbare Schranken und einen mehr oder weniger bewußten hinhaltenden Widerstand gegen die hemmungslose Ausnutzung von Positionen zu dem niedrigen Zweck der Bereicherung. Die eigentlichen Privilegien sind politischer Natur, das übrige ist mehr oder weniger bloß angeschwemmt.

Insgesamt gesehen beruhen die Probleme unserer Sozialstruktur demnach nicht auf einer systemimmanenten sozialen »Ungerechtigkeit« der Verteilungs­verhältnisse (soweit eine solche nicht in dem Leistungsprinzip selbst wurzelt). Dennoch weist die Pyramide der Arbeitsteilung und Leitung nicht nur in der politischen Erscheinungsform der radikal ungleichen Machtverteilung eine Bipolarität auf. 

In der soziologischen Literatur der Sowjetunion wird in letzter Zeit verstärkt die »kulturelle« Komponente in der sozialen Schichtung der Werktätigen hervorgehoben, die Komponente der kulturellen Qualifikation im weitesten Sinne. 

Dabei wird das Kontinuum mit gutem Grund immer wieder unter den Gesichtspunkten des Urbanisierungsgrades, des Bildungsniveaus und der Geschlechter­dualität angeschnitten. Gegenüber dem städtischen (in gestern noch agrarischen Ländern ist die Differenz zwischen Industriearbeitern und Bauern natürlich noch immer erheblich), hochqualifizierten und männlichen Element, das statistisch gesehen zur Spitze der Pyramide strebt, tendiert das ländliche, niedrigqualifizierte und weibliche Element zu ihrer Basis. Hier — nämlich in der Aufarbeitung der historisch ältesten Residuen der Klassenspaltung — liegt in unseren Ländern, und jenseits des Kapitalismus auch in den höchstindustrialisierten westlichen die entscheidende Aufgabe der fortschrittlichen Kräfte. 

Politische Revolution oder Reformation hat nur dann einen Sinn, wenn sie die Bedingungen für die technische und zugleich kulturelle Revolution verbessert, die die Menschen Stufe um Stufe von den Fesseln der alten Arbeitsteilung und des Staats befreit und bis in die Primärzellen der Gesellschaft hinein die Voraussetzungen für die freie Entwicklung aller sichert. 

213-214

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Rudolf Bahro 1977 Die Alternative Zur Kritik des real existierenden Sozialismus