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8.  Triebkräfte und ihre Hemmungen in der nicht-kapitalistischen Industriegesellschaft

 

"In der sowjetischen Gegenwartsliteratur gibt es zwei Sterne erster
Größe, auf verschiedenen, aber nicht berührungs­losen Positionen:
den Kirgisen Aitmatow und den Russen Solschenizyn."

Seite 269, hier gekürzt

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Was für eine Dynamik der sozialen und ökonomischen Entwicklung, wieviel solidarische Anstrengung aller für das allgemeine Wohl haben sich die alten Sozialisten ausgemalt! Eben jene große Initiative, die Lenin so begeistert beschrieb, als die Arbeiter der Moskau-Kasaner Eisenbahn ihren ersten revolutionären Subbotnik begingen. 

Gerade darin gründete letztlich unser Vertrauen in die Überlegenheit der sozialistischen Produktionsweise, unser hartnäckiges Festhalten an der Überzeugung, wir würden den Kapitalismus in absehbarer Frist »einholen und überholen«. Wir zweifelten nicht an der grundsätzlichen Übereinstimmung der individuellen mit den gemeinschaftlichen Interessen und erblickten darin die unvergleichliche Triebkraft unseres harmonischen Fortschritts. 

Leider kam sie — wie wir meinten, infolge gewisser Überbleibsel der Vergangenheit im Bewußtsein der Menschen — nur noch nicht genügend zur Geltung. In dieser Hinsicht schien sich der ganze ungeheure Überbau eher langsamer als rascher umzuwälzen. Und wir gingen dazu über, den Wettbewerb mühevoll von oben zu veranstalten und seine »Initiatoren« nach zweckmäßiger Vorauswahl zu präparieren. 

Heute wird den Verantwortlichen der Partei- und Gewerkschaftsorganisation, auf die aus wirtschaftspolitischen Erwägungen die Wahl gefallen ist, die Leitlinie für den allgemeinen Wettbewerbsaufruf jeweils fertig in die Tasche gesteckt, damit auch kein wichtiger Gesichtspunkt vergessen wird. Es ist eine Tragikomödie mit rituellem Einschlag, peinlich für alle Beteiligten. Allein das Indiz »Wettbewerb« könnte schon genügen, die sozialistische Illusion ad absurdum zu führen. 

Es ist eingetreten, was Rosa Luxemburg Lenin schon 1918 voraussagte, ohne daß dieser eine Alternative zu seinem Kurs gehabt hätte: Ihr werdet dahin kommen, daß die Bürokratie das einzige tätige Element in Eurem Staate, in Eurer Gesellschaft ist. Rosa mit ihrer sozialistischen Perspektive sah natürlich nicht, daß die Bürokratie, ungeachtet der unweigerlich eintretenden negativen Konsequenzen, die sie erkannte, zugleich und vor allem eine positive Rolle als tatsächlicher Initiativapparat der ökonomischen und sozialen Umgestaltung spielen würde. 

Darüber habe ich schon ausführlich genug gesprochen. Jedenfalls ist es falsch, die Abwesenheit von Masseninitiative auf die Tätigkeit der Bürokratie zurückzuführen (wie es sekundär zweifellos der Fall ist!), ohne zuvor anzuerkennen, daß die Rolle der Bürokratie als »einziger Initiator« primär der Ersatz für fehlende Masseninitiative war. 

Wer soll in einer nichtkapitalistischen Gesellschaft die Initiative tragen, wenn sich die Massen an Puschkins Regieanweisung aus dem Boris Godunow halten: »Das Volk bleibt stumm«? Der Apparat hat ursprünglich den werktätigen Massen keine positiv wahrgenommenen Rechte und Aktivitäten streitig gemacht. Man kann ihm nur vorwerfen, die alte Unmündigkeit weiter zu reproduzieren. Die Entmündigung als aktiver, Prozeß hat sich vornehmlich innerhalb der Partei vollzogen und hauptsächlich ihre Intelligenz (darüber hinaus dann überhaupt die intellektuellen Elemente) betroffen, und zwar als Folge der Zwangslage, die Gesellschaft bürokratisch organisieren zu müssen, ehe sie sozial und ideologisch reorganisiert war.

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In der ersten Phase nach dem politischen Umsturz überdeckte einerseits der revolutionäre Enthusiasmus einer Minderheit, besonders aus der Jugend, andererseits und vor allem die Mobilisierung der Massen durch die Notwendigkeit des Überlebens angesichts einer durch Krieg und Revolution beschädigten Volkswirtschaft die Antriebsschwäche. Ähnlich war es auch in den ersten Jahren nach 1945 bei uns. Man erinnert sich hier noch immer nicht ohne Nostalgie an die graue Romantik der Trümmerfrauen und die hartnäckige Bastelei an der zerstörten Maschinerie. 

Aber im Jahre 1953 zeigte sich bei der Auseinandersetzung um die Normenfrage eindringlich genug, daß diese Phase längst vorbei war. Die neuen Widersprüche traten — obwohl das Bild wie auch noch 1956 in Ungarn durch das Comeback nationalistischer und anderer reaktionärer Elemente verdorben war — bereits als vollendete Tatsache hervor. Die Grundeinstellung der unmittelbaren Produzenten zu »ihrem« Staat unterscheidet sich bis heute nicht wesentlich von der der Arbeiter im Kapitalismus zu »ihrem« Konzern. Angesichts des Fortbestehens von Arbeitsteilung, Warenproduktion und Geld hat sich auch an den Prinzipien und der Gliederung der Leistungs­bewertung nichts geändert. Der Lohn ist nichts als der vom Aneigner Staat gezahlte Preis der Ware Arbeitskraft. Es ist ein rein ideologischer Salto mortale, die Warennatur der Produkte im real existierenden Sozialismus anzuerkennen und zugleich die damit assoziierte Warennatur der Arbeitskraft zu verleugnen. 

Der Gedanke des sozialistischen Wettbewerbs, identisch mit der Hoffnung auf die Masseninitiative der unmittelbaren Produzenten — man rechnete von vornherein mit erst zu produzierenden Bedingungen — mußte sich insofern als utopisch erweisen. 

Unmittelbar Gebrauchswerte für »Fernstehende«, für die Gesellschaft zu schaffen, das setzt einen Zustand voraus, in dem es keines besonderen Ethos, keiner altruistischen Motive, keiner Idealisierung der Selbstaufopferung mehr bedarf, weil die Arbeit »erstes Lebensbedürfnis« oder, vielleicht verständlicher — »natürliche Lebensäußerung« der Individuen, ihr entscheidendes »Genuß- und Entwicklungsmittel« geworden ist, eben als die soziale Tätigkeit, in der sie sich kommunikativ aneinander bestätigen und entfalten können. 

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Solange aber der Wettbewerb der Individuen noch im Rahmen grundlegender sozialer Ungleichheiten vor sich geht, kann er sich nicht unmittelbar auf den Qualitätsvergleich der produktiven Lebensäußerungen beziehen.

Aber warum funktionieren nun - statt der ausgebliebenen neuen - nicht wenigstens die alten Antriebe ähnlich effektiv wie im Kapitalismus? 

Dort bleiben sie ja auch dann mit dem Lohnarbeitsverhältnis verbunden, wenn der kapitalistische Staat als Unternehmer auftritt. Ein Teil der bürgerlichen Propagandisten macht nicht erst aus Gehässigkeit, sondern schon aus Dummheit den Fehler, von unserer Propaganda für bessere qualitative und vor allem quantitative Ausnutzung der Arbeitszeit auf einen starken Leistungsdruck in den Betrieben zu schließen. 

In Wirklichkeit ist natürlich nicht nur die Arbeitsintensität, sondern auch die Arbeitsdisziplin niedriger als im Kapitalismus. Arbeitsrecht und Sozialpolitik sind auf eine dem archaischen »Staatssozialismus« etwa der Inkas vergleichbare Sozialversicherungspflicht abgestellt, die aber in den frühen Zeiten immer diese oder jene Form außerökonomischen Arbeitszwangs zur Seite hatte. Schon Fourier hatte gesehen, »daß sich das Volk dem Müßiggang ergeben würde, wenn es über ein reichliches Existenzminimum, eine gesicherte Ernährung und einen anständigen Unterhalt verfügte, weil die zivilisierte Produktionsweise zu abstoßend ist«. Und er hatte — »naiv-grisettenmäßig«, wie Marx das apostrophierte, ohne doch den Kerngedanken ganz zu verwerfen — den Schluß gezogen: »In der sozialistischen Ordnung muß deshalb die Arbeit so viel Reiz bieten wie heute unsere Festlichkeiten und Schauspiele.« 

»Die Heilmittel gegen Faulenzerei und andere Laster, die die Assoziation zerrütten könnten, liegen in der Erforschung und Entdeckung eines anziehenden Produktions­systems, das die Arbeit in ein Vergnügen umwandelt und die Ausdauer des Volkes bei der Arbeit und damit die Ableistung des vorgeschossenen Existenzminimums garantiert« (Von Babeuf bis Blanqui, Band II: Texte, S. 192, 183, Leipzig 1975). 

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Übrigens war dieses anziehende Produktionssystem für Fourier eine Frage der sozialen Organisation und Verteilung der Arbeit, überhaupt nicht (und nur in dieser völligen Vernachlässigung liegt meiner Meinung nach der Fehler) ihrer Technisierung!

Das — durchaus nicht notwendig antagonistische — Bemühen der Individuen nicht nur um ihre einfachen Existenzbedingungen, sondern um je historisch bestimmte Entfaltungs- und Entwicklungsbedingungen, die nachher Maß und Art ihres Lebensgenusses in der Gesellschaft bestimmen, ist der allgemeinste Grundzug der Geschichte überhaupt. Solange nun in der Sphäre der Arbeit die eigenen Kräfte nur verausgabt, nicht aber psychisch produktiv konsumiert werden können, muß das Ziel der Individuen darin bestehen, dort möglichst wenig auszugeben und möglichst viel einzunehmen, was dann jenseits dieser Sphäre in Selbsterhaltung, günstigstenfalls in Selbstentwicklung und Lebensgenuß umgesetzt werden kann. Es ist zwar abstrakt wahr und wird übrigens auch von den scheinbar uneinsichtigsten Menschen rational eingesehen, daß der allgemeine Durchschnitt der individuellen Anteile von der Gesamtmasse des verteilbaren Produkts abhängt. Aber es bleibt unbestreitbar, daß die Höhe der individuellen Anteile nicht nach Maßgabe der Anstrengungen zurückfließen, daß die Verteilung ungerecht erfolgt und in ihren wirklichen Prinzipien unkontrollierbar ist. 

Die relative Höhe der Revenuen untereinander ist kaum beeinflußbar (weniger als in dem anderen System — man hat es nicht seinem eigenen gewerkschaftlichen Kampf, sondern Partei und Regierung zu danken, wenn einmal die Proportion zugunsten der eigenen Gruppe berichtigt wird), und vor allem wird die absolute Höhe des zu Verteilenden durch unkontrollierbare Einflüsse und Interessen bestimmt (der Weltmarkt, die Abzüge vom Gesamtprodukt — man brauchte unbedingt vom Apparat unabhängige Untersuchungen zu den makroökonomischen Proportionen und zu den Verfügungsgepflogenheiten). 

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Die Individuen werden also auf ihren Egoismus zurückverwiesen. Und es gibt keine echte moralische Autorität dagegen, keine unverdächtige Instanz, die etwas fordern könnte, da die Bürokratie, indem sie das Leistungsprinzip und das Budget manipuliert, vor den Massen nie im Recht ist und sich dementsprechend in den meisten ihrer Vertreter gar nicht konsequent mit den Forderungen identifiziert.

Unser Staat — und ungeachtet drakonischer und martialischer Gesetzesformulierungen gilt dies auch für den sowjetischen — ist essentiell, nämlich von seinem Platz in der Geschichte her, nicht in der Lage, dieselbe Arbeitsintensität zu erzwingen wie der Kapitalismus. 

Es gehört zu den Voraussetzungen seiner Existenz, zu den elementaren Bedingungen seines Bestands in der inneren und internationalen Auseinandersetzung, daß der Widerspruch zwischen ihm und den unmittelbaren Produzenten nicht eklatiert. Politökonomisch gesehen, haben die Arbeiter im real existierenden Sozialismus eine viel größere Möglichkeit, die »Gesamtgesellschaft« zu erpressen, als die Gewerkschaften im Kapitalismus, und sie nutzen sie entgegen allem vordergründigen Anschein in der Tat auch aus, aber sie können dies nur auf eine unfruchtbare Weise tun, nämlich durch Leistungszurückhaltung. Das gilt weniger für die unterste Schicht der Werktätigen, am wenigsten für die Frauen, die einen Löwenanteil der Akkordarbeit in unserer Industrie leisten. Aber die Mehrzahl der qualifizierten Arbeiter bestimmt den Arbeitsrhythmus im eigenen Konsensus, und gar die Spezialisten sind, selbst wenn sie untere Leistungsfunktionen bekleiden, durchaus nicht demselben Leistungsdruck ausgesetzt, dem sie sich »drüben« gegenübersehen würden. Die meisten wissen das sehr wohl, jedenfalls die älteren.

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Die Differenzierung nach dem Leistungsprinzip, die in unserer Wirtschaft stattfindet, funktioniert tendenziell umgekehrt wie von Marx und Engels vorgesehen. Nach der »Kritik des Gothaer Programms« bezieht sich »Jedem nach seiner Leistung« gerade nicht auf die Staffelung nach Qualifikation, in der das Leistungsprinzip bei uns noch am ehesten verwirklicht wird. Im Anti-Dühring hieß es ganz unmißverständlich: 

»Wie löst sich nun die ganze wichtige Frage von der höhern Löhnung der zusammengesetzten Arbeit? In der Gesellschaft der Privatproduzenten bestreiten Privatleute oder ihre Familien die Kosten der Ausbildung des gelernten Arbeiters; den Privaten fällt daher auch zunächst der höhere Preis der gelernten Arbeitskraft zu. Der geschickte Sklave wird teurer verkauft, der geschickte Lohnarbeiter höher gelohnt. In der sozialistisch organisierten Gesellschaft bestreitet die Gesellschaft diese Kosten, ihr gehören daher auch die Früchte, die erzeugten größern Werte der zusammengesetzten Arbeit. Der Arbeiter selbst hat keinen Mehranspruch« (MEW 20/187). 

Denn »die Produktion wird gefördert am meisten durch eine Verteilungsweise, die allen Gesellschaftsgliedern erlaubt, ihre Fähigkeiten möglichst allseitig auszubilden, zu erhalten und auszuüben« (MEW 20/186).

Bei uns herrscht dagegen ganz und gar die auch »dem Herrn Dühring überkommene Denkweise der gelehrten Klassen«, nach der »es allerdings als eine Ungeheuerlichkeit erscheinen (muß), daß es einmal keine Karrenschieber und keine Architekten von Profession mehr geben soll und daß der Mann, der eine halbe Stunde lang als Architekt Anweisungen gegeben hat, auch eine Zeitlang die Karre schiebt, bis seine Tätigkeit als Architekt wieder in Anspruch genommen wird«. (Ebenda.) 

Hinsichtlich der eigentlichen ökonomischen Leitungsfunktionen nahmen Marx und Engels ja statt ihrer teils objektiven, teils subjektivistischen unablässigen Komplizierung ihre rigorose Vereinfachung an. Selbst Lenin ging erst nach der Revolution — und nicht so sehr aus ökonomischen als aus temporären politischen Erwägungen — von dem Gedanken ab, diese Funktionen für Arbeiterlohn ausüben zu lassen. Bei Marx und Engels bezieht sich das Leistungsprinzip einfach auf verausgabte Durchschnitts­arbeitszeit. 

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Im <Kapital> heißt es direkt im Hinblick auf den Sozialismus: »Die Produzenten mögen meinetwegen (die Debatte betrifft an dieser Stelle den Wegfall der Geldform) papierne Anweisungen erhalten, wofür sie den gesellschaftlichen Konsumtionsvorräten ein ihrer Arbeitszeit entsprechendes Quantum entziehn« (MEW 24/358). 

Die damit verbundene Ungleichheit und Ungerechtigkeit gründet sich auf die unterschiedliche Physis, diese als Basis für beliebige, darunter natürlich auch intellektuelle Tätigkeit bestimmter Dauer und Intensität genommen, sowie auf die unterschiedlichen Existenzbedingungen der Individuen. Wer in seiner Profession weniger Arbeitseinheiten leistet als ein anderer in der anderen, soll weniger als dieser andere erhalten. Wir müssen feststellen, daß die Arbeitsleistung — in diesem Sinne der produktiven Verausgabung von Durchschnittsarbeitszeit — bei uns mit steigendem Funktionsniveau eher abnimmt. Nicht nur in den Verwaltungen, sondern auch in den Forschungs-, Konstruktions- und Projektierungseinrichtungen und an vielen ähnlichen Stellen wird weit mehr Arbeitszeit vertan als in der unmittelbaren Produktion. Wir sprechen hier natürlich nicht von den besonderen Typen des vielfach von seinem eigenen Apparat umgetriebenen hohen Partei-, Staats- und Wirtschaftsfunktionärs oder des besessenen Wissenschaftlers und Ingenieurs, die aber für die gemeinte Angestellten- und Spezialistenschicht natürlich nicht repräsentativ sind.

Innerhalb der verschiedenen Professionen — und auch hier wieder bei den Spezialisten besonders ausgeprägt, während bei den Arbeitern (Arbeiterinnen) in der Massenfertigung die Norm nicht selten noch treibt — kommt das Leistungsprinzip sehr gedämpft zur Anwendung. Sind die Planstellen samt Gehältern einmal fixiert und besetzt, scheint die Sonne gleichermaßen auf Gerechte und Ungerechte, Geschickte und Ungeschickte.

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Am ehesten läßt sich noch eine gewisse leistungsfördernde Rivalität zwischen verschiedenen Kollektiven provozieren. Alles in allem genommen aber sind in der gesamten Industrie das Leistungsprinzip als Stimulus für besondere Anstrengungen zum allgemeinen Nutzen, die Wettbewerbs- und Aktivistenbewegung gescheitert. Man konkurriert nicht gegeneinander (von der bürokratischen Konkurrenz spreche ich noch). Man verdirbt einander nicht die Norm. Man verteilt die Prämien. Wenn die Leitungen wirklich einmal die geforderte Differenzierung durchsetzen können, steigern sie in der Regel keineswegs die Leistung, verderben aber mit Sicherheit die normale Arbeits­atmosphäre. 

Nur gezielte Sonderprämien für die sozial wie ökonomisch höchst problematische Überstundenarbeit an den ewigen Engpässen erreichen meist einen Teil ihres unmittelbaren Zwecks. Die Arbeiter wachen z. T. mit Erfolg darüber, daß die hierdurch anfallenden Mehrkosten nicht den allgemeinen Prämienfonds belasten, daß es sich also wirklich um Extraeinnahmen handelt. Hier sind Grenzen installiert, die unser ökonomisches System in seiner jetzigen Gestalt nicht überspringen kann, obwohl das Leitungspersonal, ein Teil der Spezialisten, die Facharbeiterspitze die mangelnde Arbeitsdisziplin, die sich auch in Materialvergeudung, überhöhtem Ausschuß, Unordnung an den Arbeitsstätten usw. äußert, einigermaßen resigniert beklagen. 

Infolge seiner welthistorischen Rolle als Vorbereitung einer neuen Zivilisation erzeugt der Industrialismus bei den unterdrückten und ausgebeuteten Massen des ganzen Erdballs ein Streben, das man auf die Formel »Gleichheit jetzt!« bringen könnte. 

Die sozialistische Bewegung ist direkt unter der Voraussetzung angetreten, die Reife der Produktivkräfte würde die sozialökonomische Gleichstellung aller Individuen ermöglichen. Aber unter den gegebenen Umständen bedeutet »Gleichmacherei« (wie die Gleichheitsforderung schon im ersten nachrevolutionären Augenblick tituliert wird), d.h. der

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Versuch, von den Verteilungsverhältnissen her zu egalisieren, während und weil sich die soziale Ungleichheit der Individuen von den sachlichen Produktivkräften her als langfristig resistent erweist, zunächst eine Schwächung derjenigen Antriebe, deren die entfremdete Arbeit bedarf. 

Und je weniger der Arbeitszwang durch die vorhergehende Generation eines Landes verinnerlicht werden konnte, desto verheerender müßte das Ergebnis ausfallen. Daher ist eben der Kampf gegen das Gleichheitsstreben der Massen und für die Durchsetzung des Leistungsprinzips in den Verteilungsverhältnissen eine Hauptfunktion des protosozialistischen Staates. In der Praxis kann es natürlich nur zu einem Kompromiß kommen, und zwangsläufig mit einem zwar für jedes unserer Länder etwas anderen, immer aber mittelmäßigen Ergebnis. 

Die Ausbeutung, die der ursprüngliche Hebel einer sich merklich erweiternden Reproduktion war, »schämt sich« — so könnte man psychologisierend sagen — im real existierenden Sozialismus ihrer selbst. Sie muß sich einer komplizierten hemmenden Maskerade bedienen. Die Herrschaft wagt es nicht mehr, sich selbst frei ins Gesicht zu blicken. Es ist gerade der beste Teil unserer ideologisch-moralischen Tradition, der sie erröten läßt. So können die werktätigen Massen durchsetzen, daß die Verteilungsverhältnisse in Wirklichkeit egalitärer gehandhabt werden, als es der Entwicklungsstand der Arbeitsteilung rein ökonomisch gesehen rechtfertigt. Die Verteilung — und damit der »materielle« Anreiz — ist keineswegs die Hauptquelle der sozialen Differenzierung in unserer Gesellschaft, dies aber in einer Situation, in der der Charakter und die Organisation der Arbeit selbst noch keinen durchschlagenden Leistungsantrieb hergeben. Auf die unmittelbaren Produzenten bezogen, leidet die Dynamik der Produktivkräfte unter der »Dämmerung« zwischen einem »Noch-nicht« und einem »Nicht-mehr«.

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Allerdings bleibt dieser Gedankengang noch im Rahmen der vorhin zitierten Fourierschen Orientierung auf das »Existenzminimum«. Bekanntlich bringt es die Produktion aber »bald dahin, daß der sogenannte struggle for existence sich nicht mehr um reine Existenz-, sondern um Genuß- und Entwicklungsmittel dreht« (MEW 20/565), sicherlich zunächst für die jeweils Privilegierten. Unter diesem Gesichtspunkt muß man heute vor allem die natürliche Funktion der Arbeit selbst als grundlegendes Entwicklungsmittel der menschlichen Wesenskräfte ins Auge fassen. Nach den Überlegungen über die alte Arbeitsteilung als tiefste Quelle der sozialen Ungleichheiten, die sich in verschiedenen Niveaus und Strukturen der Persönlichkeitsentwicklung äußert, muß sich der Schwerpunkt des sozialen Interessenkampfes sukzessiv von der Verteilung des Arbeitsentgelts zur Verteilung der Arbeit selbst verschieben, nachdem einmal die Subsistenzmittel im großen und ganzen gesichert sind. Inhalt und Charakter der Arbeit, die mit dem Arbeitsplatz verbundenen Aufstiegs- und Wachstumschancen, haben nach soziologischen Untersuchungen in verschiedenen Ländern unseres Systems bereits jetzt die Lohnhöhe in ihrer motivationalen Bedeutsamkeit überholt, und je qualifizierter die Menschen sind, desto stärker ist diese Tendenz ausgeprägt

Damit wird die Konkurrenz um die Aneignung selbstentwicklungsgünstiger Tätigkeiten, um die entsprechenden Plätze im vieldimensionalen System der gesellschaftlichen Arbeitsteilung zu der für den real existierenden Sozialismus charakteristischen spezifischen Triebkraft des ökonomischen Lebens. Nicht zufällig konzentriert sich das Wettbewerbsverhalten der Individuen bei uns so stark auf die Ausbildungsphase, in der über den Zugang, die Zulassung zu den günstigen Plätzen im System der gesellschaftlichen Gesamtarbeit entschieden wird, wobei die an Bildung und Einfluß bereits arrivierten Schichten die Szene beherrschen. Der Kampf hat einen ausgesprochen politischen Charakter. 

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Er kristallisiert sich um die Frage, ob der Aufstieg in einer »reinen« Leistungskonkurrenz oder unter dem Einfluß einerseits halbherziger und oberflächlicher sozialpolitischer Korrekturen zugunsten der bei der Verteilung der Arbeit benachteiligten Schichten, andererseits einer ausgedehnten bürokratischen und inoffiziellen Korruption ausgefochten werden soll. Auf jeden Fall ist dafür gesorgt, daß die Kadersöhne und -töchter nicht zu kurz kommen, weil sie - beispielsweise - dadurch »zur Arbeiterklasse gehören«, daß Vater oder Mutter im Ministerium des Innern tätig sind. 

Denselben politischen Gehalt zeigt dann später auch die Auseinandersetzung um die Besetzung der bevorzugten Arbeitsplätze und Leitungspositionen in den Betrieben und Institutionen: soll die fachliche Befähigung oder soll die bürokratische Tugend entscheiden? Der überdimensionierte Leitungsapparat lastet besonders in der Wirtschaft und im kommunalen Bereich ohnehin schwer auf der produktiven bzw. operativen Basis, indem er Zeit, Kraft und Konzentrationsfähigkeit der Kader für seinen Bedarf an Kontrollinformationen verbraucht.

Aber es kommt noch etwas hinzu. Die durch keine autonome gesellschaftliche Macht gezügelte Sozialstruktur innerhalb der Apparate ordnet die — unter der Voraussetzung der fortbestehenden alten Arbeitsteilung normale und unbedingt vorzuziehende — produktive Leistungskonkurrenz um die Aneignung »guter Arbeit« und »lukrativer Stellen« systematisch einem anderen Antriebsmuster eigener Provenienz unter: der bürokratischen Rivalität. Fügsamkeit nach oben, disziplinarische Durchschlagskraft nach unten und erst an dritter Stelle Kompetenz — das ist die vorherrschende Rangordnung der Auswahlkriterien. Infolgedessen haben die produktiven, schöpferischen Elemente das Überhandnehmen von Mittelmäßigkeit, ja Unfähigkeit, von Unehrlichkeit und Unsicherheit im Amt zu beklagen, von der zugehörigen politischen Standardisierung zu schweigen.

Das Problem besteht darin, daß alle Bedingungen für die Entfaltung schöpferischer Initiative in der Wirtschaft über bürokratische Konstellationen vermittelt sind, daß man sich also auch um einer ersprießlichen produktiven Tätigkeit willen auf den Kampf um eine Karriere, um Rang und Einfluß einlassen und weitgehend an die entsprechenden Verhaltensmuster anpassen muß. 

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Natürlich kann die schöpferische Aktivität in einer insgesamt noch antagonistischen Gesellschaft nicht außerhalb der grundlegenden Interessengegensätze stehen: sie ist als solche privilegiert. Letzten Endes streben die aktivsten Elemente danach, der Arbeit für die einfache Reproduktion, für das bloße Funktionieren zu entgehen. Wie schon gesagt, erlangen sie den Lebensunterhalt durch persönlichkeitsfördernde Arbeit. Aber nicht nur das! Schöpferische Arbeit ist knapp, man muß mit anderen Individuen um den Zugang zu ihr kämpfen, zumal ihre Gegenstände formationsbedingt praktisch unter Ausschließung jeweils aller anderen (aktuellen oder potentiellen) Interessen vergeben werden, nämlich an die bestimmte Funktionaleinheit, die dafür vorprogrammiert ist. Und die Knappheit schöpferischer Arbeit wiederum geht (vergröbert gesagt) auf die Beschränktheit des Material- und Zeitfonds für die erweiterte Reproduktion zurück. Der bestimmte Betrieb hat in dem jeweiligen Fünfjahresplan Investitionen — oder er hat keine, und das ergibt recht verschiedene Voraussetzungen für die Individuen. Darin stekken objektive Widersprüche, die nun durch die Hierarchie geregelt werden, und zwar auf eine Weise, die sehr große Verluste an schöpferischer Energie und ökonomischer Rationalität verursacht.

Die bürokratisch-zentralistische Form der Planung, bei der die Spitze von unten vorzugsweise nur passive Ist-Information und »Fragen« entgegennimmt, während sie aktive Soll-Informationen abgibt, prägt den Mechanismus der »Auftragserteilung« an die Individuen. Die Menschen haben vom Prinzip her nicht selbst Aufgaben zu suchen, Probleme zu erkennen und aufzugreifen, sondern sie werden ihnen verpflichtend zugewiesen. Dementsprechend werden auch die Mittel aufgrund einer Bilanzierung, die je länger je mehr auf Rationierung des Notwendigsten hinausläuft, zugeteilt.

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Man hat davon gesprochen, daß die Klassengesellschaft sich hinsichtlich der Subsistenzmittel stiefmütterlich zu der Masse ihrer Mitglieder verhält. Der real existierende Sozialismus fügt hinzu, daß er auch die privilegierten Individuen für die produktiven Aufgaben, die er ihnen zuordnet, stiefmütterlich mit den erforderlichen materiellen Mitteln versorgt. Im Kapitalismus war Kapital in Geldform knapp, in unserem System fehlt es stets an Arbeitskräften, an Materialien heute dieses, morgen jenes Sortiments, an Investitionsgütern, an Baukapazität. Alle diese Dinge sind hoffnungslos rationiert, weil es de facto keinen ökonomischen Mechanismus gibt, um Angebot und Nachfrage in Einklang zu bringen. Der Plan selbst ist hier der permanente Störenfried, weil er, wie ich schon andeutete, seinem idealen Wesen als Repräsentant der Bedürfnisse nach darauf dringt, jedesmal mehr aus der Produktion herauszuholen, als das soziale Ensemble gewohnheitsmäßig hergibt. 

Die zentralisierte Verfügungsgewalt muß ja schließlich — und darauf konzentriert sich die bürokratische Rivalität der aktiven Elemente in Hierarchie und Spezialistentum — unter die verschiedenen kollektiven und individuellen Subjekte des Wirtschaftslebens verteilt, d. h. juristisch an sie delegiert, vor allem aber durch materielle und finanzielle Planung und Bilanzierung ihnen überantwortet werden. Da jedoch die Bestimmung der Plangrößen Erkenntnis der gesellschaftlichen Bedürfnisse und Erfordernisse einerseits, der lokalen Kapazitäten und Aufwandsgrößen andererseits voraussetzt, ist es auch hier wieder der bürokratische Informationsprozeß, auf dessen Eigenarten sich die Kombattanten einstellen müssen. Das bürokratische Universum krümmt sich, wie das kosmische nach dem relativistischen Kalkül, überall in sich zurück, es führt keine Linie aus ihm hinaus.

Marx hat in der Polemik mit Proudhon, der es für selbstverständlich hielt, daß »der industrielle Wetteifer notwendigerweise Wetteifer im Hinblick auf den Profit, d.h. die Konkurrenz« ist, die Historizität der Konkurrenz als Form des Wetteifers betont. 

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Unmittelbares Objekt des industriellen Wetteifers müßte das Produkt und nicht der Profit sein. Daher ist die Konkurrenz »nicht der industrielle Wetteifer, sondern der kommerzielle. Heute besteht der industrielle Wetteifer nur im Hinblick auf den Handel. Es gibt sogar Phasen im ökonomischen Leben der Völker, wo alle Welt von einer Art Taumel ergriffen ist, Profit zu machen, ohne zu produzieren. Dieser Spekulationstaumel, der periodisch wiederkehrt, enthüllt den wahren Charakter der Konkurrenz, die den notwendigen Bedingungen des industriellen Wetteifers zu entschlüpfen sucht« (MEW 4/159). Wie im Kapitalismus der kommerzielle Wetteifer als entfremdete Form des industriellen auftritt, so bei uns der bürokratische Wetteifer, die bürokratische Rivalität, die ihre eigenen Gesetze hat. Dabei versteht sich von selbst, daß — ebenso wie im Kapitalismus der kommerzielle Wetteifer mehr oder weniger von allen Gebieten der gesellschaftlichen Tätigkeit Besitz ergreift — die bürokratische Rivalität bei uns — falls sie den angenommenen allgemeinen Charakter hat — auch nicht nur auf die industrielle Sphäre beschränkt ist, obgleich sie letztlich in ihr verankert ist.

Es ist verständlicherweise vornehmlich die Intelligenz, die durch unser System in das Verhaltensmuster der bürokratischen Rivalität gedrängt wird. Die objektive Tendenz der staatlichen Arbeitsorganisation und -leitung geht dahin, die gesamte Intelligenz zu bürokratisieren oder wenigstens über die bürokratischen Mechanismen, die mit den materiellen Bedingungen der intellektuellen Produktion heute sogar im künstlerischen Bereich verbunden sind, zuverlässig zu kontrollieren. Von den Kadern für die Wirtschaft natürlich zu schweigen. (Es ist übrigens eine der stehenden, auf harte Tatsachen sich beziehenden Klagen, daß die Masse der Spezialisten geradezu renitent ist, wenn es darum geht, irgendwelche Leitungsfunktionen zu übernehmen. Selbst wenn man es sich zutraut — man möchte nicht. 

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Auch in der Wissenschaft kommen bei uns nicht die Wissenschaftler, sondern die Bürokraten unter ihnen an die Spitze, wie besonders der sowjetische Schriftsteller Granin mehrfach in seinen Werken nachgewiesen hat). Jedenfalls ist die Verwandlung der Intelligenz in Bürokratie die vorherrschende Tendenz. Die Hoch- und Fachschulausbildung, besonders die erstere, ist geradezu das Eintrittsbillett in die bürokratische Karriere gleich welchen Zweiges.

Ehe wir nun festzustellen haben, was bürokratische als Ablösung der kommerziellen Leitung des industriellen Prozesses bedeuten bzw. zur Folge haben muß, lohnt es sich, nachzuschlagen, wie Marx das allgemeine Wesen der Bürokratie verstand. Was das Wort »Bürokratie« und »Bürokrat« betrifft, so kann es natürlich nicht ausbleiben, daß es in der politischen Auseinandersetzung ebenso zur Invektive wird wie das Wort »Bourgeois«. Jedoch haben die Worte in beiden Fällen einen objektiven Gehalt. 

Die Quelle bei Marx ist dessen frühe Abrechnung mit dem Hegelschen Staatsrecht (MEW 1/242 ff.), in dem die Bürokraten, die »exekutiven Staatsbeamten«, sehr treffend als »Abgeordnete der Regierungsgewalt« gegen die Ständevertreter und erst recht gegen »die Vielen«, gegen das Volk figurieren. (Man kann natürlich zwecks Akkomodation an unsere Verhältnisse auch gegenüber statt gegen sagen, es ändert an der Sache nichts, schon gar nicht, wo die Exekutive ein derart ausgewachsenes Übergewicht gegenüber den in Wirklichkeit selbst bürokratisierten Volksvertretern hat wie bei uns). Ebenso bezeichnend ist es, wenn Hegel di^se Regierungsabgeordneten als »allgemeinen Stand« 'den besonderen Ständen der »bürgerlichen Gesellschaft« gegenüberstellt. Für Hegel, so konstatiert Marx, ist die »Regierungsgewalt nichts anderes als die Administration, die er als >Bürokratie< entwickelt«. Es versteht sich, daß Hegel den »Mittelstand«, dessen Blüte die Bürokratie sei, als den »gebildeten« Stand begreift.

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Behalten wir bei der folgenden Entwicklung Marxens immer schon im Auge, was seine Beobachtungen über eine traditionelle Staatsbürokratie nach sich ziehen, wenn der Staat unmittelbar als Organisator und Regulator der nationalen Gesamtwirtschaft, ja des ganzen gesellschaftlichen Lebens auftritt, während die gesellschaftlichen Organisationen ungefähr dieselbe untertänige Selbständigkeit gegen ihn haben wie die Stände, die »Korporationen« im vormärzlichen Preußen. 

Marx betont zunächst, daß es die formelle Regulation der reellen gesellschaftlichen Angelegenheiten ist, die den Inhalt der bürokratischen Tätigkeit ausmacht, so daß sie sich praktisch ständig in Abwehrstellung gegen ruhestörende Veränderungen befinden muß. »Der wirkliche Staatszweck« — d.h. die Regelung der allgemeinen Angelegenheiten der Gesellschaft, wie sie als Realprozeß, auftreten — 

»erscheint also der Bürokratie als ein Zweck wider den Staat... Die Bürokratie gilt sich selbst als der letzte Endzweck des Staats. Da die Bürokratie ihre >formellen< Zwecke zu ihrem Inhalt macht, so gerät sie überall in Konflikt mit den >reellen< Zwecken. Sie ist daher genötigt, das Formelle für den Inhalt und den Inhalt für das Formelle auszugeben. Die Staatszwecke verwandeln sich in Bürozwecke oder die Bürozwecke in Staatszwecke.« 

An und für sich reicht schon die mehr oder weniger begründete Überzeugung von der Notwendigkeit der Administration und also ihrer institutionellen Konsistenz hin, um in jedem kritischen Falle zuerst ihr Prinzip und ihre Existenz zu verfechten. Die »reellen Zwecke« müssen sich an den Institutionen brechen, die zu ihrer Regulation entstanden sind. Der Konflikt der formellen (ihrerseits bis in die politischen Grundfesten unserer Gesellschaft hinein höchst realen) mit den reellen Zwecken ist nirgends in unserer Gesellschaft gravierender als im industriellen Reproduktionsprozeß, und das, obgleich der Bürokratismus in den geistigen und kulturellen Sphären natürlich unmittelbar viel schmerzlicher einschneidet. Aber er fesselt die Produktivkräfte an ihrer Basis, und die bürokratische Wirtschaftsorganisation ist der Springquell der allgemeinen Bürokratisierung.

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»Die Bürokratie«, fährt Marx fort, »hat das Staatswesen, das spirituelle Wesen der Gesellschaft in ihrem Besitze, es ist ihr Privateigentum.« Während der eigentliche Geist der Bürokratie »Geschäftsroutine« und der »Horizont einer beschränkten Sphäre« ist, versteht sie sich selbst als eine »Hierarchie des Wissens. Die Spitze vertraut den untern Kreisen die Einsicht ins Einzelne zu, wogegen die untern Kreise der Spitze die Einsicht in das Allgemeine zutrauen, und so täuschen sie sich wechselseitig«. Wo die Staatstätigkeiten nicht in besondere Ämter verwandelt sind, wo also der Staat nicht von der Gesellschaft getrennt ist, »handelt es sich nicht um die Möglichkeit jedes Bürgers, sich dem allgemeinen Stande als einem besonderen Stand zu widmen, sondern um die Fähigkeit des allgemeinen Standes wirklich allgemein, d.h. der Stand jedes Bürgers zu sein«. 

Dagegen ist das Examen »nichts als eine Freimaurereiformel, die gesetzliche Anerkennung des staatsbürgerlichen Wissens als eines Privilegiums ... nichts anderes als die bürokratische Taufe des Wissens, die offizielle Anerkenntnis von der Transsubstantiation des profanen Wissens in das heilige (es versteht sich bei jedem Examen von selbst, daß der Examinator alles weiß). Man hört nicht, daß die griechischen oder römischen Staatsleute Examina abgelegt.. Aber allerdings, was ist auch ein römischer Staatsmann contra einen preußischen Regierungsmann!« In der Tat unterstellt die bürokratische Pyramide, die mit der Regulation aller gesellschaftlichen Angelegenheiten befaßt ist, zwangsläufig ihre eigene Allwissenheit, d.h. ihre Planungen setzen voraus, die wirklichen gesellschaftlichen Bedürfnisse wären durch den Erkenntnisprozeß des spezialisierten Apparats synthetisiert. In Wirklichkeit sind sie im besten Falle vollständig rubriziert, die bürokratische Methodologie kann nur vom Konkreten zum Abstrakten, aber von dort nicht zurück zum Gedankenkonkretum führen, das in diesem Falle der gesellschaftliche Prozeß als Modell wäre, sondern bloß zum mechanischen Aggregat. 

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Das Lebendige der Totalität entzieht sich ihren Verallgemeinerungsverfahren, während aber an alles Einzelne, was sie vergißt, auch niemand anderes zu denken befugt ist. Der einzelne Bürokrat kann für sich Philosoph sein, der bürokratische Apparat als kollektiver Philosoph ist eine Unmöglichkeit. Das beweist nichts gegen die historische Notwendigkeit solcher Apparate, aber sie müssen in gesellschaftlicher Abhängigkeit gehalten werden, statt die Gesellschaft von sich abhängig zu machen, und das ist nur möglich, wenn die bürokratischen Apparate entweder auf partikulare Bereiche beschränkt bleiben, deren sozialen Zusammenhang miteinander sie nicht zu vermitteln hätten, oder wenn auf allen Ebenen jederzeit disruptive Eingriffe der gesellschaftlichen Kräfte möglich gemacht werden, die das Netz der bürokratischen Notwendigkeiten zerreißen können.

Aber: »Der allgemeine Geist der Bürokratie ist das Geheimnis, das Mysterium, innerhalb ihrer, selbst durch die Hierarchie, nach außen als geschlossene Korporation bewahrt. Der offenbare Staatsgeist, auch die Staatsgesinnung, erscheinen daher der Bürokratie als ein Verrat an ihrem Mysterium. Die Autorität ist daher das Prinzip ihres Wissens, und die Vergötterung der Autorität ist ihre Gesinnung.« »Der Staat existiert nur mehr als verschiedene fixe Bürogeister, deren Zusammenhang die Subordination und der passive Gehorsam ist.« Sofern nun die weniger Stupiden aus der Summe der Bürokraten, unter die der Staat verteilt ist, zu einem Bewußtsein ihrer Zustände gelangen und sie subjektiv durchschauen, entsteht der spezifische Staatsjesuitismus, der der eigentliche Geist unserer Gesellschaftswissenschaft ist. »Die Bürokraten sind die Staatsjesuiten und Staatstheologen« (die sich allerdings bei uns schon wieder in praktische und theoretische geschieden haben), sagt Marx. Die Bürokratie sei Pfaffenrepublik. 

Innerhalb der Bürokratie aber werde »der Spiritualismus zu einem krassen Materialismus, dem Materialismus des passiven Gehorsams, des Autoritätsglaubens, des Mechanismus eines fixen formellen Handels, fixer Grundsätze, Anschauungen, Überlieferungen.

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Was den einzelnen Bürokraten betrifft, so wird der Staatszweck zu seinem Privatzweck, zu einem Jagen nach höheren Posten, zu einem Machen von Karriere«. Und es ist die hier interessierende Frage, wie weit diese bürokratische Rivalität in dem beträchtlich veränderten Milieu einer gesamtstaatlichen Wirtschafts- und Gesellschaftsplanung die Rolle einer Triebkraft spielen kann. Denn auf den ersten Blick mutet sie im Vergleich zur Konkurrenz um Höchstprofite verhältnismäßig harmlos an. Sie bietet eigentlich keine Parallele zu der verbrecherischen Kühnheit des Kapitals, von der sich Marx bei aller Kritik beeindruckt zeigte. Im Grunde besteht das Problem gerade darin, daß sie als Ersatz für kommerzielle Konkurrenz — tatsächlich ein harmloser Antrieb für die Produktivkräfte ist. (Es läßt sich freilich nicht denken — und es ist übrigens auch nicht wünschenswert —, daß es eine zweite Ordnung gäbe, die ein ebenso expansives Wirtschaftswachstum in Permanenz erhebt wie die auf die Mehrwertjagd gegründete.)

Dem einzelnen Bürokraten tritt das gesellschaftliche Bedürfnis nicht über den Markt, sondern über den Plan vermittelt entgegen. Das macht den Unterschied, daß ihm dort, wo dem Bourgeois, wenn er den Markt versieht, Reichtum versprochen ist, im Falle der Planerfüllung nur Vermeidung von Ärger winkt, und allenfalls ein Anteil an der inflationären Schwemme von Orden und Auszeichnungen. Die Karriere ist an die Planerfüllung nicht einmal direkt gebunden. Denn den Plan zu bringen oder nicht zu bringen, ist selten individuelles Verdienst oder Versagen eines Leiters, sondern hängt von Bedingungen ab, unter denen seine Subjektivität nur eine einzige fst. Der »krasse Materialismus« der wirtschaftsbürokratischen Rivalität schließt gewiß passiven Gehorsam, Autoritätsglauben, Jagen nach höheren Posten ein, aber er konzentriert sich nicht darauf. Denn eines findet der Wirtschaftsfunktionär in jeder Position von neuem vor: den Plan und seine Realisierungsbedingungen. 

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Wie hoch der Plan im Verhältnis zu seinen Realisierungsbedingungen ist, das ist der entscheidende Punkt, der das ganze Jahr über die Befindlichkeit in der jeweiligen Position bestimmt.

Die »materielle Interessiertheit« der Wirtschaftsfunktionäre, als dynamisierendes Element für ihr ökonomisches Verhalten betrachtet, dreht sich wenig ums Geld, d.h. um ihr Gehalt, dessen Höhe ohnehin mit dem Posten mehr oder weniger festliegt (natürlich darf es jeweils höher sein, als es ist). Eher dreht es sich um gute Posten; aber das sind schon solche, die u. a. auch in einer günstigen Relation zu dem subjektiven Planerfüllungsproblem stehen, sei es, daß man dort bessere Bedingungen dafür vorfindet, sei es, daß man dem unmittelbaren Druck des Planes ferner placiert ist oder dergleichen. Im alltäglichen Verhalten, für das man bei der Masse der Funktionäre Gehalt und Stellung jeweils unveränderlich setzen kann, richtet sich die materielle Interessiertheit auf die Bedingungen der Planerfüllung, im Grunde auf die Arbeitssituation als ganze, bei der es mit wachsendem Alter nicht zuletzt auch um die Gesundheit geht.

Die Menschen streben eben danach, ihre Tätigkeitsfelder im Hinblick auf die Freiheitsgrade des eigenen Verhaltens zu optimieren. Daß die Wirtschafts­funktionäre hierin so nachhaltig enttäuscht werden, ist die wesentlichste Ursache ihrer Inaktivierung, ihres Rückzugs in das dann auch subjektiv bürokratische Verhalten. Einmal dahin gelangt, an der Arbeit selbst nichts mehr zu finden, geht es dann für den Einzelnen darum, die Planzahlen unterhalb der Leistungsgrenze seiner Einheit zu halten und die Fonds an Material und Kapazität mit einer Reserve zu polstern. Beides läuft darauf hinaus, vor allem die Kapazitäten etwas zu verschleiern, das eingebürgerte, durch die innenpolitische Konstellation als ganze vorbestimmte Maß an Unordnung und Desorganisation in den Normativen des Material- und Arbeitszeitverbrauchs, der Maschinenauslastung usw. zu verankern. Erscheint dann gegenüber einem volkswirtschaftlichen Bedarf die Kapazitätsgrenze, ist es immer zweckmäßiger, nach extensiver Investition zu rufen, als etwa eine Rekonstruktion bei laufendem Plan anzufangen.

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Man sieht hier, daß das Interesse des bürokratisierten Wirtschaftsfunktionärs nicht notwendig an die Entwicklung (Ausdehnung und Qualifizierung) der Gebrauchswertproduktion gebunden ist und daher nicht nur periodisch (wie bei dem kommerziellen Wetteifer der Bourgeois), sondern generell dahin tendiert, »den notwendigen Bedingungen des industriellen Wetteifers zu entschlüpfen« Das gilt gerade für die Masse der Wirtschaftsfunktionäre, die sich — aus welchen Motiven auch immer — nicht auf Aufstieg durch Leistung orientiert. 

Aus der kapitalistischen Konkurrenz scheiden solche wenig unternehmenden Charaktere alsbald aus, während es im real existierenden Sozialismus offenbar keinen Mechanismus gibt, sie aus einmal bezogenen Positionen zu verdrängen, die sich initiativlos behaupten lassen. Das Problem tritt natürlich auch in den unteren Rängen der Konzernbürokratien auf, aber dort hört der Bürokratismus an der Spitze der jeweiligen ökonomischen Einheiten auf, während es bei uns ein bürokratisches Kontinuum gibt, das vom unauffälligsten Schichtmeister bis zur Partei- und Staatsspitze reicht. Im Durchschnitt findet man daher in jeder ökonomischen Leitung ein Übergewicht der Beharrungskräfte, die um die Stabilität im Status quo kämpfen und auch die Entwicklungsfunktionen, die sie innehaben, in diesem Geiste bekleiden.

Folgerichtig verwickelt sich dieser Typus in den Kampf um politische und administrative Machtpositionen statt in den Wetteifer um ökonomische Erfolge für die Gesellschaft. Er bringt niemals mehr Konsequenz auf, als wenn es gilt, »Unruhestifter« auflaufen zu lassen. Gewiß muß sich der Bürokrat als Ökonom auch den ökonomischen Gesetzen unterwerfen, aber die Entwicklung der Produktion ist ihm nicht Selbstzweck wie im Kapitalismus hinsichtlich der Wertgröße, auch nicht gesellschaftlicher Zweck, sondern zunächst bloß Mittel zur Stabilisierung der bürokratischen Situation. 

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Dieser Zweck setzt sich selbst noch in der hektischen, unökonomischen Geschäftigkeit vor Parteitagen und Jubiläen, diesen bevorzugten Zielmarken des bürokratischen Wetteifers (typischerweise künstlichen Einschnitten des Wirtschaftsablaufs) durch. Die Bürokratie hat sich seit ihrem ersten großen historischen Auftritt in der Ökonomischen Despotie als ein Werkzeug der einfachen Reproduktion ohne qualitative Entfaltung sowie des unproduktiven Verbrauchs möglicher Überschüsse erwiesen. Dabei ist sie in ihrem eigentlichen Element. 

So besteht das wesentliche Hemmnis der Wirtschaftsdynamik darin, daß bis hinunter zum Betriebsdirektor und Abteilungsleiter die Gesetze des bürokratischen Verhaltens immer wieder vor ökonomische Zweckmäßigkeit gehen, die in dieser Relation jedenfalls das höhere Kriterium wäre. Der Wirtschafts­funktionär wird einfach zu oft gezwungen, seinen Selbstbehauptungswillen an außerökonomischen Kriterien zu orientieren. Der kapitalistische Unternehmer ist eindeutig primär ökonomische Person, wenigstens in der jetzt zu Ende gehenden Ära, in der er Epoche machte. Der »sozialistische« Werkdirektor, den man als Präzedenzfall heranziehen kann, ist zwangsläufig zuerst bürokratische Person. Wie er mit dem Generaldirektor seines Industriezweiges oder auch bloß seines Kombinates, wie er mit seiner Parteibezirks- oder auch bloß Kreisleitung usw. ,steht, ist nicht nur ebenso wichtig wie der ökonomische Erfolg, den er mit seinem Kollektiv erringt, kann nicht nur unter mancherlei Umständen den Mißerfolg kompensieren (zumal der oft gar nicht von ihm selbst abhängt), es kann sogar den »ökonomischen« Erfolg vorbestimmen, den man bei uns unter Umständen zugeteilt bekommt. 

Abgesehen davon, daß der Werkdirektor überhaupt mit tausend Fäden an den übergeordneten Rängen hängt, die ihn eingesetzt bzw. bestätigt haben, ist die Wirtschaftsreform bei uns, selbst als sie im Zenit stand, nie so weit gegangen, wenigstens formell die Autonomie der Betriebe herzustellen, sie nur über eine verbindlich kalkulierbare Steuer den Staatshaushalt versorgen zu lassen. 

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Die Gewinnabführung an den Staat, d.h. ihre Rate, blieb periodischen Manipulationen unterworfen, die unberechenbaren wirtschaftspolitischen Konjunkturen folgen. Zeitpunkt, Richtung und Größenordnung der erweiterten Reproduktion hängen von derart vielen über- und außerbetrieblichen Einflüssen und Entscheidungen nur bedingt ökonomischer Natur ab, daß es nach einer realisierten Investition oft keinen Menschen in einem Werk gibt, der von sich sagen könnte, hier sind Bestimmungen meines Willens eingegangen (von den technologischen Details natürlich abgesehen). Das gilt besonders für die großen Werke und Kombinate. Der Werkleiter fungiert wie ein Bürochef, und seine Lage bringt außerdem psychologisch die Tendenz mit sich, in seinen disziplinarischen Befugnissen die mangelnde Befriedigung als Ökonom zu kompensieren.

Im Ergebnis dieser allgemeinen Konstellation, für die der Werkleiter nur eine exzellente Schlüsselfigur ist, haben sich die berühmten Tugenden der Deutschen Post, vermindert um die auch in ihrem Bereich um sich greifende Verlotterung, in der gesamten Wirtschaft breitgemacht. Während die Industriebürokratie noch bis weit in den Monopolkapitalismus hinein eine bloße Unterfunktion des kommandierenden Kapitals blieb und sich dort bis heute ungeachtet aller Theorien über »managerial revolution« und »Organisation man« nicht voll emanzipiert hat, steht sie bei uns ohne Korrektiv über dem gesamten Reproduktionsprozeß. Der Wirtschaftsapparat der Partei ist selbst zu sehr Überbürokratie, um prinzipiell korrigieren zu können, initiiert nur Änderungen des Kurses, nicht der Grundsätze, und ist vor allem auch keine Instanz, die die Bedürfnisse der Produktivkräfte verdolmetschen könnte; agiert er doch unter der Voraussetzung, daß nicht zuletzt seine eigene Struktur und Funktion immer wieder mit bei dem ganzen Prozeß herauskommen muß.

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Zudem haben wir, auch im Unterschied zum Spätkapitalismus, eine einzige Bürokratie, deren Funktionalorgane nur rudimentäre Möglichkeiten und Interessen eines sachbezogenen Wettbewerbs haben. Kompetenzabgrenzung, wie in Bürokratien nun einmal notwendig, schließt die Formierung von Alternativen zu Entscheidungsproblemen regulär aus. Allein schon die Anzahl der Ebenen und Ressorts, die im bürokratischen Zentralismus letztlich immer nur überdie überlasteten Spitzen der jeweils beteiligten Pyramiden verbindlich koordiniert werden können, sorgt für die ungeheure Schwerfälligkeit des ganzen Mechanismus, dessen man in Wirklichkeit auch »oben« niemals Herr wird. 

Während die Produktivkräfte längst über zahllose horizontale Kopplungen zusammenhängen, was ja nur Ausdruck ihrer fortgeschrittenen Vergesellschaftung ist, versucht man immer noch, die Wirtschaft des ganzen Landes nach dem in die »marxistisch-leninistische Organisationswissenschaft« (eine inzwischen wieder eingeschläferte Disziplin im Stile neuester Kameralistik) eingebrachten Stabliniensystem zu leiten, das die organisatorische Errungenschaft des bürgerlichen Industriemanagements in der Vorphase der Computerisierung war. Die Staats- und Wirtschaftskybernetik, die bis vor kurzem als neuste Leitungswissenschaft gepredigt wurde, war weiter nichts als eine neue Draperie des alten bürokratischen Zentralismus, dem man durch eine verbesserte Information etwas auf die Sprünge helfen wollte.

Aus alledem erklärt sich die relative Unproduktivität der bürokratischen Rivaljtät um Rang und Einfluß, um Ausmaß und Ebene der Verfügungsgewalt als Verhaltensantrieb. Innerbürokratische Initiative ist immer beschränkt und wird — wenn sie nicht zufällig positiv ein »höheres Interesse« berührt, immer entmutigt, nicht so sehr durch Nackenschläge, die den couragierten Bürokraten heute seltener treffen, als vielmehr durch das Erlebnis der Fruchtlosigkeit persönlicher Investitionen in jegliche Angelegenheiten, die den eigenen Kompetenzbereich überschreiten.

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Für die Karriere, falls Intel esse däx'ari besteht, ist ohnehin der progressive Gestus viel nützlicher als wirkliche Aktivität, die das »normale Funktionieren« stört und stets aus irgendeinem Grunde ungelegen sein kann Ziel rivalisierender Aktivitäten bei aufstiegsorientierten Angestellten kann immer nur sein, nach oben »positiv« aufzufallen. Es geht also in den Initiative-Mechanismus von vornherein Konformitätszwang ein, jedenfalls im Grundsätzlichen. Es ist wohl Raum für instrumentalen Verstand, aber kaum für »negative«, »systemtranszendierende« dialektische Vernunft gegeben.

Außerordentliche Initiativemöglichkeiten gibt es nur an der Spitze — so scheint es wenigstens, und formell ist es auch wahr. Insbesondere gibt es hier die Möglichkeit, inadäquate Lösungen durchzusetzen. Aber jeder wirkliche Reformversuch, der im Rahmen der bürokratischen Spielregeln unternommen wird, läuft sich notwendigerweise tot, auch wenn er von der höchsten Instanz ausgeht. Der Bürokratismus als herrschende Form der Leitungs- und Arbeitsorganisation erzeugt einen spezifischen Menschentyp von konservativer Mittelmäßigkeit, Leute, die sich hervortun können durch »schöpferische« Konformität (im günstigen Falle), durch korrekte Erledigung beliebiger Aufträge (im Durchschnitt), durch unfruchtbare Geschäftigkeit (am negativen Ende der Skala). Ist der bürokratische Zentralismus gegeben, so entscheidet in diesem allgemein ungünstigen Rahmen über den Effekt, wie weit es der Spitze unter Ausnutzung der Stimmungen an der Spezialistenbasis gelingt, Produktivität, Leistung, sachgerechtes Funktionieren zur Bedingung von Aufstieg und Anerkennung zu machen. D.h. der Technokrat, der sich an der Ökonomie der vergegenständlichten Arbeit, also ökonomisch orientiert, ist im Vergleich zum konservativen Politbürokraten, der hauptsächlich die Reproduktionsbedingungen seiner administrativ-politischen Machtposition im Auge hat, eine progressive Charakterfigur. Der Technokrat arbeitet objektiv an der Liquidierung seiner Rolle, sofern er progressive Produktivkräfte durchsetzt, der Bürokrat heiligt täglich den Status quo.

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In der DDR tritt der Bürokratismus infolge der relativ entwickelten Zivilisation, der höheren sozial-kulturellen Qualifikation der Massen in einer im Grunde unprovokatorischen Form in Erscheinung. 

Besonders seit den polnischen Dezember-Ereignissen von 1970 hat die Pose der Allwissenheit nachgelassen, der Geist der Vormundschaft, an dem sich prinzipiell nichts geändert hat, übt sich in einer gewissen Milde des Auftritts. 

In der Sowjetunion, wo man die Rangabstufungen restaurativ herausgearbeitet und zusätzlich mit offiziellen und inoffiziellen Privilegien gepolstert hat, so daß das Kontinuum der Gesellschaft dort einen deutlichen Sprung aufweist, wo die Bürokratie, das Natschalstwo beginnt, ist die Lage weitaus gespannter. Anders als hier und in der CSSR bedürfte es nicht nur einiger Monate politischen Frühlings, um diesen Block zum Schmelzen zu bringen, obwohl er bereits sichtliche Risse aufweist. 

Jedenfalls ist die Prälatenhoffart der maßgebenden Kader dort viel schwerer einzudämmen, was einfach daran abzulesen ist, daß es nahezu auf den ersten Blick erkennbare sinnliche Ungleichberechtigungen im alltäglichen Verhalten der verschiedenen Schichten gibt. Es existiert, so unglaublich das klingen mag, eine moralisch-politische Klasseneinteilung. Man kann von einem Vorgesetzten mit Du angesprochen werden, ohne mit Du antworten zu dürfen. Der marxistische Bolschewismus ist nirgends vollständiger unterlegen als auf dem Gebiet der sozialen Kommunikation zwischen den Gesellschaftsschichten ungleicher Mitbestimmungspotenz. 

Reformen von oben allein können da nichts ändern. 

Die aufgeklärteren Elemente, die sich allmählich in der Zentrale ansammeln, die jüngeren Stabsoffiziere der Partei, stoßen immer wieder auf den unüberwindlichen Verhaltenswiderstand der im ganzen gesehen konservativen Sekretärshierarchie. In den Gebijeten sind die Sekretäre persönlich mächtiger, haben einen viel intensiveren Aktionsradius und umfassendere Disziplinierungsmittel als seinerzeit die Zarengouverneure.

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Woran die Sowjetunion heute krankt, das ist das alte »Vorgesetztenwesen« (LW 25/438), das Apparatschik- und Natschalnik-Unwesen, in dem sich der alte Patriarchalismus des Bauernlandes und der neue Patriarchalismus der industriellen Despotie mit der im Ordensgehorsam erstarrten Parteidisziplin amalgamiert haben. 

Das Grundverhältnis, in dem sich die Menschen des riesigen Landes begegnen und das weit in die private Sphäre hineinwirkt, ist das von Vorgesetzten und Untergebenen, und es ist von der halben politischen Reform Chruschtschows völlig unberührt geblieben. Obwohl es heute weitgehend anachronistisch ist und von der Basis, von den jüngeren Arbeitern und Ingenieuren, Lehrern und Wissenschaftlern her sehr allmählich unterhöhlt wird, ist es nach wie vor der reale Kern der »führenden Rolle« von Partei und Staat. Es lähmt auf die verhängnisvollste Weise den ganzen Lebens- und Arbeitsprozeß der Sowjetgesellschaft. 

Das Übel besteht, leider, nicht einfach darin, daß das sowjetische Natschalstwo eine Bürokratie, ein »Management« schlechthin ist. Ich habe darauf hingewiesen, daß man mit der Bürokratie als Tatsache rechnen muß, weil sie objektive Ursachen im gegenwärtigen Entwicklungsstadium der Produktivkräfte hat. Wie wir sehen, ist auch Jugoslawien, das den antibürokratischen Weg verfolgt, noch keineswegs über den Gegensatz von Selbstverwaltung und Etatismus hinaus. Die Sowjetunion hat insgesamt gesehen eine dogmatisch verkrustete, unaufgeklärte Bürokratie, deren Mitglieder zum wesentlichen Teil überhaupt keine Distanz zu ihrer Rolle besitzen und in frappierender Naivität ihre Mentalität der Anpassung an die Erfordernisse der Karriere als Philosophie anbieten. Vor allem haben die unaufgeklärten Elemente, die politisch und moralisch an die Traditionen der Stalin-Periode gebunden sind, noch immer an der Spitze das Übergewicht. 

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Wenn keine tiefere gesellschaftliche Erschütterung erfolgt, werden so viele Leute ihrer Schule nachrücken, daß der Gesamtprozeß des Fortschritts nur verzweifelt langsam vorankommen dürfte. Die besten Elemente der Sowjetgesellschaft liegen gefesselt, werden der Initiative entwöhnt und verbittert. 

 

Die geistige Misere der Bürokratie ist durch den Teufelskreis bedingt, in dem sich das von ihr zensierte ideologische Selbstverständnis der Sowjet­gesellschaft bewegt. Angesichts der unüberbrückbaren Kluft zwischen der sozialistischen Programmatik und der Wirklichkeit sieht die Oligarchie die Legitimität ihres Machtanspruchs an die Kontinuität eines falschen Weltbildes gebunden. Sie kann daher keine qualifizierte politisch-theoretische Reflexion ihres Dilemmas bzw. überhaupt der sozialen Verhältnisse zulassen. Die sowjetischen Gesellschaftswissenschaftler müssen eine ungeheure Mijhe aufwenden, ihre Einsichten in das wahre Wesen dieser Verhältnisse formell mit den überlieferten Dogmen in Einklang zu bringen. 

In der Parteispitze gibt es natürlich Leute, die ihre Situation privatim durchschauen. Da sie aber ständig gezwungen sind, für die Öffentlichkeit (und zwar schon für die Öffentlichkeit des Politbüros) die geläufige Phraseologie zu reproduzieren und da sie physisch von ihrem eigenen Arbeitsstil absorbiert werden, kann die private Reflexion nicht über die zynische Konstatierung der Realitäten hinausgehen. »Für die Seele« produzieren sie dann wehleidige Selbstrechtfertigungen. Von ihrer ganzen Interessenlage und Mentalität her müssen sie die objektive Analyse und Erkenntnis blockieren. Sie brauchen nur instrumentales Wissen zu dem Zweck, die Reproduktion des etablierten Systems immer noch einmal möglich zu machen. Jenseits dieses Zweckes beginnt für sie das Überflüssige und Schädliche.

Aber es gibt eine Ouelle, in der sich die heutige Sowjetunion, was ihren Charakter als Obrigkeitsgesellschaft betrifft, ziemlich unverhüllt zu erkennen gibt. Das ist ihre Literatur, die ja nicht gezwungen ist, ihre Verallgemeinerungen auf den unzweideutigen Begriff zu bringen, und unter Umständen schon durch bloße naturalistische Schilderung mehr Wahrheit aussagen kann als ganze Parteitagsreferate wieder zudecken können. 

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In der sowjetischen Gegenwartsliteratur gibt es zwei Sterne erster Größe, auf sehr verschiedenen, aber doch nicht berührungslosen Positionen: den Kirgisen Aitmatow und den Russen Solshenizyn. Und es gibt eine ganze Plejade bedeutender Schriftsteller, wie Nekrassow, Antonow, Below, Kasakow und viele andere*, die mit der Ehrlichkeit des wahren Künstlers zu Werke gehen. In der sowjetischen Literatur gehen wie in der alten russischen die moralischen Kriterien den ästhetischen weit voran, weil die Schriftsteller (heute natürlich auch die Filmschöpfer) das einzige landumspannende öffentliche Gewissen sind. Aber mit der Tiefe und Aufrichtigkeit ihrer Reflexion hat im letzten Jahrzehnt auch die ästhetische Bewältigung des aktuellen Stoffes den weltliterarischen Rang wieder erreicht, den einst Gorki und der junge Scholochow repräsentierten.

Seit Stalins Tod ist der Natschalnik-Typus, der das zentrale Problem der Sowjetgesellschaft vorstellt, von zahlreichen Autoren kritisch gestaltet worden, z.B. von Owetschkin, Granin und Nikolajewa. Ihre Bücher lebten von der Alternative zwischen dem »guten« und dem »schlechten« Vorgesetzten. Sie stellten die Hegelsche Frage, wie sich Staat und Gesellschaft gegen die unwürdigen Glieder der Bürokratie schützen können, und beantworten sie auch genau auf die Hegelsche Weise. Dabei stand die aufrichtige Illusion Pate, daß sich das Unwesen der großen und kleinen Autokraten mit den Mysterien des »Personenkults«, dieser letzten ideologischen Auskunft Chruschtschows, verlieren werde. Solshenizyn ist bisher der einzige, der nach den Sicherheiten der Gesellschaft gegen die Hierarchie schlechthin fragt. 

* Inzwischen muß man Namen wie Trifonow, Tendrjakow, Schukschin, Abramov, Rasputin, Salygin, Gelman, Wampilow hinzufügen.

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Die im Stile des bewährten psychologischen Realismus geschilderten Funktionärs-Charaktere seiner »Krebsstation« und vor allem seines überragenden Romans »Der erste Kreis der Hölle« denunzieren die Bürokraten nicht so sehr als Individuen, sondern decken differenziert und kompromißlos auf, wie systematisch die Hierarchie als solche in diesen ihren Gliedern sündigt, die sie zuvor ihrer menschlichen Substanz beraubt hat. Es wird übrigens sehr deutlich bei Solshenizyn, daß die »Verwalter von Sachen« und speziell die »Leiter von produktiven Prozessen« viel weniger dieser Demoralisierung unterliegen als die Werkzeuge des politischen und Polizeiapparats, und daß sich diese Gruppen von vornherein aus einer je anderen typologischen Menschenart rekrutieren. Ungeachtet seiner rückwärtsgewandten Einstellung hat Solshenizyn in der Gestalt des politisch und soziologisch interessierten Naturwissenschaftlers Nershin auch die bisher ausgeprägteste Alternative zum bürokratischen Funktionär in die Literatur eingeführt; es spricht für die Objektivität des Dichters, daß diese eindrucksvollste Figur im »Ersten Kreis der Hölle« die Leninsche Tradition bejaht.

Solshenizyn ist natürlich eine Ausnahmeerscheinung. Im Grunde ist der Parteiapparat selbst schuld daran, daß sich der Mantel der großen russischen Literaturtradition, ihres fortwirkenden ethischen Erbes, jetzt um die Schultern dieses einen Mannes gelegt hat. Diejenigen, die weiter so zu schreiben versuchen, daß ihre Bücher im Lande gedruckt und verbreitet werden, haben ebenso ihr Recht. Die Rolle Solshenizyns hat aber für das literarische Leben der Sowjetunion den Vorteil, daß sie andere Schriftsteller, und gerade die bedeutendsten Repräsentanten des Wortes, die man nicht in dieselbe Position drängen möchte, deckt und ihnen andererseits Maßstäbe setzt: es ist nicht einfach, Solshenizyns Kunst zu widerlegen, zu korrigieren.*

* Nach dem »Archipel Gulag« und der Ausweisung des Schriftstellers aus der Sowjetunion will ich hinzufügen: Das ganze Problem Solshenizyn würde nicht existieren, wenn die Partei dem sowjetischen Volk und der ganzen Menschheit vor 20 oder vor 15 Jahren, als er fällig war, selbst ihren wahrhaftigen Untersuchungsbericht vorgelegt hätte. Wenn es sich bei dem Gulag-Bericht um einen Berg der Verleumdung handelt, so besteht er offenbar aus allzuvielen Kieseln Wahrheit, und vor der Geschichte wird die KPdSU den Prozeß wegen Beleidigung verlieren. Ein Bericht ist notwendig. Da die Partei ihn nicht geliefert hat, nicht liefern will, ist es nun eben dieser. Seine Hauptrolle im gegenwärtigen ideologischen Kampf besteht darin, daß er das politisch-moralische Versagen der KPdSU nach Stalin denunziert!

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Tschingis Aitmatow insbesondere kann sich an Gestaltungskraft zweifellos mit Solshenizyn messen, und er kommt ihm, obwohl er einen anderen Weg des Kampfes gewählt hat, auch nahe in der Ehrlichkeit und im Mut seiner Werke. Seine radikalen Fragestellungen werden von der sympathisierenden Kritik systematisch bagatellisiert, um ihn zu decken. Gerade die Fügung, daß er dazu bestimmt ist, die repräsentative Gegenposition zu Solshenizyn darzustellen, erweitert ihm den Spielraum der Kritik. Schon in seinem »Abschied von Gülsary« war Aitmatow so weit gegangen, einen der stalinistischen Ledermantel­götzen als neuen Manapen (wie die alten orientalischen Unterdrücker der Kirgisen hießen) auszurufen und über einen im Gehorsam resignierten, einst glühenden Revolutionär das Urteil zu sprechen: »Irgendwann hast du aufgehört, Kommunist zu sein.« 

In einer späteren Arbeit, »Nach dem Märchen« (»Der weiße Dampfer«) denunzierte er geschichtsphilosophisch fundiert, erkenntnistiefer als Solshenizyn und ohne dessen volkstümlerischen Romantizismus, gerade das patriarchalische Urgestein der Klassenherrschaft als lebensmächtige Realität. Und die Parabel votiert am Ende für ein utopisches Engagement, für einen neuen Aufbruch zur Freiheit und gegen alles opportunistische Arrangement. 

Ein anderer herausragender Schriftsteller, Antonow, hat in seiner Erzählung »Der zerrissene Rubel« den für unsere Gesellschaften charakteristischen Mechanismus der Zerstörung von Initiative und Individualität bloßgelegt. Die Erzählung zeigt das Paradigma der Produktivitätshemmung, die die sowjetische Gesellschaft daran hindert, die Endphase der industriellen Unterentwicklung hinter sich zu lassen. 

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Sie zeigt zugleich das Unglück einer wachsenden Zahl von Individuen, die ihre durch den materiellen und kulturellen Fortschritt des Landes erzeugte Leistungs­fähigkeit nicht realisieren können. 

Einen ähnlichen Hintergrund hat eine noch schärfere Erzählung des Schriftstellers Below, unter dem Titel »Sind wir ja gewohnt«. Sie ist in der Nr. 1/1969 der in Moskau verlegten Zeitschrift »Sowjetliteratur« deutsch nachgedruckt worden. An einem Beispiel aus Nordrußland empört sich Below über das hoffnungslose, entrechtete Dasein der Kolchosbauern in allzuvielen sowjetischen Dörfern. Wie in Hemingways berühmter Novelle »Der alte Mann und das Meer« tritt der Mensch nur im Kampf mit der Natur in seine Rechte als höchstes Wesen. Dem Helden Belows steht der Wald für das Meer. Diese Verhältnisse gehen nicht schwanger mit Revolution; sie können höchstens lokale Rebellionen der Ohnmacht erzeugen. Das alte Dorf ist ohnmächtiger als jemals in Rußland. Aber es ist so wahr wie im 19. Jahrhundert, daß es einer neuen Revolution bedürfte, um den geknechteten Seelen die einzig denkbare Gelegenheit zur Eroberung ihrer Würde als freie Bürger zu geben: die Gelegenheit ihrer politischen Selbstbestimmung im Kampf gegen die »Vorgesetzten«, gegen das ganze Vorgesetztenwesen, die ihren Ausgang natürlich nur von einem städtischen Element nehmen könnte. Von Solshenizyn bis Aitmatow ist künstlerisch der Nachweis dafür erbracht, daß das Leben der sowjetischen Völker erneut von Grund auf umgewälzt werden muß.

Die wirklichen Künstler, die neuerdings Schule machen, sind meist schon daran zu erkennen, daß sie ihre Helden jetzt unter den nichtprivilegierten Massen suchen. Sie haben sich für den sogenannten »einfachen Menschen« entschieden. Jene, die ihre Sorgen mit den Funktionen haben, die sie ausfüllen, werden mit geringem oder gar keinem ästhetischen Effekt von zweitrangigen Schriftstellern zu mehr oder weniger »positiven Helden« stilisiert. Dennoch kann es informativ sein, zu den »aus der Sicht der Leiter« geschriebenen, manchmal partiell kritischen, insgesamt jedoch affirmativen Selbstdarstellungen der sowjetischen herrschenden Schicht zu greifen. 

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Die typische Differenzierung, die sich in Funktionärshierarchien vollzieht — und zwar zunächst psychologisch, erst in einem sehr fortgeschrittenen Stadium auch politisch —, ist die zwischen »Progressiven« und »Konservativen«. Die Werke der Chruschtschow-Ära, von denen ich schon sprach, konnten sogar politisch (wenn auch bloß vordergründig politisch) für die »Progressiven« Partei ergreifen, solange die halbe Reformation an der Macht war. Damals sah sich selbst ein so notorischer, künstlerisch unfähiger Reaktionär wie Kotschetow, der sich auf » Arbeiterdynastien« — eine der ideologischen Schändlichkeiten des Stalinismus — spezialisiert hatte, aufgerufen, das Thema des guten und des schlechten Parteisekretärs abzuhandeln. 

Die neuere Literatur dieser Richtung vermeidet, gar nicht zum Schaden der Bücher, die politische Zuspitzung, die vorher immer zu illusorischen Lösungen verpflichtet hatte. Sie zeigt einfach Charaktere, die über der Lösung irgendeiner Aufgabe psychologisch kollidieren. Je realistischer dabei das Milieu der Arbeitsstätten und der Apparate geschildert wird, desto besser für den Leser — und für den ausländischen Soziologen, der auf diese Weise authentische Bruchstücke sowjetischer Wirklichkeit in die Hand bekommt. Das Vorgesetztenverhältnis versteht sich in allen Büchern dieses Genres von selbst, es ist die unkritisch vorausgesetzte Realität. Es geht nur um ein produktiveres und — je nach der Auffassung des Autors — humaneres Funktionieren der Hierarchie, um den Entwurf des klugen, mutigen, sachlichen Leiters. Man muß diese Romane, da sie als Kunstwerke durchweg mittelmäßig, wenn auch einmal mehr, einmal weniger unbeholfen gemacht sind, hauptsächlich nach der Absicht ihres Autors bewerten — und, wie schon gesagt, nach der soziologischen Aussagefähigkeit ihres Details. 

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Nehmen wir, um diesen Umgang anzudeuten, zwei neuere Romane, Popows an der »Schlacht-unterwegs«-Tradition orientierten Stahlwerk-Roman »Im Kampf errungen« (Sowjetliteratur 6/7 1971) und Lipatows »Mär vom Direktor P.«. 

Popows Fabel bietet den Aufstieg eines jungen Spezialisten, des Ingenieurs Rudajew, zum Leiter der wichtigsten Werksabteilung. Seine Kontrahenten sind der in einem tyrannischen Leitungsstil und in technologischem Konservativismus eingeigelte Vorgänger und die Projektanten einer Werkserweiterung, die eine rückständige Lösung durchgesetzt haben, nach der bereits gebaut wird. Rudajew siegt im Doppel mit einem neuen Werkdirektor: ziemlich unwahrschein­licherweise werden die neuen Fundamente wieder herausgerissen, um dem progressiveren Projekt freie Bahn zu schaffen. 

Das Buch plädiert für die informelle Einbeziehung der Ingenieure und wenigstens einer interessierten Minderheit der Arbeiter in den Prozeß der Vorbereitung von technisch-ökonomischen Veränderungen. Es meldet also gewisse Ansprüche der Spezialisten an, aber auf eine im Kern undramatische, gänzlich konformistische Weise. Die Tendenz ist durch die offizielle Parteipolitik gedeckt. Nichts charakterisiert die Harmlosigkeit des Autors besser, als daß er, ganz gewiß ohne »böse Absicht«, einen Parteifunktionär, von dem es heißt, man müsse sich ihn warmhalten, weil er über die Ressourcen des ganzen Gebiets verfüge (!), als »Bauherrn« auf der Szene erscheinen läßt. Das ist eines, dieser verräterischen Details, nicht das einzige übrigens in diesem Buch.

Lipatow ist wesentlich kühner als Popow, seine Konzeption hat sozusagen »nicht die ganze Parteilinie« hinter sich. Er fordert für den rücksichtslosen, aber erfolgreichen Technokraten die uneingeschränkte Verfügungs­gewalt über Menschen und Mittel. Dem sibirischen Flößereikontor, in dem sein Roman spielt, droht die Einsetzung eines farblosen Büromenschen von außerhalb als Direktor. Der forsche Chefingenieur Prontschatow ist von dem verstorbenen bisherigen Direktor als legitimer Amtserbe designiert worden. 

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Der Alte hat ihm für den Kampf um die Macht sogar eine verschwiegene große Holzreserve hinterlassen. Gefeiert und im Namen der Produktivität gerechtfertigt wird nun der ebenso schamlose wie zweckmäßige Karrierismus Prontschatows, der alle Register — einschließlich des Registers seiner Herkunft als Kadersohn — zieht, um sein »für die Gesellschaft nützliches Ziel« zu erreichen. Seine Devise ist: Ihr (Arbeiter) habt mich zum Studieren geschickt, damit ich für Euch denke; und Direktor des Kontors muß werden, wer das meiste Holz zu verflößen verspricht. Kein Schritt gegenüber den Partei- und Staatsvorgesetzten, der nicht darauf berechnet wäre, Direktor zu werden. 

Auch hier lohnt es sich wegen der Details, die Szenen Prontschatows mit dem Gebietskomitee der Partei zu lesen, um am Verhalten der Funktionäre und an der Taktik Prontschatows zu ermessen, auf was für internen Beziehungen die sowjetische Partei-, Staats- und Wirtschaftsleitung basiert. Daß der »geeignete Mann« nicht ohne sein karrieristisches Zutun, nicht nach objektiven Kriterien an seinen Platz gestellt wird, ist für Lipatow selbstverständliche Lebensweisheit. Nimmt man dann noch die Szenen der Werbung Prontschatows um den fossilen Patriarchen Nechamow dazu, dessen Sippe ungefähr die Hälfte aller politischen und technischen Funktionen im Flößereikontor und in der zugehörigen Stadt besetzt hält, so rundet sich immerhin ein lokales Gesellschaftsbild

Kurioserweise hat sich der Held seinerzeit von einem übriggebliebenen Schamanen die Kriegserlebnisse austreiben lassen. Das ist konsequent gedacht, denn wenn er gezwungen gewesen wäre, sie zu verarbeiten, hätte es ihm an der notwendigen Bedenkenlosigkeit für seine Rolle gefehlt. Eine ganz auf äußeren Erfolg berechnete Subjektivität hatte einst Balzac als Aufstiegsbedingung im nachrevolutionären Frankreich erkannt. Offenbar darf der industrielle Beuteritter, auch wenn er als Technokrat auftritt, »die Sorge nie gekannt« haben. 

»Die Mär vom Direktor P.« ist ein Buch mit einigem Leben, aber man müßte von den guten Geistern aller sozialistischen Theoretiker verlassen sein, um auch nur die entfernteste Ähnlichkeit des Typus Prontschatow und seines ganzen Milieus mit sozialistischen Leitbildern anzunehmen. Aber hatte ich nicht die Antriebshemmung einer Gesellschaft konstatiert, in der sich alle Aktivität in die Form der bürokratischen Rivalität gezwängt sieht, um nun zu sehen, daß vor dem Hintergrund desselben Systems ein Typus der absoluten Initiative, sagen wir, wenigstens konstruierbar ist? 

Gibt es eine spezifische Dialektik, die an der Erzeugung dieses Typus arbeitet? Auch dafür gibt uns Lipatow einen Fingerzeig: Die Partei ist für ihn im Grunde nur dadurch gerechtfertigt, daß sie die Prontschatows auf die ihnen zustehenden Posten stellt. Dann mag sie ihnen immerhin äußerliche Verhaltensregulative diktieren. Insofern deutet Lipatow auf das große schöpferische Potential der sowjetischen Intelligenz, die sich gerade deshalb, weil die Partei nicht führt, weil sie keinen neuen allgemeinen Konsensus schafft, an ihren technokratischen und expertokratischen Sonderinteressen orientiert. 

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Rudolf Bahro 1977 Die Alternative Zur Kritik des real existierenden Sozialismus