Rudolf Bahro
Selbstinterview
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Frage:
Wenn wir unser heutiges Gespräch senden, wird Ihr Buch »Zur Kritik des real existierenden Sozialismus« bereits erschienen sein, unter dem Titel »Die Alternative«. Macht der neue Titel Ihr Anliegen nicht besser kenntlich als die ursprüngliche Formel? Denn Sie machen ja Vorschläge für eine andere politische Praxis des osteuropäischen Kommunismus. Sie machen solche Vorschläge als Marxist, als DDR-Kommunist, also von innen.Antwort:
Was ich liefern wollte, war tatsächlich nicht primär politische Polemik, sondern der Entwurf einer umfassenden politisch-ökonomischen Analyse und Alternative. Polemisch ist mein Buch bloß insofern, als es das parteioffizielle Selbstbild des real existierenden Sozialismus zerstört und die Wirklichkeit dagegen zur Sprache bringt. Es gibt bei uns ein weitverbreitetes Empfinden, daß der real existierende Sozialismus und der Sozialismus von Marx sehr verschiedene Dinge, substantiell verschiedene Dinge sind. Ich beweise, daß es so ist. Ich denunziere es nicht, ich erkläre es als historische Tatsache.Ich analysiere, ich kritisiere den real existierenden Sozialismus als Gesellschaftsformation eigenen Typs, so wie Marx den Kapitalismus als Gesellschaftsformation aufgefaßt hat. Ich bin weit in die Geschichte zurückgegangen, bis zu der alten asiatischen Produktionsweise, um die Genesis unseres Systems verständlich zu machen, natürlich für Rußland, für die Sowjetunion. In der DDR oder der CSSR ist der real existierende Sozialismus bekanntlich ein abgeleitetes, kein originäres Phänomen. Hier ist er kein aus sich selbst erklärbarer Gegenstand.
Frage:
Das ist also Ihr Ausgangspunkt. Und worauf zielen Sie ab?
Antwort:
Die Hauptfragen, auf die mein Buch hinausläuft und auf die ich zu antworten suche, lauten: Was würde eigentlich allgemeine Emanzipation des Menschen — denn das war ja Marxens ursprünglichstes Ziel — was würde diese allgemeine Emanzipation heute bedeuten? Gegen welche Schranken würde sie sich richten? Wie könnte und müßte eine kommunistische Praxis aussehen unter den Bedingungen des real existierenden Sozialismus? Wer würde diese Praxis tragen, aus welchen Kräften würde sich ihr Subjekt formieren? Und wie müßte sich der neue Bund der Kommunisten organisieren? Und für welches politische und ökonomische Aktionsprogramm? Übrigens stelle ich diese Fragen so, daß sie auch die westlichen Kommunisten und Sozialisten interessieren dürften. Es erscheint mir zum Beispiel fraglich, oh eine Linksfront wie in Frankreich als wesentlichen Programmpunkt aufnehmen sollte, die Stahlproduktion zu erhöhen und ihr eine Investspritze zu verpassen — immer noch ein bißchen mehr von der gleichen alten Medizin. Kurzfristig gesehen, kann manches richtig sein, auch eine Spritze für die Stahlindustrie. Aber was für eine neue Zivilisation antizipiert etwa die KPF? Was hat sie wirklich gelernt seit dem Mai 1968?Frage:
Ja, das sind Probleme, die heute nicht nur Kommunisten interessieren. Leider ist es müßig, zu fragen, warum Ihr Buch nicht in großer Auflage in der DDR erscheint, wo Sie leben. Aber was wird geschehen, da sie gezwungen sind, außerhalb des Landes an die Öffentlichkeit zu gehen? Wird man Ihr Buch in der DDR überhaupt lesen können?Antwort:
Ein paar hundert Exemplare werden schon ihren Weg hierher finden, und dann werden es ein paar tausend Leute lesen. Die Substanz habe ich auch zu einer Reihe von Vorträgen zusammengefaßt, die sicherlich über den Rundfunk hineingehen werden. Außerdem habe ich das Buch gleichzeitig auch in der DDR verbreitet, wenn auch entsprechend meinen Möglichkeiten nur in einer kleinen, unprofessionell gemachten Auflage. Ich bin zuversichtlich, daß die Grundideen bekannt werden.Frage:
Wie wird die SED-Führung darauf reagieren, daß wieder ein Staatsbürger, wieder ein Parteimitglied — denn das sind sie ja seit nahezu 25 Jahren — offen eine oppositionelle Position einnimmt? Ihr Buch ist logisch unerbittlich, ganz kompromißlos in der Auseinandersetzung. Es kann auf lange Sicht einen Einfluß ausüben, der die herrschende Struktur unterminiert.
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Antwort:
Das hoffe ich. Ich greife ein in einen Prozeß, der längst im Gange ist. Die ursprüngliche Idee ist ausgehöhlt. Die Partei steht da wie die Papstkirche vor Luthers Reformation, ungläubig bis tief in die eigenen Reihen hinein. Ratlosigkeit bis ins Politbüro. Weit und breit keine Konzeption. Alle Mittel der Massenmobilisierung, besonders in der Wirtschaft, bis zum Geht-nicht-mehr abgenutzt und verschlissen. Sprachlosigkeit, wohin man kommt. Keine Diskussion mehr. Ich wollte den neuen Kräften das theoretische Fundament liefern für den Kampf um die Auflösung der überlieferten stalinistischen Gesellschaftsverfassung. Diese Verfassung muß weg, weil sie ins Leben einschneidet, weil sie unproduktiv ist, weil sie die subjektiven Triebkräfte fesselt, lahmlegt, weil sie sie verbraucht in einer Konkurrenz mit dem Westen, in der wir auf diese Weise niemals gewinnen können.Frage:
Denken Sie, die SED wird sich mit Ihrem Buch auseinandersetzen?Antwort:
Wer ist »die SED«? Sprechen wir zunächst von deren Apparat. Denn den haben Sie gemeint. Der Apparat wird natürlich erst einmal mit den eingeübten Abwehrmechanismen antworten. Er wird mein Buch nicht nur revisionistisch, er wird es gleich konterrevolutionär nennen. Er wird von irgendwelchen Auftraggebern reden. Jede Aufmerksamkeit nicht- bzw. antikommunistischer Kreise (dazu rechnet er ja neuerdings selbst einen Santiago 'Carillo) wird er in diesem Sinne ausschlachten. Das ist schon Routine. Dabei brauchen die dienstbaren Geister kaum mehr zu denken. Es ist ja keine Kunst, ein paar exponierte Sätze aus ihrem Kontext zu reißen. Der Apparat muß Kritik verfremden. Es darf nicht wahr sein, daß sie von innen kommt, daß sie einen breiten stimmungsmäßigen Boden im Lande hat, auch und gerade unter der Mitgliedschaft der Partei. Eine Auseinandersetzung mit meinen Argumenten und Resultaten wird man um jeden Preis zu vermeiden trachten.Allerdings — lesen wird man das Buch, auch amtlich sozusagen. Und nun kommt erst das eigentlich Wichtige. Fast alle, die das — mit oder ohne Auftrag — tun, werden dabei etwas anderes denken, als sie nachher öffentlich vertreten können oder müssen. Ich glaube, ich habe ein Buch geschrieben, gegen das die politische Polizei machtlos sein wird, weil es noch die loyalsten Apparatleute — soweit sie überhaupt denkbereit sind — in ihrer natürlichen Eigenschaft als denkende Menschen anspricht. Zumindest, was die Analyse betrifft,
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die Charakteristik des bestehenden Zustands, werden auch Politbüromitglieder vor den Seiten sitzen und von Zeit zu Zeit vor sich hin sprechen: Ja, so ist es. Das entwaffnet innerlich. Ich baue direkt auf den Unterschied zwischen offizieller Position und innerem psychologischem Prozeß bei den politischen Individuen. Wenn ich vom Apparat rede, dann meine ich stets eine reaktionäre Machtstruktur, nicht ohne weiteres die Individuen, die an den verschiedenen Knotenpunkten an sie gebunden sind. Sie könnten ja morgen aus diesem Dschungel heraustreten.
Frage:
Und die übrige Öffentlichkeit der DDR?Antwort:
Da ist mein Buch natürlich nicht zuletzt adressiert an die vielen halbloyalen Parteimitglieder und überhaupt an die Menschen, die sich kritisch mit der DDR verbunden fühlen. Die meisten spielen nur deshalb weiter mit, weil ihnen alle Aussicht auf Veränderung verrannt scheint. Es ist ja nicht neu in der Geschichte, daß eine bestimmte Generation massenhaft die Erfahrung macht, es »geht nichts«. Bei uns scheint für viele weder von innen noch von außen irgend etwas zu »gehen«. Resignation. Das ist rein psychologisch. Ein Erstarrungsprozeß, eine Tendenz, der die Individuen widerstehen müssen. Die Geschichte ist natürlich immer weitergegangen. Auf einmal »geht« es doch, nur mancher ist eben nicht mehr dabei. Was ich entschieden angreife, das ist der Rest von Loyalität gegenüber dem Apparat, der dem nichtkapitalistischen Fundament der DDR längst schadet. Die Wirklichkeit ist so, daß sich insbesondere jeder Parteiintellektuelle fragen muß, ob nun in ihm der Apparatmann — denn in gewissem Grade ist er das — oder ob der Kommunist dominiert. Um diesen inneren subjektiven Gegensatz kommt niemand herum.Und schließlich wendet sich mein Buch an die wirklichen Oppositionellen. Ihnen will ich Mut machen für eine optimistische, konstruktive Position. Geht nicht den Weg des Defaitismus und der Verzweiflung, sondern den Weg der organisierten Opposition! Seid bereit, notfalls Eure bisherige Existenz, zum Beispiel Eure besondere Rolle als angestellte Intellektuelle dafür aufzugeben.
Frage:
Sie glauben also, Ihre Arbeit wird die Lage in der DDR ändern?Antwort:
Speziell die ideologische Situation schon. Dabei rechne ich nicht auf die augenblickliche Sensation, eher im Gegenteil. Da wird es die
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verschiedensten emotional bedingten Reaktionen geben — um so mehr, als man das Buch in der Regel nicht gleich wird lesen können. Ich habe aber gerade Theorie geliefert. Darauf allerdings verlasse ich mich. Ich verlasse mich auf die Langzeitwirkung jedes wirklich in den Kern der Probleme vordringenden Gedankens. Ich bin mit absoluter Ernsthaftigkeit herangegangen, mit aller Aufrichtigkeit und Konsequenz. Ich habe nicht nur meinen Verstand, sondern meine staatsbürgerliche Existenz in die Waagschale geworfen. Das wird seine Wirkung nicht verfehlen.
Von mir spreche ich hier ausdrücklich beispielsweise. Ich bin ja nicht der erste, der etwas wagt. Persönliche Beispiele können jetzt erheblichen Effekt machen. Man muß die Situation seit Helsinki und mehr noch seit der Berliner Konferenz, seit der Profilierung des Eurokommunismus, ausnutzen, um den Apparat ideologisch in die Enge zu treiben. Möglichst keine Ruhe geben, keine Atempause im ideologischen Kampf. Ein Auftritt sollte dem anderen folgen. Ich nenne das, den Apparat daran gewöhnen, einer offenen Opposition ins Gesicht sehen zu müssen. Das Ziel ist, ihm zuletzt die offene ideologische Schlacht im eigenen Lande, in allen Ländern des real existierenden Sozialismus aufzuzwingen. Darauf müssen wir hinarbeiten. Und dazu braucht die Opposition eine umfassende Gegenposition, nicht bloß einzelne Vorschläge. Sie muß den Entwurf einer anderen Gesamtpolitik auf die Tagesordnung setzen. Solche Aspekte wie die Menschenrechtsfrage müssen ihren Platz in einem größeren konstruktiven Zusammenhang finden. Dabei bin ich absolut sicher, daß es im real existierenden Sozialismus keine Alternative zur Apparatherrschaft gibt, die ohne oder gegen die Kommunisten gemacht werden könnte. Wir müssen nur entschieden aus der spätstalinistischen Apparatherrschaft heraustreten und unsere politische Erfahrung, unsere marxistische Methode in den Dienst der Gesellschaft stellen. Das gilt für jedes unserer Länder und zugleich für alle zusammen, vor allem auch für die Sowjetunion selbst.
Frage:
Mit welchen Folgen rechnen Sie denn für sich persönlich? Was wird passieren?Antwort:
Diese Frage durfte ich nicht übermäßig wichtig nehmen. Wenn man an dieser Stelle zu rechnen beginnt, kann man eine solche Position nicht wählen. Ich bin auf jede denkbare Reaktion gefaßt. Ich hatte Zeit, mich auf die Stunde der Wahrheit vorzubereiten. Ich werde ja nicht das Opfer sein; ich bin es, der angreift. Ich hatte das Glück, die Stunde selbst bestimmen zu können.
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Frage:
Man wird Sie natürlich aus der Partei ausschließen.Antwort:
Ja, eiligst, und auf kaltem Wege. Das wird nur normal sein. Es ist ja nach diesem Buch klar, daß ich längst außerhalb der Regeln stehe, die der Apparat für die Partei gemacht hat, spätestens seit dem 21. August 1968. Nicht normal, aber systemtypisch ist, daß ich meine bisherige Arbeit verlieren werde. Das Menschenrecht auf Arbeit wird gegenwärtig in der DDR-offiziellen Propaganda stark hervorgehoben. Ich werde also zusehen, wie weit es für mich gilt.Frage:
Und mehr befürchten Sie nicht?Antwort:
Ob man mich verhaften wird oder nicht, das kommt auf den Schutz der internationalen, insbesondere der kommunistischen Öffentlichkeit an. Daß es Paragraphen gibt, gegen die ich verstoßen mußte, um überhaupt aufzutreten, gehört zum Wesen unseres politischen Systems. Es hat Gesetze nötig, die vorsorglich so beschaffen sind, daß ein Mensch, der abweichende Gedanken verbreiten will — wenn er sie nicht verbreiten will, ist er gar nicht politisch —, gegen sie verstoßen muß. Mir sind im neuen Strafgesetzbuch — je nach Auslegung — von vornherein zwischen 2 und 10 Jahren angedroht, falls man beschließt, meine Kritik am politischen Überbau als staatsfeindliche Hetze einzuordnen. Aber es beginnt viel früher. Beispielsweise hätte ich mein Buch rechtzeitig dem staatlichen Urheberrechtsbüro vorlegen müssen, mit der Bitte um Freigabe für den Druck im Ausland. Ich habe diesen Schritt für meine relativ harmlose, völlig immanent angelegte Dissertation unternommen, nachdem man ihre Annahme sowohl an der Hochschule in Leuna-Merseburg als auch im Dietz-Verlag abgelehnt hatte. Man erklärte mir, daß ich die Genehmigung keinesfalls bekommen würde.Kurzum, jede alternative politische Konzeption und Haltung ist schon mit ihrer elementaren Konsequenz, der Publizität, kriminalisiert. Die Publizität ist legal gar nicht erreichbar. Für Europa ein sehr anachronistischer Zustand.
Frage:
Und ausweisen wird man Sie nicht? Das ist doch in den letzten Jahren zum festen Bestandteil der Praxis gegen Oppositionelle geworden.
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Antwort:
Es ist möglich, daß sich der Apparat dieses äußerste Armutszeugnis ausstellt. Aber den Inhalt meines Buches wird er auf diese Weise nicht exterritorial machen können. Was mich persönlich betrifft, so ist mein Kampfplatz hier, obwohl ich keine große Schwierigkeit sehe, auch anderswo meine Stelle in der revolutionären Reihe zu finden. Ich habe von hier aus gedacht. Ich bin in meiner gesamten Entwicklung sozusagen ein DDR-Produkt, durch und durch. Ich bin hier zu Hause mitverantwortlich. Gerade darin möchte ich nicht mißverstanden werden. Ich habe seit meinem 15. Lebensjahr niemals außerhalb gestanden, bin seit 1950, also ziemlich von grundauf, als einer der Aktivisten an unseren Verhältnissen beteiligt. Ich kenne das Terrain in jeder Hinsicht, nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch. Nicht nur Ideologie, Kunst usw., ich habe alles Mögliche gemacht, in der Landwirtschaft, in der Wissenschaft, im Hochschulwesen, das letzte Jahrzehnt in der Industrie. Menschen wie ich müssen einfach versuchen, hier den Kurs zu ändern, wenn sie ihren Anfängen treu bleiben wollen. Ich hatte nie die geringste Neigung, aus dem Felde zu gehen. Im Gegenteil, als ich aus der reglementierten Politik ausscheiden mußte, vor 10 Jahren, habe ich mich nur noch tiefer in die Politik gestürzt, in die Theorie zunächst, nun ganz auf eigene Rechnung.Frage:
Vielleicht erzählen Sie doch etwas näher, wie Sie zu Ihren Erfahrungen gekommen sind, einige Stationen Ihrer Entwicklung?!Antwort:
Meine äußere Biographie ist ziemlich DDR-normal verlaufen. Ein paar Konflikte, von denen ich erzählen könnte, sind typisch für tausende ähnliche Charaktere wie ich, und nicht alle haben sie innerlich so relativ schadlos wie ich überstanden. Nach dem Philosophiestudium, das war 1959, haben mich die Nachwehen meiner Krise von 1956/57 (der XX. Parteitag der KPdSU, Ungarn, Polen) erst mal ins Oderbruch geweht, auf eine Maschinen-Traktoren-Station. Dort war ich Dorfzeitungsredakteur für einen Bereich von 7 oder 8 Ortschaften. Und ich kam gerade zurecht zu der großen Kampagne für die Vollkollektivierung der Landwirtschaft im Jahre 1960. Daran habe ich nach Kräften teilgenommen. Die Landwirtschaft ist mir seit jeher vertraut, durch meinen Vater. Ich stamme aus bäuerlichem Milieu. Die kollektivierte Landwirtschaft ist wohl der größte ökonomische Erfolg der DDR.
Anschließend war ich 2 Jahre an der Universität Greifswald, aber nicht als Aspirant, sondern wieder als Redakteur. Ich habe dort die
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Universitätszeitung gemacht, die die Parteileitung herausgab. Da lernte ich die Wissenschaftsatmosphäre kennen, natürlich viel eingehender als aus der Studentenperspektive. Daß es eine kleine, provinzielle Universität war, erleichterte den Überblick. Von Greifswald hat mich die Abteilung Wissenschaften beim ZK der SED nach Berlin geholt, zum Zentralvorstand der Gewerkschaft Wissenschaft. Ich war dort unter anderem Referent des Vorsitzenden.
1965 ging ich als stellvertretender Chefredakteur zum FORUM. Das FORUM ist an die Studenten und an die junge Intelligenz adressiert. 1963 hatte es ein Jugendkommunique des Politbüros gegeben, grünes Licht für eine gewisse Kritik am bürokratischen Apparat durch die junge Generation. Ich wußte, Mitte 1965, nicht Bescheid, daß diese Linie gerade im Umkippen war. Ich kam zu spät. In den Jahren bei der Gewerkschaft und beim FORUM habe ich meine politische Naivität verloren, zunächst auf selbst noch naive Weise. Mir gefielen die Allüren nicht, die bürokratischen Spielregeln. Ich paßte da niemals richtig rein. Beim FORUM bin ich dann allmählich bewußt auf besonderen Kurs gegangen, habe zuletzt versucht, Dinge zur Diskussion zu stellen, die nicht diskutiert werden sollten. »Die Widersprüche auf den Tisch statt in die Schublade«, war meine Devise. Ich mußte erst die Erfahrung machen, daß man als Rädchen im ideologischen Machtapparat keine gerade Linie ziehen kann. Es gab da eine Lyrik-Debatte. Ich wußte nicht, daß ich eine Provokation gegen die Lyriker starte, als ich diese Debatte vom Zaun brach. Die Diskussion, die es werden sollte, wurde abgebrochen. Ich selber hatte von ziemlich scharfer, sozusagen »linker« Position geschrieben, insbesondere gegen Günter Kunert. Ich dachte damals so, wie ich schrieb. Aber die Lyriker konnten dann nicht schreiben, was sie dachten, und so weit sie es doch noch schrieben, durfte ich es nicht mehr drucken. Am Ende hat das Ganze nur geschadet. Als ich begriffen habe, daß hinter meiner Schreibmaschine ganz andere Mächte stehen als meine persönlichen Überzeugungen, habe ich die Position dort innerlich preisgegeben, mich entschlossen, es darauf ankommen zu lassen. Der letzte Tropfen war dann der Abdruck von Volker Brauns »Kipper Paul Bauch«, für den ich verantwortlich war. Das muß im Herbst 1966 gewesen sein.
Ein paar Monate später war ich in der Industrie gelandet, weich gelandet, wie ich betonen will. Ich hatte überhaupt immer das Glück, gut behandelt zu werden, so auch bei der Ablösung im FORUM. Ich bin nie persönlich verärgert und verbittert worden.
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Frage:
Aber wie nun in Zukunft? Was wird mit Ihrer Familie? Sie haben doch Familie?Antwort:
Ich hatte Familie, bis vor 4 Jahren. Meine Kinder sind jetzt 20, 15 und 13. Unsere Verhältnisse sind allerdings so eingerichtet, daß man zuletzt allein sein muß, wenn man so in Front gehen will, wie ich es jetzt tue.Frage:
Hatten Sie denn alle die Jahre keine Angst?Antwort:
Doch, ich hatte auch Angst, aber sie bezog sich weniger auf die Folgen, die mich eines Tages treffen konnten. Ich hatte Angst, die Arbeit nicht zu bewältigen, und vor allem hatte ich Angst, nicht fertig zu werden, zu früh entdeckt zu werden, die Öffentlichkeit nicht zu erreichen. Dennoch kann ich Ihnen versichern, daß ich meistens gut geschlafen habe. Das ist einfach eine Frage des Naturells.Frage:
Sie wollen doch nicht sagen, daß Ihre Situation im großen und ganzen unproblematisch war?Antwort:
Mir blieb vor allem ein Problem. Es ist nicht leicht, vor der Umwelt so lange die Konsequenzen verschlossen zu halten, auf die hin man wirklich lebt. Ich hätte mich viel lieber klar zu erkennen gegeben. Eigentlich ist ja gerade das »normale« konforme Vegetieren, zu dem man öffentlich gezwungen ist, das Ärgernis. Sie können sich gar nicht denken, wie glücklich ich bin, daß das Versteckspiel für mich nun endlich aufhört, daß ich der Gesellschaft, oder, was heißt Gesellschaft, daß ich denen, die mich kennen, endlich das wahre Gesicht zeigen kann. Das ging ja eben häufig nicht seit 1968. Aber ich bin zuversichtlich, den meisten wird völlig klar sein, daß ich mich genau so verhalten mußte, wenn ich wirklich dieses Buch schreiben wollte. Dem Wesen der Sache nach habe ich einfach das Doppelleben des Illegalen geführt. Das hat sich nicht gegen die Kollegen und Genossen gerichtet, sondern gegen die Maschinerie, die einem schließlich diese Kampfform aufzwingt. Gegen die innere Spannung ist eine große Arbeit selbst die beste Prophylaxe. Sie können sich denken, ich war vollbeschäftigt alle die Zeit. Vor allem in diesem Sinne habe ich doppelt gelebt, wenn auch zugleich natürlich etwas einseitig.64
Frage:
Dennoch, Ihr Buch muß doch nun für viele Leute, die täglich mit Ihnen zusammengearbeitet haben und die Sie gut zu kennen glaubten, wie ein Schlag aus heiterem Himmel kommen.Antwort:
Das wird so sein, sicher. Übrigens werden jene Menschen, die mich etwas näher kannten, nur im ersten Augenblick so völlig überrascht sein. Mit mir war immer ziemlich offen zu reden, soweit es im Rahmen blieb. Es mochte sogar so scheinen, ich hätte weniger zu verbergen als andere. Denn es versteht sich ja von selbst, daß alle politischen Leute in der DDR etwas anderes denken, als sie im Betrieb usw. sagen können. Unter vier Augen verständigt man sich schon, mit dem einen weniger, mit dem anderen mehr. Oft bedarf es dazu nur weniger Worte, nur ganz kleiner Anzeichen. Die Haltungen sind schon erkennbar. Wer den Mut hat, selbst mal das Visier zu öffnen, erntet ziemlich viel Vertrauen, wenn es sich beim Partner nicht zufällig um einen allgemein zu ängstlichen Charakter handelt. Es ist viel mehr Kommunikation möglich, als manche denken. Es haben noch Leute voreinander Angst, die das ganz und gar nicht nötig hätten.Frage:
Und wie haben Sie nun die Zeit, oder die Ruhe, gefunden, dieses Buch zu schreiben, dazu noch eine Doktorarbeit — und das alles »nebenbei«, und, wie es scheint, bei guter Gesundheit? Allem Anschein nach waren Sie nie an einem wissenschaftlichen Institut aufgehoben.Antwort:
Immerhin habe ich 5 Jahre Philosophie studiert, an der Humboldt-Universität in den fünfziger Jahren. Wissen Sie, wäre ich danach in der Wissenschaft gelandet, in unserer offiziellen Wissenschaft — da wird man aufgerieben. Da wäre ich vielleicht zu dickeren Manuskripten gekommen, aber zu diesem Buch wahrscheinlich nicht. So seltsam es klingen mag, ich hatte bessere Bedingungen dazu nötig, und ich habe sie auch gefunden. Zeit ist nicht das einzige, was man dazu braucht.Wenn ich es jetzt der Öffentlichkeit übergebe, kann ich sagen, ich habe dafür keinen einzigen Tag meine Arbeit in der Industrie versäumt, bis zuletzt nicht. Aber ich fand dort, wenigstens bis 1975, verhältnismäßig günstige Umstände vor. Keine Leitungsfunktion, sondern technisch-organisatorische Themenarbeit in einem Ingenieurbüro, das so etwas wie Unternehmensberatung für einen bestimmten Industriezweig praktizierte. Der unmittelbare Kontakt mit der industriellen und wirtschaftspolitischen Praxis erwies sich als ausgesprochen günstig für meinen Zweck.
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Für die Vorstudien reichte auch die Freizeit aus. Aber dann brauchte ich ein paar zusammenhängende Monate für die erste Niederschrift. Hier kam mir das Glück zu Hilfe. Ich bekam Gelegenheit zu einer außerplanmäßigen Doktoraspirantur. Sie bedeutete, daß ich in den Jahren 1972 bis 1974 jeweils 3 Monate vom Betrieb freigestellt wurde. 5 dieser insgesamt 9 Monate habe ich abgezweigt, und im Sommer 1973 wurde die erste Fassung fertig, auch damals schon ein dickes Buch, über 300 Seiten Schreibmaschine geschrieben. Bis zum Sommer 1975 habe ich dann die Dissertation geschrieben. Ich untersuche darin ziemlich konkret, wie die Produktionsverhältnisse des real existierenden Sozialismus die Entfaltung jener subjektiven Produktivkräfte behindern, die in der wachsenden Zahl von Hoch- und Fachschulkadern in unseren Betrieben verkörpert sind. Die eigentlichen Konsequenzen sind in diesem Text natürlich gekappt bzw. versteckt, und stilistisch hält er sich mit einiger Mühe innerhalb der Sprachregelungen. Aber besonders durch ein angehängtes brisantes Erhebungsmaterial — ungeschminkte Aufzeichnungen von knapp 50 Interviews mit industriellen Kadern — hat die Arbeit soviel Verdacht und Unbehagen ausgelöst, daß mir die Hochschule schließlich schrieb, sie müsse abgelehnt werden, sinnigerweise wegen mangelnder wissenschaftlicher Voraussetzungen.
Frage:
Es wundert mich, wieviel Wert Sie offenbar darauf gelegt haben, trotz und während Ihrer Arbeit an dem jetzt veröffentlichten revolutionären Buch in dem normalen Rahmen ordentliche Arbeit zu leisten.Antwort:
Zunächst könnte man doch sagen, das war gerade die einfachste Verhaltensweise. Aber davon abgesehen — mir ist das eigentliche Pfuschen immer und in jeder Hinsicht schwergefallen. Man schädigt damit nicht so sehr den Apparat, man schädigt damit alle Leute, die normal ihrer Arbeit nachgehen. Man stört die laufende Kommunikation. Das ist einfach unsolidarisch. Und man schädigt auch die eigene Arbeitsfähigkeit.Es ist überhaupt eine sehr wichtige Regel für den politischen Kampf unter unseren Bedingungen, nicht noch zusätzlich Desorganisation zu verbreiten — der Pegel ist hoch genug! —, sondern den Ärger über die herrschende Desorganisation zu artikulieren und zu qualifizieren, um gerade mit denen solidarisch zu sein, die an ihrem Platz vernünftige Arbeit liefern möchten. Niemals die Individuen mit dem Apparat verwechseln, auch die in den Funktionen nicht. Sie sind nicht selten die ersten Leidtragenden der Systemfehler.
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Und um noch etwas anderes ging es mir. Unsere Verhältnisse haben nicht wenige kritisch denkende Menschen um ihre Produktivität gebracht, in ein unglückliches Abseits, zu irgendwelchen exzentrischen Positionen getrieben. Ich habe bewiesen, daß ich auch in dem bestehenden System funktionieren kann. Ich war, wie gesagt, Journalist. Ich war Gewerkschaftsfunktionär im zentralen Apparat. Ich habe als Spezialist technologische und organisatorische Rationalisierungsprojekte gemacht. Ich leite noch in diesem Augenblick ein Ingenieurkollektiv, das sich mit Arbeitsgestaltung und Arbeitsnormung befaßt...
Frage:
Auch mit Arbeitsnormung?Antwort:
... Ja, auch mit Arbeitsnormung. Ich wüßte sonst nicht so genau, wie ich es in meinem Buch beschreibe, warum bzw. inwiefern man sie abschaffen muß. Auch bei der Dissertation lag mir an dem Nachweis: es ist möglich, die herrschende reaktionäre Tendenz konstruktiv zu überspielen. Da ist es mir nicht ganz gelungen. Aber wenn ich daran denke, daß ich erstens die Möglichkeit konzentrierter theoretischer Arbeit gewonnen habe und daß es zweitens zunächst einmal drei positive Gutachten gab, daß man also erst hinterher, nach insgesamt skandalöser Verfahrensweise, noch zwei negative Gutachten besorgen mußte, um im Wissenschaftlichen Rat der Hochschule eine Ablehnung begründen zu können . . . Der Rest ist geschenkt.Frage:
Das waren nun mehr die äußeren Umstände, die wir besprochen haben. Wie sind sie innerlich dazu gekommen? Wenn ich richtig verstanden habe, arbeiten Sie seit 1968 in dieser Richtung.Antwort:
Es ist gewiß kein schnell entstandenes Buch. Eigentlich reicht der Anfang noch weiter zurück, wenn ich auch erst Anfang der siebziger Jahre definitiv zu schreiben begann.Die Inkubationsperiode liegt zwischen den beiden bekannten Augusttagen der Jahre 1961 und 1968. Ich gehörte zu den vielen vornehmlich jungen Kommunisten der DDR, die mit der seinerzeit unvermeidlichen Absperrung der Grenzen die Illusion verbanden, die Partei würde in der neuen Situation einen radikalen Versuch unternehmen, die Mehrheit der Bevölkerung für die sozialistische Idee zu gewinnen. Es war, wie man nachträglich sagen darf, die Hoffnung auf etwas wie einen Prager Frühling in Preußen, Sachsen und Mecklenburg. Die Führung gab mit dem »Jugendkommunique«
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von 1963, das ich schon erwähnte, dieser verbreiteten Stimmung nach. Aber Mitte der sechziger Jahre war bereits deutlich, daß es sich nur um taktisches Manövrieren handelte, und daß außer dem durch die internationale Entwicklung der Produktivkräfte getragenen Vordringen einer technokratischen Orientierung nichts Neues beginnen sollte.
Um jene Zeit wurde ich mir darüber klar, daß es notwendig wird, einen systematischen Kampf gegen die konservativen Elemente in der Partei zu beginnen. Ich dachte, es würde möglich sein, sie Schritt für Schritt aus ihren Machtpositionen zu verdrängen. Man müßte sich nur noch besser rüsten, um sie im innerparteilichen Stellungskrieg schlagen zu können. Ich hatte damals keine Ahnung von der Natur dieses Gegners und von den Quellen seiner Stärke, seiner ständigen Reproduktion. Denn der Apparat als solcher, der die Kontinuität der Reaktion verbürgt, stellte noch kein Problem für mich dar. Nur unter dieser Voraussetzung konnte ich nämlich Hoffnungen auf einen bloßen Verjüngungsprozeß der Kader — denn darum ging es mir wohl letztlich — setzen. In Wirklichkeit werden die geeigneten und ausgewählten Kader gesetzmäßig vom Apparat integriert und absorbiert. Ausnahmen bestätigen die Regel.
Frage:
Wie sind Sie denn mit dieser Einstellung an die Arbeit gegangen?Antwort:
Zunächst habe ich mich, ohne klares Konzept, an eine Art globaler Vorbereitung gemacht. Ich begann, Marx neu zu studieren, und mir die wirkliche Geschichte der KPdSU und der Sowjetunion zu erschließen. Das wurde mein trotzkistisches Stadium. Ich habe insbesondere Isaac Deutscher viele unerläßliche Kenntnisse zu danken. Ich interessierte mich zugleich für das jugoslawische Experiment und für den Weg Chinas, für das Wesen der Auseinandersetzung Mao Tse-tungs mit Chruschtschow. Der Bruch zwischen Peking und Moskau hatte schon als bloße Tatsache eine ungeheure Bedeutung, weil er die marxistischen Grundsätze endlich wieder in die Diskussion hineinriß. Natürlich habe ich damals das Togliatti-Memorandum verschlungen, besitze die Seite aus dem Neuen Deutschland heute noch.Im Dezember 1967 schrieb ich, aufgrund meiner ersten Erfahrungen bei der neuen Arbeit in der Industrie, einen Brief an Ulbricht. Ich warf die Frage der sozialistischen Demokratie und der Arbeiterselbstverwaltung unter den Bedingungen unserer Wirtschaftsorganisation auf, in — wie man bei uns zu sagen pflegt — positiver Weise. Die
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Antwort brachte mir erst 6 Monate später, also im Mai 1968, als die Erneuerungsbewegung in der Tschechoslowakei ihrem Höhepunkt zustrebte, ein Mitarbeiter des Zentralkomitees: nur eine warnende mündliche Belehrung. Es folgte nichts, auch nicht nach dem 21. August, obgleich ich bis zuletzt öffentlich für das Experiment eingetreten war. Man suchte damals und man sucht auch seither keine Abweichler, sofern sie sich nicht selbst öffentlich bemerkbar machen.
Frage:
Der Einmarsch in die Tschechoslowakei hat offenbar eine ausschlaggebende Rolle für Ihren Entschluß gespielt. Wie war das 1968, wie hat man damals hier empfunden?Antwort:
Es war eine echte, tiefgehende Erregung, die schon seit dem Januar angewachsen war, und dann, am 21. August, war vielen Gesichtern etwas anzusehen. Enttäuschung, Beschämung, niedergeschlagene Augen.Für mich waren 1967/68 die Jahre der am höchsten gespannten Hoffnung. In China sah ich damals, das war 1967 etwa, den großen Versuch, dem volkreichsten Land der Erde den Marsch durch die Niederungen des bürokratischen Stalinismus zu ersparen. In der Tschechoslowakei wurde dann demselben Feind, der stalinistischen Bürokratie, die jeden sozialistischen Fortschritt in unserem Teil der Welt blockiert, eine bis heute nicht verheilte Wunde zugefügt. Die Studenten und jungen Arbeiter von Paris überspielten für ein paar Wochen die konservativen Parteiverwalter und stießen im Kampf gegen den Staatsmonopolismus bis zu den Anfängen einer revolutionären Gegenherrschaft vor. Das vietnamesische Volk brachte dem USA-Imperialismus mit seiner glänzenden Tet-Offensive eine strategische Niederlage bei... Ich rede hier nicht von meiner theoretischen Arbeit, die, beispielsweise, trotz der Verwendung des Terminus »Kulturrevolution«, kaum maoistisch inspiriert ist, schon gar nicht im Sinne jener westeuropäischen Gruppen, die sich so trutzig in den erborgten Gewändern bewegen. Ich rede von meiner Motivation.
Frage:
Sie sprachen vorhin von Illusionen nach dem 13. August 1961, jetzt von Hoffnungen vor dem 21. August 1968. Man spürt da ein Ideal heraus, auf das diese Illusionen und diese Hoffnungen gerichtet waren. Aber was war das eigentlich für ein Antrieb, der dahinter steckte? Womit — nun rein persönlich — war man denn als Kommunist so unzufrieden?
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Antwort:
Ich weiß nicht, ob ich Ihnen das voll verständlich machen kann. Wodurch sehen sich Menschen zum politischen Handeln gedrängt? Ich erwähne in meinem Buch die Erfahrung des alten griechischen Philosophen Plato, von dem gesagt wird, er habe den Staat nicht gefunden, der zu ihm paßte. Vielleicht der Hinweis auf eine Erfahrung, die hier in der DDR, wie ich schätze, Hunderttausende gemacht haben, die in den 30 Jahren jung zur SED kamen. Auch ich habe sie gemacht. Ich war 16, als ich Kandidat wurde, 1952. Nun haben wir in der SED eine alte deutsche Unsitte aufbewahrt. Gibt es einen Verein, so muß es auch ein Abzeichen geben. So auch in der Partei. Gehen Sie aber heute durch unsere Straßen, so werden Sie nur wenige Leute mit dem Parteiabzeichen antreffen, fast nur noch solche, die es aus Gründen ihrer exponierten Rolle tragen müssen. Es gibt aber in dem kleinen Land 1,6 Millionen Parteimitglieder.
Als ich Kandidat und dann Mitglied wurde, da war das großenteils ganz anders. Sie werden sich schwer vorstellen können, wie stolz wir damals waren, ich und zahllose andere junge Genossen, dieses Parteiabzeichen zu tragen, die verschlungenen Hände auf dem Hintergrund der roten Fahne. Und nun frage ich mich und ich frage alle diese jungen Genossen aus allen diesen 30 Jahren: Wie ist es denn gekommen, daß wir uns heute schämen, eben dieses Abzeichen anzustecken? Das Wesen der Sache ist, wir haben ganz allmählich gelernt, uns der Partei zu schämen, der wir angehören, dieser Partei, die das notorische Mißtrauen des Volkes genießt, die das Volk täglich von vorn bis hinten politisch bevormundet und die es noch über die lächerlichsten Kleinigkeiten, die alle besser wissen, auf eine Weise belügen muß, daß jedem der dazugehört, die Schamröte ins Gesicht steigt.
Je mehr einer ursprünglich dazugehört hat, um so weniger kann er es auf die Dauer ertragen, wie die Partei die Idee zerstört und blamiert, die ihm einmal heilig war. Die Regel ist das große Verstummen. Die meisten Genossen wissen nicht mehr, was sie noch sagen sollen. Wer aber über den Durchblick, über das Handwerkszeug, über die Kapazität verfügt, das zu durchschauen, was hier vorgegangen ist und noch täglich vorgeht, daß wir hier neue Herrschaftsverhältnisse haben statt der sozialistischen Freiheit und Gleichheit für alle Werktätigen — wer das durchschaut und doch dabei nicht seine Selbstachtung verlieren will, der muß sich einfach nach einer Alternative umsehen, nach einer Möglichkeit, wieder in Übereinstimmung mit sich selbst zu leben. Das war das Geheimnis der großen Hoffnung von 1968, die auch in der DDR weite Kreise gezogen hatte.
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Wenn ich bis zu der Intervention noch auf immanente Kritik am Apparat eingestellt war, jetzt mußte ich springen. Ich hatte moralisch keine andere Wahl mehr. Der Einmarsch war ein Schlag, der mich so persönlich betroffen hat wie irgendeinen der engagiertesten tschechoslowakischen Akteure. Ich entwarf damals — und ich war gewiß nicht der einzige, der das tat — meine Parteiaustrittserklärung. Dann sah ich ein, diese moralisch so notwendige Geste würde mit dem Augenblick unserer Niederwerfung verpuffen. Ich konnte und mußte etwas Besseres, Einschneidenderes dagegensetzen.
Ich weiß nicht, ob die Verantwortlichen damals gedacht haben, daß sie für diesen 21. August nicht zu bezahlen brauchen. Es kann nicht schaden, wenn sie wissen, woher die Unversöhnlichkeit kommt, die ihnen in Zukunft immer häufiger die politischen Pläne kreuzen wird. Der Streit wird nicht enden, bis der Herd solcher reaktionären Gewaltakte wie 1968, bis die spätstalinische Apparatherrschaft ausgeräumt ist. In den ersten Stunden und Tagen nach der Intervention hat sich für immer etwas in mir verändert. Jedenfalls wollte ich ihnen nun eine Antwort liefern, gegen die sie ideell so ohnmächtig sein sollten, wie wir es waren gegen ihre Panzer. Es ist meine Überzeugung, daß diese ideologische Ohnmacht verhängnisvoller ist als die materielle.
Frage:
Das klingt eigentlich nicht besonders marxistisch.Antwort:
Es ist mir egal, wie das klingt. Übrigens ist das Marx: »Die Idee wird zur materiellen Gewalt. . .« Ich habe gezeigt, daß der Apparat geronnenes, herrschaftlich organisiertes Wissen, Bewußtsein ist. Seine Herrschaft muß gründlich ideologisch unterminiert werden, ehe sie materiell fallen kann. Genau das lehrt auch die Vorgeschichte des Prager Frühlings. Ich habe von jeher an die Macht der Idee und des Wortes geglaubt, und daran, daß es etwas ausmacht, ob man zu sich und seiner Sache entschlossen ist und in einem innersten Kern nicht zurückweicht, wenn die Entscheidung fallen muß. Marx selbst ist nicht ohne diese Gesinnung denkbar. Die neue Wahrheit muß nicht einmal besonders laut gesagt werden. Sie dringt dennoch vor, und es wird immer den dazu nötigen Mut geben.Frage:
Ihr Buch wirkt eigentlich viel objektiver, als man nach der Motivation, die Sie hier aufdecken, annehmen sollte.
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Antwort:
Ich kann diese Motivation jetzt aufdecken, weil ich mich durch das Schreiben und Umschreiben, durch den Umsatz der Energie, allmählich davon freimachen konnte, was daran bloß aufgestauter Protest war. Ich habe mich entschlossen, die erste Fassung, vom Sommer 1973, zu unterdrücken. Sie enthielt — abgesehen von der generellen Schwäche noch des ganzen Schlußteils — zu viel Ressentiment und subjektives Wunschdenken.Man muß aller selbstzerstörerischen Erbitterung Herr werden. Ich sehe das als Schwäche, wenn manche Oppositionellen dazu neigen, den Gang der Geschichte übelzunehmen, wenn er ihre unmittelbaren Intentionen nicht bestätigt. Wer sich selbst krankmachen läßt, ist im allgemeinen für die Sache der Erneuerung verloren. Ich habe nach der Intervention, sobald ich mich gefangen hatte, zum dritten Mal Marx studiert, und den Leninismus zum ersten Male kritisch, ich meine natürlich im historisch-analytischen Sinne. Denn die revolutionäre Integrität und welthistorische Größe Lenins steht für mich nach wie vor außer Zweifel.
Und ich habe mir, um den real existierenden Sozialismus zu begreifen, ein eigenes Bild von der Weltgeschichte, d. h. von der Vielheit vor allem der außereuropäischen Zivilisationen und von der Einheit ihrer allgemeinen Strukturprobleme, erarbeitet. 1971 begann ich dann zu schreiben.
Frage:
Während Sie also bereits in der Industrie tätig waren.Antwort:
Ja. Und seit 1975 schließlich habe ich die erste Fassung so gründlich, wie es mir bei der verfügbaren Zeit möglich war, überarbeitet, übrigens mit Ausnahme der ersten 4 Kapitel. Dort habe ich nur ganz wenige stilistische Korrekturen angebracht, obwohl ich ursprünglich auch hier mehr verändern wollte. Aber da bekam ich Rudi Dutschkes Schrift »Versuch, Lenin auf die Füße zu stellen« in die Hände. Er hat seine Arbeit zu genau der gleichen Zeit geschrieben wie ich diese 4 Kapitel. Besonders mein 3. und 4. Kapitel beziehen sich auf die gleichen Quellen, bei Lenin sogar auf die gleichen Zitate, teilweise.
Aber Rudi Dutschke gelangt zu einer recht verschiedenen Einschätzung. Nun wollte ich vermeiden, daß der sicherlich interessante Kontrast der Positionen durch weitläufige Polemik verwischt wird, und habe deshalb alles so gelassen, wie es schon dastand.
Für die Ergänzungen und Veränderungen im Zweiten und Dritten Teil kam mir die zwischengeschobene Dissertation sehr zugute. Ich bin jetzt noch konkreter zur realsozialistischen Wirtschaftspraxis. Besonders der Dritte Teil ist weitgehend neu; die ganze Theorie der allgemeinen Emanzipation heute und die Kapitel über die Ökonomik der Kulturrevolution fehlten zuvor noch völlig. Der Dritte Teil ist mir jetzt der wichtigste, so unerläßlich die vorgeschaltete Analyse bleibt und so wahrscheinlich sie mehr Bestätigung als die Alternativkonzeption erfahren wird.
Analyse reicht nicht aus. Die Theorie darf nicht Halt machen vor ihren praktischen politischen Konsequenzen. Es geht um den Entwurf eines Programms, für das man Menschen mobilisieren kann, die nicht mehr weitermachen wollen wie bisher. Ich möchte, daß mein Buch einen Anstoß zu breiterer Selbstverständigung und zu mehr Zusammenschluß für den Kampf um eine neue Perspektive im real existierenden Sozialismus gibt.
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