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»Das trifft den Parteiapparat ins Herz«

 

Ein SED-Funktionär  kritisiert den DDR-Sozialismus 

Der Spiegel, Nr. 35/1977

Rudolf Bahro, SED-Mitglied und Wirtschaftsfunktionär in Ost-Berlin, fordert die Gründung einer neuen kommunistischen Partei in der DDR. Mit seinem Buch <Die Alternative> will er das theoretische Fundament für eine linke Opposition gegen die etablierte Genossen-Bürokratie schaffen. Eurokommunismus jetzt auch im Ostblock?

 

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Im Ost-Berliner Stadtteil Weißensee, in einer kleinen Ein-Zimmer-Wohnung im zweiten Stock des unansehnlichen Hauses Streustraße 53, muß in dieser Woche der SED-Funktionär Rudolf Bahro damit rechnen, daß der Staatssicherheitsdienst ihn abholt. Das Interesse der Stasi-Beamten gilt einem von Bahro verfaßten 438-Seiten-Manuskript. Es enthält brisante politische Konterbande: die bislang unerbittlichste Abrechnung eines scheinbar loyalen Genossen mit dem DDR-Sozialismus.

Teile der Schrift waren dem Parteiapparat schon vor zehn Monaten unter die Augen gekommen. Die Suche nach dem Autor verlief jedoch ergebnislos.

Jetzt stellt er sich selbst. Denn Kommunist Bahro, SED-Mitglied seit 23 Jahren, studierter Philosoph, Partei-Propagandist und heute, 41jährig, Abteilungsleiter für wissenschaftliche Arbeitsorganisation beim VEB Gummikombinat Berlin, hat seine schriftstellerische Arbeit beendet. Das Ergebnis erscheint am 5. September in der Bundesrepublik — zum besonderen Ärger der SED nicht in einer bürgerlichen Buchreihe, sondern in der Verlagsanstalt des Deutschen Gewerkschaftsbundes.

Bahros Werk dokumentiert, daß der Spaltpilz des Eurokommunismus, vor dem sich die sozialistischen Parteien in Osteuropa mehr fürchten als vor Kaltem Krieg und Reaktion, jetzt auch in die DDR vorgedrungen ist.

Der sowjetischen, auch von Ost-Berlin praktizierten Spielart des Kommunismus hält Bahro vor:

Wären diese Thesen von einem westlichen Marxisten aufgestellt worden, die SED könnte sie, wie in solchen Fällen üblich, leichthin als inkompetentes Gerede politischer Dilettanten abtun. Doch die Tatsache, daß hier ein Mann das Wort nimmt, der aus dem System heraus über das System urteilt und dem kein Partei-Ideologe bestreiten kann, daß er weiß, wovon er redet, macht den Bahro-Text zum Sprengsatz.

Spätestens jetzt muß die DDR-Führung erkennen, daß ihre gefährlichsten Kritiker im Parteiapparat selbst heranwachsen: in den Reihen ihrer eigenen Ideologen, die sich nicht mehr zu gehorsamen Propaganda-Spezialisten degradieren lassen wollen. Bahro ist für diese Entwicklung symptomatisch. Mit ihm hat zum erstenmal nicht ein Professor wie Robert Havemann, nicht ein Künstler wie Wolf Biermann, Reiner Kunze oder Jurek Becker den Einheitssozialisten die Gefolgschaft aufgekündigt, sondern einer jener bisher namenlosen Gesellschaftswissenschaftler und Wirtschaftsfunktionäre, die als verläßlichste Stütze des Regimes galten. Und anders auch als die meisten Protestler vor ihm kritisiert Bahro die DDR nicht mit moralischen Argumenten. Mit dem Marxismus hat er nicht gebrochen, eine andere Perspektive als die kommunistische gibt es nach seiner Analyse nicht. Was er fordert, ist nicht Einhaltung der Menschenrechte, sondern Verwirklichung des Sozialismus, wie die Klassiker ihn verstanden: als allgemeine Emanzipation des Menschen in der unbehinderten Entfaltung seiner Individualität.

Bahro knüpft damit wieder an eine Tradition an, die in der DDR lange verschüttet schien. Denn schon einmal mußte sich die SED eine systematische Konfrontation ihres »realen« Sozialismus mit dem Geist des klassischen Marxismus gefallen lassen: Mitte der fünfziger Jahre, als Gelehrte wie Ernst Bloch, Wolfgang Harich und Robert Havemann, bis dahin Parade-Intellektuelle des Regimes, die DDR-Regierung mit Kritik an stalinistischen Verirrungen und dem Verlangen nach bürgerlichen Freiheiten in ideologische Bedrängnis brachten.

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Der Parteiapparat setzte sich gegen seine Ketzer erfolgreich zur Wehr: Bloch ging in den Westen, Harich wurde eingesperrt, Havemann mundtot gemacht.

Doch damals war das ideologische Monopol der KPdSU und ihrer deutschen Gefolgsleute noch weitgehend intakt. Heute dagegen, hofft Bahro, sei die SED nicht mehr in der Lage, einer inhaltlichen Diskussion mit ihm aus dem Weg zu gehen — welche Repressionsmaßnahmen sie auch immer gegen ihn selbst ergreifen wird. »Ich habe ein Buch geschrieben«, glaubt er, »gegen das die politische Polizei machtlos sein wird, weil es den Parteiapparat ins Herz trifft.«

Der Überraschungseffekt ist ihm bei seinem Vorstoß zumindest gewiß. Denn daß er bis zuletzt unerkannt blieb, verdankt er nicht nur geschickter Tarnung: Bahro ist für die SED ein so gut wie unbeschriebenes Blatt, ein treuer Genosse, der bislang eher durch übereifrige Naivität aufgefallen war.

»Eindeutig Idealismus« bestimmte ihn, schon mit 16 Jahren Kandidat, mit 18 Vollmitglied der SED zu werden. Durch Idealismus fiel er auch der Obrigkeit zum erstenmal unangenehm auf: Während des Philosophie-Studiums an der Humboldt-Universität schlug er 1956 eine Wandzeitung ans Institutsbrett, um von seiner Parteileitung Aufklärung über die Vorgänge in Ungarn zu verlangen — einen Tag bevor sowjetische Panzer den Volksaufstand in Budapest niederwalzten.

Der Fauxpas wurde dem aufstrebenden Jungkommunisten verziehen. 1959, im Jahr der Vollkollektivierung der DDR-Landwirtschaft, kam Bahro als »Dorfredakteur« in die Maschinen- und Traktoren-Station Sachsendorf im Oderbruch, um im Auftrag der SED-Kreisleitung der Landbevölkerung — immer schön dogmatisch — »die Linie« (so der Titel seiner Zeitung) klarzumachen. Ein Jahr später redigierte er in Greifswald für die SED-Kreisleitung die Universitätszeitung. Schon 1962 wurde das Zentralkomitee der SED auf ihn aufmerksam und berief ihn als Referenten des Vorsitzenden der Gewerkschaft Wissenschaft nach Berlin. 1965 machte ihn die Partei zum stellvertretenden Chefredakteur des FDJ-Organs »Forum« — damals eine der wichtigsten ideologischen Zeitschriften der SED. Eine glatte Parteikarriere.

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Doch dann inszenierte Rudolf Bahro im »Forum« eine Lyrik-Debatte, in der er den Schriftsteller Günter Kunert wegen »defätistischen Geistes« attackierte. Andere Literaten machten sich für Kunert stark, die Diskussion drohte außer Kontrolle zu geraten, und die Partei erteilte Bahro eine Rüge: Er solle sich hüten, schlafende Hunde zu wecken.

Als Bahro kurze Zeit später im »Forum« Volker Brauns »Kipper Paul Bauch« abdruckte — eine Erzählung, in der nach SED-Meinung die Arbeiterklasse »falsch« dargestellt war — und die fällige Selbstkritik verweigerte, mußte er den Dienst quittieren. Er fiel weich. Mit Hilfe früherer Studienkollegen wechselte der abgesetzte Partei-Ideologe 1967 in die Industrie, wo er sich seither beim Berliner Gummikombinat mit Rationalisierung, Arbeitsgestaltung, Normerfüllung und Organisationsfragen beschäftigt. Als »Forum«-Redakteur war Bahro zum erstenmal aufgegangen, daß die marxistische Ideologie für die SED im Grunde »nur eine Fassade« ist, der Vorwand für eine Machtpolitik, die in Wirklichkeit anderen Interessen dient als den von Marx ausgewiesenen. Die endgültige Wende kam 1968 mit dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in die CSSR. Die Völker Osteuropas gewaltsam um die »unersetzlichen Erfahrungen gebracht zu haben, die mit dem Ausreifen des Prager Frühlings gewonnen« worden wären, hält er für »das größte politische Verbrechen der sowjetischen Führung nach dem Zweiten Weltkrieg«.

Der Enttäuschte entwarf damals eine Austrittserklärung an die SED, die er indes nicht abschickte: Ein solcher Protest schien ihm zu läppisch. Statt dessen nahm er sich vor, mit dem System theoretisch abzurechnen.

Einen Vorgeschmack von der zu erwartenden SED-Reaktion auf sein Buch bekam Bahro zu spüren, als er letztes Jahr mit einer Dissertation über die »Entfaltungsbedingungen von Hochschulkadern in der Industrie« seine Promotion nachzuholen versuchte. Trotz positiver Gutachten seiner Professoren setzte der Prorektor für Gesellschaftswissenschaften an der Technischen Hochschule Merseburg, Dieter Graichen, die Ablehnung der Arbeit wegen angeblich fehlender »wissenschaftlicher Voraussetzung« durch. Bahro: »In Wahrheit war ihm die Analyse der Hemmnisse, die der individuellen Initiative in DDR-Betrieben im Weg stehen, politisch zu brisant.«

Obwohl noch Mitglied der Parteileitung in seinem Betrieb, glaubt Bahro nicht, daß sich die SED, wie im Prager Frühling die tschechoslowakische KP, von innen heraus regenerieren könne. Ihm geht es um eine Erneuerung der kommunistischen Bewegung, nicht der Partei, die er, in ihrer bürokratischen Erstarrung, für total reformunfähig hält.

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Was dann noch bleibt, ist die Hoffnung auf einen Umsturz — verstanden freilich nicht als jäher Machtwechsel, sondern als »Kulturrevolution«, als behutsame Umwälzung der bestehenden Herrschafts- und Gesellschafts­struktur.

Anders als die innermarxistische Opposition vor ihm, anders auch als der schärfste eurokommunistische Kritiker des Sowjet-Systems, Spaniens KP-Chef Santiago Carrillo, stellt Bahro nicht bloß die Methoden gegenwärtiger kommunistischer Machtausübung in Frage, sondern deren ökonomisches Fundament: die forcierte Industrialisierung, die eines Tages angeblich jedem Menschen ein sorgenfreies Leben in brüderlicher Gleichheit ermöglichen soll. Zwar weiß der Marxist Bahro, daß von Emanzipation dort nicht die Rede sein kann, wo materielle Not herrscht. Die diktatorischen Mittel, zu denen die Bolschewiki in Rußland griffen, um ihr rückständiges Land zu industrialisieren, hält er für historisch legitim. Doch heute, wo auch Osteuropa das Stadium eines relativen Reichtums erreicht habe, sei es an der Zeit, sich wieder der ursprünglichen Marxschen Vision zu erinnern: Aufhebung der Herrschaft des Menschen über den Menschen, Verstopfung aller Quellen der Entfremdung, die ihn noch jenseits der Armut zum seelischen Krüppel machen.

Als Ursprung jeder Entfremdung hatte Marx die Arbeitsteilung ausgemacht, die sich bis heute auch im Verhältnis des Vorgesetzten zum Untergebenen niederschlägt. Obwohl für Marx Aufhebung des Kapitalismus und Überwindung der Arbeitsteilung ein und derselbe geschichtliche Akt waren, zeigt Bahro, daß der reale Sozialismus die alte Arbeitsteilung nicht reduziert hat, sonder erweitert — derart, daß »Subalternität« zum herrschenden Verhaltenscharakteristikum aller Lebensbereiche geworden sei.

Um diese fatale Entwicklung zurückzuschrauben, verlangt Bahro eine radikale bildungspolitische Kurskorrektur: Statt Züchtung hochgradig spezialisierter Fachidioten wünscht er eine »universalistische« Ausbildung, die es grundsätzlich jedermann ermöglichen soll, auf allen Funktionsniveaus seiner Arbeit tätig zu werden — mal als Maurer, mal als Architekt, beispielsweise.

Den Einwand, utopischen Träumen vom »neuen« Menschen nachzuhängen, läßt Bahro nicht gelten. Obwohl er einräumt, daß es zur Durchsetzung seiner Kulturrevolution einer gleichsam religiösen Bewegung bedürfte, sieht er auf Dauer keine Alternative zu seinem asketisch gereinigten Sozialismus: 

»Wenn man nicht auf weitere materielle Expansion verzichtet, geht man ins Nichts.« 

Der Sprung vom realen zum authentischen Sozialismus setzt laut Bahro die Gründung eines neuen »Bundes der Kommunisten« voraus. In ihm könnten sich all jene zusammenschließen, denen »die Sache des Kommunismus, das heißt der realen Gleichheit und der allgemeinen Emanzipation, jemals wirklich ernst war«. Dabei würde es sich zunächst nicht um eine Partei herkömmlichen Typs handeln; eher um ideologische Diskussionszirkel, um so etwas wie einen »kollektiven Intellektuellen«, der die »politisch am Sozialismus interessierten Menschen innerhalb und außerhalb der Partei mit dem Gedanken an die Möglichkeit einer Alternative vertraut zu machen« hätte.

Bahros Buch soll dazu den ersten Anstoß liefern. In der DDR werde es, auch wenn es nur im Westen erscheinen dürfe, eine »beträchtliche« Wirkung erzielen, schätzt der Autor. 200 bis 300 Exemplare, meint er, würden nach der Veröffentlichung im Untergrund zirkulieren.

Bahro selbst hat sich unterdessen darauf eingerichtet, daß »die Politbürokratie zweifellos mehr als eine Methode der Unterdrückung dagegen probieren wird«. Welche Folgen der erwartete Stasi-Besuch in dieser Woche für ihn hat, weiß er noch nicht: »Vielleicht nehmen sie mir nur meinen Arbeitsplatz weg, vielleicht tragen sie mir die Ausreise an, vielleicht ziehen sie mich aus dem Verkehr.« Die physisch angenehmste Möglichkeit, die Ausreise in die Bundesrepublik, hält er im Interesse seiner Sache allerdings für unannehmbar: »Man kann mich aus der SED rausschmeißen, aber nicht aus dem Problem und damit nicht aus der DDR.«

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»Gegen sich selbst und gegen das Volk«

Rudolf Bahro über die kommunistische Bürokratie 

DER SPIEGEL, Nr. 35/1977

 

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Bürgerliche Propagandisten machen nicht erst aus Gehässigkeit, sondern schon aus Dummheit den Fehler, von der sozialistischen Propaganda für bessere qualitative und vor allem quantitative Ausnutzung der Arbeitszeit auf einen starken Leistungsdruck in unseren Betrieben zu schließen.

In Wirklichkeit ist natürlich nicht nur die Arbeitsintensität, sondern auch die Arbeitsdisziplin niedriger als im Kapitalismus. Unsere Ordnung gibt der »natürlichen« menschlichen Trägheit und Nachlässigkeit größeren Raum als der Kapitalismus, und zwar nicht nur »unten«, sondern auch »oben«: Die Indolenz des Bürokraten korrespondiert mit der Interesselosigkeit des Arbeiters, der Unlust des Spezialisten.

Fast alles, was unternommen wird, ist durch ein charakteristisches Mißverhältnis zwischen Aufwand und Ergebnis gekennzeichnet. Und die Partei, die unter den von ihr initiierten Verhältnissen allein als Motor des industriellen und gesellschaftlichen Fortschritts fungieren kann, ist durch ihren eigenen Apparat tief in den allgegenwärtigen Spinnweb der Bürokratie verstrickt, der kein noch so entlegenes Gebiet des sozialen Lebens ausläßt.

Aber wenn die bürokratische Sklerose des Machtapparats die allein herrschende Tendenz wäre, wenn ihre zweifellos schwerlastende Wirkung entscheidend durchschlüge, dann könnten wir niemals das dennoch verhältnismäßig hohe ökonomische Wachstumstempo haben, das genau diejenigen nichtkapitalistischen Länder auszeichnet, die unter Parteien marxistisch-leninistischer Tradition arbeiten. Der Bürokratismus erhob schon in der Leninschen Periode der russischen Revolution sein konservatives Haupt. Gleichwohl folgte die ungeheure Wirtschaftsdynamik der dreißiger Jahre, und der von Stalin personell weitgehend erneuerte Apparat erwies sich als terroristisch gezähmtes Werkzeug der politischen und industriellen Revolution.

* Vorabdruck aus Rudolf Bahro <Die Alternative>


Selbst heute noch beeinträchtigt die bürokratische Form unseres Überbaus weniger das quantitative als das qualitative Wachstum, dies letztere freilich auf eine im Rahmen der gegebenen Prämissen unkorrigierbare Weise.

Für die Suche nach einer Alternative ist es aber sehr wichtig, zu begreifen, daß und warum sich unser Machtapparat nicht absolut in seinem Teufelskreis festläuft.

Dafür gibt es zwei Gründe. Der eine besteht in dem Selbsterhaltungsinteresse des Apparats angesichts der unablässigen Herausforderung durch den materiell-technisch überlegenen westlichen Partner und Gegner.

Die ursprüngliche bolschewistische Motivation für den ökonomischen Wettbewerb hat natürlich die Masse der Bürokraten nie sonderlich aufgeregt. Aber das Leninsche Vermächtnis, die Arbeitsproduktivität sei letztlich das Entscheidende, läßt sich nicht zum Schweigen bringen, weil es heute die Bedingung für das Überleben unserer Ordnung in einer weitgehend von ihr enttäuschten Gesellschaft ausdrückt.

Die Hektik, die sich immer wieder konvulsivisch von der Spitze herab über den ganzen Wirtschaftsapparat ausbreitet, ist der Fluch des Hasen, der mitansehen muß, wie der (westliche) Igel immer schon da ist.

In der sowjetischen Problematik von heute steckt im Grunde immer noch viel von der alten äußeren Herausforderung, die Peter den Großen dazu trieb, die Peitsche über Rußland zu schwingen, und das hießt zuerst: über der russischen Bürokratie. Die durchschnittlichen Partei- und Staatsbeamten werden nicht von ihrem ruhelosen Gewissen in den Herzinfarkt getrieben — ihre offenbare Mentalität füllt alle Muster des traditionellen Ämter-Konservatismus aus —, sondern von dem Selbstbehauptungswillen der höchsten Funktionäre, die um keinen Preis von den Hebeln der Macht lassen möchten. Nach innen besteht das große Dilemma darin, daß die Massen ihre Versprechungen immer weniger an den kleinen Fortschritten messen, die ihnen Jahresplan für Jahresplan zugedacht werden, immer mehr an dem Absolutbetrag des Abstandes zum Konsumparadies der spätkapitalistischen Industrienationen.

Die bürokratische Oberschicht samt Anhang selbst lebt dem Volk diese Orientierung vor, in der Sowjet-Union noch viel auffälliger als bei uns. Nichts mehr von der alten bolschewistischen Bescheidenheit, die es sich zur Ehre anrechnete, die materiellen Entbehrungen der Ärmsten zu teilen.

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Wenn die Satellitentechnik vollends die anachronistische Isolierung der sowjetischen Massen vom erscheinenden »Weltbild« der Gegenwart liquidiert, wird der Apparat in Moskau über einem Vulkan unbefriedigter materieller Bedürfnisse thronen. Das und nichts anderes ist die Ursache der Panikstimmung, die in Gromykos Konventionsentwurf »über Prinzipien der Nutzung künstlicher Erdsatelliten für Fernsehdirektsendungen« zum Vorschein kommt, einem Dokument, das an die Handschrift Nikolaus des Ersten erinnert.

Es geht in der Sowjet-Union heute nicht einfach um die Abwehr »ideologischer Diversion« im traditionellen Sinne. Die Propagandamaschine wird völlig machtlos sein gegen den bloßen Augenschein der »Wohlstandsgesellschaft«. Es ist ja ein offenes Geheimnis, daß schon die westlichen Länder des eigenen Blocks nicht ohne weiteres zur allgemeinen Besichtigung für Sowjet-Bürger freigegeben werden können.

Aber es gibt noch einen zweiten, gewissermaßen höheren Grund für die verhältnismäßige Funktionsfähigkeit unseres Systems als das Selbsterhaltungs­interesse.

Wir sehen in vielen Entwicklungsländern Parteien und Bürokratien ohne marxistisch-leninistische Herkunft mit weit geringerem Erfolg um die ökonomische Legitimation ihrer Herrschaft kämpfen. Sie werden schon allein der Korruption nicht Herr — einer anderen Korruption als jener systematischen Bestechung zur Staatstreue, die Stalin von oben zu organisieren verstand und die sich im großen und ganzen nie der Kontrolle der Zentrale entzieht. Letzten Endes beruht auch die charakteristische Disziplin echter stalinistischer Bürokratien weder auf den gestaffelten Privilegien noch allein auf der ständigen Präsenz der indirekten Gewaltandrohung im Falle der Abweichung. Es blieb bis heute ein Rest weltanschaulich-moralischer Loyalität erhalten, für die das formelle Festhalten der maßgebenden Repräsentanten an einem kleinen Katechismus der reinen Lehre entscheidend ist.

Hier handelt es sich um die bei Weltanschauungsparteien ebenso wie bei Kirchen zu beobachtende Fortführung einer ursprünglichen Inspiration, die zu ihren Existenzbedingungen zählt. Die Kirche ist trotz Staatsreligion, Orthodoxie und Inquisition selbst heute noch nicht tot, weil und insofern es ihr gelingt, die im Neuen Testament als Verhaltensideal aufgezeichnete Mission Christi in wenigstens einigen ihrer Glieder glaubhaft gegenwärtig zu halten. (In ihren schlimmsten Krisen werden Kirchen von ihren Ketzern gerettet.) 

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In allen unseren Parteien an der Macht gibt es bis hinauf in die Spitze noch Menschen, die wenigstens durch ihr schlechtes Gewissen an die Idee gebunden sind. Wollten sie sich öffentlich von der Idee lossagen, es fegte sie sogleich hinweg. Von einem unentrinnbaren Legitimitätskomplex verfolgt, brauchen sie die Geschichtslüge wie das tägliche Brot, und sie müssen wenigstens in gewissen unaufrichtigen Augenblicken sogar daran glauben, um psychologisch überleben zu können. Der verratene und verdorbene Marxismus ist immer noch das Pfund, mit dem sie wuchern.

Worin wurzelt nun die Schwäche der stalinistischen Bürokratien? Warum sind sie nicht in der Lage, die Flucht nach vorn anzutreten, selbst die Initiative für den Aufbruch aus dem Dilemma zwischen ihrem ursprünglichen revolutionären Auftrag und ihrer Herrschaftspraxis zu ergreifen?

Weiter blickende Funktionäre, wie zum Beispiel Kadar, wiederholen den Gedanken Lenins, daß die Partei unter den Bedingungen ihrer Alleinherrschaft zugleich die Rolle der Opposition wahrnehmen müßte. Aber das gelingt ihr nicht effektiv, weil sie infolge ihrer eigenen Bürokratisierung, infolge ihrer Unterwerfung unter den riesigen Apparat und seine Reproduktionsbedürfnisse außerstande ist, sich kritisch von der Staatsmaschine, vom Etatismus zu distanzieren.

Man sollte endlich mit den letzten Resten der Illusion Schluß machen, wir hätten es bei der Masse der politischen und administrativen Bürokraten mit bloß oberflächlich bürokratisierten Kommunisten zu tun, denen man vielleicht einmal gründlicher ins verkrustete Gewissen reden müßte.

Nein, der Bürokratismus hat längst aufgehört, eine bloß übergestreifte fremde Form zu sein. Er ist zur gewissermaßen natürlichen politischen Existenzform einer großen Gruppe von Menschen mit ausgeprägten Sonder­interessen geworden.

Naive wundern sich oft, daß sich die Partei durch die Aufnahme so vieler »Unwürdiger« schwächt; in Wirklichkeit wächst die Macht der Bürokratie mit der Zahl der unterworfenen und verwalteten Seelen. Volk und Funktionäre — das ist die unvermeidliche Dichotomie in jeder sozialistischen Gesellschaft wie der unseren. Selbstverständlich braucht jede politische Partei einen Organisationsapparat in Gestalt von Büros, Sekretariaten oder wie solche Hilfsabteilungen immer heißen mögen.

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Aber die ursprüngliche Bedeutung der Begriffe ist in der Praxis unserer regierenden Parteien kopfgestellt. Es gab noch nie eine Herrschaft, deren maßgebliche Repräsentanten sich ausgerechnet »Büromitglieder« und »Sekretäre« nannten. An diesen Bezeichnungen allein ließe sich schon die Überwältigung des lebendigen Parteikörpers durch seine Bürokratie ablesen. Kaum zufällig erzeugt das Parteileben heute gar keine politischen Führerpersönlichkeiten, keine echten konzeptiven Ideologen mehr.

Dafür finden wir in den Parteinstanzen bis hinauf zum ZK-Apparat, der ja genau besehen nur die ausgebreitete Totalität der Politbüro-Funktionen ist, ausnahmslos alle Zweige und Ebenen der staatlichen und »gesellschaftlichen« Bürokratie in komprimierter Form verdoppelt.

Die Ausarbeitung, Durchführung und Kontrolle der Parteibeschlüsse muß unter eine eigene Bürokratie verteilt sein, weil die Partei nicht durch die Selbstorganisation ihrer überall vertretenen Mitglieder, sondern nur durch ihren Apparat als Initiator auftreten kann. So erhebt sich über der administrativen Staatsbürokratie nicht die Sphäre der in den Vertretungskörperschaften repräsentierten Volkssouveränität — Sowjets spielen im Sowjet-System keine nennenswerte Rolle, ihre Zusammensetzung wird nicht durch Volkswahl, sondern durch bürokratische Auswahl unter Parteiaufsicht bestimmt —, sondern eine besondere politische Bürokratie, die ihrerseits die innerparteilichen Wahlen manipuliert.

An der Spitze steht in Gestalt des'Politbüros eine Institution, die sich de facto selbst beruft. Wer neu in diese Führung aufgenommen werden soll, entscheiden diejenigen, die schon drin sind, und auch sie nicht alle. Diese »Kommunisten« gehen so weit, ein eigenes Protokoll für ihre interne Sitzordnung nach Rangabstufungen vorzusehen.

Die Diktatur des Politbüros ist eine verhängnisvolle Übersteigerung des bürokratischen Prinzips, weil der ihm gehorchende Parteiapparat Kirchenhierarchie und Überstaat in einem ist. Die ganze Struktur ist quasi-theokratisch. Denn der Kern der politischen Gewalt ist die geistliche Gewalt, mit der ständigen Tendenz zur Inquisition, so daß die Partei schon selbst die eigentliche politische Polizei ist. Der Parteiapparat als Kern der Staatsmacht bedeutet den säkularisierten Gottesstaat, wie er der Kirche zu ihrem Glück nie anders als lokal gelungen ist. Da er auf diese Weise in der Tat, »für alles verantwortlich« ist, muß er jede Distanzierung von den Details der bürokratischen Praxis als ideologische Ketzerei verdächtigen.

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Gerade die großen Fehler entziehen sich überhaupt jeder rechtzeitigen Kritik. Mit der Anmaßung, das Gesetz der Geschichte und die wahren Interessen der Massen zu kennen, läßt sich jede ökonomisch noch so teure politische Entscheidung rechtfertigen. Überall dort, wo nicht Millionen, sondern Milliarden des von den unmittelbaren Produzenten erzeugten Mehrprodukts auf dem Spiel stehen, darf man nur an der Spitze der Spitze nach den Verantwortlichen suchen. Sie allein haben die Risiken zu vertreten, da sie sie »für die Gesellschaft« statt mit ihr tragen.

Es rankt sich eine ganze apologetische Sentimentalität um diese »Last der Verantwortung«, die sich ja letzten Endes auf den Weltlauf überhaupt bezieht. Man trägt sie wie ein Kreuz, und sie muß natürlich durch gewisse Annehmlichkeiten des Lebens ausgeglichen werden. Sie ist der Quell aller Rechtfertigungen für die innerbürokratische Korruption von oben, in der sich am sichtbarsten die Aneignung fremder Arbeit durch die Kostgänger des Machtapparats manifestiert.

Alles in allem besteht in der Unkontrollierbarkeit der Politbüros und ihrer Apparate, in dieser institutionellen Identität von Staatsautorität, ökonomischer Verfügungsgewalt und ideologischem Ausschließlichkeitsanspruch, das politische Grundproblem im real existierenden Sozialismus, der erste Gegenstand der notwendigen Umgestaltungen. Die zentralistische Monopolisierung aller ökonomischen, politischen und geistigen Entscheidungsmacht führt zu einem unüberwindlichen Widerspruch zwischen dem sozialen Auftrag der Partei und ihrer politisch-organisatorischen Existenzform.

Was ich behaupte, ist, daß die Parteiorganisation, wie wir sie jetzt konkret vor uns haben, ein veraltetes Weltbild und Verhaltensmodell konserviert, daß sie als soziales Erkenntnisorgan auf »physiologischer« Ebene sklerotisch, auf »psychologischer« neurotisch funktioniert.

Solche leistungsgeminderten und funktionsgestörten Gehirne pflegen ihre Organismen früher oder später zugrunde zu richten, weil die Entscheidungen, die sie treffen, zu weit vom Optimum abliegen und oft nur geeignet sind, das Gesamtsystem noch tiefer in die Krise zu verstricken.

Die heutige Parteiorganisation ist eine Struktur, die aktiv massenhaft falsches Bewußtsein produziert. An der Spitze gerinnt dieses falsche Bewußtsein zu Entscheidungen und Beschlüssen, die insgesamt keine korrekte Interpretation der gesellschaftlichen Bedürfnisse, Notwendigkeiten und Möglichkeiten darstellen können. Sie ist konditioniert

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wie ein Pawlowscher Hund, der eine lange Zeit braucht, um eine einmal eingeübte Reaktion auf irgendein Signal zu verlernen, wenn dieses Signal seine Bedeutung verändert.

Der Apparat ist — weit über die individuelle Beschränktheit seiner Träger hinaus — blind gegen alle Reaktion der Gesellschaft auf seine eigene lastende und provozierende Existenz. Der einzelne Bürokrat kann irren — oder wenigstens nachträglich geirrt haben —, aber die Partei, das heißt der Apparat als ganzer, hat immer recht. Daher sieht man die amtlichen historischen Materialisten so regelmäßig nach Sündenböcken suchen, um die Fehlfunktionen des sozialen Ensembles zu kaschieren, dem sie vorstehen. So schiebt sich die Partei wie eine verfärbte, systematisch mit Dunkelfeldern durchsetzte Zerrlinse zwischen das gesellschaftliche Denken und die Wirklichkeit. Die werktätigen Massen, die nicht darüber unterrichtet sein können, wie diese Linse gewachsen und konstruiert ist, wie sie eingestellt und gedreht wird, was sie abblendet, welche systematischen Fehler sie verursacht, können nur darauf verzichten, dieses Instrument zu benutzen, und sie tun es auch: Sie »schalten ab«, noch ehe die offiziellen Gebetsmühlen den ersten Satz geklappert haben.

Aber die Tragödie besteht darin, daß sie damit überhaupt auf differenzierte Erkenntnis verzichten müssen, weil die Gesellschaft keine alternative Struktur dafür besitzt.

Schlimmer noch: Die einzige Theorie, die geeignet ist, den Dschungel des bürokratischen Zentralfsmus und sein politbürokratisches Allerheiligstes zu durchdringen, der revolutionäre Marxismus, ist infolge der totalen Verfügungs­gewalt des Apparats über die Massen­kommunikationsmittel und das Erziehungswesen noch immer so effektiv von der Parteibürokratie usurpiert, daß ihn das allgemeine Mißtrauen der Massen mitbetrifft. In welchen Varianten er auch immer auftritt, die Menschen haben den Verdacht, er sei eigens dazu geschaffen worden, die jetzige Parteiherrschaft zu begründen. In das hochprozentige Vakuum, das so entstanden ist, schießt die ideologische Massenproduktion des Westens ein, wo immer dessen Kommunikationstechnik hinreicht.

Die Widersprüche unseres Systems sind so weit gediehen, daß der bürgerliche Propagandaapparat wenigstens zum Teil eher die Rolle eines nützlichen Korrektivs spielt: Wo sein Einfluß fehlt, wie zur Zeit noch in weiten Teilen der Sowjet-Union, ist die geistig-politische Situation der Werktätigen gegenüber dem politbürokratischen Regime ungünstiger als bei uns, in den peripheren Ländern des Blocks.

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Woher kennen die Kommunisten der osteuropäischen Länder das wirkliche Leben der fortschrittlichen Bewegungen in aller Welt? Woher wissen sie etwas von den sozialistischen Erfahrungen Jugoslawiens, Chinas, woher von dem 68er Aktionsprogramm der tschechoslowakischen Partei? Wer zitiert, wie tendenziös auch immer, die »Rinascita« der italienischen Kommunisten?

Man könnte das endlos fortsetzen. Der antiprometheische Charakter der maßgebenden »Bruderparteien«, allen voran der sowjetischen und unserer deutschen, ist die verheerende Tatsache. Ihre innere Verfassung und ihre Herrschaftsform als Überstaatsapparat sind die entscheidenden Entwicklungshemmnisse auf dem Wege zur weiteren Emanzipation der Menschen in unseren Ländern. Die Partei, die einmal Lenins war, die Partei, die von Liebknecht, von Rosa Luxemburg begründet wurde — sie wirkt heute mit umgekehrter Fackel.

Die Kommunisten sind in solchen Parteien gegen sich selbst und gegen das Volk organisiert. Schon durch sein bloßes physisches Dasein, ohne jede speziellere Perfidie, ist der heutige Parteiapparat der Totengräber der Parteiidee und der individuellen Parteigesinnung. Er macht gerade jene Menschen, die aus der Notwendigkeit ihres Charakters und ihrer Überzeugung Kommunisten sind, als Parteimitglieder überflüssig.

Mehr noch: Wenn es nicht gelingt, sie zu Bürokraten zu machen, in den Apparat zu integrieren, können sie in der Tat nur »schaden«, so daß es logisch ist, die Maschinerie gegen sie in Alarmbereitschaft zu versetzen. Denn aus dieser Gruppierung kommen gesetzmäßig die Führer des antibürokratischen Blocks.

Es ist eine Konstante jeglicher Kirchenorganisation, daß ihre Reformation von ihren gläubigsten Ketzern ausgeht: den Tempel zerstören, um ihn schöner wieder aufzubauen; die Wechsler austreiben, damit sich wieder die Gläubigen einfinden können. Ohne Zweifel spielt dieses Muster in der gegenwärtigen Situation des rapiden ideologischen Machtverfalls unserer »katholischen« Partei eine Rolle. Wie Kirchenreformation die christliche, so setzt Parteireformation die kommunistische Gesinnung voraus. Eines aber dürfte klarwerden: daß sich die neue Kommunistische Partei tiefer von dem überlieferten Parteityp, gerade auch von dem bolschewistischen, unterscheiden muß als jede reformierte Kirche von ihrer Vorgängerin.

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