Pragal Spiegel Fuchs Nachwort Stimmen
Mit einem Buch das Visier hochgeklappt
Nach jahrelangem »Doppelleben« bekennt sich ein SED-Mitglied zur offenen Opposition gegen das Regime
Von Peter Pragal, Süddeutsche Zeitung vom 24. August 1977
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Berlin/DDR, 23. August 1977
Rudolf Bahro ist weder ein ängstlicher noch ein sonderlich mißtrauischer Mensch. Dennoch, so scheint es, öffnet er die Tür zu seiner kleinen Wohnung im Ostberliner Stadtbezirk Weißensee ein wenig zögernd. Erst als sich der Besucher nicht als Vertreter der Staatsmacht, sondern als westdeutscher Journalist vorstellt, löst sich die Spannung in Bahros Gesicht. Seine sichtliche Erleichterung verbindet sich mit der Bemerkung: »Dann sind Sie herzlich willkommen.«
Der 41jährige Abteilungsleiter in einem Ostberliner Industriebetrieb hat allen Grund, seinen Besuchern mit Vorsicht zu begegnen. Seitdem das Hamburger Nachrichtenmagazin Der Spiegel und andere westliche Massenmedien damit begonnen haben, Bahros, in einer breit angelegten Streitschrift zusammengefaßte, Kritik an der Diktatur der Moskauer und Ostberliner Politbürokraten zu verbreiten, ist der Wirtschaftsfunktionär vor einer Verhaftung durch den Staatssicherheitsdienst nicht mehr sicher. »Ich bin auf jede denkbare Reaktion gefaßt«, sagt er und fügt hinzu: »Ich hatte Zeit, mich auf die Stunde der Wahrheit vorzubereiten.«
Um diesen Augenblick, den Beginn der erwarteten offenen Kontroverse mit dem SED-Apparat, bewußt erleben zu können, hat Bahro, der seit 1952 der SED als Mitglied angehört, jahrelang das »Doppelleben eines Illegalen« geführt. Während seiner Tätigkeit als Fachmann für wissenschaftliche Arbeitsorganisation verhielt er sich wie ein gewöhnlicher Genosse, der ordentlich seine Arbeit erledigt und in der Partei nicht gerade durch abweichende Gedanken auffällt. Nach Dienstschluß jedoch setzte er sich an seine Schreibmaschine und arbeitete an einem Manuskript, dessen Thesen für die SED-Führung zur ideologischen Zeitzünderbombe werden könnten. Moralische Skrupel wegen seines Doppelspiels hat Bahro nicht: »Ich habe nicht meine Kollegen, sondern den Parteiapparat betrogen«, sagte er. Und: »Ich mußte mich so verhalten, wenn ich wirklich dieses Buch schreiben wollte.«
Was der kritische Marxist Bahro in seinem Buch »Die Alternative« (Europäische Verlagsanstalt, Köln) an Erfahrungen, Kenntnissen und Schlußfolgerungen zusammengetragen hat, ist — so Der Spiegel — »die bislang unerbittlichste Abrechnung eines scheinbar loyalen Genossen mit dem DDR-Sozialismus«. Mit der Entschlossenheit eines Revolutionärs und der kühlen Distanz eines Wissenschaftlers beschreibt Bahro den »real existierenden Sozialismus« als reformunfähige, von machtbewußten Bürokraten beherrschte Gesellschaft, der Marx und Engels nur noch als Etikett dienen.
Bewußt zieht der politische Ketzer Bahro, dessen Bekennermut fast religiöse Züge trägt, einen Vergleich zur Kirchengeschichte. »Die Partei steht da wie die Papstkirche vor Luthers Reformation«, sagt er, »ungläubig bis tief in die eigenen Reihen hinein.« Die Mittel der Massenmobilisierung seien abgenutzt und verschlissen. Es gebe keine Diskussion mehr. Verdrossenheit und Resignation machten sich breit, und nirgendwo sei eine Konzeption zu erkennen. Bahro: »Die ursprüngliche Idee ist ausgehöhlt.«
Indes, der studierte Philosoph, der einst mit »eindeutigem Idealismus« in die SED eintrat und sich heute seines Parteiabzeichens schämt, will sich nicht mit der Rolle eines Systemkritikers zufrieden geben. Er versteht sich darüber hinaus als Wortführer einer sich allmählich formierenden Opposition, die aufgerufen sei, auf Veränderungen hinzuarbeiten. »Die Theorie darf nicht Halt machen vor ihren praktischen politischen Konsequenzen«, meint Bahro. Sein Buch soll deshalb zugleich ein Programm sein, »für das man Menschen mobilisieren kann, die nicht mehr so weitermachen wollen wie bisher«.
»Immer Glück gehabt«
Seine Zuversicht bezieht der geborene Schlesier nicht zuletzt aus der Erfahrung, daß er mit seiner Kritik an der »politbürokratischen Diktatur« und der »reaktionären Machtstruktur« innerhalb der SED nicht allein steht. Es gebe eine Menge Leute, sagt Bahro, die es nicht mehr länger aushielten, ihre wirkliche Meinung verbergen zu müssen. Zwar hätten noch viel zu viel Leute voreinander Angst, »die das ganz und gar nicht nötig haben«, aber es sei bereits viel mehr ehrliche Kommunikation möglich, als manche denken. »Wer den Mut hat, selbst mal das Visier zu öffnen«, meint Bahro, »erntet ziemlich viel Vertrauen.«
Der dies sagt, kennt sich im Partei- und Staatsapparat ziemlich genau aus. Er war, wie er berichtet, »als einer der Aktivsten von Anfang an an unseren Verhältnissen beteiligt«. Nach seinem Studium arbeitete er als Agitator auf dem Lande. Später redigierte er in Greifswald die Universitätszeitung. 1962 holte ihn die Partei nach Berlin; Bahro wurde Funktionär in der Gewerkschaft Wissenschaft. Einen Höhepunkt erreichte seine Karriere, als man ihn mit dem Posten eines stellvertretenden Chefredakteurs der FDJ-Zeitung Forum betraute. Wegen einer eigenmächtigen Entscheidung mußte er 1967 in die Industrie überwechseln. Aber auch dies war, wie er zugibt, eigentlich keine Strafversetzung. »Ich hatte überhaupt immer das Glück, gut behandelt zu werden.«
Freilich, seine Enttäuschung über die politische Praxis, die allmähliche Wandlung zum Systemkritiker war dadurch nicht aufzuhalten. Er stürzte sich erneut auf das Studium politischer Schriften, »nun aber auf eigene Rechnung«. Das jähe Ende des »Prager Frühlings« im Jahre 1968 brachte zusätzliche Klarheit. In jener Zeit sei er sich klar darüber geworden, sagt Bahro, daß es notwendig werde, einen systematischen Kampf gegen die »spätstalinistische Apparatherrschaft« zu beginnen.
Nun, da er meint, mit seinem Buch eine theoretische Plattform für eine politische Gegenbewegung geschaffen zu haben, hat Bahro sein Visier endgültig hochgeklappt. Sofern man ihn »nicht aus dem Verkehr zieht« (sprich: wegen Staatsverleumdung einsperrt), will er künftig »keine Ruhe mehr geben«, will »den Apparat daran gewöhnen, einer offenen Opposition ins Gesicht sehen zu müssen«. Schon jetzt sind einige selbstgefertigte Voraus-Exemplare seines Buchs in der DDR im Umlauf. Der Autor hofft, daß es nach der Veröffentlichung im Westen noch ein paar hundert mehr werden. DDR-Bürger, die sich mit den aufsässigen Gedanken Bahros vertraut machen konnten, zweifeln nicht an der Wirkung seiner Streitschrift. Anspielend auf den bevorstehenden 65. Geburtstag von SED-Chef Honecker kommentierte einer von ihnen Bahros Buch mit dem Satz: »Das wird für Erich ein hübsches Geburtstagsgeschenk.«
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DER SPIEGEL, Nr. 36/1977
DDR: Geistige Leere
Mit der Festnahme Rudolf Bahros verschaffte die SED-Führung ihrem Kritiker genau die Publizität, die er sich erhofft hatte.
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Schweigend hörten die SED-Genossen auf der Parteiversammlung des VEB Gummikombinats Berlin der Rede ihres Funktionärs zu. Acht Minuten lang referierte Rudolf Bahro, Mitglied der Parteileitung im Betrieb, am Montagabend vergangener Woche Ungeheuerliches. Seit fünf Jahren — so trug der 41jährige Abteilungsleiter für wissenschaftliche Arbeitsorganisation den Kollegen vor — habe er insgeheim an einer programmatischen Abrechnung mit dem DDR-Sozialismus gearbeitet. Das fertige Buch erscheine jetzt unter dem Titel »Die Alternative« in einem bundesdeutschen Verlag; Auszüge habe der SPIEGEL, soeben im Vorabdruck veröffentlicht (SPIEGEL 35/1977).
Auch als Bahro die wichtigsten Thesen seines Buches resümierte, regte sich kein Widerspruch. Nach dem Vortrag wollten lediglich zwei Genossen wissen, warum er sein Werk »nicht hier bei uns herausgebracht« habe. Bahro erwiderte, das habe er vergeblich beim Ost-Berliner Dietz Verlag versucht.
Am nächsten Morgen stand der Fall Bahro auf der Tagesordnung des SED-Politbüros, das routinemäßig am Dienstag jeder Woche zusammentritt. Nach kurzer Debatte beschloß das Spitzengremium der Einheitspartei, den Abweichler festnehmen zu lassen. Vergeblich hatte Kurt Hager, im Politbüro zuständig für Kulturpolitik, eine weichere Gangart vorgeschlagen.
Die sogenannte Sicherheitsfraktion um Werner Lamberz, Paul Verner und den Chefredakteur des »Neuen Deutschland«, Joachim Herrmann, setzte sich am Ende durch — wie schon bei der Ausweisung des SPIEGEL-Korrespondenten Jörg R. Mettke, des Fernsehjournalisten Lothar Loewe und der Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann. Bahros Festnahme begründete die SED mit der zugleich härtesten und unwahrscheinlichsten Anschuldigung: dem Verdacht »nachrichtendienstlicher Tätigkeit«.
Von diesem perfiden Schachzug erhofft sich die Parteiführung doppelte Wirkung. Zum einen soll jede Diskussion der für das Regime so explosiven Thesen unterdrückt werden — was kaum zu vermeiden gewesen wäre, wenn die Politbürokraten Bahro als ideologischen Abweichler oder Konterrevolutionär hingestellt hätten. Zum anderen will die SED, indem sie den Kritiker als West-Spion brandmarkt, alle potentiellen Gesinnungsgenossen Bahros in der DDR einschüchtern. Zugleich soll es den eurokommunistischen Parteien in Frankreich und Italien schwergemacht werden, sich mit dem Festgenommenen und seiner Kritik am Ostblock-Kommunismus zu solidarisieren.
Die harte Reaktion der Partei, der er seit 23 Jahren angehört, hatte sich Bahro womöglich gewünscht: Er wollte die Provokation — mit allen Konsequenzen. Vor seiner Festnahme sagte er dem SPIEGEL: »Für die Wirkung meines Buches wäre es am besten, wenn sie mich einsperrten.«
Die Partei tat ihm den Gefallen. Unklar bleibt nur, warum der Staatssicherheitsdienst nicht früher Zugriff. Bahro selber ging davon aus, daß er seit einigen Wochen schon von den Sicherheitsbehörden beobachtet wurde. Gleichwohl warteten die Stasi-Beamten, bis der SPIEGEL am vergangenen Montag seine Thesen publik gemacht und das bundesdeutsche Fernsehen auf beiden Kanälen am Tag darauf Interviews mit ihm ausgestrahlt hatte. Offenbar wollten der Staatssicherheitsdienst und seine Vertrauensleute im Politbüro die Fernsehauftritte nicht verhindern, um auch ihre zaudernden Führungsgenossen zu einem harten Durchgreifen zu bewegen.
Selbst in den oberen Rängen der Parteihierarchie wächst jedoch die Erkenntnis, daß Polizeimaßnahmen allein nicht mehr ausreichen, um der Opposition Herr zu werden. Denn Bahro mag ein Einzelgänger gewesen sein, ein Einzelfall ist er sicher nicht. Nach der vor allem von Künstlern und Schriftstellern getragenen Protestwelle gegen die Verletzung von Menschenrechten in der DDR markiert Bahro jetzt den Beginn einer innerparteilichen, marxistisch fundierten und daher um so gefährlicheren Kritik an der Ideenlosigkeit der bürokratisch verkrusteten SED-Spitze. Die Verantwortung für diese Entwicklung lasten nachdenkliche SED-Funktionäre nicht zuletzt dem Partei- und Staatschef Erich Honecker an: Ohne klare politische Konzeption versuche er, zwischen dem Abgrenzungs- und Sicherheitsbedürfnis der DDR sowie der Notwendigkeit wirtschaftlicher Kooperation mit der Bundesrepublik hin und her zu lavieren.
Sein Vorgänger Walter Ulbricht habe es immerhin noch verstanden, einen Rest von Glauben an kommunistische Ideale lebendig zu erhalten. Unter Honecker hingegen sei das Leben in der DDR »völlig merkantilisiert«, Hebung des Lebensstandards einziges politisches Ziel. Folge dieses Vorrangs der Ökonomie vor der Ideologie müsse eine geistige Leere sein, in die nun innerkommunistische Kritiker wie Bahro hineinstießen.
Doch selbst der Versuch, die Opposition durch Festnahmen oder Abschiebung in den Westen mundtot zu machen, gelingt dem unsicher gewordenen Parteiapparat nur unvollkommen. Während er am Tag der Bahro-Verhaftung seinen prominentesten Dissidenten, Robert Havemann, wieder unter verschärften Hausarrest stellte, durfte der Leipziger Reclam-Verlag einen neuen Gedichtband der Lyrikerin Sarah Kirsch ausliefern, der in den DDR-Buchhandlungen sofort zum Bestseller wurde.
Die Biermann-Sympathisantin sitzt in Ost-Berlin auf gepackten Koffern — mit einem schon genehmigten Ausreiseantrag in die Bundesrepublik.
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Jürgen Fuchs in Frankfurter Rundschau, 5. September 1977
»Nicht freiwillig gekommen«
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Zu seiner Abschiebung aus der DDR nahm am Wochenende in West-Berlin der Schriftsteller Jürgen Fuchs, auch im Namen der ebenfalls abgeschobenen Liedermacher Christian Kunert und Gerulf Panach, Stellung. Wir veröffentlichen die Erklärung im Wortlaut.
»Wir sind nicht freiwillig nach West-Berlin gekommen. Über ein dreiviertel Jahr hinweg versuchten wir, den widerlichen Methoden der Staatssicherheit unsere feste Absicht entgegenzusetzen, daß wir in der DDR leben wollen, um dort als Künstler mitzuhelfen, eine fortschrittliche, menschenwürdige Gesellschaft zu verwirklichen. Ich wiederhole: In der DDR zu leben und nicht im Gefängnis zugrunde zu gehen.
Da wir weder bereit waren, unsere künstlerische Arbeit zu widerrufen und als <Hetze im verschärften Falle> zu begreifen noch Gemeinheiten gegenüber unseren engsten Freunden zu begünstigen, wurde uns eine Haftstrafe bis zu zehn Jahren nachdrücklich versprochen. Wir sind froh, nicht mehr im Untersuchungsgefängnis zu sein, und wir danken allen in Ost und West, die sich mit uns solidarisierten.
Gleichzeitig sind wir in großer Sorge um unseren Freund und Genossen Robert Havemann, weil wir die Abscheulichkeit und die Absicht des Geheimapparates, der unser Land beherrscht und noch fester in den Griff bekommen möchte, unverhüllt kennengelernt haben und der Ansicht sind, daß sein Leben bedroht ist. Ganz besonders deshalb, weil Robert Havemann den gegen ihn und seine Familie gerichteten hektischen und brutalen Schikanen gelassen und kompromißlos entgegentritt und sich keinem Psychoterror beugen wird.
Das gleiche trifft unseres Erachtens für Rudolf Bahro zu, der sich jetzt dort befindet, woher wir kommen, und der in diesen Tagen ein äußerst bedeutungsvolles Buch im Westen veröffentlicht. Die <Alternative> der Staatssicherheit besteht möglicherweise in dem Versuch, die Persönlichkeit des Autors mit wissenschaftlicher Akribie zu vernichten. Wir wissen, wovon wir sprechen, diese Einschätzung resultiert nicht aus der Unkenntnis der Umstände. Wohin treibt unser Land? Und wer treibt es wohin?
Dabei gibt es doch zu den Absichten der Staatssicherheit nur eine Alternative: eine menschenfreundliche, fortschrittliche und sozialistische Gesellschaft, in der der Mensch atmen kann, keinen Polizeistaat, der seine Bürger bespitzelt, einsperrt, ausbürgert oder aus ihrem eigenen Lande drängt.«
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Liselotte Julius
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Rudolf Bahro, ein bis zum 22. August 1977 in beiden deutschen Staaten weitgehend unbekannter Name, ist innerhalb weniger Tage nicht nur bei uns, sondern genauso im Ausland zum Begriff geworden. Die ungewöhnlich starke Beachtung, die sein spektakulärer Schritt in der Weltöffentlichkeit gefunden hat, wurde keineswegs durch die westdeutschen Medien ausgelöst. Zu einer solchen gezielten Pressekampagne ließ es das DDR-Regime gar nicht erst kommen. Rudolf Bahro wurde am 23. August 1977, einen Tag nach der SPIEGEL-Veröffentlichung, verhaftet.
Ihn selber konnte man »aus dem Verkehr ziehen«, nicht aber seine Gedanken. Im Gegenteil — das Interesse der Öffentlichkeit richtete sich zunehmend auf das, was Rudolf Bahro zu sagen hat. Bis zum Redaktionsschluß dieser Dokumentation (Anfang September) lagen ca. 400 Presseveröffentlichungen aus dem In- und Ausland vor, die sich mit dem »Fall Rudolf Bahro« ausführlich beschäftigten. Nahezu die Hälfte ging über die reine Berichterstattung hinaus und versuchte, sich mit seinen Thesen, soweit man sich in der Kürze der Zeit damit vertraut machen konnte, auseinanderzusetzen. Die in dieser Dokumentation veröffentlichten »Sechs Vorträge«, die Rudolf Bahro nie halten konnte und in denen er die wesentlichen Gedankengänge seines Buches zusammenfaßte, wurden über zahlreiche in- und ausländische Rundfunksender verbreitet; desgleichen sein »Interview mit sich selbst«, das auch mehrfach auszugsweise abgedruckt wurde.
Bemerkenswert bleibt darüber hinaus die Reaktion, die Rudolf Bahro bei den meisten Vertretern von Presse, Funk und Fernsehen ausgelöst hat. Es erweckte den Eindruck, als habe es der Mut und die absolute Ehrlichkeit dieses Mannes vermocht, die im allgemeinen nicht eben sonderlich zartbesaiteten Journalisten unabhängig von ihrem politischen Standort betroffen zu machen, sie nachdenklich zu stimmen. Diese Reaktion zeigte sich bis in die rein sachlichen Verhandlungen über Konditionen, Termine usw., in denen sich spontanes Verständnis für die besondere Situation und für den Menschen Rudolf Bahro äußerte. Ein wahrhaft seltenes Fazit — ebenso selten wie die Zivilcourage, mit der Rudolf Bahro bewußt und genau kalkuliert bereit war, für seine Sache mit seiner Freiheit einzustehen.
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Stimmen zum Fall Bahro
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»Es denkt in der DDR«, sagte Bahro; kein Zweifel, er weiß, wovon er redet.
Hermann Rudolph, FAZ 25. 8. 77
Denn nicht nur die Bücher dieses mutigen Kritikers werden ihre Leser finden, vor allem die eindrucksvollen Fernseh-Interviews, die viele tausend DDR-Bürger gesehen und die sie aufgerüttelt haben dürften, werden ihre Wirkung wohl haben. Wie sagte Bahro vor seiner Verhaftung: »Man kann mich aus der SED rausschmeißen, aber nicht aus dem Problem und damit nicht aus der DDR.«
Friedhelm Fiedler, Stuttgarter Nachrichten 25. 8. 77
Kritik von der Basis her und für die Basis . . . Hier hält einer, der aus den Reihen der Partei hervorgegangen ist, einer, der, was er in der Praxis erfahren hat, theoretisch reflektiert, der Partei einen Spiegel vor, in dem sie ihr Zerrbild erkennen muß. Bahro hat artikuliert, was viele denken.
Marianne Regensburger, WDR 26. 8. 77
Die Folgen dieser Herausforderung sind unabsehbar. Mit der, vermeintlichen, ideologischen Windstille zwischen Ostsee und Erzgebirge ist nichts mehr. Den DDR-Bürokraten steht ein heißer Herbst bevor.
Heinz Klunker, Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt 28. 8. 77
Bahro (markiert) jetzt den Beginn einer innerparteilichen, marxistisch fundierten und daher um so gefährlicheren Kritik an der Ideenlosigkeit der bürokratisch verkrusteten SED-Spitze.
SPIEGEL 29. 8. 77
Was Bahros Kritik so besonders unangenehm machte, war die Tatsache, daß er den »real existierenden Sozialismus« am klassischen ideologischen Rüstzeug der Kommunisten gemessen hatte — an den Schriften von Marx, Engels, Lenin.
Nick Barkow, Stern 1. 9. 77
Probleme (werden) erörtert, die auch in der Bundesrepublik diskutiert werden. Dazu gehört seine Kritik am Bürokratismus des Staates und des Parteiapparates, auch wenn man nicht so weit gehen will wie er, von einer »bürokratischen Sklerose des Machtapparates« zu sprechen. Auch seine Kritik an der in SED-Kreisen üblichen »kapitalismustypischen Wachstumsdynamik« behandelt ein Thema, das, auf die Verhältnisse westlicher Industriestaaten übertragen, in der Bundesrepublik Interesse findet.
Walter Osten, Vorwärts 1. 9. 77
Die Kritik Bahros ist für die SED um so gefährlicher, als sie nicht von außen, sondern aus den eigenen Reihen vorgetragen wird.
Neue Zürcher Zeitung 2.9.77
In vielem ist Bahro dem Jugoslawen Milovan Djilas vergleichbar, dessen Buch <Die neue Klasse> vor gut zwanzig Jahren erschien. Beide rechnen eben so gründlich wie kenntnisreich mit dem herrschenden kommunistischen System ab. Beide kommen, trotz des großen zeitlichen Abstandes, häufig zu den gleichen Ergebnissen. Und beide schreiben eine so klare, eindrucksvolle Sprache, die wie nichts anderes belegt, daß sie sich inmitten all der Apparatschiks mit ihrem vorgegaukelten Wortsalat die Fähigkeit zum eigenen Denken erhalten haben.
Joachim Nawrocki, DIE ZEIT 2.9.77
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Ende