1. Aus dem Osten in den Westen
"Ich stelle fest, daß das Leben hier anstrengender ist."
Spiegelgesprächauszug vom 22.10.1979 - "... ich weiß, ich kann völlig abrutschen."
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S: Herr Bahro, in der DDR waren Sie ein Systemgegner, in der Bundesrepublik sind Sie ein Systemgegner. Was wollen Sie als Kommunist hier eigentlich machen?
B: Was ich in der DDR bekämpft habe, war nicht das System schlechthin, sondern eine bestimmte Verfassung des Systems. Was ich in der Bundesrepublik bekämpfen will, ist nicht die gesamte Gesellschaftsverfassung. Das System in der Bundesrepublik reduziert sich nicht auf Kapitalismus.
S: Sondern?
B: Ich bin der Überzeugung, und das bestimmt auch meine Einstellung zur Politik hier, daß es nur evolutionär transformiert werden kann. Soweit sie den Kapitalismus betrifft, wird diese Evolution freilich revolutionären Inhalt haben.
S: Etwas konkreter, wenn's geht.
B: Da will ich mal sehr deutlich werden. Im 18. und 19. Jahrhundert, in der Zeit des Kapitalismus der freien Konkurrenz, suchten die kleinen Kapitalisten und Händler ohne Rücksicht auf menschliche und gesamtgesellschaftliche Konsequenzen ihren Gewinn zu maximieren. Doch während wir damals eine für die Gesamtgesellschaft und den Bestand der Zivilisation relativ harmlose Schar von kleinen Geschäfts- und Profitmachern hatten, da haben wir jetzt eine Herde stampfender Mammute, die unsere ganze Zivilisation zugrunde richten; die großen Monopole.
S: Und diese Herde wollen Sie zähmen?
B: Die müssen untergeordnet werden, die müssen unterworfen werden. Ich sehe das so: Man muß erreichen, daß die Gesellschaft den Staat kontrolliert, daß der Staat zum gesellschaftlichen Instrument wird, das diesen ungeheuerlichen Konkurrenzkampf der Monopole auch auf internationaler Ebene unter Kontrolle bringt.
S: Da sind wir aber bei einem Punkt, wo Sie eigentlich springen müßten. Das, was Ihnen vorschwebt, setzt eine Einheitsgesellschaft mit autoritären Machtmechanismen nach kommunistischem Muster voraus. Die westdeutsche Gesellschaft aber ist pluralistisch organisiert; in ihr koexistieren voneinander sehr abweichende Anschauungen und Interessen. Können Sie eine solche Gesellschaft mit ihrem Kompromißzwang überhaupt akzeptieren?
B: Selbstverständlich. Wenn man eine demokratisch-pluralistische Gesellschaft hat, dann wird es doch wohl so sein, daß dort auch majorisiert werden kann und muß. Und da frage ich mich: Was steht denn nun eigentlich an menschlichem Potential an berechtigten Interessen hinter diesem System des Monopolkapitalismus? Wir müssen die Monopole unterwerfen. Ein Konsensus darüber ist pluralistisch möglich.
S: Wie will der Kommunist Bahro den Konsens denn herstellen?
B: Durch politische Aktion, die in unserem Zeitalter ideeller Natur sein kann.
S: Aufklärer Bahro?
B: Aufklärung im weitesten Sinne, nicht bloß rein rational, man muß wirklich an die innersten Bedürfnisse der Menschen appellieren.
S: Wenn Sie etwas bewirken wollen in dieser Gesellschaft, dann brauchen Sie eine politische Basis. Wollen Sie in die SPD eintreten?
B: Oh, nein.
S: Was hindert Sie? Auch die SPD will die Monopole unter Kontrolle bringen.
B: Das, was ich sage, kann man in der theoretischen SPD-Zeitschrift Neue Gesellschaft lesen, das kann man auch bei Ideologen des Euro-Kommunismus lesen. Das ist nicht das Problem. Die SPD, das ist ja das Schlimme, muß das System verwalten, so wie es jetzt ist. Dadurch ist sie zugleich gefesselt und gebunden. Es wäre ein horrender Fehler, in die SPD zu gehen. Das würde ja alles enttäuschen, total enttäuschen, was jetzt hier auf mich hofft.
S: In die DKP können Sie ja nun gewiß nicht.
B: Ich glaube, daß die DKP mit meiner Analyse des real existierenden Sozialismus nun wirklich theoretisch tot ist.
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S: Der westdeutsche Schriftsteller und Ökologe Carl Amery hat in Ihnen einen heimlichen Grünen ausgemacht.
B: Da hat er sich nicht geirrt. Das bedeutet aber nicht; daß ich nicht Marxist wäre. Doch erst mal muß gesichert werden, daß unsere Zivilisation nicht krachen geht. Dann kann sie vielleicht meinen gesellschaftlichen Idealen zugeführt werden.
S: Könnten Sie sich vorstellen, daß Sie sich in der grünen Bewegung wiederfinden, so wie der in Österreich lebende Kommunist und DDR-Philosoph Wolfgang Harich? Können Sie sich vorstellen, im Wahlkampf 1980 für die Grünen aufzutreten?
B: Ich will zum Wahlkampf einstweilen nur eins sagen: Ich werde mich bemühen, sehr genau zu begreifen, was ich tun muß, wenn ich dazu beitragen will, daß ein Intermezzo Strauß unterbleibt.
S: Das hieße, Sie würden soweit gehen, Bahro-Fans die SPD zu empfehlen?
B: Ich kann das noch nicht übersehen. Strauß ist zweifellos ein bedeutender Mann. Wahrscheinlich würde er es nicht sehr viel anders machen als die jetzige Regierung. Aber die psychologische Rechtsverschiebung, die uns hindern würde, den Prozeß der geistigen Umstellung auf eine neue Gesellschaft voranzubringen — die muß man verhindern.
S: Herr Bahro, überschätzen Sie sich nicht selbst und Ihren Einfluß? Kommunisten haben beim Wähler der Bundesrepublik kaum Chancen. Fürchten Sie nicht, daß Sie nach einigen Wochen des öffentlichen Spektakels in der Versenkung verschwinden und nur noch in linken Zirkeln Furore machen?
B: Ich hoffe, diesem Schicksal zu entgehen. Ich hoffe es, aber es kann passieren. Ich bin jedenfalls nicht bereit, nur aus opportunistischen Gründen meine Position zu revidieren. Im übrigen kommt es dem Kommunisten Rudi Bahro nicht auf das Etikett "Kommunist" an. Ich kann mich genausogut Sozialist nennen. Zwischen Sozialismus und Kommunismus gibt es bei Marx keinen prinzipiellen Unterschied.
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Spiegel: Aber in der Bundesrepublik.
Bahro: Ich werde gegebenenfalls darauf reagieren. Das ist nicht das Problem für mich. Ich muß nicht standhaft bis ans Ende sagen, ich bin Kommunist. Ich werde das niemals leugnen, was ich damit immer gemeint habe. Ich will's mal schlicht sagen: Wäre die SPD wie die japanischen Sozialisten
Spiegel: ... wie sind die denn?
Bahro: Ich habe in der außenpolitischen Zeitschrift der DDR <Horizont> ein Porträt des japanischen Sozialisten-Führers, des Genossen Asukata gelesen, der hat gesagt, worum es geht, sei friedliche, demokratische Revolution gegen das Monopolkapital. Und mit dieser Formel stimme ich eigentlich ganz überein.
Spiegel: Die Euro-Kommunisten, vor allem die Italiener und Spanier, haben sich bei der SED zwar für Ihre Freilassung eingesetzt, aber nicht für Ihre Ideen. Die innerkommunistische Auseinandersetzung mit der <Alternative> ist bisher weitgehend ausgeblieben. Deprimiert Sie das?
Bahro: Ich hatte größere Hoffnung auf eine inhaltliche Aufnahme bei diesen Parteien. Aber ich verstehe zumindest, daß die italienische KP, die spanische KP nicht einen Kurs steuern, der den formellen Bruch mit Moskau bedeuten würde. Das wäre Unfug.
Spiegel: Wenn die Euro-Kommunisten Bahro diskutieren, erfordert dies nicht Bruch mit Moskau.
Bahro: Es ist doch so, daß die Parteien in Italien und in Spanien vor dem Punkt stehen, wo sie mal ganz deutlich sagen müssen, was sie faktisch bereits praktizieren: Dort, wo man in der Sowjet-Union und in Osteuropa ist, dort wollen wir nicht hin. Wir müssen hier zum Sozialismus, was immer das nachher konkret bedeuten soll, aber eben auf diesem Weg der friedlichen demokratischen Revolution gegen das Monopolkapital. Mit der Sozialstruktur und vor allem mit dem politischen System in Osteuropa hat unser Ziel nichts zu tun. Das wollen die Euro-Kommunisten einstweilen noch nicht rückhaltlos bekennen.
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Spiegel: Haben Sie Kontakte mit den Euro-Kommunisten?
Bahro: Bisher nicht. Aber ich nehme an, man wird schon mit mir reden. Ich empfinde dem Euro-Kommunismus gegenüber eine Verpflichtung: Ich muß mitwirken, das wieder zusammenzuführen, was seit 1917/18 in der sozialistischen Bewegung auseinandergebrochen ist.
Spiegel: Die Einheit von Sozialdemokraten und Kommunisten? Wo wäre denn da hierzulande der Partner der SPD?
Bahro: Sie haben völlig recht mit dieser Frage! Aber mehr will ich dazu jetzt nicht sagen.
Spiegel: Heißt das, Sie wollen versuchen, einen solchen Partner zu schaffen, indem Sie unabhängige Linke um sich scharen?
Bahro: Das erwartet man doch eigentlich von mir, daß ich dabei mittue.
Spiegel: Wie darf man sich das vorstellen? Wollen Sie eine Partei gründen? Jetzt, noch vor der Wahl im nächsten Jahr?
Bahro: Also, gekommen bin ich jetzt. Entscheiden für den politischen Kurs muß ich mich jetzt — und werde ich mich jetzt, auf alles Risiko hin. Ich kann völlig abrutschen dabei. Das kann völlig schiefgehen.
Spiegel: Noch mal: Es geht darum, einen sozialistischen Partner für die SPD aufzubauen?
Bahro: Sie fragen hartnäckig. Nun gut: Das schwebt mir vor.
Spiegel: Wie und von welcher Position aus? Als Privatgelehrter, der sich gelegentlich mit Aufsätzen, Artikeln oder weiteren Büchern zu Wort meldet?
Bahro: Ich habe noch keine klare Vorstellung, wie der politische Mechanismus funktionieren könnte. Das muß ich noch sehen. (...)
Spiegel: Welche Gruppen würden Sie beim Aufbau einer neuen sozialistischen Bewegung kontaktieren? Werden Sie als Vortragsreisender durch die Bundesrepublik ziehen? Kann man eine Art Manifest, einen Aufruf an die freischwebende Linke erwarten, sich hinter Rudolf Bahro zu scharen?
Bahro: Es gibt zahlreiche linksorientierte Gruppen und Grüppchen. Und sie hängen alle sehr an jeweils bestimmten — so scheint es mir aus der Ferne gesehen, ich kann mich da irren — tradierten Theorie-Fragmenten verschiedenster Art. Man kann sich endlos darüber streiten. Und ich könnte mich bestimmt zerreißen lassen, zu wem ich denn nun gehören soll. Also ich denke mir: Wenn es gelänge, eine Konzeption zustande zu bringen, die vorn vor allen diesen Streitpunkten liegt, dann könnte man vielleicht einiges zusammenführen.
Spiegel: Sie wollen also eine theoretische Plattform für die untereinander zerstrittenen linken Gruppen ausarbeiten, um alle unter einen gemeinsamen Nenner zu kriegen?
Bahro: Einen theoretischen Ausgangspunkt: ja. Aber dann einen gemeinsamen politischen Nenner, bestimmte Richtungen, wo wir praktisch hinwollen.
Spiegel: Solche Ansätze, die Linke außerhalb der SPD zu organisieren, sind bisher immer am Gruppenegoismus der Linken gescheitert.
Bahro: Ich weiß das. Mir persönlich, dem Rudi Bahro, hätte ich so was zunächst natürlich nicht zugetraut. Aber ich finde hier einfach eine letztlich doch von mir erzeugte Erwartung vor, die genau darauf hinausläuft. Und nun muß ich es also versuchen und wagen — auch auf die Gefahr hin, am Ende politisch ein toter Mann zu sein.
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... ich werde auch hier zu Hause sein
Auszug aus der Aufzeichnung einer in Tübingen am 22.11.1979 gehaltenen Rede.
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Man hat mich wiederholt gefragt, wie ich mich denn nun als Wanderer zwischen zwei Welten fühle. Ich bin da drüben in der DDR sehr zu Hause gewesen, gründlich zu Hause gewesen, und in einem bestimmten Sinne bin ich es nach wie vor; mein Buch ist dort entstanden, und außerdem, die DDR hat mich gemacht, die DDR hat mich in einem bestimmten, ambivalenten Sinne gedeckt bis zur letzten Stunde, wo ich da drüben rumgelaufen bin, die letzten sechs Tage noch nach meiner Entlassung aus der Haft.
Und in einem bestimmten Sinne, so wie die Realitäten einer Deckung sein können, deckt sie mich bis jetzt. Sie deckt uns alle in einem bestimmten Sinne. Bei allem, was ich an Kritischem zum real existierenden Sozialismus in Osteuropa sage, es ist gut, daß diese Ordnung existiert. Sie war nämlich ein welthistorischer Fortschritt.
Was meine Position hier in der BRD betrifft, ich werde auch hier zu Hause sein; ich bin hier aufgenommen worden zunächst von einer großen Schar, ebenso wie jetzt eben hier in Tübingen, eben von Genossen und Freunden. Ich bin gar nicht in die Fremde gekommen. Ein Deutscher sowieso hat noch das Glück, in die andere Hälfte des Vaterlandes zu kommen, in diesen anderen deutschen Staat. Schon in der DDR habe ich die Frage, was denn nun eigentlich "Heimat" wäre, so beantwortet: Sozialisten, Kommunisten haben ihre Heimat in erster Linie dort, wo die sozialistische Bewegung ist.
Jetzt bin ich Bürger dieser Bundesrepublik. Ich bin ganz bewußt Bürger dieser Bundesrepublik geworden, und ich habe den Antrag gestellt, ordentlich aus der Staatsbürgerschaft der DDR entlassen zu werden. Man hat ihn genehmigt. Ich habe hier den Ausweis angenommen, der die Identität dokumentiert, und ich denke, daß ich hier am rechten Platz bin, insofern, als gerade dieses wichtige Land Westeuropas zugleich ein politischer Engpaß ist, an dem wir eine ganz wichtige Aufgabe haben.
Was nun die Geographie betrifft, da fühle ich mich in einer Gegend wie dieser hier sehr zu Hause. Ich bin geboren in Niederschlesien, kurz hinter der Oder-Neiße-Grenze, 25 km hinter Görlitz in Bad Flinsberg im Isergebirge. Die Gegend hat manche Ähnlichkeiten. Was mir aber hier in Tübingen gefällt, was mich anzieht, ist nicht nur die Landschaft, sondern daß das hier die Heimat des Dichters gewesen ist, der mir seit frühester Jugend am nächsten gewesen ist und mir heute am liebsten ist: die Heimat Friedrich Hölderlins. Ich empfinde die Verbindung zu ihm so eng, daß ich glaube, mit Recht sagen zu können, ich könnte vor 210 Jahren ungefähr in Nürtingen geboren sein. Ich könnte vor 195, vor 190 Jahren in Maulbronn zur Schule gegangen sein, und ich könnte mit ihm hier im Tübinger Stift gesessen haben; damals nämlich saßen solche Menschen wie ich im Tübinger Stift und studierten unter Umständen protestantische Theologie.
Hier in Tübingen sind Hegel, Hölderlin und Schelling um jenen Maibaum herumgesprungen, der zu Ehren der Französischen Revolution gepflanzt wurde, und sie haben sich verschworen für Vernunft, Freiheit und die Unsichtbare Kirche. Hier in Tübingen haben sich Hegel und Hölderlin schließlich nach ihrem Studium mit der Losung "Reich Gottes" verabschiedet. Man kann, glaube ich, bis heute darüber nachdenken, was sie vielleicht damit gemeint haben.
Schließlich hat Ernst Bloch die letzten Jahre seines Lebens hier in Tübingen als exemplarischer Erbe jener großen klassischen philosophischen Tadition gelehrt. Ich bin kein Schüler Blochs, und ich kann die Anekdote erzählen, wie ich um die Ehre gekommen bin, ein Schüler Blochs zu werden. Im Jahre 1954 hatte ich beschlossen, Philosophie zu studieren. Mein Weg führte mich auch nach Leipzig in das dortige philosophische Institut. Ich drang bis in das Sekretariat vor, um zu fragen, ob man denn in Leipzig eventuell Philosophie studieren könnte.
Dort traf ich eine sehr autoritative und sehr protestantisch aussehende Sekretärin, und sie belehrte mich: Hier ist Leipzig, hier lehrt Bloch. Da habe ich die Flucht ergriffen. Ich muß nun gestehen, ich habe bis heute eigentlich Ernst Bloch nicht richtig gelesen; ich habe nur während meiner Studienzeit sein Hegelbuch gelesen, Subjekt—Objekt, und damals weniger von der innersten Intention dieser Philosophie gespürt, es mehr studentisch gelesen: Was kann uns das jetzt zur Analyse eines bestimmten Hegeltextes — wir nahmen gerade die Einleitung seiner Logik auseinander — unmittelbar nützen?
Also damals ist Ernst Bloch an mir vorbeigegangen, und so habe ich eben bis heute da einen Nachholbedarf. Interessant ist aber, was Fichte sagt: Was für eine Philosophie jemand hat oder sich macht, das hängt davon ab, was für ein Mensch er ist. Und ich muß, je öfter ich jetzt einzelnes von Ernst Bloch lese, um so öfter feststellen, daß ich sozusagen von selbst zu einer ähnlichen menschlichen und philosophischen Grundhaltung gekommen bin, wenn nicht zu derselben, die Ernst Bloch in seinem ganzen Lebenswerk verwirklicht hat.
Und insofern kann ich es als von symbolischer Bedeutung bewerten, daß auf meinem Arbeitstisch in Berlin, als ich verhaftet wurde, Ernst Blochs Prinzip Hoffung gelegen hat und, ein zweiter Zufall, daß Ernst Blochs Prinzip Hoffnung hier in der BRD das erste Buchgeschenk gewesen ist, das man mir am Tage meiner Ankunft gemacht hat. Zufälle und auch keine Zufälle.
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Bahro 1979 Rede