Start    Weiter

4. "Wir haben da eine theoretische Lücke, die uns blockiert."

 

Über das Verhältnis von Kontinuität und Bruch in der theoretischen Tradition

 

"Jede Orthodoxie kommt an einen Punkt, wo sie reaktionär wird, und zwar dann, wenn eine neue Epoche des Befreiungs­kampfes anhebt. Wir können nicht warten, bis unsere alten Rezepte doch funktionieren. Aber vielleicht sind die 'sozialistischen Kräfte' und die Kräfte, die mit der Lösung der ökologischen Krise synchron auch zum Sozialismus vorstoßen werden, nicht identisch? Vielleicht ist die eine oder andere sozialistische Identität dem Sozialismus sogar direkt im Wege?" 

 

 

Warum wir unser gesamtes theoretisches Erbe überprüfen müssen 

Aus den nichtveröffentlichten Passagen eines Interviews der Bunte-Liste-Zeitung, Hamburg.

70-86

Die Sperre (sich mit Kommunisten zu verbünden) existiert nun mal, und die anderen Grünen sind auch nicht "daran schuld". Ich spreche auch in bezug auf Euch (von der Bunten Liste Hamburg, d. Red.) nicht primär von einem Verschulden. Es geht nicht um Moral. Sondern die Konstellation ist hier natürlich das Ergebnis eines historischen Prozesses, für den die Individuen nur in letzter Instanz — nämlich dann, wenn man sie schon wieder als die ganz Bewußten und ihre Situation beherrschenden Menschen anspricht — noch etwas können. Massenhaft gesehen, und das betrifft auch die Zusammensetzungen, das Zusammenfinden von Menschen in solchen kommunistischen Gruppen, wie wir sie hier haben, ist das erst einmal ein Realprozeß, und man kann dann da nicht mit Vorwürfen reagieren. 

Wir wissen doch: 

Falsches Bewußtsein existiert in der Regel gerade "unabhängig vom Bewußtsein", d.h. selbst als eine objektive Realität. Darauf stellt Ihr Euch nicht ein. Ich meine einfach, und das ganz ernsthaft, daß man sich noch nicht genügend überlegt hat, wie man dazu kommt, nicht so einen Buhmann zu spielen. In derselben Richtung Eures Irrtums hört man noch in der DDR des öfteren: "Ja, würde doch Teddy noch leben, der hätte das nicht mitgemacht."

Falsch, Wilhelm Pieck war persönlich gewiß kein schlechterer Kerl als Teddy. Wir können, und wenn wir das noch so sehr idealisieren, nicht mehr Kommunisten auf Thälmannsche Weise sein wollen. 

Wir müssen sehen, daß sich grundlegende Dinge geändert haben. Vor allem, glaube ich, sehen viele von Euch (ich kann nicht mehr sagen, viele von uns, weil ich für den Punkt, zu dem ich jetzt spreche, ja schon meine anderen Ansichten dargelegt habe) nicht genug, welch kolossales Umdenken in bezug auf die Rolle der Arbeiterklasse notwendig ist.

Ich will Euch mal eine Analogie vortragen, damit Ihr vielleicht besser seht, aus welcher Ecke ich das jetzt neu bewerte. 

Stellt Euch — sozusagen experimentell — mal vor, es wäre ein marxistisch-leninistischer Denker angetreten um die Zeitenwende in Rom. Und hätte jetzt die Klassenkämpfe aufgearbeitet aus den 150 Jahren seit den Gracchen. Die Klassenkämpfe in Rom in genau der Zeit, von der Marx gesagt hat, hier könne man die römische Geschichte abspulen an den Widersprüchen um die Agrarfrage, um die Bauernfrage, wenn man es mal sehr modernisiert formuliert. Die Gracchen selber waren ja eine Fraktion der herrschenden Klasse. Sie führten die spätere Popularenpartei herauf, die dann später den Cäsar an die Macht brachte. Sie waren also populistisch orientiert, von "oben" auf die Massen eingestellt. 

Aber dahinter stand eine tatsächliche Massenbewegung der noch freien Bauern alias Soldaten. Das war ja fast dasselbe, weil man schon beim Kolonisieren war. Und danach hat man dann also vor der Zeitenwende, noch vor Cäsar, die Erfahrung mit dem Spartakus-Aufstand. Und nun könnte unser angenommener marixistisch-leninistischer Ideologe feststellen, welche ungeheure Rolle die inneren Klassenkämpfe gespielt haben, und könnte daraus schließen, indem wir jetzt unsere Bauern- und Sklavenrevolution in Rom zum Siege führen, werden wir die Probleme der ganzen übrigen — damals eben der mittelmeerischen — Welt lösen. 

Und ich sage Euch, ganz analog hierzu war die Vorstellung, die Marx im 19. Jahrhundert, bloß mit einem anderen Subjekt, nämlich mit dem Proletariat, für den weiteren Gang der Weltgeschichte gehabt hat. Er hat sich ernstlich vorgestellt, es würde eine proletarische Revolution in England dann Indien erlösen. Können wir wirklich einfach bei einem Modell stehenbleiben, das ganz logisch zu dieser, von der Geschichte überholten Schlußfolgerung geführt hatte?

Sieht man sich an, wie es in Rom tatsächlich weitergegangen ist, so findet man, daß die inneren Klassenkämpfe schon zur Gracchen-Zeit (Die Gracchischen Unruhen werden etwa von 133-121 v.Chr. datiert) erstens ohnehin schon vielmehr als man denkt, wenn man nur auf die inneren Widersprüche sieht, beeinflußt waren von den äußeren Widersprüchen, d.h. von der Kolonialrolle der Römer: Die Gracchenkämpfe wären nicht ohne die Punierkriege und die damit verbundene Ausbreitung Roms aufgetreten. 

71


Zweitens hatten diese inneren Klassenkämpfe in letzter Instanz die Funktion, die Sozialstruktur "zu Hause" so umzugestalten, daß Rom in der Lage war, seine zusammen­fassende Kolonialrolle im mittelmeerischen Raum zu spielen. Es lief dann also weitgehend darauf hinaus, daß die Bedürfnisse der römischen Unterklasse, selbst der häuslichen Sklaven, natürlich vermittelt über die Machtverhältnisse insgesamt, zur Folge hatten, daß man die Legionen ausschicken mußte. Die berühmte Formel "Brot und Spiele" hatte eine kolonialistische Konsequenz: man mußte das Getreide, man mußte die Gladiatoren, die Tiere und was weiß ich noch alles heranschaffen, um die parasitäre Metropole ruhig zu halten.

Wenn ich es mal zusammenfasse: 

So hat sich jedenfalls in diesem römischen Geschichtsablauf eine Situation herausgebildet, wo die äußeren Widersprüche dominierten. Das aber waren nun keine Klassenwidersprüche im engeren Sinne. Das ist eben falsch, was der Marxismus-Leninismus da predigt, daß also jetzt die Konfrontation der Blöcke eigentlich nur eine Ausstülpung innerer Klassenwidersprüche wäre. Erst hätten wir Proletariat und Bourgeoisie jeweils im Lande gehabt und jetzt hätten wir proletarische und Bourgeoisie-Staaten im Weltmaßstab. So ist das eben nicht. In Wirklichkeit hat sich gezeigt, daß die äußeren sozialen Widersprüche im damals mittelmeerischen Weltmaßstab dominierend waren gegenüber den inneren Widersprüchen in Rom, in Italien, und daß die inneren Klassen­wider­sprüche in ihrer Endkonsequenz kolonialistisch funktioniert haben. Und ich möchte sagen, das ist jetzt ähnlich.

Wenn man sich die heutige Lage ansieht, so findet man rein empirisch: Generell findet man hier einen Prozeß der Integration der Arbeiterklasse in das System vor. Da kann man sich hundertmal hin und her beraten, daß es auch gegenläufige Tendenzen gibt, sicher, hin und wieder mal, episodisch sieht es anders aus. Aber langfristig und massenhaft dominiert die Integration. Wie immer man es sich dann entschuldigen oder sonstwie erklären will, man hat die Tatsache vor sich, daß der ja an sich lokal gesehen gerechte Kampf um den Anteil mit den privilegierten Klassen zu Hause doch eben auf dem Rücken der übrigen Menschheit ausgetragen wird. 

72


In Rom war es damals nicht anders. Jede Steigerung des Reallohns und damit des durchschnittlichen Lebensstandards hier zieht die Extremwerte auf der Pro-Kopf-Einkommensskala weiter auseinander, und das hat Effekte solcher Art, daß die Leiden der relativ Zukurzgekommenen hier im Lande vergleichsweise dagegen verschwinden. Hier handelt es sich um Leiden einer viel subjektiveren Art, hier handelt es sich nicht um materielle Existenz­probleme, sondern vielmehr um subjektive, um sogenannte existentielle Probleme, um Probleme der unterdrückten Individualität. Das bewegt sich auf einer ganz anderen Ebene. 

Dürfen wir die Ursachen von Mord und Totschlag auf dem ganzen übrigen Teil der Skala vermehren, weil wir hier mehr haben müssen, um unseren Ausgleich nach oben zu haben? Man kann natürlich sagen, das passiert nur, weil eben die Volkskräfte in den europäischen Ländern nicht dominieren. Aber es könnte ja sein, daß das noch 20, 30, 40 Jahre so weiter geht wie bisher. Wir sehen ja nun nicht gerade Garantien dafür, daß das anders wird. Und außerdem, nach unserer bisherigen Orientierung: Was werden wir "am Tage danach" den Massen sagen, wenn wir jetzt — wie die Genossin Broyelle sagt — wie die französischen Kommunisten immer bloß der Bourgeoisie ins Ohr flüsterten: "Noch ein bißchen besser! noch ein bißchen mehr!" Das könnte mit uns am Drücker also durchaus so weiterlaufen wie bisher.

In der Geschichte haben die Unterklassen bislang letzten Endes genau das als Standard haben wollen, was die Oberklassen schon besaßen. Sie sind in ihren Gewohnheiten davon geprägt, was in den Schaufenstern lag, an denen sie sich die Nasen plattgedrückt haben. Und wenn wir uns dann vorstellen, daß die Belastungen des Planeten, die jetzt ein Zehntel der Menschheit mit seinem durchschnittlich bundesrepublikanischen Lebensstandard erzeugt, mit zehn, mit zwanzig multipliziert werden müßten, damit das alle bekommen, dann sehen wir doch, daß wir einfach nicht mehr das Recht haben, uns unbesehen zum Anwalt der Massenbedürfnisse zu machen, wie sie gegenwärtig sind.

73


Ich habe gesagt, daß es geradezu verantwortungslos ist, sich darauf zurückzuziehen, daß die Geschichte nun mal langsam fortschreite, man sich halt gedulden müsse, noch zwanzig, dreißig Jahre illusorisch darauf warten müsse, daß diejenige proletarische Revolution funktioniere, die sich Marx 1844 und folgende ausgerechnet hat.

Meiner Meinung nach müssen wir unser gesamtes sozialökonomisches Konzept einer Revision unterziehen — und zwar auf dem Boden des historischen Materialismus. Der Marxdogmatismus schlägt dem historischen Materialismus von Marx direkt ins Gesicht. Er richtet sich gegen die Wahrnehmung der Wirklichkeit wie sie ist.

Wir müssen die eigentliche Errungenschaft des Marxismus zur Geltung bringen und müssen uns zu dem übrigen so einstellen, daß wir sagen, es ist heute notwendig, Marx in die Rolle von Newton zu versetzen. Das heißt zu sehen, daß seine Theorie (anders als seine Methode, die wir aber auch weiter entwickeln müssen) einen ganz bestimmten, historisch konkret zu fixierenden Gültigkeitsbereich hatte. Diese Theorie war die spezielle Anwendung des historischen Materialismus auf die Analyse des Konkurrenzkapitalismus. Viele Gesetzmäßigkeiten, die damals funktioniert haben, funktionieren weiter. Deshalb ist es wunderschön, vom dogmatischen Standpunkt aus, jetzt noch nachzuweisen, z.B. die Ausbeutung ist größer denn je. Rechnerisch ja, unbedingt! Und trotzdem ist das nicht mehr der Hebel, um diese Verhältnisse umzustürzen. Diese Rechenkünste und das Zusammenzählen der Streikenden und der Streikstunden usw., das alles bringt nichts.

Wir müssen uns unter anderem fragen, was denn heute in Wirklichkeit "Proletariat" wäre, wessen Interessen wir wahrzunehmen hätten, und zugleich müssen wir wissen, daß dieses antagonistische Modell für die Lösung des Widerspruchs Proletariat—Bourgeoisie, das Marx damals hatte, nicht auf die heutige Situation, diese Nord-Süd-Konstellation und auf das Ost-West-Verhältnis zu übertragen ist, weil wir dann alle zusammen zugrunde gehen werden. Daß also das, was als innerer Klassenkampf mit Barrikaden und Kanonen in Paris 1871 noch gemacht werden konnte, unter den Bedingungen, die heute entstanden sind, einfach keine menschlich vertretbare Perspektive mehr hergibt. 

Wir hatten die Voraussetzung, man könnte in irgendeinem der entwickelten Länder, am besten in allen auf einmal, eine dann für die ganze Menschheit fruchtbare Klassenschlacht schlagen. Solange diese Voraussetzung vertretbar . schien, durfte man die sowieso schon problematische jesuitische Rechnung "wieviel Tote, um wieviel andere Tote zu vermeiden" anstellen. Das geht heute einfach nicht mehr, das kann man heute einfach nicht mehr machen. Und das alles zusammen, diese veränderte Gesamtkonstellation, erfordert von uns die Bereitschaft, unser gesamtes theoretisches Erbe sozusagen "relativistisch zu überprüfen", wie ich es gerne sage, um den Vergleich zwischen unserem Verhältnis zu Marx und Einsteins Verhältnis zu Newton nahezulegen.

74-75

Aus den nichtveröffentlichten Passagen eines Interviews der Bunte-Liste-Zeitung, Hamburg.


 

   Abschied vom Kapitalismus — Abschied von unserem Proletariatsbegriff  

Aus rot und grün, März 1980

 

 

Was diejenigen inneren Widersprüche des Kapitalismus, auf die der traditionelle Proletariatsbegriff bezogen ist, für sich allein bisher nicht erzwungen haben — die ökologische Krise wird es erzwingen: die ökologische Krise wird den Abschied vom Kapitalismus erzwingen. Denn die Realgefahr der Totalkatastrophe, die wir auf uns zukommen sehen, ist doch die Quintessenz dessen, was wir gewohnterweise die allgemeine Krise des Kapitalismus nennen. Sie hängt doch untrennbar mit der Konkurrenz um den Höchstprofit zusammen, die heute nicht von den vergleichsweise harmlosen Fabrikanten und Aktiengesellschaften des 19. Jahrhunderts, sondern von nationalen und internationalen Supermonopolen ausgetragen wird, die mit dem Schicksal ganzer Staaten und Völker spielen. 

Mit der Zerstörung der Naturgrundlage menschlicher Existenz überhaupt und im Weltmaßstab stellt sich die alte Frage "Sozialismus oder Barbarei" mit einer Schärfe, die sich die früheren Sozialisten bei aller Weitsicht noch nicht träumen ließen. Übrigens sollten wir uns jetzt nicht primär über Sozialismus streiten, denn das heißt ja dann meistens gleich: über Modelle streiten. Erinnern wir uns an das berühmte Wort von Marx, wonach der Sozialismus — er sagt Kommunismus — kein vorgefaßtes Wunschbild ist, das wir exerzieren wollen, sondern die wirkliche Bewegung, die den bestehenden Zustand aufhebt. Der bestehende Zustand, über den wir hinauskommen müssen mit den Leuten, die das sind und dabei mitwollen, ist eben der kapitalistische. 

Was nun die wirkliche Bewegung betrifft, so sehen, wie mir scheint, gegenwärtig manche Genossen, weil sie an einem alten Begriff hängen, den Wald vor lauter Bäumen nicht.

76


Einige trauen mir einen wirklich grotesken Fehler zu, nämlich den, zwischen Offenbach und Karlsruhe das Potential vergessen zu haben, das in den Betrieben steht und von SPD-und Gewerkschaftsbürokratie für sich beansprucht wird. Klar, ich habe mich bisher nicht positiv dazu geäußert, habe, durch die Situation bedingt, nur betont, was meiner Meinung nach nicht mehr gilt. Jedenfalls bitte ich um das Zugeständnis, daß die Preisgabe eines bestimmten Begriffs nicht unbedingt bedeuten muß, daß man die unter ihm zusammengefaßten Objekte — in diesem Fall also Subjeke — nicht mehr wahrnehmen und ihre Interessen ignorieren will.

 

... wir haben da einfach eine theoretische Lücke, die uns blockiert

 

Es geht schlicht um folgendes: Das revolutionäre Subjekt "funktioniert" nicht so, wie es bei unserem bisherigen Proletariatsbegriff mit dem ganzen dazugehörigen Umfeld zu erwarten wäre. Und wir schauen uns vergebens die Augen aus nach einer revolutionären Arbeiterklasse, weil wir, gewissermaßen, mit einem Spiegelteleskop nach Radioquellen suchen. Die Radioquellen sind da, und in unserem Falle gehe ich davon aus, daß zwar nicht nur, aber auch die Quellen des sichtbaren Lichts gleichzeitig zu den Radiostrahlern gehören. Um nun zu verkürzen: da sind z.B. die Aktionskreise Leben bei den Gewerkschaften. Die erscheinen noch mit im sichtbaren Spektrum, aber wir wollten sie gerade nicht auf traditionelle Arbeiterbewegung zurückführen. Das liegt in einem anderen Band, das sind sozusagen Radiostrahler. Natürlich bleibt eine Kontinuität, wie in der Natur ja auch, und trotzdem müssen wir jetzt auf das Moment des Kontinuitätsbruches in der Frage setzen, wie wir das revolutionäre Subjekt begreifen sollen. Wenn der Genosse Willi Hoss nach seiner ganzen Praxis zu den Grünen geht, dann bricht er nicht die Brücken zur traditionellen Arbeiterbewegung ab, aber er ordnet sie auf eine veränderte Perspektive zu.

Ich glaube wirklich, wir haben da einfach eine theoretische Lücke, die uns blockiert. 

77


Um das Problem noch einmal auf den kürzesten Nenner zu bringen: Ist die Überwindung des Kapitalismus, ist der Übergang zum Sozialismus an jenes konkrete Subjekt "Proletariat" gebunden, das Marx dafür ausgemacht hat? Was immer wir inzwischen an Zusatzhypothesen hinzugenommen haben, und wieweit Marx selbst, besonders in den Grundrissen, die Sache anders faßte - im vorherrschenden Verständnis war das das europäische und nordamerikanische Industrieproletariat im 19. Jahrhundert unter dem Kapitalismus der freien Konkurrenz. Angesichts wirklichen materiellen Elends sollte die kapitalistische Ausbeutung als solche, sollte der Widerspruch zwischen Lohnarbeit und Kapital unmittelbar den Aufbruch zum Sozialismus provozieren, weil die Arbeiter nichts als ihre Ketten zu verlieren hatten. 

Wir könnten die Gründe ausführlicher analysieren, aber es scheint mir evident, daß die Ausbeutung heute nicht als solche, sondern über ihre vielfältigen ferneren Konsequenzen in der konzentrierten Verfügungsgewalt des Kapitals provoziert. Die Erfolge der Arbeiterbewegung im Verteilungskampf waren ebenso viele Schritte tiefer hinein in den Systemzusammenhang der bürgerlichen Gesellschaft. Wenn es heute etwas gibt, was tatsächlich den Namen einer Einpunktaktion verdient, so ist das der institutionalisierte und in letzter Instanz ganz und gar dem Gesamtprozeß der kapitalistischen Reproduktion untergeordnete Tarifkampf. Das ist eine nach wie vor vorhandene, aber eine alte Front des Klassenkampfes. Und wer dort nach wie vor den Schwerpunkt setzt, d.h. wer das Konzept von dorther aufbauen möchte, der orientiert objektiv auf eine rückwärtige Front, an der es keinen Durchbruch geben wird.

 

... jede Orthodoxie kommt an einen Punkt, wo sie reaktionär wird  

 

Genossen der IV. Internationale haben meinen Standpunkt pessimistisch genannt. (Siehe den Beitrag von Ernest Mandel und Jakob Moneta "Vom Kampf der Klassen zum Kampf der Blöcke?" (in KRITIK 25, Anm. d. Red.) Spiegelt das nicht eher ihre eigene Perspektive wider? Wonach dann, wenn das von ihnen gehütete alte Konzept nicht geht, gar nichts geht?

78


De facto spielen sie die kurzfristigen Interessen der Werktätigen, an die sie sich unentwegt und aussichtslos anhängen, in einer Dimension gegen die langfristigen aus, die die Leistungen jedes pragmatischen Opportunismus in den Schatten stellt. Was für eine theoretische Betriebsblindheit, die ökologische Aufbruchstimmung als eine Einpunktbewegung abzutun, um wie eh und je bloß partiell mitzufahren, mit jener elitären kritischen Distanz, die von vornherein die Beschränktheit des Partners begriffen hat. 

Jede Orthodoxie kommt an den Punkt, wo sie reaktionär wird, und zwar dann, wenn eine neue Epoche des Befreiungskampfes anhebt, mit fundamentaler Umgruppierung der Kräfte, und wenn sie dann versucht, die Menschen in die alten Raster zurückzutreiben, die das alte, jetzt dialektisch aufzuhebende theoretische Paradigma vorschreibt. Wir können nicht warten, bis unsere alten Rezepte doch funktionieren. Aber vielleicht sind die "sozialistischen Kräfte" und die Kräfte, die mit der Lösung der ökologischen Krise synchron auch zum Sozialismus vorstoßen werden, nicht identisch? Ich meine erst mal im Umfang. Vielleicht sind viel mehr Kräfte für den Sozialismus reif, als die sozialistischen Kräfte denken? Vielleicht ist die eine oder andere sozialistische Identität dem Sozialismus sogar im Wege? Es wird jetzt sehr viel davon abhängen, ob wir Sozialisten "die Nähe der Zeiten" erkennen.

 

Von der Dominanz der inneren zu der der äußeren Widersprüche  

 

Und bei alledem bewegen wir uns immer noch in dem zu engen Zusammenhang unserer europäischen Situation. Die Idee von der welthistorischen Mission der Arbeiter setzt voraus, daß ihre Klasseninteressen unmittelbar identisch wären nicht nur mit denen ihrer jeweiligen Gesamtnation, sondern mit denen der Menschheit. Nicht nur sich selbst sollten die Arbeiter zu Menschen befreien, und nicht nur alle Menschen hier sollten sie befreien. 

79


Marx hat sich ganz ernsthaft — und ich bin weit davon entfernt, mich auf seinen Schultern über ihn lustig zu machen — versprochen, es würde eine proletarische Revolution in Europa und speziell in England auch Indien erlösen. Es ist sehr vieles anders gekommen, als wir uns mit Marx gedacht haben, und zwar nicht nur im Osten, sondern gerade hier. Die Dynamik der inneren Klassenwidersprüche in den höchstentwickelten kapitalistischen Ländern, von der wir doch traditionsgemäß unsere Generallösung erwartet haben, ist von drei äußeren Widersprüchen überholt worden. Ich deute sie nur an, in der historischen Reihenfolge, in der sie sich aufeinandergetürmt haben. Erstens Ost — West, zweitens Nord — Süd, drittens Mensch — Natur.

"Mensch" natürlich hier als Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse, aber im Weltmaßstab gedacht, und vor allem unter der Voraussetzung, daß wir wohl schon nichtkapitalistische Produktionsverhältnisse darin vorfinden, daß aber der Horizont der kapitalistischen Zivilisation, d.h. die vom Kapitalismus geprägte Struktur der Produktivkräfte nirgends durchbrochen ist. Ich gehe von der Dominanz dieser äußeren Widersprüche aus. D.h. vom Standpunkt des Ganzen sind natürlich — und das ist es ja gerade — alle diese äußeren Widersprüche nur äußere in bezug auf die reichen kapitalistischen Länder für sich genommen. Angesichts dieser Konstellation ist doch einfach offensichtlich, daß die Arbeiter der reichen Länder, als Klasse betrachtet, besondere Interessen haben.

 

Das Schicksal der Menschheit — zuviel für eine unterdrückte Klasse?  

 

Wenn wir unter diesen Voraussetzungen nach einer hegemonialen Konzeption fragen, und dabei an dem von Marx tatsächlich mit der welthistorischen Mission des Proletariats gemeinten Gesamtinteresse der Menschheit orientiert bleiben wollen — gerade dann müssen wir über den Marxschen Begriff springen und uns jedenfalls auf ein allgemeineres Subjekt beziehen, als es die westliche Arbeiterklasse heute ist. Wie die utopischen Sozialisten und Kommunisten, über die wir mit Marx hinaus sein wollten, müssen wir wieder — nur nunmehr konkreter — das Gattungsinteresse als grundlegenden Bezugspunkt nehmen. Es könnte überhaupt ein hegelianischer Fehler gewesen sein, einer bestimmten und infolge ihrer Stellung im Reproduktionsprozeß natürlich auch beschränkten Klasse das Menschheitsschicksal aufzubürden.

80


Überdies könnte man erwähnen, daß bisher kein einziger Fall in der Weltgeschichte vorliegt, in der die für eine Gesellschafts­formation charakteristische Unterklasse als solche die heraufziehende neue Ordnung vorwegnahm. Wiederum handelt es sich nicht um die Frage, wie sich die bisher zugerechneten Individuen in der Umbruchsituation stellen, ob sie — nun als französische Bauern, dann im Revolutionsheer kämpfen oder in der Vendee. Nicht die Gemeinfreien alias Staatssklaven der asiatischen Produktionsweise, nicht die römischen Sklaven, nicht die Bauern des Mittelalters haben in der je folgenden Epoche Geschichte gemacht. Daß es beim Proletariat anders sein sollte, war eine Hypothese, deren Bestätigung mir angesichts der historischen Erfahrungen unwahrscheinlich geworden ist. 

Und das heißt eben nun absolut nicht, daß die Elemente, die die Klassen der alten Gesellschaft konstituierten, nun etwa keinen Anteil an der revolutionären Erneuerung hätten. Die aktivsten Elemente der alten unterdrückten Klasse werden natürlich eines der wesentlichen Fermente in dem neuen historischen Block sein. Aber dieser Block ist nicht einfach das "Bündnis" oder dann eigentlich das Sammelsurium aus Elementen der verschiedenen alten Klassen und Schichten. Das ist er nur, sofern man ihn nach seiner Vergangenheit betrachtet, also in der perspektivisch unwesentlichen Beziehung. Deshalb fällt dem orthodoxen Soziologen, der begrifflich auf die zum Untergang bestimmte Ordnung der Dinge festgelegt ist, zunächst nichts besseres ein, als die Heterogenität der zusammenzuschließenden Kräfte zu konstatieren. Und was die am Anfang, beim Aufbruch dominierenden Elemente betrifft, so erkennt er den Ursprung der Mobilisierung nicht. Der liegt nämlich in den positiven Triebkräften, die — von ihr erzeugt — über die alte Ordnung hinausdrängen, nicht in dem "Hauptwiderspruch" der alten Ordnung. 

81


Was sich jetzt — angesichts einer Herausforderung wie nie zuvor — freimacht, ist das durch die generelle Intellektualisierung der Arbeit im Progreß der kapitalistischen Produktiv­kräfte erzeugte "überschüssige Bewußtsein". Es ist ein Resultat des Gesamt­reproduktions­prozesses und seiner Widersprüche, und es fällt in der relativ konzentriertesten Form eben außerhalb der eigentlichen Produktionssphäre an. Darüber kann man eigentlich bereits in den Marxschen Grundrissen nachlesen.

Wir haben aber den Ablauf der reformatorischen Mobilisierung 1968 in der Tschechoslowakei gesehen, auf dem Untergrund derselben Produktivkräfte, die wir hier bei uns noch entwickelter antreffen. Mir kommt es jetzt auf den Hinweis an: 1969, noch nach der sowjetischen Intervention, kam der Prozeß auch in den Betrieben an. Der Rätegedanke, der Selbstverwaltungsgedanke ergriff die Produktionsarbeiter im engeren Sinne. Ich sehe ein Gesetz darin. Schon für Marx sollte die Überwindung des Gegensatzes zwischen körperlicher und geistiger Arbeit der Hauptinhalt der sozialistischen Phase sein. In der Tat, um diesen Widerspruch herum, dessen Lösung jetzt in den Mittelpunkt der Geschichte rückt, ordnen sich die Kräfte neu. 

Es ist klar, daß der neue historische Block in sich selbst nicht über diesen Widerspruch hinaus ist, in dem er sich formiert. Er wird ihn vielmehr sowohl seiner Genesis als auch seiner Struktur nach unvermeidlich in sich austragen. Die "Partei" — um das Wort einmal in einem sehr allgemeinen Sinne zu benutzen — die Partei also von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit hat nicht die Aufgabe, die zunächst unvermeidliche Dominanz der intellektuellen Elemente zu beklagen. Wir müssen sie feststellen, müssen uns der damit verbundenen Gefahr bewußt sein, jener Gefahr, die Marx schon in seiner Feuerbachthese über "Erzieher und Erzogene" vorausgesehen hat, und die uns anstacheln muß zu der Bereitschaft, immer erneut über den Schatten unserer Sonderinteressen als Intellektuelle zu springen. Der Prozeß muß, zumindest asymptotisch, an seinem Ziel ankommen, bei der allgemeinen Emanzipation, bei der vollen und freien Entwicklung aller. Konkret: er muß die Mehrheit der Menschen in den Betrieben und Verwaltungen ergreifen. 

82


Ich möchte hinzufügen, daß die "intellektuellen Elemente" nicht einfach als eine soziale Schicht der alten Gesellschaft in diesen Prozeß eingehen, daß der Begriff alle umfaßt, die sich entlang einer menschlichen Naturanlage jeweils bis zur Fähigkeit sozialer Reflexion erheben können, dank und oft auch trotz der Umstände, unter denen sie kämpfen müssen. Ich erinnere an Gramscis Hinweis, daß ein Arbeiter, der in die Partei eintritt, und die Schriften studiert, Intellektueller wird.

 

Was heißt denn hier "Arbeiterinteressen"?

 

Zahlreiche Genossen stocken jetzt anscheinend einfach vor der Notwendigkeit, uns mit der Bedürfnisstruktur der von uns vertretenen Massen anzulegen. Wir wissen, sie ist nur die Kehrseite des kapitalistischen Marktmechanismus, aber in der Praxis geben wir ihnen recht, wenn sie nichts anderes haben wollen, sondern noch ein bißchen besser, noch ein bißchen mehr von dem, was der Kapitalismus ohnehin bietet. "Bedient euch, solange er sich noch in seinen Widersprüchen vorwärtsbewegt, statt daran zugrunde zu gehen". 

Selbst ohne ökologische Krise müßten wir uns dieser Notwendigkeit stellen, den massenhaften Ausbruch aus den marktdiktierten Wertorientierungen zu organisieren, weil da ein Mechanismus nachhaltigster Selbstblockierung der emanzipatorischen Kräfte im Gang ist. Jetzt aber wissen wir, daß unsere Zivilisation in ihrer gesamten Verfassung mit dem Schwerpunkt der gegebenen Technologie und der damit gegebenen Massenproduktion unhaltbar wird. Und zwar in einer Frist, die spätestens in die Lebensspanne unserer eigenen Kinder und Enkel hineinschlägt. 

Was entspricht denn in einer solchen Situation den "Interessen der Arbeiterklasse"? Müssen wir uns nicht die Aufgabe stellen, solche Forderungen wie die nach Sicherung der Arbeitsplätze (die überdies gerade in dem gegenwärtigen Augenblick mit dem bestehenden System absolut, nicht mehr nur relativ, unlösbar wird) und der Reallöhne in unserer eigenen Konzeption neu ein- und d.h. unterzuordnen? Die Interessen der Werktätigen reichen heute weiter denn je hinaus über die Sphäre, in der der Verteilungskampf ausgefochten wird, und in der sie von vornherein betrogen und vereinnahmt werden. 

83


In den wirklich mageren Jahren, dann, wenn die sich anbahnende Katastrophe akut wird, wenn zunächst einfach einmal der materielle Nachschub für unsere gefräßige Produktionsmaschine ausbleibt, werden die traditionell benachteiligten Klassen und Schichten der Gesellschaft mit Sicherheit am schwersten betroffen sein. Nämlich, wenn wir die Karre weiterlaufen lassen, indem wir weiter in unserem linken Ghetto die Kader für unseren Tag "irgendwann" schmieden.

Aber abgesehen davon geht es bei alledem überhaupt nicht primär um eine Strategie des Verzichts. Es geht darum, unsere Kräfte gerade dort zu entfesseln, dort herauszulösen, wo sie an die bürgerliche Lebensweise gebunden sind und sie reproduzieren helfen. Der Aufstieg der Arbeiter als Menschen hängt nicht mehr davon ab, daß sie mehr verbrauchen können, sondern von einer neuen Ordnung unseres gesamten Lebensprozesses, von einer zugleich politischen und kulturellen Umwälzung, die bis in ihre Subjektivität, ihre Innerlichkeit als Menschen durchgreift. Selbst mit unserem Begriff des Arbeiters stehen wir in der bürgerlichen Gesellschaft, fixieren wir die Reduktion des werktätigen Menschen auf den Arbeiter, definieren daher auch seine Interessen in der vom Kapital aufgezwungenen Verkürzung. 

Ich habe den Verdacht, daß mancherlei marxistische Orthodoxie den Arbeitern gerade diese Erhebung als Menschen nicht zutraut, weil sie lange genug zusehen mußte, wie sie ihren Kampfaufrufen nicht recht folgen wollten. Es gibt ja den Teufelskreis, in dem sich der neomechanische Materialismus verfängt, daß erst derselbe Kapitalismus, der die proletarische Subalternität verursacht, verschwunden sein müßte, um sie zu überwinden. Nein, wenn auch der jetzige Aufbruch nicht in den Betrieben beginnt, eben weil dort der Kapitalismus am gründlichsten über die Menschen herrscht, ihre Energie am gründlichsten verbraucht, ohne daß sie bei ihrer Arbeit zugleich menschlich reproduzieren können — er wird nicht an den Betrieben vorbeigehen.

84


"Spießer sind immer die anderen"

 

Im allgemeinen sind wir uns doch einig, daß 80-85 % unserer Gesellschaft zu den Lohnabhängigen im weitesten Sinne und damit zu einem wenigstens umfäng­lich modern gefaßten "Proletariat" gehören. Aber nach welcher Soziologie muß man dann die Grünen eine Mittelstands­bewegung taufen? Weil, wie ich bei Heidelberg von einem sozialdemokratischen Genossen hörte, "zu viele Lehrer" dabei sind. Das war eine der guten Traditionen alter deutscher Sozial­demokratie, nicht zuzulassen, daß man Hand- und Kopfarbeit gegeneinander ausspielt. Wir sollten heute soziologisch ganz entschieden von dem Begriff des Gesamtarbeiters ausgehen, der die produktive Arbeit leistet, und produktive Arbeit dabei in einem weiteren Sinne fassen, als Marx das innerhalb der Matrix des Kapital­verwertungs­prozesses getan hat.

Vieles, sehr vieles, was jetzt über "rechts" und "links" und über die verschiedenen Farben bei den Grünen gesagt wird — als hätten wir innerhalb der Grünen nun ersatzweise den Klassenkampf auszutragen, zudem man uns auf dem großen Feld nicht recht kommen läßt — fällt auf einen von mancherlei Interessenten verbreiteten groben Irrtum herein: auf die Verwechslung nämlich der ideologischen Divisionen, die von den herrschenden Verhältnissen in die werktätigen Klassen hineingetragen werden, mit der wirklichen Klassenteilung. Mindestens aber auf die Verwechslung von Schichtungen innerhalb der Werktätigen mit der freilich nicht so ohne weiteres auszumachenden Grenze zur Bourgeoisie im weitesten Sinne. 

Gewiß gibt es bei den Grünen auch Menschen, die tatsächlich dem bürgerlichen Mittelstand angehören, auf diesem oder jenem Maßstab Unternehmer sind, z.B. Verleger, Ärzte, Rechtsanwälte. Die Grenzen sind da ja fließend. Bisher, da nirgends angestellt und von der Einnahme meiner nebenher in der DDR geschriebenen Bücher lebend, rechnet mich z.B. die hiesige Statistik vermutlich auch dazu. Wahrscheinlich üben diese Menschen heute auch einen über­propor­tionalen Einfluß aus, der sicherlich wiederum auch nicht völlig unabhängig von ihrer privilegierten Position ist, die ja schon in ihrem Bildungs­vorsprung erscheint. 

Charakteristisch für die Massenbasis der Grünen ist ihr Anteil nicht. Und über ihre tatsächliche Rolle in einer insgesamt die bestehenden Verhältnisse trans­zendierenden Bewegung sagt die Klassenzugehörigkeit fast nichts — falls wir eben nicht doch die endgültige Straßenschlacht im Auge haben. Ich denke eher daran, wie Marx und Engels im Kommunistischen Manifest ihren eigenen Übergang auf die andere Seite erklärt haben, "in Zeiten, wo der Klassenkampf sich der Entscheidung nähert", was immer man konkret unter solcher Zuspitzung verstehen mag. Der Entscheidungszwang ist heute größer denn je. 

Man spricht von Kleinbürgern. Wer spricht? Spießer sind immer die anderen, meinte Tucholsky. Es hat keinen Zweck, ein Aha-Erlebnis darum aufzubauen, daß in unserer noch bürgerlichen Gesellschaft auch im psychologischen Sinne bürgerliche Menschen leben — in allen Klassen der Gesellschaft. Das ist ja eben das Problem. Nachdem die traditionelle Arbeiterbewegung in der bürgerlichen Gesellschaft festgefahren ist, zeigt sich ein neuer Ansatz, dennoch über ihren Zusammenhang hinauszustoßen, und nach meiner Überzeugung die Arbeiter als Menschen dabei mitzureißen. 

Selbstverständlich geht diese Hoffnung über den Rahmen einer politischen Partei im engeren Sinne hinaus. Ich rede vor allem von der ökologischen Bewegung, deren tendenziellen Weltanschauungscharakter ich eher positiv bewerten möchte. Es geht den Menschen nie um Ökologie allein. Von dort kommt nur der zwingende materielle Anstoß. Was sie in Wahrheit wollen, ist der nächste Fortschritt zur Freiheit, angesichts der drohenden Katastrophe nun erst recht. Es sollte uns nicht stören, daß manche dies in die Worte "und erlöse uns von dem Übel" kleiden, oder in die Worte "Dein Reich komme". Als Hegel und Hölderlin, beide begeistert von der französischen Revolution, nach dem Studium in Tübingen auseinandergingen, verabschiedeten sie sich mit dem Imperativ: "Reich Gottes!" Was sie gemeint haben, kann jeder von uns gelten lassen.

85-86

 

www.detopia.de     ^^^^