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(2) ....sonst geht die ganze Menschheit kaputt
Von
der Klassen- zur Gattungsfrage
Bahro-1980
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Wolter: Ich möchte jetzt gerne eine Antwort von Rudolf auf die Ausgangsfrage hören. Du gehst ja offensichtlich davon aus, daß der Klassenkonflikt heute nicht mehr die entscheidende Linie der Auseinandersetzungen ist, sondern daß die entscheidende Linie die Wachstumslinie ist. Ziehe doch hier eine historische Bilanz, ob diese von den Klassenauseinandersetzungen geprägte Epoche jetzt vorbei ist, wir also aufgrund objektiver Bedingungen andere Konfliktlinien im Auge behalten müssen.
Bahro: Ich möchte einen Gedanken voranschicken: Was in der Geschichte gescheitert sein kann, sind eigentlich, von einem deterministischen historischen Materialismus aus betrachtet, nur die Illusionen. Marx sagt, der Kommunismus sei nicht ein vorgefaßtes Ziel, das wir erreichen wollen, sondern die wirkliche Bewegung, die den bestehenden Zustand aufhebt. Und wenn man die Sache unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, würde ich Ernest erst einmal ganz entschieden zustimmen.
Ich habe ja in meinem Buch geschrieben, daß ich glaube, daß die Geschichte den kürzesten Weg zum Sozialismus eingeschlagen hat, indem sie die Revolution in diesen rückständigen Ländern gemacht hat, wo sie noch nicht zum Sozialismus führen konnte. Aber dieser ungeheure materielle Nachholprozeß angesichts der Herausforderung durch den Industriekapitalismus war ja für diese unterentwickelten Gemeinwesen und Staaten unbedingt notwendig. Und die russische Revolution hat nur den Vorreiter für die antikolonialen Befreiungsbewegungen gespielt, die dann später zum Durchbruch gekommen sind. Von daher käme ich nie auf die Idee zu sagen, die russische Revolution wäre gescheitert; das meinte ich vorhin, als ich sagte, gescheitert seien nur die Illusionen.
Wolter: Du definierst sie anders.
Bahro: Was gescheitert ist, ist die Illusion, sie hätte zum Sozialismus führen können.
Mandel: Diese Illusion hat 1917 aber niemand gehabt.
Bahro: Wollen wir uns mal zumindest darauf einigen, daß die Rezeption, die die russische Revolution erfahren hat, die ungeheure Enttäuschung, die ihr realer Verlauf ausgelöst hat, immer mit der Unterstellung verbunden war und ist, daß sie doch hätte sozialistisch sein müssen. Und alle Empörung, alle Kritik an den Zuständen kommt aus dieser Ecke.
Wenn wir jetzt nicht an die Grenzen der Erde stießen, könnte ich deiner Forderung nach revolutionärer Geduld, Ernest, vielleicht zustimmen.
Dann könnten wir tatsächlich davon ausgehen, daß die Idee der allgemeinen Emanzipation des Menschen in den 130 Jahren seit Entstehen des Kommunistischen Manifests nicht zum Durchbruch kommen konnte. Das kann uns, zumindest als sozialistische Intellektuelle, nicht entmutigen.
Was wir jetzt vorfinden, ist der Anstieg von Krisenbewußtsein, der weit über die Arbeiterklasse hinausgeht, ein Anstieg des Bewußtseins der Tatsache, daß diejenige Zivilisation, die in Europa seit der Antike vorfindig ist und nicht zufällig nur in Europa in dritter Lesung zum Industriekapitalismus geführt hat, nicht mehr so weitergeht. Das ist neu.
Was wir in der Geschichte der Arbeiterbewegung seit 1917 erleben, ist der Ausdruck der Tatsache, daß sich der Kapitalismus als weit genug entwickelt für einen neuen Durchbruch in den Produktivkräften erwiesen hat. Und in bezug auf die Gefährdung der Menschheit und der Natur hat es einen qualitativen Sprung in dieser Entwicklung gegeben, die uns allerdings zwingt, etwas ungeduldiger zu sein, Ernest.
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Mandel: Zum erstenmal wirft man mir revolutionäre Geduld vor (lacht).
Bahro: Was sich im Eurokommunismus reflektiert, ist die Tatsache, daß der Kapitalismus in der Lage ist, in seinen Widersprüchen zu funktionieren und die Arbeiterklasse in den entwickelten Ländern über die Lohnfrage als Subsistenzproblem hinauszuführen. Der Lohn ist heute nicht eine Frage der Subsistenz, er ist eine Frage des Status in der Gesellschaft.
Wolter: Sind die Arbeiter integriert?
Bahro: Weitestgehend. Aber es bleibt Grund zur revolutionären Hoffnung. Wenn es auch nicht gelingt, den unmittelbaren Durchbruch im Sinne des Marxschen Konzeptes der proletarischen Revolution, oder wie wir das heute auch umschreiben wollen, zu erreichen: Wir müssen den kapitalistischen Zusammenhang des Reproduktionsprozesses sprengen, sonst geht die ganze Menschheit kaputt und nicht bloß die Lebensweise hier.
Und diese Herausforderung durch den Gesamtreproduktionsprozeß greift nach meiner Überzeugung - wie in der Spätantike - quer zu den bestehenden Klassenstrukturen an. Das heißt nicht, daß die alten Klassenstrukturen auf einmal in unserer Analyse negiert werden können. Aber so wie die aufbauende Bewegung, die aus der griechischen Zivilisation mit den germanischen Barbaren zusammen eine Rekonstruktion bewirkt hat - das Christentum -, ideologische Kräfte über Klassenschranken hinweg formieren konnte, greift heute das Krisenbewußtsein über alle Lohn- und Gehaltsabhängigen ...
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Mandel: ... aber das ist für mich die Definition des Proletariats ...
Bahro: ... und auch noch in die sogenannten freischaffenden intellektuellen Bereiche hinein. Daß die freischaffend sind, spielt überhaupt keine entscheidende Rolle; und dieses Krisenbewußtsein greift so wie in der römischen Antike auch - was die Subjektivität betrifft -auch in die bürgerliche Klasse ein. So wie man in den 50er Jahren angesichts der Atombombendrohung zu begreifen begann, daß man auf dieser Ebene den Klassenkampf nicht ausfechten kann, so bringt die ökologische Krise, die Gesamtkrise unserer Zivilisation, heute auch Leute verschiedenster Klassenlage dazu, Lösungen jenseits spezifischer Klasseninteressen zu suchen, darunter auch Leute, die täglich acht Stunden an den Monopolschreibtischen sitzen und den Kapitalismus exekutieren. Auch dort wächst die Bereitschaft, das Gesamtproblem der Rettung unserer Zivilisation und damit der Überwindung des Kapitalismus, von dem alle Krisenprobleme der Menschheit abhängen, zu stellen. Wir haben heute ungeheure Möglichkeiten.
Wolter: Da wir jetzt eine Reihe zentraler Punkte angerissen haben, schlage ich vor, daß wir jetzt in eine freie Diskussion eintreten.
Mandel: Es sind zwei verschiedene Probleme aufgeworfen worden, auf die ich eingehen möchte. Dennoch klammere ich jetzt einmal das letzte aus und komme auf Peter von Oertzen zurück. Kurz gefaßt, ich glaube nicht, daß man rein empirisch beweisen kann, daß die Arbeiterklasse in wachsendem Maße in die bürgerliche Gesellschaft integriert worden ist und daß die Hegemonie, die
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ich nicht bestreite, der reformistischen - sozialdemokratischen und eurokommunistischen - Massenparteien dem gegebenen Bewußtsein, Selbstbewußtsein der Lohnabhängigen in Westeuropa entspricht. Wiederum bildet hier die Bundesrepublik eine gewisse Ausnahme, weil sie sich in diesem Gebiet auf einem niederen Niveau befindet und diesen ganzen Prozeß erst mit einigen Jahren Verspätung erfährt.
Oertzen: Auf einem tieferen Bewußtseins- und einem höheren ökonomischen Niveau, das ist das Problem.
Mandel: Das ökonomische Niveau ist auch nicht so viel höher, man soll es auch nicht übertreiben. Aber lassen wir das jetzt beiseite.
Bahro: Ich glaube, wir sind uns darüber einig, daß es richtig ist, in dieser Diskussion nicht von der Bundesrepublik speziell auszugehen. Wir müssen, da stimme ich Ernest völlig zu, wenigstens von Westeuropa ausgehen.
Mandel: Wenn wir die Bilanz der letzten 60 Jahre, der Zeit nach 1914 oder sogar nach 1905 ziehen wollen, so sehe ich zwei Hauptargumente, nicht dogmatischer, sondern rein empirischer Natur, die sich gegen deine Interpretation stellen.
Die erste Argumentation ist, daß es in jedem einzelnen westeuropäischen Land periodisch riesige objektiv antikapitalistische Bewegungen gegeben hat, das ist nicht zu leugnen; und daß diese riesigen Explosionen von außerparlamentarischen Massenkämpfen obwohl zahlenmäßig, was die Zahl der Teilnehmer betrifft, als auch qualitativ, was die Forderungen betrifft, mit Ausnahme wiederum Deutschlands, eine aufsteigende und nicht absteigende Linie haben. Wenn man die größten französischen Streiks, vor dem Ersten Weltkrieg (1920, 1936, 1968) vergleicht, kann man das eindeutig sehen. Auch wenn man den italienischen Generalstreik von 1912, die Fabrikbesetzungen von 1920, den 48er Generalstreik mit den großen Bewegungen von 1969/70 vergleicht, kann man das ohne jeden Zweifel feststellen. Dasselbe gilt für Belgien, Großbritannien, Dänemark, Portugal und Spanien. Es ist kein Vergleich zwischen den Forderungen, die der Mai '68 gestellt hat, mit den Forderungen der französischen Streiks von 1920 oder sogar 1936.
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Zweitens. Ich würde bestreiten, daß sich bei den Lohnabhängigen Lebenserfahrung und Lebensinteressen auf die Lohnfrage reduzieren lassen, d.h. auf die Frage des Einkommens. Sobald du das Problem der Lebenserfahrung und der unmittelbaren Interessen auf den Produktionsprozeß, auf das, was sich im Betrieb abspielt, ausdehnst und nicht nur auf die Konsumsphäre, auf die Sphäre der Verteilung beziehst, dann ist klar, daß von einer Integration der Arbeiterklasse in den kapitalistischen Produktionsprozeß, von einem Akzeptieren dieser unmenschlichen Ausrichtung und Struktur dieses Produktionsprozesses keine Rede sein kann.
Ich kann dir empirisch beweisen - und in diesem Falle die BRD und USA eingeschlossen -, daß in den letzten 10, 15 Jahren der Protest und die Rebellion gegen die Beschleunigung des Arbeitsrhythmus, gegen die Arbeitsorganisation im Betrieb unvergleichlich größer geworden sind als in irgendeiner anderen Epoche der Arbeiterbewegung; so daß wir also sagen können, daß in der Lage der Arbeiterklasse im Kapitalismus selbst ein Widerspruch steckt, den Marx wohl erkannt, aber nicht genügend herausgearbeitet hat.
Dieser Widerspruch stellt den analytischen Anfangspunkt der Lösung des Problems dar. Die Arbeiterklasse steht in einem doppelten und widersprüchlichen Verhältnis zur bürgerlichen Gesellschaft. Als Produzent von Mehrwert ist sie per definitionem - und diese Definition kann millionenfach empirisch belegt werden - absolut Gegnerin dieser Organisation der Wirtschaft, der Produktion und des Arbeitsprozesses.
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Als Lohnempfänger sind die Arbeiter selbstverständlich - das ist ebenfalls durch ihre Situation bedingt - an mehr Lohn, d. h. an mehr Geld, d.h. an mehr Warenkauf, d.h. an mehr Marktwirtschaft interessiert. Und da ist ein Widerspruch, der in der Situation der Arbeiterklasse selbst angelegt ist. Die Arbeiter können permanent mit der Arbeitsorganisation unzufrieden sein, sie können aber nicht permanent streiken. Denn wenn sie permanent streiken, bekommen sie keinen Lohn und verhungern. Mit anderen Worten: Wegen dieses Widerspruches in der objektiven Lage der Arbeiterklasse selbst kann breite Rebellion gegen das System nur einen periodischen Charakter haben und keinen permanenten.
Permanent ist dagegen das Streben nach besserem Lebensstandard, höherem Lohn usw. Und das ist durchaus integrierbar in die bürgerliche Gesellschaft und auch integriert in die bürgerliche Gesellschaft. Aber ebenso permanent sind Unbehagen an und Unzufriedenheit mit der Unterordnung unter einen unmenschlichen Arbeitsprozeß; das kann sich jedoch nicht permanent in Aktionen äußern, weil der Arbeiter sonst, wie schon gesagt, verhungert. Jedenfalls dann, wenn er nicht sofort siegt, den Produktionsprozeß unter seine Kontrolle bringt und ihn dann revolutionär verändert und seinen Bedürfnissen anpaßt. Somit sind revolutionäre Krisen per definitionem nur periodisch möglich, nicht aber permanent.
Es wirkt wohl paradox, daß gerade ein Vertreter der Theorie der permanenten Revolution dies so deutlich ausspricht, aber das entspricht ohne Zweifel der historischen Erfahrung. Somit ist das wirkliche Problem nicht das, daß die Arbeiter aus ihrer Lebenserfahrung und aus ihren Lebensinteressen kein sozialistisches Bewußtsein haben können oder sich das sozialistische Ziel nicht als etwas permanent Erlebtes aneignen können; das können sie durchaus. Rudolf Bahro hat richtig gesagt, durch ihre Zugehörigkeit zur sozialistischen Arbeiterbewegung und durch die aufklärerische und erzieherische Rolle der sozialistischen Arbeiterbewegung können sie das.
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Da ist wohl der historische Beleg eindeutig. Wenn wir die deutsche Arbeiterklasse der Periode 1980 bis 1914 anschauen, so hat sie materiell einiges errungen.
detopia-2021: "1980" im Druckoriginal. Vermutlich 1880 gemeint.
Man könnte darüber streiten, ob das weniger oder mehr ist, im Vergleich zum Ausgangszustand, als in der Bundesrepublik in den letzten 25 Jahren. Ich würde eher sagen, angesichts des Ausgangsstandes ist es proportional wahrscheinlich mehr als das, was heute errungen worden ist. Aber das ist jetzt unwesentlich, da es eine rein quantitative Frage ist. Und im Gegensatz zu dem, was die Anarchisten und einige Linksradikale behaupten, sind diese Errungenschaften keineswegs durch den Verlust des Glaubens an das sozialistische Endziel begleitet worden. Sonst würde die ganze spätere Geschichte unerklärlich werden, sowohl die Revolution von 1918 als auch die riesige Ausdehnung der USPD und später der Massen-KPD. Das kann man nicht nur aus dem Trauma des Weltkriegs und der russischen Revolution erklären.
bahro: Weißt du, wenn man diese Integrationshypothese, die Peter und ich in dieser Diskussion gemeinsam aufgestellt haben, so verabsolutiert wie du, um sie dann zurückweisen zu können, dann hieße das ja, wir würden schlicht den Widerspruch zwischen Lohnarbeit und Kapital verleugnen. Denn es ist doch völlig klar, daß es unmöglich ist, eine unterdrückte Klasse und hier speziell eine über die Mehrwertabschöpfung unterdrückte Klasse völlig in den Kapitalismus zu integrieren. Das Problem, das wir diskutieren, ist doch die Frage, inwieweit der Kapitalismus in der Lage gewesen ist, seine Gesamtstabilität zu wahren, d.h. also, inwieweit er in der Lage gewesen ist, die Arbeiterbewegung so weit zu integrieren, daß der Konflikt zwischen diesen beiden Seiten in dem Widerspruch, den du entwickelt hast, immer zugunsten des Interesses an der Marktwirtschaft, an der Beteiligung, am Mitgewinn, also im kapitalistischen Rahmen entschieden wird.
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mandel: Ich glaube, da bringst du die zwei verschiedenen Ebenen der Analyse durcheinander. Peter hat sie - wenigstens begrifflich - genauer auseinandergehalten. Man kann sagen, daß es dem Kapitalismus gelungen ist, große, revolutionäre, antikapitalistische Kämpfe zur Niederlage zu bringen. Es ist aber etwas anderes zu behaupten, daß es dem Kapitalismus gelungen sei, die Arbeiter davon abzuhalten, periodisch große antikapitalistische Massenkämpfe zu entfachen. Das sind zwei verschiedene Ebenen. Die erste würde ich als »hauptsächlich politisch« bezeichnen (auch wenn das vielleicht unmarxistisch klingt), die zweite ist sozialökonomisch.
bahro: Und die ist die entscheidende ...
mandel: ... aber die zweite Behauptung stimmt nicht, das kann ich historisch belegen. Wenn wir die Bundesrepublik, d.h. die Entwicklung in Deutschland seit 1953 ausklammern, dann stimmt das für das übrige Europa nicht. Es stimmt nicht, daß das dem Kapitalismus gelungen ist. Ich könnte Zitate von großen Soziologen anführen, die heute lächerlich klingen. Drei Monate vor dem Mai '68 sagten diese Soziologen, die Arbeiterklasse und die Jugend seien völlig in das System integriert und völlig unpolitisch. Und drei Monate später gab es den größten Generalstreik der Geschichte. Die Frage, warum diese Kämpfe in einer Niederlage geendet haben, ist also eine im wesentlichen politische Frage.
Darüber muß man sich zuerst im klaren sein: Ist die Arbeiterklasse der industriell entwickelten Länder durch ihre objektive Lage - sagen wir, existenziell - fähig, periodisch gewaltige außerparlamentarische Massenkämpfe zu entfachen, die objektiv 'en Sturz des Kapitalismus auf die Tagesordnung setzen?
Die zweite Frage ist: Aus welchen Gründen waren diese in ihrem Umfang wahrscheinlich bedeutenderen Kämpfe als die der dritten Welt, mit Ausnahme von China, nicht siegeich? Aber diese Fragen sind wesentlich politischer Natur. Es handelt sich also nicht um eine sozialökonomische Unfähigkeit zu kämpfen und das System in Frage zu stellen, denn das haben sie doch getan.
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Oertzen: Das leugne ich nicht, damit wir die Diskussionslage klar haben. Und ich leugne nicht, daß das Problem der proletarischen Existenz nicht ausschließlich als das Problem des Lohnempfängers definiert werden kann; das ist immer mein Standpunkt gewesen. Du weißt, daß ich in der Analyse der tatsächlichen Ereignisse der Novemberrevolution den Konflikt zwischen dem Arbeiter als Produzenten und seiner unmittelbaren Entfremdung von den Produktionsmitteln als zentral für die wirkliche revolutionäre Bewegung der Novemberrevolution herausgearbeitet habe.
Und mein nachträglicher politischer Vorwurf war der, daß die revolutionäre Linke genau diesen Punkt nicht in dem Maße erkannt hat, wie sie ihn hätte erkennen können und müssen. Insofern sind wir völlig einer Meinung.
Zweitens. Ich gebe dir auch insoweit recht, als sich die Arbeiterklasse in der Tat in einem widersprüchlichen Verhältnis zur bürgerlichen Gesellschaft befindet: Der Arbeiter kann einerseits - als Lohnempfänger, als Produzent - in ständiger, zumindest potentieller Auflehnung gegen die kapitalistischen Produktionsverhältnisse existieren, andererseits als Konsument integriert sein. Da kann man übrigens noch eine Menge hinzufügen über die Lohn Verhältnisse, über das soziale Leben. Ich würde z.B. gerne noch eine Analyse der Verhältnisse auf einem niedersächsischen Dorf einfügen, wie sehr der gutverdienende Facharbeiter dort in eine kleinbürgerliche Gesellschaft integriert ist; außerdem arbeitet die Mehrheit der Arbeiterklasse - auch in der Bundesrepublik - nicht in Großbetrieben, auch das muß man berücksichtigen.
Meine Frage war jedoch, wie kommen die politischen Niederlagen zustande? Welche objektiven ökonomischen, sozialen, organisatorischen und psychologischen
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Prozesse führen immer wieder dazu, daß in einer offenen Situation des Klassenkampfes, einer Bereitschaft der massenhaften Gegnerschaft gegen den Kapitalismus die politische Führung in den Händen von Gewerkschaftsorganisationen und Massenparteien liegt, die sogar dann, wenn in ihrem Programm der Sozialismus gefordert wird und die Werke der Klassiker mit Goldschnitt in den Bücherschränken ihrer Führer stehen, sich praktisch wie brave sozialdemokratische Reformisten verhalten und aus lauter Angst, ihre Organisation aufs Spiel zu setzen (Zwischenruf Mandel: Das ist eine der Antworten!), den entscheidenden Kampf nicht wagen?
- Und jetzt stellt sich die Frage: Wo ist der Ansatzpunkt für die Schaffung von Bewußtseinsformen, Programmen und Organisationen im gewerkschaftlichen und politischen Bereich, die sowohl fähig sind, die Alltagsinteressen der Arbeiter in allen kleinen Fragen zu vertreten und zugleich eine politische Führung in den ja nicht permanent, sondern gelegentlich - periodisch - auftretenden politischen Krisen zu stellen?
Eine weitere Frage lautet: Wieso sich - und das ist vielleicht eine spezifisch deutsche Erfahrung - die sogenannten revolutionären Organisationen in vielen Fällen leider nicht als besonders erfolgreiche Verfechter der Alltagsinteressen der Arbeiter erweisen und sich dort von den Praktikern, den Funktionären der großen Massenorganisationen immer wieder ausspielen lassen?
Ich sehe schon Ansatzpunkte, aber ich möchte, daß die Problematik, daß nämlich diejenigen, die die klaren politischen Vorstellungen für die Führung der Arbeiterbewegung in großen gesellschaftlichen Krisensituationen haben, empirisch nicht diejenigen sind, die die Führung im Alltagskampf in den Händen haben, und umgekehrt, vorurteilslos, nüchtern und ohne wechselseitige Polemik diskutiert wird.
Mir geht es überhaupt nicht darum, etwa die Unmöglichkeit sozialistischer, sprich: revolutionärer Politik durch Hinweis auf deren Schwierigkeiten nachzuweisen, sondern, im Gegenteil, ich will die Schwierig-
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keiten — und zwar möglichst in ihrem größten und gefährlichsten Ausmaß - erkennen, um sie zu überwinden. Das ist für mich der Punkt. (Zwischenruf Mandel: Ausgezeichnet!) Und du hast im Grunde gegen eine Haltung polemisiert, die sicherlich von vielen Sozialdemokraten eingenommen wird, nur eben nicht von mir.
bahro: Ich will versuchen, noch eins hinzuzufügen, was ich in bestimmter Hinsicht als eine Verallgemeinerung seiner Fragestellung betrachte. Was Peter von Oertzen sagt, könnte man konkreter in folgende Frage fassen: Wenn das Widerstandspotential, von dem Ernest Mandel spricht, in der revolutionären Situation nicht durchschlägt, muß das nicht daran liegen, daß es in sich selbst eine Schranke hat? Protest- und Kontestationspotential heißt ja noch nicht, daß es den Formationszusammenhang sprengen muß. google Kontestation
Wir haben bei früheren Klassengesellschaften gesehen, daß eine unterdrückte Klasse nicht notwendig eine revolutionäre Perspektive in sich trägt. Die Bauern konnten nach dem Feudalismus nicht die neue Ordnung bringen. Die Sklaven, die noch viel mehr existentiell herausgefordert waren, haben heroische Aufstände zustande gebracht und mußten dann doch aufgeben.
Mandel: Muß das Proletariat wirklich aufgeben?
bahro: Nein, ich will damit nur das Problem kennzeichnen und will nur sagen, daß es doch offenbar in dem Widerstandspotential selbst Schranken geben muß. Sonst verbleibt man vielleicht zu sehr auf der Ebene des Psychologischen, des individuellen Arbeiterwiderstandes, des Protestes gegen Verhältnisse, die vom Menschen her unakzeptabel sind. Die Frage ist doch, wieso es auf lange Frist gelingt, bei all dem, was an Widerstandspotential existiert, das Gesamtsystem kapitalistischer Reproduktion stabil zu halten?
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mandel: Wir müssen Deutschland aus der allgemeinen Entwicklung ausklammern. In Deutschland hat es ab 1890 eine sozialistisch bewußte Massenbewegung der Arbeiterklasse gegeben. Aber auch in Deutschland gab es nie mehr als eine Minderheit mit einem winzigen Organisationsgrad auch auf gewerkschaftlichem Gebiet, vielleicht 20 Prozent, d.h. unter dem der USA heute, das muß man alles konkret sehen. Das ist schon so ein Mythos: Die riesige Arbeiterbewegung vor dem Ersten Weltkrieg und eine nichtbestehende heute.
Wenn du das historisch staffelst, kannst du sagen, in Deutschland ist heute - darüber besteht nicht der geringste Zweifel - das durchschnittliche Klassen- und das sozialistische Selbstbewußtsein der Arbeiterklasse weit, weit unter dem Niveau von 1933 oder 1918; aber das ist doch nicht unerklärlich.
Keine Klasse in der Geschichte - und schon gar nicht in der modernen Geschichte - hat solche fürchterlichen Enttäuschungen und Niederlagen erfahren wie die deutsche Arbeiterklasse. Das kann man in vier Namen zusammenfassen: Noske, Hitler, Stalin, Ulbricht. Und schließlich Bad Godesberg. Wenn das nacheinander auf eine Klasse niedersaust, kann man fast noch zufrieden sein, daß das übriggeblieben ist, was es noch gibt.
bahro: Also wenn, dann war Bad Godesberg nur ein Nachschlag, Ernest.
mandel: Aber wenn du das auf andere Länder, den Rest Europas, beziehst, so ist das absolut nicht wahr. Ziehe den Vergleich für Spanien, Portugal, Italien, Frankreich, England, Belgien, Dänemark, um nur diese Länder zu nennen, ich könnte sogar noch Schweden hinzufügen. Kein Mensch kann behaupten, daß die Arbeiterklasse weniger aktiv oder weniger politisch sei oder sich weniger radikale Ziele setzt, als das vor dem Ersten Weltkrieg der Fall war.
Das kannst du nur behaupten, wenn du die Wirklichkeit total mystifizierst, wenn du ein falsches Bild sowohl der Vergangenheit als auch der Gegenwart zeichnest.
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Also da glaube ich, stimmt Peter von Oertzen mehr mit mir überein. Über den empirischen Tatbestand kann man nicht streiten. Der empirische Tatbestand ist m. E. unwiderlegbar, mit der Ausnahme Deutschlands, wofür ich diese Behauptung auch nicht aufstelle. Es ist offensichtlich, daß das auf Deutschland nicht zutrifft.
Ich möchte jetzt Peters Frage beantworten. Aber das ist nicht so einfach; wenn man die endgültige Antwort auf diese Frage hätte, hätte man das Problem wahrscheinlich auch schon in der Praxis gelöst, darüber sind wir auch völlig einig. Aber das, was er beschrieben hat, kann man in einen Begriff fassen, der auch sehr alt ist in der marxistischen Theorie: der Begriff der Bürokratisierung der Arbeiterorganisationen und der Verselbständigung der Bürokratie dieser Organisationen und die dialektische Wechselwirkung zwischen den beiden. Das heißt, die Organisation wird zum Selbstzweck und, wie Peter richtig gesagt hat, Hauptmotivation dieser Apparate - wenn man jetzt Schwindler und korrupte Leute wegläßt, das wäre eine Verschwörungstheorie, die die Geschichte nicht erklären kann - ist tatsächlich die Angst, das Erreichte aufs Spiel zu setzen. Ich würde das mit anderen Worten den grundlegenden Konservatismus dieser Organisationen und der Bürokratie nennen. Dasselbe gilt auch für die Sowjetbürokratie, dahinter steckt genau dieselbe Mentalität, nur eben auf höherer Ebene, weil sie über viel größere Machtmittel verfügt als die Gewerkschaftsbürokratien. Ich würde also sagen, daß darin eine innere Logik des Wachstums dieser Arbeiterorganisationen liegt. Du weißt, daß ich diesen Begriff schon als Erklärung für die Erscheinung der Bürokratie benutzt habe: Das ist die Dialektik der Teilerrungenschaften, d.h., die Verteidigung des Errungenen wird zu einem Hindernis für weitere Fortschritte. Wie kann dieses Problem jetzt gelöst werden?
Du siehst den Unterschied zwischen der Verteidigung der unmittelbaren Interessen im
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Alltagskampf durch die Reformisten und den Revolutionären, die sich auf das Endziel konzentrieren.
Ich würde diese Zweiteilung so nicht akzeptieren, weil ich glaube, daß die Reformisten auch im Alltagskampf immer weniger die unmittelbaren Interessen der Arbeiter vertreten. Ich sehe, nebenbei gesagt, auch hier schon einen Hinweis darauf, daß sich etwas geändert hat; das tun heute andere Leute, das sind die Vertrauensleute, die shop Stewards, die delegues, die delegati di fabbrica usw., in Wirklichkeit haben die in den letzten fünf Jahren dafür gesorgt, daß die - ich sage es mal ganz grob - von den Gewerkschaftsbürokraten verkauften Lohnabhängigen ihren Lebensstandard haben halten können, denn die Gewerkschaftsbürokraten haben alle der Austeritätspolitik zugestimmt. Die haben doch auf Betriebsebene das zurückgeholt, was auf nationaler Ebene verloren ...
Wolter: Aber die Reformisten garantieren doch sozusagen die allgemeinen Rahmenbedingungen, dafür daß ...
mandel: ... darüber könnte man sich lange streiten, aber darüber werden wir später noch reden können. Ich würde sagen, daß das wirkliche Problem - ich bin dauernd in Paradoxa für einen Leninisten verwickelt - darin liegt, daß du in Wirklichkeit nicht von außen ein revolutionäres Bewußtsein in die Arbeiterklasse hineinbringen kannst.
Das ist wohl der historische Prozeß, aber nicht der Reproduktionsprozeß, das geht nicht. Das kann nur von innen selbst passieren. Das entscheidende Bindeglied ist also die Selbsterziehung der Arbeiterklasse, die Herausbildung des Verständnisses von und der Erfahrung mit der Selbstorganisation. Wir verstehen das als Marxisten in erster Linie als einen objektiven Prozeß, weniger als eine Aufgabe, obwohl daraus auch eine Aufgabe erwächst.
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Wenn die Geschichte beweisen würde, daß die Arbeiter oder die Lohnabhängigen allgemein trotz der heute viel günstigeren Bedingungen unfähig sind, in wachsendem Maße zur Selbstorganisation in ihren Tageskämpfen überzugehen, dann ist es mindestens unwahrscheinlich (da stimme ich dir zu), daß sie durch irgendein Wunder in einer revolutionären Krise plötzlich in breitestem Ausmaße Selbstorganisation verwirklichen würden.
Und dann können die re-integrativen, die restaurativen Kräfte - nicht notwendigerweise in Gestalt bürgerlicher Demokratien, das kann auch schlimmer ausgehen, wie in Chile z.B. - siegen. Wenn umgekehrt nachweisbar ist, daß durch die Logik der Krise der kapitalistischen Produktionsverhältnisse selbst - und hier stimme ich mit Bahro völlig überein, daß die Krise heute auch für den Alltagskampf eine viel stärkere Bedeutung hat - eine objektive Tendenz hin zur wachsenden Selbstorganisation in der Entwicklung der Klassenkämpfe der letzten 10, 12 Jahre existiert, ist eine optimistische oder gemäßigt optimistische Variante der Prognose möglich.
Dann können wir sagen, Arbeiter, die in wachsendem Maße ihre Streiks selbst organisieren, Lohnabhängige, die in Bürgerinitiativen oder wie immer man das nennen mag, zur Selbstorganisation in verschiedenen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens übergehen, werden - und ich würde beinahe sagen, natürlich - in einer revolutionären Situation zur Räteform, zur Selbstorganisation in der breitesten Form, übergehen. Und dann ist es nur eine Frage der politischen Vernunft der Linken - die hat in Portugal leider gefehlt -, der Masse der Bevölkerung erfahrbar zu machen, daß das eine höhere Form der Demokratie ist, in dem von dir, Peter, angesprochenen Sinne.
Daß es unter diesen Bedingungen mehr persönliche und demokratische Freiheit, mehr Presse- und Meinungsfreiheit, mehr politischen Pluralismus gibt - nicht geben könnte, sondern tatsächlich praktisch gibt - als in der bürgerlichen Demokratie. Und dann ist m. E. die Sache gelaufen.
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Wenn sich diese neue Staatsform in den Augen der Massen der Bevölkerung als eine demokratischere legitimiert, ist die Restauration unerhört viel schwieriger. Und ich glaube nicht, daß sie mit repressiven Mitteln möglich ist. Ich glaube, daß die Revolution auch in Chile auf dem Gebiet leicht hätte siegen können. Es lag nicht an der chilenischen Armee, die war viel schwächer als die persische Armee. Man hätte sie leicht politisch besiegen können. Daß sie gesiegt hat, hat politische Ursachen, nicht technische, wie es Regis Debray sagt, daß Allende nicht drei Flieger für Raketenflugzeuge gehabt hat. Es ist lächerlich, Sieg oder Niederlage einer Revolution von solchen Faktoren abhängig zu machen.
oertzen: Nein. Mehr als die Hälfte des chilenischen Volkes war nicht bereit, für die Revolution zu kämpfen. Ein großer Teil war sogar bereit, gegen sie zu kämpfen.
mandel: Das einzige, was ich sagen wollte, ist, daß der rein technische Machtfaktor nicht entscheidend ist. Das Entscheidende ist der politische Faktor. Die Fähigkeit zur oder der Umfang der Massenmobilisierung und der Identifikation mit einem neuen Regime, mit einer Revolution und die Legitimität der neuen Ordnung in den Augen der Masse der Bevölkerung ist das Entscheidende, und nicht die Zahl der Waffen, die die Repressionsorgane haben.
Wolter: Ich habe noch eine Frage an dich, Rudi. Eure Kontroverse, Ernest und Peter, ist ein bißchen nebeneinander hergelaufen, weil die Diskussion von unterschiedlichen Bestimmungen ausging. Ernest sagt immer, daß die Arbeiterklasse nicht integriert ist, betont aber die Ungleichzeitigkeit des Klassenbewußtseins. Das heißt, daß es lange Perioden gibt, in denen von Revolution nicht die Rede ist. Es gibt aber auch Situationen, wo es zu bemerkenswerten Massenbewegungen kommen kann. Während Peter eigentlich immer die andere, die langfristige Seite sieht, und sagt, daß man nicht die ganze Zeit revolutionäre Geduld haben kann zu warten, bis es endlich losgeht.
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oertzen: Mir geht es um die historische, die zeitliche und politische Kontinuität. Und ebenso um eine kontinuierliche Stärkung eines hohen Bewußtseins der sozialistischen Bewegung auch durch die Phasen hindurch, in denen eine revolutionäre oder Krisensituation nicht besteht. Diese Kontinuität kann nur, darüber sind wir uns wahrscheinlich alle einig, durch eine Organisation garantiert werden. Die heute einzige Form gesellschaftlicher Kontinuität ist die Organisation. Wir sind alle keine Spontaneisten in dem Sinne, daß wir sagen, daß wir uns nur dann versammeln, wenn etwas ansteht. Das geht nicht.
wolter: Gut. Dann haben wir das Problem, daß sich diese Organisation vom Bewußtsein abhebt und leere Erklärungen stattfinden.
Ich wollte nur auf eines hinaus. Ich halte das für eine falsche Ebene des Streits. Im Grunde hast du ja niemals bestritten, daß es auch Situationen geben kann, in denen hier mehr möglich ist als im normalen Geschäftsgang. Während du, Rudi, in der Frage der Integration der Arbeiterklasse viel weitergegangen bist. Denn du siehst das Problem von der Wachstumslinie her. Wenn die Arbeiterklasse am Wachstum partizipieren will - in Form von höheren Löhnen und kürzerer Arbeitszeit, was ja alles ökonomisches Wachstum, in diesem Fall kapitalistisches Wachstum, impliziert - so ist diese Forderung nach besserem Lebensstandard ja auch ein Bestandteil der Kapitallogik selber.
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bahro : Ich finde, daß die Integration viel fundamentaler ist, als die Diskussion die Sache hier berührt. Sie wird nicht auf der politischen und psychologischen Ebene des Protests gegen solche Einordnungen entschieden.
Ich möchte mal etwas übertreiben: Man ist stolz darauf, römischer Bürger zu sein, auch wenn man römischer Proletarier ist. Das ist die Situation, die wir hier haben. Die arbeitenden Klassen der entwickelten Länder spielen die Rolle von Unterklassen in Kolonialländern. Das ist meiner Meinung nach das Hauptproblem, was in der linken Diskussion nicht in ausreichendem Maße gesehen wird.
Daß die Arbeiter sich zu dieser sogenannten ersten Welt so grundlegend zugehörig fühlen, daß sie in dem Zusammenhang des kapitalistischen Reproduktionsprozesses letzten Endes so effektiv mitfunktionieren; aber nicht nur in dieser Bundesrepublik Deutschland, wo es besonders ausgeprägt ist und wo der gewerkschaftliche Kampf geradezu hervorragend als Stabilitätsmechanismus mitfunktioniert mit jeweils gut berechneten Teilen für die Arbeiter, sondern dies funktioniert auch in allen anderen entwickelten Ländern. Es funktioniert so, daß das Endergebnis der Klassenkämpfe die erweiterte Reproduktion des Kapitalismus ist, abgeladen auf der ganzen übrigen Menschheit.
Wir haben eine so weitgehende und auch in der Psychologie festgeschriebene Einordnung, daß die kolossale Spanne in den Pro-Kopf-Einkommen im Weltmaßstab in der innenpolitischen Praxis überhaupt keine Rolle spielt. Die arbeitenden Klassen der entwickelten Länder stehen in dem kulturellen Zusammenhang der herrschenden kapitalistischen Zivilisation. Diese Tatsache hat heute geschichtlich viel mehr Gewicht erlangt, als wir uns das jemals vorgestellt haben. Ernest, du hast vorhin schnell deinen Ausweg parat gehabt, indem zu sagtest, daß es eigentlich ein innerkapitalistischer Widerspruch mit der dritten Welt sei. Nein. Über den Punkt können wir uns bestimmt nicht auf eine Zwischenformel einigen. Da sehe ich die Sache total anders.
Es stimmt zwar, daß der kapitalistische Reproduktionsprozeß dort übergreift, aber nicht diese bürgerliche Gesellschaft, wie wir sie hier haben und in der wir so tief drin stecken, daß alle Kontestation und
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aller Protest zu nichts weiter führen, bisher de facto und immer wieder, als daß sich auf höherer Stufenleiter dieselbe bürgerliche Gesellschaft herstellt, bisher meist mit - wie auch immer problematischen - Zugeständnissen für die arbeitenden Klassen.
oertzen: Aber der entscheidende Punkt ist, daß Ernest, wenn ich ihn richtig verstanden habe, bestreitet, daß dieses noch lange so wird ertragen werden können.
bahro: Da stimme ich ihm zu - aber aus anderen Motiven.
oertzen: Ich glaube, daß diese beiden unterschiedlichen Ansatzpunkte im Grunde ein identisches Problem beinhalten. Du leugnest nicht, daß die Arbeiterklasse im Kontext der fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaft nicht integriert ist, so wie Ernest das behauptet. Du bist auch der Meinung, sie sei nicht voll integriert ...
bahro : Es ist unmöglich, sie total zu integrieren.
oertzen: Da ist ein Konfliktpotential, das immer wieder ausgenutzt wird und das ausgenutzt werden kann. Und umgekehrt wird Ernest, vermute ich, ja nicht leugnen, daß die Rebellion der auf diese oder jene Weise neokolonialistisch ausgebeuteten Völker, die insoweit auf einer niederen Stufe in den kapitalistischen Reproduktionsprozeß im Weltmaßstab einbezogen sind, ihre Rückwirkungen auf die Form und den Verlauf der Klassenkämpfe in der westlichen Welt hat. Und sei es nur, indem sie uns den Ölhahn abdrehen.
mandel: Sie haben den Ölhahn nicht abgedreht. Die Ölscheichs und die Ölgesellschaften haben den Ölhahn abgedreht, nicht die Massen in Saudi-Arabien ...
Oertzen: Natürlich nicht die Massen ...
Bahro: Das ist nicht so einfach, wie du das gerade machst. Natürlich haben die Massen den Hahn nicht abgedreht. Aber die Angst vor den eigenen Massen beeinflußt die Hand, die am Ölhahn dreht.
Oertzen : Ich weiß jedenfalls, daß es seit Anfang der 50er Jahre nur 4 Wochen gegeben hat, in denen laut Umfrage die Mehrheit der deutschen Bevölkerung für die sofortige Verstaatlichung großer Teile der Industrie war. Das war auf dem Höhepunkt der Ölkrise im Winter 1973/74.
Mandel: In den USA waren es anläßlich der Benzinrationierung voriges Jahr auch 55 bis 60 Prozent der Bevölkerung, die für eine Verstaatlichung der Erdölgesellschaften waren.
Wolter: Das wäre doch einmal eine Kampagne wert - von der Sozialdemokratie. (Großes Gelächter bei einigen.)
Oertzen: Was nützt uns eine Kampagne? Du weißt ganz genau, daß das Öl nicht hier erzeugt wird. Du kannst hier die leeren Hülsen der drittklassigen Niederlassungen der internationalen Ölkonzerne in der Bundesrepublik unter staatliche Kontrolle nehmen. Dann drehen sie dir den Ölhahn aber wirklich ab.
Mandel: Ich glaube, daß das nicht wahr ist...
Wolter: Dafür ist die Bundesrepublik viel zu wichtig, als daß die uns hier den Ölhahn abdrehen könnten.
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