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Teil 1  

1935 - 1979

    Von Herzberg

 

1. Kindheit und Jugend, 1935-1953 

 

16-27

Dieses Leben ist von einem traumatischen Kindheitserlebnis, von sichtbaren und unsichtbaren Brüchen gezeichnet. Es gibt für uns Widersprüche durch die verschiedenen Perspektiven der Erinnernden, die nicht aufgelöst werden können, und Widersprüche, die in ihm selbst liegen, die nicht geglättet werden sollen. Die ersten Brüche liegen in der Kinderzeit, die in den Krieg hineingeht: Mit zehn Jahren ist er heimatlos und hat seine Mutter und zwei Geschwister verloren. Was das für ihn bedeutete, wurde ihm erst Jahrzehnte später bewußt, bis dahin immer getrieben von der Suche nach Liebe und Bindung.

Geboren wurde Rudolf Bahro am 18. November 1935 in Bad Flinsberg (Niederschlesien), einem wegen seiner Radonheilquellen bis zum Zweiten Weltkrieg blühenden Kurort, gelegen am Flüßchen Queis am Nordhang des Isergebirges. Einst ein armes Dorf von Glasmachern, wurde schon im 16. Jahrhundert die Heilwirkung des dortigen Brunnens erkannt, doch es dauerte noch Jahrhunderte, bis ein Bäderbetrieb mit zahlreichen Hotels aufgenommen wurde. 1900 entstand als Prachtbau ein ausgedehntes Kurhaus. Nachdem 1933 zwei entsprechende Quellen erschlossen worden waren, avancierte Bad Flinsberg zum drittstärksten Radiumbad des Reiches, entwickelte sich daneben auch zu einem bekannten Wintersportort mit Bobbahn und zwei Skisprungschanzen. Ende der dreißiger Jahre kamen bis zu 25.000 Gäste im Jahr.

Die Familie Bahro hatte an diesem Wohlstand wenig Anteil. Das Geburtshaus Rudolfs lag außerhalb des Kurbezirks am Berghang, an einer Eisenbahnlinie, eher in einer schlichten ländlichen Umgebung. Aber auch hier — im »Haus Sonnenhöhe« — wurden Gäste untergebracht. 

Max Bahro, der Vater, geboren 1901, hatte eine Ausbildung als Landwirtschaftseleve durchlaufen und wurde anschließend Gutsinspektor zuerst in der Nähe von Schneidemühl, dann in Schlesien, wo er mit dem Titel eines Viehwirtschaftsberaters als Prüfer der Milchqualität tätig war. So von Hof zu Hof fahrend, lernte er seine Frau Irmgard (geb. Conrad) kennen, von der wir nur wenig wissen. 

* detopia :    40 km östlich von Zittau    maps.google bad+flinsberg 


Rudolf erzählte später, daß sie nicht besonders hübsch gewesen sei und ihm nicht besonders gefallen habe, zumal sein etwa eineinhalb Jahre später geborener jüngerer Bruder Dieter und die kleine Schwester Gerda ihm vorgezogen wurden. Und er erzählte weiter, wie er seine Mutter gern geärgert hatte und entsprechend bestraft worden sei. Das Verhältnis zu seinem Vater war besser, der sei ein lieber und guter Mann gewesen, wie aus einem Roman von Fallada entstiegen. 1939 oder kurz darauf wurde er landwirtschaftlicher Inspektor eines ganzen Kreises, und um diese Stelle zu halten, trat er 1942 in die NSDAP ein.

Zu dieser Zeit — so erinnert sich Bahro 1978 — »zogen wir nach Verkauf jenes Hauses um, in den Nachbar­kreis Lauban, in das Dorf Gerlachsheim. Dort wurde ich im April 1942 in die Volksschule aufgenommen, die ich in diesem Ort bis Ende 1944 besuchte.« 

Wie Hannes Scholder, ein ehemaliger Flinsberger, erzählte, sei Rudolf in eine (damals noch übliche dörfliche) Ein-Klassen-Schule gegangen, in der alle Jahrgänge gleichzeitig unterrichtet wurden. Der erinnert sich, daß er sich immer vor den größeren Jungen fürchtete, und wenn zum Fußballspielen die Anführer ihre Mannschaften aussuchten, wurde er meist erst zuletzt genommen.

Als zum Ende des Krieges die Ostfront immer weiter in Richtung Deutschland vorrückte, wurde Rudolf — während sein Vater zum »Volkssturm« einberufen wurde — zusammen mit seiner Mutter, den Geschwistern und einer Tante evakuiert. Ab Februar 1945 folgte eine Odyssee durch verschiedene Orte der Tschechoslowakei, schließlich über Wien und Kärnten bis tief ins westliche Deutschland, nach Hessen. 

In Bahros eigener Darstellung: 

»Wir fuhren über Zittau nach Mähren und wurden in dem Städtchen Trebic bei einer tschechischen Familie einquartiert. Anfang April 1945 transportierte man uns von dort wieder ab. Wir wurden nach Südböhmen gefahren und dort in einer mir nicht mehr näher bestimmbaren einsamen Gegend in einem Blockhaus untergebracht, wo uns die Nachricht vom Ende Hitlers erreichte. Um den 5. Mai wurden wir erneut verladen und sollten offenbar so schnell wie möglich aus dem Gebiet der Tschechoslowakei abgeschoben werden, was jedoch Schwierigkeiten bereitete. Unser Transport ging zunächst nordwärts nach Prag, von dort aber wieder nach Süden, wo wir bei Gmünd nach Österreich übergeleitet werden sollten. Schließlich brachte man uns aber etwa entlang der tschechoslowakischen Südgrenze nach Bratislava. In dieser Stadt verlor ich für immer meine Mutter und meine beiden Geschwister. 

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Ich befand mich mit meiner Tante Else bereits in einem nach Wiener Neustadt bestimmten Zug, den wir alle benutzen wollten, als sich dieser Zug plötzlich ohne die anderen in Bewegung setzte. Meine Mutter kehrte mit den beiden kleineren Kindern von Bratislava nach Gerlachsheim zurück, wo sie alle — Mutter und Bruder noch in Gegenwart meines aus polnischer Gefangenschaft entlassenen Vaters — an Hungertyphus verstarben.« 

Als Todesdaten gibt Bahros Cousine (Lina Conrad) für die Mutter den 13. Januar 1946, für die Schwester den 28. Januar und für den Bruder den Monat März an.

 

Über die weiteren Stationen der Nachkriegs-Odyssee berichtet Bahro: 

»Ich gelangte mit meiner Tante nach Wien, wo wir etwa drei Monate in einem zerstörten Obdachlosenasyl zubrachten und wo ich durch Bettelstreifzüge die Stadt kennenlernte. Freundliche Aufnahme bzw. Hilfe fand ich in der Familie eines Textilfabrikanten, an dessen Tür ich geklingelt hatte. Dieser Familie war der Sohn gefallen. [...] Von Wien wurden wir in ein Barackenlager Treffling gebracht, das die englische Besatzungsmacht in einem Hochtal bei Spittal an der Dräu [...] eingerichtet hatte. Dort verbrachten wir ab August 1945 etwas mehr als ein halbes Jahr. Im Frühjahr 1946 erfolgte unser Abtransport nach Westdeutschland, [...] und man beförderte uns nach Hessen, wo wir in Eckeishausen, Kreis Biedenkopf an der Lahn, bei einem Bauern Unterkunft fanden. Dort erfuhr meine Tante im Sommer 1946, daß ihr Mann, aus der Gefangenschaft entlassen, sich in Erfurt befand, während sie für mich Verbindung mit den Brüdern meines Vaters in dessen Geburtsort Treppeln aufnahm. Daß mein Vater sich zur gleichen Zeit bei Osnabrück aufhielt, wußten wir nicht. Wir fuhren im August 1946 über Bebra in die damalige Sowjetische Besatzungszone nach Erfurt, von wo ich allein nach Treppeln weiterreiste.« (Lebenslauf 1978) 

Sein Stiefbruder — über ihn wird gleich zu sprechen sein — berichtet, daß Rudolf aus dem Zug ausstieg mit einem Pappschild um den Hals (damals überhaupt nichts Besonderes), auf dem stand »Ich heiße Rudi Bahro und will nach Treppeln zu meinen Verwandten«.

Bis zu seinem Studienbeginn 1954 lebt Rudolf im Oderland, dies wird seine zweite Heimat, hier geht er zur Schule und macht das Abitur, hierher kehrt er in den Semesterferien zurück, und nach dem Studium wird er hier, in Sachsendorf, für ein reichliches Jahr Redakteur einer Dorfzeitung.

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Fontane hatte das Oderland für die Literatur und die Nachwelt erwandert. Zwischen Berlin und der Oder erstreckt es sich als eine weite dünnbesiedelte Landschaft. Einst von germanischen Stämmen, dann nach deren Abzug von Slawen besiedelt, im Hochmittelalter im Zuge der Ostkolonisation zurückerobert, war es lange ein zivilisatorisches Randgebiet. Erst unter Friedrich dem Großen begann eine zielgerichtete Besiedlungspolitik (»Peuplierung«), die Errichtung von Dörfern, das Graben eines neuen Flußbettes für die Oder und ein bescheidener wirtschaftlicher Aufstieg. Zum Ende des Zweiten Weltkrieges war das ganze Gebiet zwischen Oder und Berlin ein tiefgestaffeltes Verteidigungssystem der zurückweichenden deutschen Wehrmacht, die erst an der Oder und, dann an den Seelower Höhen den letzten großen Widerstand vor Berlin gegen die sowjetischen Armeen unter Marschall Shukow leistete. Die Spuren des Krieges und der Zerstörung prägten lange diese Landschaft.

Rudi fand in Treppeln seinen Vater wieder. Der hatte das letzte Kriegsjahr beim »Volkssturm« ebenso überstanden wie die kurze Kriegsgefangenschaft und in dem Dörfchen Rießen (zwischen Fürstenberg und Frankfurt/Oder) den Hof einer Witwe übernommen, um ihn zu bewirtschaften und vielleicht eines Tages die Witwe zu heiraten. Doch es kam anders. Ihm fehlten Arbeitskräfte — auch Rudi mußte beim Pflügen, Eggen und Melken mithelfen —, die warb er aus den Nachbardörfern. 

Und nun muß Rudis Stiefbruder Gerhard Reiter eingeführt werden.

Dieser wurde 1928 in dem nicht weit entfernten Sachsendorf geboren, als Sohn eines Friseurs und dessen Ehefrau Frieda (geb. Rothe, * 12.9.1903), ging ab 1939 in der Kreisstadt Seelow zur Mittelschule und wurde 16jährig als Marinehelfer zur Flak nach Bremerhaven eingezogen. Gleichzeitig Soldat und Schüler, schloß er im März 1945 die Schule mit der Mittleren Reife ab, und nach abenteuerlichen letzten Kriegswochen traf er im Mai in Fürstenberg seine dorthin aus Sachsendorf geflüchtete Mutter Frieda wieder. Sein Vater war, wie Bahros Vater Max, ebenfalls zum Volkssturm eingezogen worden, wurde bei Lietzen schwer verwundet und starb an den Folgen. Mutter und Sohn blieben in Fürstenberg, Gerhard begann eine Lehre als Maschinenbauer, hatte 1948 ausgelernt und arbeitete in einem den Sowjets unterstellten SAG-Betrieb, der für Reparaturen an Motoren und landwirtschaftlichen Maschinen zuständig war. Bei dieser Tätigkeit kam er eines Tages nach Rießen auf den Hof, wo Max Bahro ackerte und Arbeitskräfte suchte. Gerhard vermittelte seine Mutter dorthin, sie arbeitete bei Max auf dem Feld, bis der eines Tages Gefallen an ihr fand und sie lieber im Haus haben wollte. 

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Deshalb muß es wohl Ärger mit der Hofbesitzerin gegeben haben, schließlich zog Max Bahro zu Frieda Reiter nach Fürstenberg und brachte sein einziges ihm noch verbliebenes Kind Rudolf mit. 1951 heirateten der Witwer und die Witwe, und Rudi bekam eine neue Mutter und einen großen Bruder.

Wie Gerhard Reiter berichtet, war seine Mutter eine ruhige, gelassene Frau, ihr Mann Max ein lieber, freundlicher und hilfsbereiter Mann — beide lebten in einer harmonischen Ehe. Rudolf erzählte seiner späteren Frau Marina, daß er sich über seine Stiefmutter anfangs sehr gefreut habe, sie sei eine schöne Frau gewesen, doch zusehends habe sie sich darüber geärgert, daß er so viel las und zu wenig im Haus mithalf — damit wurde ihre Beziehung komplizierter. Auch wohnte die Familie in einer zu kleinen Wohnung.

Nachdem durch die ständigen Ortsveränderungen seit Februar 1945 kein richtiger Schulunterricht für ihn mehr möglich war, wurde er im Herbst 1946 in Treppeln wieder eingeschult, mußte aber bereits Anfang 1947 erneut wechseln — nach Rießen —, bis er schließlich ab Herbst 1948 für zwei restliche Jahre in Fürstenberg die Grundschule und anschließend bis 1954 die »Clara-Zetkin-Oberschule« besuchte. Inzwischen nahm sein Bruder Gerhard in Berlin das Ingenieur-Studium auf und kam nur noch an manchen Wochenenden und in den Semesterferien nach Hause. Von seinem jüngeren Bruder berichtet er, daß dieser ein »helles Köpfchen« gewesen sei, durch und durch ein Bücherwurm, oft tief versunken und also auch ein Einzelgänger. Die Brüder hätten sich gut verstanden, es habe kaum Auseinandersetzungen gegeben. Als begabter Schüler sei er auch durch seine Lehrer gefördert worden.

So berichtet Manfred Sader, der mit Rudi von der Grundschule bis zum Abitur dieselben Klassen besuchte (und später Oberbürgermeister von Eisenhüttenstadt wurde), daß Rudi ein »überdurchschnittlich begabter und intelligenter Junge« war, allen anderen weit voraus. Nur im Sport konnte oder wollte er nicht mithalten. Übereinstimmend erinnerten sich seine früheren Schulkameraden, daß Rudi eine große Liebe zur Literatur besaß. Auch Gedichte habe er schon zu dieser Zeit geschrieben. Daneben habe er aber auch große Freude an Mathematik gehabt, was ihn mit seinem Klassenkameraden Olaf Bunke (dem Sohn seines Sportlehrers) verband, der später in Berlin eine Professur für Mathematik erhielt. Auch Schach hätte er bereits damals gerne gespielt, wie sich ein weiterer Mitschüler erinnerte. 

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Daß er Rudi hieß, wußten die allerwenigsten; in seiner ganzen Schulzeit wurde er von den Mitschülern einzig »Kater« genannt. Als die Oberschule im Ort umzog und ein Internat für die Schüler von außerhalb eingerichtet wurde, zog auch Rudi in dieses, obwohl die elterliche Wohnung nur wenige hundert Meter entfernt lag, und kam nur noch an den Wochenenden nach Hause.

In die Jungen Pioniere ist er nicht eingetreten, dagegen widerstrebend in die FDJ. Es sei das einzige Mal gewesen, kommentierte er dies später, daß er unter Druck etwas gegen seinen Willen tat. In einem Lebenslauf von 1954 kommentiert er diesen Schritt: »Am 1.9.1950 wurde ich gegen meinen Willen Mitglied der Freien Deutschen Jugend, weil von dem damaligen Direktor unserer Schule davon die Aufnahme in die Oberschule abhängig gemacht wurde. Meine Ideologie entsprach den Ansprüchen, die man an ein Mitglied der FDJ stellen muß, keineswegs.« Doch schon 1952 wurde er Kandidat, 1954 Mitglied der SED. 

Im großen Spiegel-Interview vom Juni 1995 ergänzt er zum Parteieintritt: »Gewonnen hatte mich ein Lehrer meiner Oberschule, der später da Direktor wurde, und zwar durch seine Aufrichtigkeit. Der war zuvor gerade noch ein HJ-Führer gewesen, aber er war nun echt.« Dieser Lehrer, Dieter Behrendt, habe auf seine provozierende Frage, warum denn »bei uns zwar angeblich die Arbeiter herrschen, aber in Wahrheit doch nicht«, so ehrlich geantwortet, daß er den Schüler für sich gewann. Außerdem habe er noch in der nächsten Stunde Lenins Staat und Revolution mitgebracht und genau die macht-politischen Komponenten der Diktatur des Proletariats hervorgehoben: »Das war eigentlich mein Einstieg in den Leninismus.«

Während der Weltfestspiele 1952 fuhr der 17jährige öfter nach Berlin, verbrachte aber die meiste Zeit dabei in Westberlin, wo er erstmals auch mit antikommunistischer Propaganda konfrontiert wurde und sich die Autobiographie von El Campesino (d.i. Valentin Gonzalez, ein kommunistischer Kommandeur im spanischen Bürgerkrieg, der später mit der kommunistischen Bewegung brach) kaufte. Zu Hause versteckte er dieses Buch auf dem Dachboden und bekam Gewissensbisse wegen der in Westberlin verbrachten Tage. Zur gleichen Zeit arbeitete er freiwillig mit an dem im Entstehen begriffenen Eisenhüttenkombinat Ost — einem der damaligen sozialistischen Großprojekte.

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Etwa gleichzeitig mit dem Parteieintritt wurde Rudi Mitglied in der »Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft« (DSF), der paramilitärischen »Gesellschaft für Sport und Technik« (GST) und im »Kulturbund« (KB) — also ein erstaunliches und eher ungewöhnlich frühzeitiges sich Binden an politische und kulturpolitische Institutionen der DDR. 

Daneben muß es auch eine revolutions-romantische Begeisterung für Kuba und Fidel Castro — der 1953 seinen Kampf gegen die Batista-Diktatur aufnahm — gegeben haben. Bruder Gerhard berichtete, daß Rudi ihm immer wieder erzählt habe, er müßte zu Che Guevara hin. Und Rudi hat in späteren Jahren berichtet, Tamara Bunke, die spätere Mitkämpferin von Che, gekannt zu haben — sie ist also den Weg gegangen, von dem Rudi zu seinem Bruder schwärmerisch sprach.

 

In seine Schulzeit fallen zwei für das politische Leben des Landes wesentliche Ereignisse: der Tod Stalins im März 1953 und der Arbeiteraufstand vom 17. Juni. Später schreibt er über seine Trauer anläßlich dieses Toten: »Ich rezitierte in der Schule Johannes R. Bechers erhabenes Poem: Als es geschah an jenem 5. März und leise, immer ferner schlug sein Herz. Wir standen dort mit Tränen in den Augen, die Fahne war auf Halbmast, wir bildeten eine Ehrengarde mit Luftdruckgewehren vor Stalins Porträt und fragten uns, wie das Leben weitergehen kann.« Dagegen hinterließ der 17. Juni bei ihm keinen tieferen Eindruck: Er glaubte, was im Neuen Deutschland dazu geschrieben wurde, und hielt den Aufstand auch für eine Konterrevolution.

Über die Schule spricht er mit Hochachtung. Von einem ehemaligen Major der Wehrmacht wurde er in die klassische deutsche Literatur, aber auch in die Werke von Thomas und Heinrich Mann sowie Romain Rolland eingeführt, einem anderen Lehrer dankte er die Liebe zu Beethoven, ein dritter vermittelte ihm die ersten Kenntnisse von Einsteins physikalischem Weltbild. Von seinem Lehrer Behrendt erzählt er eine weitere Geschichte, die ihn sehr beeindruckte: Dieser wurde einmal »sehr zornig auf mich, als ich eine Zeile von Schiller zitierte, daß die Mehrheit ein bedeutungsloses Wesen sei. Über einen Monat später kam er in die Klasse und schrieb an die Tafel: >Warum seid ihr alle so heuchlerisch? Warum seid ihr so unehrlich? Warum sagt ihr nicht, was ihr denkt?< Mit anderen Worten: >Warum sagt ihr mir nicht, wo ihr nicht mit mir übereinstimmt, damit ich die Chance habe, mit euch zu argumentieren?«

Auf dem Zeugnis der 11. Klasse wird Rudi als außerordentlich intelligent und überheblich bezeichnet, mit seinen Leistungen überrage er »den Klassendurchschnitt bei weitem«. Zu seinem Bildungsgang insgesamt hat sich eine reichhaltige Quelle erhalten: 

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Von 1950 bis 1958 hat er Listen über die von ihm gelesenen Bücher geführt — ein Glücksfall für die Biographie. Allein für die Schuljahre umfassen diese Listen in Schönschrift rund 90 Titel, und es ist erstaunlich, welche Werke er damals gelesen hat. Hier trifft sich das Bedürfnis des Schülers aus einfachsten Verhältnissen nach hoher Literatur und Bildung mit dem Anliegen der SED-Kulturpolitik der 40er und 50er Jahre, eine demokratische und humanistische Kultur bereitzustellen.

Die Listen I bis VI umfassen eine lange Reihe der Dramen Goethes und Schillers sowie Werke von Grimmelshausen, Lessing, Kleist, Büchner, Eichendorff, Heine, Herwegh, Weerth, Hebbel, Freiligrath, Hoffmann von Fallersleben, Storm, C. F. Meyer, Keller, Fontäne und Hauptmann — daneben auch das bürgerliche Bildungsgut Gustav Freytag, Felix Dahn und Hermann Löns. An zeitgenössischer deutscher Literatur las er (vermutlich auch durch Schulstoff bedingt) Bredel, Marchwitza, Weiskopf, Friedrich Wolf, J. R. Becher, sogar schon Brecht, auch Feuchtwanger und Hesse sowie Heinrich und Thomas Mann, Anna Seghers, Erich Weinert, Eduard Claudius. 

Von der Weltliteratur Shakespeares große Dramen, Walter Scott und, Charles Dickens, Harriet Beecher-Stowes Onkel Toms Hütte,' Mark Twain und Jack London; ebenso Balzac, Stendhal, Hugo, Flaubert, Zola, Rolland und Anatole France; von der östlichen Literatur Puschkins Erzählungen, Tolstois Krieg und Frieden und Chadschi Murat, Kraszewski, Sienkiewicz und Hasek, Gorki und Majakowski, von den Zeitgenossen die eher obligatorischen »sozialistischen Realisten« Ostrowski, Fadejew, Ashajew und Scholochow, aber auch die in der DDR verlegten Aragon und Howard Fast. Schließlich noch Stalins damals geradezu als kanonisch geltende Arbeit Über dialektischen und historischen Materialismus, Lenins bereits genanntes Werk Staat und Revolution, Engels' Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft sowie weitere kleine Schriften zur Popularisierung der »Klassiker«. Ganz aus dem Rahmen fällt Nietzsches Der Antichrist.

Seinen längsten Schulaufsatz schrieb er über Heinrich Manns Henri Quatre, sein Abituraufsatz beschäftigte sich mit dem in der DDR hochbewerteten Georg Herwegh. Zum 30. Todestag von Lenin verfaßte Rudi im Januar 1954 in Schönschrift einen 16seitigen Text, den er in der Schule vortrug. 

Mit dem typischen eingerückten Zeilenfall bestimmter Hölderlin-Gedichte gibt er seiner jugendlichen Revolutions­begeisterung und Helden-Verehrung Ausdruck:

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Mögen sich alle die Ewiggestrigen diesseits und jenseits der Elbe in der Angst Ertrinkender dem Mythos des amerikanischen Jahrhunderts ergeben. Sie tragen den Stempel des Untergangs auf der Stirne, seit Lenin ihnen seine unbesiegbare Wahrheit entgegengeschleudert hat: Wir leben im Jahrhundert der proletarischen Revolution, die wir noch in den letzten Winkel der Erde tragen werden!

Dann trägt er die damals in unzähligen Texten verbreitete Vita in ihren kanonischen Stationen vor, bis er bei der Oktoberrevolution ankommt:

Nach dem von Lenin in seinem Buch Staat und Revolution entworfenen genialen Plan nahm die Arbeiterklasse unter Lenins persönlicher Führung die Staatsmacht in ihre Hände, konstituierte sich zur herrschenden Klasse, indem sie die Diktatur des Proletariats errichtete, um die Ausbeuterklassen zum Wohle der arbeitenden Menschheit rücksichtslos zu vernichten.

Für diesen Tag haben Millionen Unterdrückte 2 Jahrtausende lang gekämpft und gelitten. [...] 
Die Erfüllung ihrer Mission ist Lenins Werk, der Beginn einer glücklichen Fortsetzung und Vollendung der Menschheitsgeschichte.

Weiter schildert er den Bürger- und den Interventionskrieg: »Und überall waren unerkannte Gegner der Sowjetmacht vom Schlage Trotzkis damit beschäftigt, die Verteidigung und das Hinterland zu desorganisieren, um die Macht der Sowjets zu stürzen.« Einmal wich der Schüler von der offiziellen Lenin-Biographie ab und betrachtete das schlimme Leben der armen, ungebildeten Menschen im zaristischen Rußland. Diese Menschen glaubten »an einen gütigen Gott, der über ihnen wacht, sie zu beschützen« — doch trotzdem »waren Zank und Streit an der Tagesordnung und keiner kümmerte sich sehr um den Nächsten«. 

Dann heißt es weiter:

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Aber die Qual: ihres Lebens wurde größer von Tag zu Tag und so begann der Glaube in ihnen zu sterben. Viele Menschen verloren ihren Gott und seit sie ihn verloren hatten, klaffte eine noch größere Lücke in ihrem Leben, an der Stelle wo er gewesen. —

Und da kam Lenin und füllte die Lücke mit den Menschen. Er lehrte das russische Volk, den Menschen, den anderen Menschen, alle einfachen Menschen zu lieben! [...] Das ist Lenins Verdienst, daß er eine Partei erzogen hat, deren höchstes Ideal diese Liebe zu den Menschen ist.

Und schließlich die Vergöttlichung des großen Vorbilds:

Während seines ganzen Lebens war Lenins Kraft unerschöpflich, seine Energie unversiegbar, sein Glaube an den Sieg

grenzenlos. ' ' Er ermahnte seine Genossen zur Standhaftigkeit, und je größer die Gefahr war, die der Partei und der Revolution drohte, um so gewaltiger wurden seine Kräfte, wuchsen ins Unermeßliche.

Zu erwarten war auch das Folgende:

Besonders Stalin, Lenins treuster Schüler, Lenins bester Freund, teilte mit ihm diesen Glauben, und Lenins Kraft übertrug sich ungeteilt auf seinen Geist, so daß er später genauso siegessicher das Sowjetland leiten, beschützen und lieben konnte, wie es Lenin geleitet, beschützt und geliebt hatte.

 

Welche Quellen der angehende Abiturient benutzte, geht schließlich aus folgenden schrecklichen Versatz­stücken hervor: Die Feinde der Sowjetunion planten »im Verein mit den damals noch nicht entlarvten Verrätern Trotzki und Bucharin die Ermordung Lenins, Stalins und Swerdlows«. Oder auf Lenin wurde ein Attentat von »den Sozialrevolutionären, diesem Abschaum der Menschheit«, verübt. (Die Quelle war natürlich die stalinistische Geschichte der kommunistischen Partei der Sowjetunion (B) — Kurzer Lehrgang.)

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Dieser Vortrag endete mit einer seitenlangen Apotheose, beginnend mit

Solange Menschen arbeiten und andere Menschen sich die Früchte ihrer Arbeit aneignen und sie verzehren, werden Lippen den Namen Lenins formen, einmal als geflüstertes Losungswort, einmal als hallender Ruf! Und wenn alle Ausbeuter in absehbarer Zeit längst dahin sein werden, werden die Völker immer noch seinen Namen nennen, der zum Symbol für ein glückliches Leben in einer leuchtend schönen Zukunft geworden sein wird!

Und endend mit:

Um das zu erreichen aber müssen wir unermüdlich an uns selber arbeiten und nach seiner Forderung lernen, wie nie zuvor, damit sein Haß und seine Liebe in uns mächtig werden, bis all unser Wollen und Wirken seinen Ausdruck findet in unserer tiefen, ehrlichen Verehrung, in unserer Liebe zu unserem Vorbild Lenin!

Ich habe diesen Text sehr ausführlich wiedergegeben, nicht um ein mitleidiges Lächeln hervorzurufen, sondern um das Lebensgefühl des damals 19jährigen und ganz bestimmt auch vieler Gleichaltriger dieser Kriegsgeneration anzudeuten, das sich bei Bahro in den Tiefen seines Charakters zumindest über die ganze DDR-Zeit erhalten hat. Wenn es hier auch um eine von der Schule inszenierte Pflichtfeier ging, wenn sich auch Klischees an Klischees reihen — aus solchen Bausteinen setzte sich Bahros Glaube an Lenin, an das Glück der Menschheit zusammen.

Und es gab noch andere Bausteine. Über den das rein Literarische transzendierenden Ertrag seines intensiven Lesens schreibt er in einem Lebenslauf von 1978 (aus der U-Haft): »Ich gewann eine Reihe idealer Leitbilder, die lange Zeit große Bedeutung für mein Persönlichkeitsprofil haben sollten. Solche Leitbilder waren etwa Schillers Karl Moor und vor allem Marquis Posa, dann Heinrich Manns Henri Quatre und Romain Rollands Johann Christof. 

Eine besondere identifikatorische Liebe faßte ich zu der Gestalt und Musik Ludwig van Beethovens, kurz nach dem Abitur desgleichen zu Friedrich Hölderlin, ausgelöst durch dessen Hyperion. Auch schon aus der Schulzeit stammt meine Bewunderung für Thomas Müntzer, für Giordano Bruno und für Spinoza. Alle diese Gestalten flössen mir zusammen zum spezifischen Typus von großer Individualität, der mir als Vorbild vorschwebte. Mir war frühzeitig bewußt geworden, daß mich die allgemeine Begabung, die mir meine ohne große Anstrengung erreichten schulischen Leistungen bestätigten, zu hohen Zielen verpflichtete.«

1954 bestand er das Abitur mit »Auszeichnung« (wobei nur die Sportzensur ein wenig geschönt wurde) und verließ seinen Heimatort in Richtung Berlin.

Eine Besonderheit späterer Traditionspflege sei leider hier schon erwähnt: Als 25 Jahre darauf ein Klassentreffen der Abiturienten stattfand, wurden die Parteimitglieder zuvor zusammengerufen und ihnen die obrigkeitliche Weisung überbracht, daß auf dieser Feier der Name des kurz zuvor verurteilten Bahro offiziell nicht erwähnt werden darf.

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