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14. Die Stasi-verhinderte Promotion
wikipedia Promotion wikipedia Dissertation wikipedia Aspirantur # Plädoyer-1980
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In Biographien erfolgreicher Wissenschaftler nehmen zumeist die Dissertation und die anschließende Promotion nur wenige Zeilen, bestenfalls Absätze ein. Daß es bei Rudolf Bahro nicht ohne ein ganzes Kapitel abgeht, liegt daran, daß hier - wie die Überschrift verrät - ein wissenschaftspolitisches Lehrstück staatlicher Repression vorgestellt werden soll. Darüber hinaus verwickeln sich die Entstehungszeiten dieser Arbeit und der Alternative (letztere profitierte von der staatlicherseits zugestandenen Zeit für die Aspirantur), schließlich gibt es auch inhaltliche Zusammenhänge, und einmal nennt er die Dissertation die »legale Fassung« seiner Alternative (was natürlich so nicht stimmt).
In einer späteren Stellungnahme zu seiner Dissertation geht er auch auf deren Vorgeschichte ein: »Die Idee zu einer Arbeit dieser Thematik (die Bedingungen für die Förderung von Kreativität und Initiative wissenschaftlich ausgebildeter Kader zu untersuchen) hat in vielen Jahren, schon seit meiner Zeit bei der Gewerkschaft Wissenschaft, allmählich Gestalt angenommen.« (Und wie bereits bemerkt, war diese Problemsicht auch bestimmend für seine vielen Artikel im Forum gewesen.)
Dann konnte er - als er ab 1967 in die Industrie ging - feststellen, daß die »betriebliche Situation der Kader mit ihren Widersprüchen und Problemen [...] anders ist, als sie in Referaten, Zeitungsartikeln, öffentlichen Äußerungen selbst der Beteiligten« dargestellt wird. »Die hemmenden Faktoren verschiedener Art und Ordnung, die ich zunächst auf der Erscheinungsebene wahrnahm, schien [en] mir schon sehr bald dahin zusammenzuwirken, daß der Einzelne >zu wenig machen kann<, daß er >nicht durchkommt<, daß also derartige Äußerungen, die immer wieder fallen, nicht primär eine subjektive Fehlhaltung widerspiegeln, sondern ein Effekt der objektiven Situation sind, in der sich zu viele Kader befinden.«
Also mußte die »objektive Situation« untersucht werden.
Entstanden ist die Dissertation letztlich aus einer Lehrgangs-Abschlußarbeit zur Qualifizierung auf dem Gebiet der Arbeitsorganisation aus dem Jahre 1970, die von der TH Merseburg betreut wurde.
Von dort kam dann — von Bahro etwas angeschoben — die Empfehlung zu einer außerplanmäßigen Aspirantur mit dem Ziel der Promotion. Damit war seinem Ehrgeiz plötzlich ein greifbares Ziel gegeben. Diese Chance nutzte er mit ungeheurer Energie.
Die Vorstufen der Dissertation haben sich nicht erhalten. Das Thema wurde von Gundula Bahro 1974 noch so wiedergegeben: »Bedingungen der Kreativität technisch-wissenschaftlicher Kader in Industriebetrieben der Plast-Elast-Produktion.«
Sein Doktorvater wurde der ihm persönlich nicht bekannte Soziologe Professor Günter Bohring, der die Arbeit für ausbaufähig ansah und dem er zuerst einmal einen Arbeitsplan vorlegte, den dieser am 3. April 1972 unterschrieb — damit konnte die Arbeit offiziell beginnen. Im selben Jahr veröffentlichte Bahro in der <Wissenschaftlichen Zeitschrift der TH Merseburg> einen Artikel zu dieser Themenstellung und hielt 1974 an der Hochschule einen Vortrag über <Kriterien der kreativitätsfördernden Situation>. Schon vorher hatte er die sozialpsychologische Anlage der Abschlußarbeit in einen soziologischen Rahmen eingebettet — einmal, um seinem Doktorvater entgegenzukommen, doch hauptsächlich wegen einer Idee, die dann zur tragenden seiner beiden theoretischen Arbeiten wurde: die trotz veränderter Produktionsverhältnisse auch im Sozialismus fortgesetzte alte Arbeitsteilung und deren notwendige Überwindung.
Was er zu erreichen hoffte, geht aus einer Niederschrift (vom 31. März 1978 in der U-Haft) hervor:
»Meine Dissertation will dazu beitragen, daß die Entfaltungsbedingungen für die schöpferische Initiative der Hoch- und Fachschulkader in der Industrie verbessert werden. <Was müssen wir tun, wenn ihre subjektiven Antriebe möglichst umfassend freigesetzt werden sollen?> — so lautet ihre zentrale Frage.
Allein auf diesen Zweck hin — also an keiner Stelle der Arbeit etwa bloß, um über Mißstände zu lamentieren — behandle ich eingehend die Hemmnisse, denen sich Kader in ihrer Arbeitssituation gegenübersehen. Ich zeige diese Hemmnisse nicht nur empirisch auf, sondern ich erkläre sie, ordne sie in einen Entwicklungsprozeß ein. Ich analysiere sie auf ihre vorwiegend objektiven Ursachen hin, die ich in den Entwicklungswidersprüchen unserer Produktionsverhältnisse und speziell in bestimmten inzwischen veralteten Zügen unseres Leitungssystems in der Wirtschaft erkenne. Im Ergebnis gelange ich zu einer ganzen Reihe konstruktiver Vorschläge, die auf die Überwindung der aufgedeckten Hemmnisse und ihrer Ursachen abzielen.«
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Um dahin zu gelangen, mußte er auch ein umfangreiches Studium psychologischer Literatur (Arbeits-, Ingenieur-, Sozial-, Entwicklungs-, Persönlichkeits- und pädagogische Psychologie) betreiben, sich mit Soziologie und den sogenannten Leitungswissenschaften beschäftigen. Die fertige Dissertation enthält mehr als 200 verarbeitete Titel, neben der marxistisch-leninistischen Pflichtliteratur auch Psychologen und Analytiker wie Erikson, Eysenck oder Wilhelm Reich. Und so entstand allmählich seine Dissertation mit dem Titel im typischen DDR-Sound:
Voraussetzung und Maßstäbe der Arbeitsgestaltung für wissenschaftlich ausgebildete Kader im industriellen Reproduktionsprozeß der entwickelten sozialistischen Gesellschaft. Eine theoretische Studie über die Freisetzung der subjektiven Antriebe zu schöpferischer wissenschaftlicher Arbeit im sozialistischen Industriebetrieb.
Übersetzt heißt das, wie die Motivation von Wissenschaftlern und Hochschulabsolventen in der betrieblichen Praxis durch Unterforderung, Bürokratie, gehemmte Informationsweitergabe, Routine und formale Wettbewerbe kaputtgemacht wird und aus der Arbeitsorganisation zwangsläufig Enttäuschung, Entmutigung, Ermüdung entsteht und wie dieser Zustand überwunden werden kann. Bahro macht das — sehr überzeugend — mit dem Gestus des Praktikers: Sauber werden die Probleme genannt (im Gegensatz zur beschönigenden Parteisprache) und viele Vorschläge gemacht, wie die persönliche Motivation als kostbare Ressource erhalten und betrieblich genutzt werden könnte, um die Produktion zu stabilisieren (ein Dauerproblem in der DDR) und darüber hinaus zu verbessern.
Es gibt in dieser Untersuchung keine Äußerungen zur Politik, keine Differenzen zur SED, trotzdem fordert er - wie im Brief an Walter Ulbricht - mehr Demokratie in den Betrieben (unter Führung der Partei!). Es ist eine Arbeit, die ganz aufs Verändern angelegt ist — doch alles im Rahmen der Normalität des real existierenden Sozialismus. Mit einer Ausnahme: Durchgehendes - untergründiges wie explizites - Thema ist die »Aufhebung der alten Arbeitsteilung« — von Marx und Engels als Bedingung der vollen Entwicklung der Individuen angesehen, von den marxistischen Philosophen als »vormarxistisch« abgetan, von den sozialistischen Ökonomen als »utopisch« beiseite geschoben, von Bahro geradezu als Schlüssel für den Übergang zum Kommunismus angesehen (und in der Alternative entsprechend analysiert).
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Bahro hoffte dabei, neben dem wissenschaftlichen Ertrag auch ein »Material zu liefern, das die gesellschaftlichen Führungskräfte tatsächlich gebrauchen, das sie zur Entscheidung über neu herangereifte Fragen« positiv heranziehen könnten. (So ist es auch zu erklären, daß er die Dissertation nach ihrer Ablehnung noch an den Dietz-Verlag und an »die für Wirtschaftspolitik verantwortlichen Genossen« des ZK der SED schickte.)
Doch der Verdacht liegt nahe, daß der Leser an diesen theoretischen Ausführungen weniger interessiert sein könnte als an den Umständen, wie die Arbeit, die alle Anforderungen an eine wissenschaftliche Untersuchung erfüllt, aus politischen Gründen zu Fall gebracht wurde.
Mit dieser Dissertation hätte er unter normal-günstigen Umständen promoviert werden müssen. Sie reichte ihm jedoch nicht aus. Um über seine persönlichen Erfahrungen in der Industrie und seine theoretischen Überlegungen hinaus den Inhalt der Dissertation weiter zu objektivieren, befragte er - meist während seiner zahlreichen Dienstreisen - die im Titel angegebenen »wissenschaftlich ausgebildeten Kader«, also zumeist Techniker und Leiter auf verschiedenen Ebenen. Als er damit anfing, ging es ihm zunächst nur um deren Meinungen, die er mit seinen Erfahrungen abgleichen wollte.
Später professionalisierte er diese Befragungen, entwarf einen Fragespiegel, schickte ihn ausgesuchten Personen zu, besuchte sie dann, zeigte ihnen auch ein Konzept, nach dem er arbeitet, befragte sie sodann und schrieb meistens mit. Auf diese Weise entstanden 1973/74 viele Gesprächsmitschriften und -notizen. Schließlich erinnerte er sich daran, daß er bis zum Jahre 1968 zurückgehend bereits ähnliche Gespräche geführt hatte, die er daraufhin nach Möglichkeit rekonstruierte und ebenfalls als Material verwendete. Was er mit diesen Befragungen genau machen wollte, war ihm eine Zeitlang nicht ganz klar.
Da es vertrauliche Gespräche waren und seine Partner ihm Dinge erzählten, die ihnen bei Bekanntwerden Schwierigkeiten bis hin zu Partei- und Disziplinarstrafen eingebracht hätten, wollte er sie gänzlich in systematische Darstellungen umschreiben, doch dann tat ihm der authentische Charakter dieser Gespräche leid — schließlich hatte er als Forum-Redakteur auch solche Interviews geführt und gut veröffentlichen können (wenn sie auch weit weniger kritisch waren). So entschloß er sich dann, sie wieder in ausdrückliche Interviews zurückzuverwandeln und sie namenlos, aber mit identifizierenden persönlichen Angaben (Geburtsjahr, Studium, Tätigkeiten, jetzige Funktion) zu einem soziologischen Anhang zusammenzustellen.
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Daß diese halbe Anonymisierung ihm später einmal riesige Probleme bereiten würde, konnte er damals nicht ahnen. Und er machte auch einen verzeihlichen, aber im Prozeß ihm schwer angekreideten Fehler, daß er für die weiter zurückliegenden Gespräche nicht nachträglich die persönlichen Angaben erfragte und sie statt dessen nach bestem Wissen und »über den Daumen« (etwa das Geburtsjahr, die genaue Tätigkeit) ergänzte. Auf diese Weise verfaßte er insgesamt 48 Interviews (davon etwa zehn nicht in der vorliegenden Form durchgeführt, sondern aus einfachen Gesprächen mit fiktiven Personendaten zu einem »Interview« aufgetakelt).
Mit diesen Befragungen glaubte er auch seinem Betreuer entgegenzukommen, indem er neben der theoretisch angelegten Dissertation zugleich authentische Informationen als separaten Anhang beisteuerte. Prof. Bohring wußte natürlich, daß soziologische Befragungen in der DDR genehmigungspflichtig waren und strengen Auflagen (meist Geheimhaltung als VS=Verschlußsache oder gar als VVS=Vertrauliche Verschlußsache) unterlagen, so warnte er nicht ganz deutlich seinen Doktoranden, ließ sich auch die Fragekonzeption zeigen und erklärte sich — bestimmt mit inneren Vorbehalten — damit einverstanden. (Wie Bahro später einem IM gegenüber vermutete, war der Betreuer natürlich als Soziologe auch ganz persönlich an ungefilterten Informationen interessiert, die er in einer staatlich genehmigten Umfrage bestimmt nicht hätte gewinnen können.)
Die fertigen Ausarbeitungen wurden dann Ende 1974/Anfang 1975 teilweise im Ingenieurbüro Halle von einer Sekretärin abgeschrieben, teilweise schrieb sie Bahro in Berlin selbst in die Maschine — auf dem berüchtigt-schrecklichen Ormig-Papier zur Vervielfältigung. Mit Genehmigung des zuständigen Leiters wurde der Text in seinem Weißenseer Betriebsteil insgesamt 25mal kopiert, davon gab er in der TH Merseburg sechs Exemplare als »Anhang« zur Dissertation ab, zehn lagerte er in seiner Arbeitsstelle, neun wurden als Informationsmaterial unter seinen Vertrauten verteilt.
Das erste Zwischenergebnis hätte ihn warnen müssen, denn sein Betreuer Prof. Bohring war schockiert und riet ihm, die Befragungen in einem Safe zu lassen, denn sie seien überhaupt nicht nötig für die Dissertation. Doch Bahro meinte, diese Gesprächsaufzeichnungen seien das beste Stück vom ganzen Projekt. Damit nahm das Verhängnis seinen Lauf.
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Die erste Unvorsichtigkeit beging Bahro, als er seinem Vertrauten Joachim Lucius am 9. August 1975 verriet, daß er den unterschwellig subversiven Text an der Aufmerksamkeit der Gutachter vorbeimogeln möchte, um ihn schnell durchzubekommen — aber er kalkuliere auch die Möglichkeit der Ablehnung ein (etwa wenn die Arbeit an der Parteihochschule von Hanna Wolf begutachtet werde). Das war schon eine verfängliche Bemerkung, die er noch steigerte, indem er übertreibend hinzusetzte, daß er keine Kompromisse mehr eingehen werde, um sich gegenüber »unserer Bewegung« nicht zu desavouieren. Das war für das MfS eine heiße Information (so unbegründet sie war).
Ein Freudentag muß es für Bahro gewesen sein, als er am 14. Oktober 1975 die Dissertation - das Produkt dreijähriger angestrengtester Arbeit - in Merseburg einreichen konnte. Noch rechnete er mit einer schnellen Verteidigung.
Dann kam die erste unvorhergesehene Hürde:
Etwa zwei Wochen später bekam er einen Anruf und wurde auf die folgende Woche zum Sicherheitsbeauftragten der TH nach Merseburg bestellt. In einem ihn verletzenden Ton — so Bahro — wurde ihm dort mitgeteilt, daß der »Anhang« als VVS eingestuft wurde, er also sämtliche Exemplare (einschließlich seines eigenen) und alle vorhandenen Ausarbeitungen, Zwischenstufen usw. der VS-Hauptstelle abzugeben habe.
»Das Gespräch war so angelegt, daß ich mich nahezu in den Zustand eines Beschuldigten versetzt fühlen mußte [...] Es stand sogleich die Frage, wieso diese Interviews überhaupt existierten, da keine formelle Genehmigung dafür vorlag. Über den Inhalt der Arbeit, so hieß es, würden natürlich andere entscheiden. Dies wurde in einem Tonfall gesagt, aus dem für mich die Überzeugung des Sicherheitsbeauftragten vom negativen Ausgang des ganzen Verfahrens hervorging.«
Als noch hinzugefügt wurde, daß dasselbe auch mit der eigentlichen Arbeit geschehen könnte — sie ihm also notfalls auch ohne Promotion restlos entzogen werden kann —, wuchs Bahros Empörung. Er wurde aufgefordert mitzuteilen, wer alles von dem Material Kenntnis habe, und er wäre damit gezwungen worden, die Namen seiner Vertrauten zu nennen, wozu er nicht bereit war. Also überschlug er kurz, welche Anzahl von Exemplaren man bei ihm vermuten könnte, gab deshalb 16 Exemplare (statt 25) an und hatte damit die neun ausgeliehenen dem Sicherheitsbeauftragten unterschlagen. Von diesem wurde er dann formal über den Umgang mit VVS-Material belehrt und mußte ein entsprechendes Papier unterschreiben. Damit hatte er sich festgelegt.
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Später rechtfertigte er sein formal folgsames Verhalten so, daß er gerade bei der Überarbeitung der <Alternative> war, die für ihn die Priorität hatte, und »daß die Angelegenheit mit dem Dissertationsanhang nun nicht zum Anlaß werden durfte, die Aufmerksamkeit der Sicherheitsorgane auf mich zu lenken«.
Bahro mußte mit den nicht im Besitz der TH Merseburg befindlichen »restlichen« Exemplaren am 6. November wieder beim Sicherheitsbeauftragten erscheinen, es wurde ein genaues Protokoll angefertigt (und elf Monate später wurde alles dort vernichtet).
Das Promotionsverfahren wurde zügig am 17. November von der Fakultät eröffnet. Damit hatte er jetzt Zeit gewonnen, sich - neben seiner beruflichen Tätigkeit - ausschließlich auf die Überarbeitung und Fertigstellung seiner späteren <Alternative> zu konzentrieren.
Doch es ging nicht ohne neue ihm ungünstige Zwischenfälle:
Am 18. Dezember traf sich, auf ihren Wunsch hin, Gundula Bahro mit MfS-Major Lohr (über diesen ganzen überraschenden Vorgang ausführlicher im folgenden Kapitel) und berichtete unter anderem, daß Bahro seine Dissertation fertiggestellt und an die TH Merseburg geschickt habe. Weiter erzählte sie von den Gesprächen mit Wissenschaftlern und Technikern, die er als Anlage seiner Arbeit beigegeben habe. Das war alles noch ohne Belang, doch dann gab sie ihrem Gegenüber einen Hinweis: »Nach Mitteilung der Quelle würde Bahro diese Anlage zur Dissertation viel Kopfzerbrechen bereiten, da sie durch die Hochschule zur WS erklärt wurde und Bahro schriftlich mitteilen mußte, wieviel Exemplare er anfertigen ließ. Danach hätte er 16 Exemplare angegeben, in Wirklichkeit jedoch 25 anfertigen lassen, die er innerhalb seines Freundeskreises verbreitete.« Noch wußte Major Lohr nicht, was er da für einen wichtigen Ansatzpunkt in der Hand hatte, denn in dem Plan der nach dem Treffen einzuleitenden Maßnahmen wird dieser Umstand noch nicht erwähnt. Doch um vorauszugreifen: Das wird im Prozeß 1978 der zweite Anklagepunkt — als »Geheimnisverrat«.
Noch läuft aber alles im normalen akademischen Rahmen, die Staatssicherheit hat kein Interesse an dem Promotionsverfahren.
Die drei Gutachten trafen im Laufe des Frühjahrs 1976 ein: Erstgutachter Prof. Bohring (Sektion Marxismus-Leninismus der TH Merseburg) bewertete die Arbeit cum lande, das zweite kam von dem Jenenser Sozialpsychologen Prof. Hiebsch (Magna cum laude), das dritte von dem Hallenser Soziologen Prof. Stollberg (cum laude).
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Dann macht Bahro einen Riesenfehler.
Er trifft sich Ende Mai mit Sonja Schnitzler (zu ihr ausführlich der Brief im Anhang des Buches) zum Plaudern (und als IM »Büchner« berichtet sie am 3. Juni dem MfS über das Gespräch):
»Er äußerte Genugtuung darüber, daß es ihm gelungen sei, mit der Dissertation alle übers Ohr zu hauen. Einmal habe er viel Zeit für seine Arbeit an der Konzeption [der späteren Alternative] gehabt, zum anderen habe er ja in der Dissertation ein Teilproblem seines Manuskripts behandelt, es aber so geschickt angestellt, daß man dies nur im direkten Vergleich feststellen könne. Er hält seine Dissertation für eine Ergänzung der Konzeption im legalen Bereich.«
Damit mußte die Staatssicherheit — die die <Alternative> bereits gut kannte — aktiv werden. Das geschah wie meist hinter den Kulissen, die sichtbaren Akteure sind verschiedene Professoren.
Am 21. September verfaßt Oberstleutnant Müller einen »Vermerk zur vorgesehenen Promotion des Rudolf Bahro«. Darin heißt es:
»Nach Absprache mit Genossen Oberstleutnant Gerlach am 20.9.1976 wurde veranlaßt, daß über das Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen, Prof. Schwiegershausen, der Prorektor der Technischen Hochschule Merseburg, Prof. Graichen, informiert wird, das Promotionsverfahren von Bahro weiter zu stornieren und durch geeignete Gegengutachten zu verhindern. Prof. Schwiegershausen wird persönlich die Professoren Söder [folgen drei weitere Namen] ansprechen, um aus diesem Kreis 2 Gutachter zu finden, die die vorliegende Arbeit [...] einschätzen.«
(Drei von ihnen haben abgelehnt, man fand einen vierten, der nicht ablehnte, Zusage auch von Prof. Söder — IM »Degen«, Reg.-Nr. MfS 12369/60, also schon 16 Jahre dabei —, dieser war später ebenso Gutachter im Prozeß gegen Bahro.)
Einen Monat später war die Vereinbarung zwischen Schwiegershausen und Graichen abgeschlossen: »Die wissenschaftliche Arbeit des Bahro wird über Gegengutachten negativ eingeschätzt, so daß das Promotionsverfahren nicht fortgesetzt werden kann [...] Die ausgewählten Wissenschaftler werden mündlich durch den Mitarbeiter des MHF [Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen] auf die Zielstellung vorbereitet, den Auftrag zum Anfertigen des Gutachtens muß der Prorektor Gen[osse] Graichen erteilen.«
Vorerst existierten allein die für eine Verteidigung nötigen drei positiven Gutachten. Nach deren Eintreffen wird normalerweise über einen Termin zur Verteidigung der Arbeit nachgedacht. Bahro war aber aus einem Grund, den er nirgends nennen durfte, unter Zeitdruck:
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Es näherte sich die Fertigstellung seiner ihm wichtigeren Schrift — und deren Erscheinen (wann und wo war noch unklar) würde zwangsläufig das Ende des Promotionsverfahrens bedeuten. Also rief er im August beim Prorektor Graichen an und erfuhr, daß die vorliegenden Gutachten als nicht ausreichend angesehen und weitere Gutachten angefordert werden. Daraufhin beschwerte er sich am 9. Oktober 1976 (also ein Jahr nach dem Einreichen der Arbeit) beim Rektor der TH Merseburg Prof. Naue über den schleppenden Gang des Verfahrens, und dieser antwortete wenige Tage später mit einem längeren Brief über die Notwendigkeit und Schwierigkeiten, weitere Gutachter zu finden, um im letzten Satz zu versichern, »daß das Promotionsverfahren nach den geltenden Rechtsvorschriften und den darauf fußenden Verfahrensregeln [...] ordnungsgemäß weitergeführt wird«. (Inzwischen hatte jedoch der Prorektor beim Dekan der Fakultät für Gesellschaftswissenschaften Einspruch gegen die Weiterführung des Promotionsverfahrens eingelegt.)
In seinem dunklen Gefühl, daß diese äußerst glatte Antwort ihn nur hinhalten soll, wandte sich Bahro eine Woche später an den Minister für Hoch- und Fachschulwesen, Prof. Hans-Joachim Böhme,* teilte ihm mit, daß er die Begründung des Rektors für das Einholen weiterer Gutachten nicht nachvollziehen könne, kritisierte die »Vorsicht, mit der der Wissenschaftliche Rat [der TH] sein eigenes Urteil hinausschiebt«, und bat den Minister, »die Umstände meines Verfahrens überprüfen zu lassen«. Was dieser daraufhin tat, entzieht sich unser aller Kenntnis, jedenfalls teilt er dem Wartenden am 8. Dezember das Ergebnis seiner Überprüfung mit, »daß das Verfahren entsprechend den Grundsätzen der Rechtsvorschriften über die akademischen Grade durchgeführt wird«.
* wikipedia Hans-Joachim_Böhme Minister 1931-1995, 64
Damit waren für Bahro die möglichen Einspruchswege erschöpft.
In der Zwischenzeit war bereits das erste der angeforderten Negativ-Gutachten in Merseburg eingetroffen. Prof. Günter Söder von der Hochschule für Ökonomie Berlin trägt darin auftragsgemäß »schwerwiegende theoretische und politische Bedenken« gegen die Arbeit vor, von denen er mit Mühe einige konstruiert: daß der Autor eine unhistorische, die tatsächlichen Verhältnisse der entwickelten sozialistischen Gesellschaft nicht widerspiegelnde Konzeption der Kreativität vertrete, daß eine marxistische Analyse des Zusammenhangs von Parteilichkeit und Schöpfertum fehle, daß eine »sachlich falsche und politisch unseren Staat diffamierende Position zum demokratischen Zentralismus« eingenommen werde.
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Sein Urteil lautet: »Das alles klingt sehr wirr, klingt nach Anarchismus und abstrahiert vom Klassencharakter unseres Staates«, Bahros Ausführungen verfälschten die Wirklichkeit, seien im höchsten Maße desorientierend, wären nicht marxistisch-leninistisch [das ist das Todesurteil für jede gesellschaftswissenschaftliche Dissertation], deshalb bewerte er die Arbeit mit »non sufficit«.
Das zweite negative Gutachten kommt einen Monat später und stammt von Prof. Herbert Kusicka. Beeindruckend schon die Funktion dieses Mannes im Kopf des Gutachtens: Leiter der Forschungsstelle beim Ministerium für Wissenschaft und Technik — Vorsitzender des Wissenschaftlichen Rates für ökonomische Fragen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts. (Ein solcher Gutachter kann sich einfach nicht irren.) Auf immerhin elf Seiten bestätigt er eingangs den »hohen Rang« des Themas, hebt hervor, daß die Arbeit »über weite Strecken brillant geschrieben ist« und kein Zweifel »über die intellektuelle Befähigung des Verfassers« bestehe. Dann stellt er durchaus scharfblickend fest: »Viele Passagen, Einschätzungen und Argumente sind zwiespältig, unterschwellig tendenziös und schädlich. Sie lassen die Funktion, die Zielrichtung dieser Aussagen unklar bzw. ermöglichen (und ermuntern) mehrdeutige Auslegungen.«
Doch macht sich der Gutachter immerhin die Mühe, dieses Urteil durch Bahros Text hindurch zu belegen (und ist damit dem Söder-Gutachten analytisch weit überlegen). Statt aber aus den angeführten kritischen Textpassagen den Schluß zu ziehen, daß ein Doktorand endlich einmal offen auf die tief in der sozialistischen Betriebsstruktur liegenden Probleme eingegangen ist, entrüstet er sich mit der Frage: »Wie und aus welcher, im Grunde diffamierenden Sicht, wird hier die Rolle des sozialistischen Staatsapparates, der Leitung staatlicher und wirtschaftlicher Prozesse eingeschätzt?«
Dies ist kaum als präziser Einwand gegen die Gesamtarbeit anzuerkennen, und das schlechte Gewissen des Gutachters gegenüber der Qualität der Arbeit produziert noch eine verräterische (doch unbemerkt gebliebene) Fehlleistung, wenn er Bahro abschließend vorwirft, daß dessen Ausführungen »nicht auf Lösung von Widersprüchen, sondern auf den Aufbau des demokratischen Zentralismus« gerichtet seien. (Das ist die sozialistische Formel, überhaupt positiv von Demokratie sprechen zu können.)
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Sein Gutachten, das von der Anlage her eigentlich in eine Anerkennung als Promotionsleistung münden müßte - aber das war nicht der Auftrag der Staatssicherheit -, empfiehlt, die vorliegende Arbeit nicht als Dissertation anzunehmen.
Mit dieser Absicherung kann sich die Fakultätssitzung am 17. Januar 1977 zur Ablehnung der Dissertation durchringen, auch unter Verweis »auf die Unvereinbarkeit der Positionen des Doktoranden mit den Beschlüssen des IX. Parteitages« — übrigens mit den Stimmenthaltungen der beiden Betreuer Bohring und Ladensack, die sich bald darauf wegen »fehlender Wachsamkeit« und »Identifizierung mit den von Bahro in seiner Dissertation bezogenen Positionen« vor der Partei verantworten müssen.
Damit ist das Promotionsverfahren beendet. (Was Bahro sich nicht träumen ließ: daß er drei Jahre später mit dieser Arbeit an der TH Hannover bei Oskar Negt promovieren kann.)
Der Prorektor Prof. Graichen teilte der Staatssicherheit den erfolgreichen Abschluß seines Auftrages mit, übrigens mit der Bitte, daß sein Kontakt zum MfS und seine gegebene Unterstützung im Rahmen der Bearbeitung Bahros durch das MfS auf keinen Fall an der Hochschule bekannt werden darf. Doch schnell folgt der nächste Schritt. Am 21. Januar kam es in Merseburg vor dem 1. Prorektor, dem Sekretär der Hochschulparteileitung und acht Professoren des Wissenschaftlichen Rates zu einer »prinzipiellen Auseinandersetzung« mit den genannten Betreuern Bohring und Ladensack, bei der beide Selbstkritik äußern mußten und sich von Bahro und seiner Dissertation distanzierten. (Doch das reichte noch nicht aus.)
Am nächsten Tag gab es in Berlin eine Absprache zwischen Major Reuter (HA XX/OG) und Major Eschberger (HA IX), in der festgelegt. wurde, »daß der Prorektor, Genösse Prof. Dr. Graichen, gegebenenfalls unter Hinzuziehung der Gegengutachter, eine parteiliche wissenschaftlich-fundamentierte Auseinandersetzung zum Inhalt der Dissertationsschrift führt, um damit Bahro zu veranlassen, sich politisch eindeutig zu äußern und festzulegen sowie zu erreichen, daß Bahro im Anschluß an diese Auseinandersetzung Aktivitäten in seinem Umgangskreis entwickelt, die die weitere operative Bearbeitung des Vorganges wesentlich forcieren könnten«. Gedacht war also an eine kleine Falle unter Ausnutzung von Bahros Wut oder Enttäuschung.
Als hätte der dies geahnt: Bahro bereitete sich auf das Gespräch auf seine Weise vor. Ihm sei bekannt — so erzählt er wieder Joachim Lucius —, daß der Dekan Prof. Grundmann »seine Dissertation insgeheim für gut hält und diese privat befürworte«.
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Deshalb will er bei dieser Vorladung zum Ausdruck bringen, daß er wisse, die Ablehnung komme von draußen und die Anwesenden seien »wohl in der Lage, Gehalt und Bedeutung seiner Dissertation zu erkennen«. Dann möchte er ihnen sagen, daß bei der Ablehnung wohl die Wachsamkeit über die Wissenschaft gesiegt habe. Mit dieser Erklärung hoffe er einige Anwesende zu beschämen.
Bahro wird also am 14. Februar nach Merseburg zitiert, er erscheint dort völlig in Schwarz gekleidet und muß sich eine halbe Stunde lang anhören, wie der Dekan und der Vorsitzende des Promotionsausschusses Prof. Heiland (Direktor der Sektion ML) den Fakultätsbeschluß erläutern. In einer Aktennotiz heißt es: »Herrn Bahro wurde ausführlich die unwissenschaftliche und politischideologisch verantwortungslose Untersuchung und Darstellung der behandelten Thematik vor Augen geführt. Er wurde insbesondere auf den reaktionären, revisionistischen Gehalt zahlreicher seiner schriftlichen Äußerungen und Schlußfolgerungen hingewiesen.«
Bahro hörte sich das äußerlich völlig ruhig an und machte sich zahlreiche Notizen. Dann nahm er das Wort (und die beiden anderen schrieben fleißig mit). Er betrachte es als unglückliche Entscheidung, daß ein Teil der Gutachter und die Mitglieder der Fakultät sich seine Dissertation »nicht positiv angeeignet« hätten, denn er habe bewußt eine Arbeit angefertigt, deren erklärtes Ziel es sei, die Welt nicht nur verschieden zu interpretieren, sondern sie zu verändern — womit er Marx' 11. These über Feuerbach für sich reklamierte. Er gebe die Position, die er in der Arbeit bezogen hat, in keiner Frage auf, und die Zeit werde kommen, in der sich die Nützlichkeit der vorliegenden Arbeit erweise. Kein einziges Wort des Bedauerns (notieren seine Gegenüber).
Wieder eine Woche später findet auf einer außerordentlichen Parteiversammlung der Grundorganisation Marxismus-Leninismus an der TH Merseburg die große Abrechnung mit dem Promotionsverfahren Bahro statt (ein ausführliches Protokoll wird Monate später an Minister Mielke geschickt). In einem Grundsatzreferat voller Versatzstücke — vom IX. Parteitag der SED bis zur prinzipienfesten Auseinandersetzung mit dem Imperialismus — wird auf Bahro und seine »pseudowissenschaftlich verbrämte Schmähschrift« und dessen »konterrevolutionäre Position« (!) nur kurz eingegangen, denn im Mittelpunkt sollte eine generelle Disziplinierung der Hochschullehrer stehen, und als abschreckendes Beispiel mangelnder Wachsamkeit und politisch sorgloser Arbeitsweise wurde sein Betreuer Prof. Bohring vorgeführt.
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Dieser hatte sich durch viele vorangegangene Aussprachen sorgfältig auf die Prozedur vorbereitet und auf mehr als zehn Seiten ein Musterbeispiel parteilicher Selbstkritik (»schädliches Verhalten«, »parteischädigende Einstellung«, »Verletzung der politischen Wachsamkeit«, »liberalistische Duldsamkeit« usw.) gegeben, sich erneut von Bahro distanziert und mit einem tiefen Kniefall vor der »Kraft unseres Kollektivs« den Makel jener unglücklichen Doktorandenbetreuung von sich abzuwenden versucht.
Schließlich sollte noch der Parteisekretär von Bahros Arbeitsstelle, dem Gummikombinat, nach Merseburg zitiert werden, und Bahro hatte vorher zu rapportieren. Er verfaßte dazu Ende März ein Papier (Meine Einstellung zu der ganzen Angelegenheit), in dem er zu Recht hervorhob, daß die Ablehnung nicht »wegen fehlender wissenschaftlicher Voraussetzungen, sondern wegen angeblicher falscher Positionen in politisch-ideologischen Fragen« erfolgt sei. Richtig vermutet er, daß der Wissenschaftliche Rat in Merseburg »nicht ohne drängenden Einfluß negativ entschieden hat«.
Weiter heißt es selbstbewußt: »Die Probleme, die ich bewußt scharf herausgearbeitet habe, existieren tatsächlich, ob man das nun bestreitet oder nicht. [...] Im Prinzip wirft man mir vor, daß ich bestimmte Dinge verändern möchte bei uns. Das trifft zu.« Und der Schlußsatz bekräftigt noch einmal seine Meinung zu dem ganzen Verfahren:
»Ich halte es für bedenklich, Fragen des wissenschaftlichen Ermessens und des wissenschaftlichen Meinungsstreits auf eine dem Wesen nach administrative Weise, d.h. durch Gebrauch akademischer Machtmittel und -positionen zu entscheiden.« Noch konkreter konnte er es seinem Parteisekretär nicht sagen.
Schon im November zuvor versuchte Bahro — er hatte formal das Recht dazu — seine Dissertation zu veröffentlichen und wandte sich dazu an den für politische Literatur zuständigen Parteiverlag, den Dietz-Verlag. Dort wurde das Manuskript im Lektorat Philosophie von zwei seiner ehemaligen Kommilitoninnen gelesen, die dann nach der Verhaftung mit Kopfbogen des Verlages die Erklärung abgaben, »daß die Arbeit theoretisch und politisch falsche Schlußfolgerungen enthält. Aus diesen Gründen und weil der Autor von seiner Studienzeit her als Wirrkopf bekannt war, kam eine Veröffentlichung im Dietz-Verlag von vornherein nicht in Frage.«
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Da man dies Bahro so nicht mitteilen konnte, wurde das Manuskript an den »Genossen Prof. Rudolf Weidig, Akademie für Gesellschaftswissenschaften [beim ZK der SED], Vorsitzender des Rates für soziologische Forschungen in der DDR« zur Prüfung übergeben, der den Text ablehnte. Daraufhin teilte der Verlag am 4. Januar 1977 dem Autor mit, daß das Publikationsprogramm der Reihe Soziologie bis 1980 festläge und daß keine Möglichkeit für eine Publikation seines Manuskripts bestünde. Mit diesem eher dezenten Hinweis auf »objektive« Gründe war die Dissertation für die DDR endgültig erledigt.
Nicht für Bahro. Durch seinen Freund Rudi Wetzel, der als Rentner und akkreditierter Journalist bei der schwedischen Gewerkschaftszeitung <Grafis> in den Westen reisen konnte, war er bereits seit dem Sommer 1976 auf den <Verlag für das Studium der Arbeiterbewegung> (VSA) aufmerksam gemacht worden, weil dort ihn interessierende Autoren wie Althusser, Berlinguer, Carillo, Gramsci und Marchais herausgegeben wurden. Einige Zeit später erwogen die beiden Freunde bereits, dem Verlag das Manuskript der Dissertation anzubieten, falls es in der DDR nicht verteidigt und nicht veröffentlicht werden kann.
Als der Verlag seine Zustimmung signalisierte und die Arbeit tatsächlich in der DDR rundum abgelehnt wurde, ging Bahro noch einen Umweg und wandte sich am 18. März 1977 an das Büro für Urheberrechte, um eine offizielle Genehmigung für die Veröffentlichung im Westen zu erhalten. Einen Monat später durfte er dann beim Leiter dieser Institution, Jenö Klein, erscheinen. Der erklärte Bahro, daß eine Genehmigung für eine solche Veröffentlichung nur auf der Grundlage einer Entscheidung der TH Merseburg erfolgen könnte und daß er erstaunt sei, wie ein guter Genosse auf den Gedanken kommen könne, in einem Verlag des »Eurokommunismus« publizieren zu wollen.
Er meldete diesen Vorgang als IM »Ernö« sofort weiter und ließ Bahro fast zwei Monate warten, dann erklärte er ihm kraft seines Amtes, daß Bahro sich als Genosse nicht in dieses eurokommunistisch-revisionistische Verlagsprogramm einreihen dürfe. Als Bahro erwiderte, daß die Werke dieses Verlages mit seiner politischen Auffassung völlig übereinstimmten und er auch »völlig eins sei mit dem Eurokommunismus«, brach Genosse Klein das Gespräch ab und versicherte ihm, daß er niemals eine Genehmigung des Büros für Urheberrechte bekommen würde.
Inzwischen war dies Bahro auch egal. Kurz zuvor hatte Rudi Wetzel auf Drängen Bahros das Manuskript schon zum VSA mitgenommen, und im Juli wandte er sich — diesmal war der Überbringer Ulrich Schwarz vom <Spiegel> — selbst an den Verlag, um Druck für den Druck zu machen. Er hatte dazu einen längeren Text verfaßt, als Vor- oder Nachwort, der die Gründe der Ablehnung als Dissertation schilderte und dies mit seinem Schriftverkehr mit der TH Merseburg und dem Minister sowie mit einem Gedächtnisprotokoll der Aussprache mit den beiden Professoren über die Gründe der Ablehnung dokumentarisch belegte.
Doch der Verlag zögerte noch und hatte, nachdem die <Alternative> bei der Konkurrenz erschienen war, kein Interesse mehr an der Veröffentlichung der Dissertation. So erschien sie erst 1980 beim Bund-Verlag in Köln unter dem neuen Titel <Plädoyer für schöpferische Initiative>.
In der Untersuchungshaft nannte Bahro noch einmal die Gründe, diese Arbeit im Westen veröffentlichen zu wollen: Einmal um die interessierten Leute in der DDR, wenn auch auf »Umwegen«, mit seiner Untersuchung zu konfrontieren, zweitens weil sie eine Ergänzung zur <Alternative> darstelle, indem sie verschiedene Fragestellungen spezifischer als dort abhandele, und drittens war er der Meinung, daß bestimmte Schlußfolgerungen auch auf westliche Industriestaaten zuträfen, da sie »großenteils nicht an die Besitzverhältnisse gebunden« seien.
Die Ablehnung seiner Arbeit macht ihn nicht zum Pechvogel — für Bahro war das ein (allerdings aufwendiger) Test seiner legalen Möglichkeiten für eingreifendes Denken —, doch noch deutlicher kann das Primat der Politik über die Wissenschaft kaum gezeigt werden als durch dieses Zusammenspiel von MfS und Hochschule sowie den dienstbaren Gutachtern, die genau wußten, was sie taten, indem sie seine Dissertation als »unwissenschaftlich« bezeichneten.
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