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Teil 3: 1989 bis 1997

    3.1  Rückkehr in die revolutionäre DDR 1989/1990

     Buch Rückkehr 1991  

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Was Bahro sich nie hätte vorstellen können, veränderte in einem unglaublichen Tempo im Herbst 1989 das Land: eine Revolution gegen das Politbüro, gegen die Staatssicherheit.

Eingeleitet nicht durch einen <Bund der Kommunisten>, sondern durch das <Neue Forum>, nicht durch die besten Kommun­isten, sondern eher durch deren Gegenspieler.  Zwölf Jahre nach dem Erscheinen der <Alternative> — aber ohne sie und ganz anders.

Am 11.09.89 gründete sich in Havemanns Wohnung das <Neue Forum>, zehn Tage später wird es von der Regierung für »staatsfeindlich« erklärt, weitere drei Wochen später ziehen bereits 100.000 Menschen durch Leipzig, fordern Reformen und eine demokratische Erneuerung der DDR — und am 18.10. tritt Partei- und Staatschef Erich Honecker auf Druck des Politbüros zurück, dann bricht die oberste Parteiführung stückchenweise auseinander. 

Am 4.11. demonstrieren beinahe eine Million Menschen in Berlin auf dem Alexanderplatz für eine veränderte DDR, drei Tage später tritt die Regierung und am nächsten Tag das Politbüro zurück (doch wird noch ein neues gewählt! — ergänzt durch Bürokraten der zweiten Reihe), und noch einen Tag später müssen die Sicherheitskräfte auf Druck, aus Angst und Agonie die Grenze nach Westberlin öffnen — damit beginnt der Zerfall des Staates DDR.

Für Bahro gab es in dieser Situation nur eines: Rückkehr in die DDR, um dabeizusein — und das so schnell wie möglich. 

In der »Report«-Sendung vom 14.11. teilte er seinen Entschluß zur Rückkehr der Öffentlichkeit mit, drei Tage später veröffentlichte die Berliner tageszeitung ein Interview mit dem revolutionär-reißerischen Titel Das Vaterland ist in Gefahr. Weil er »die Gefahr des Ausverkaufs der DDR« vor sich sah und »weil die Menschen in diesem Punkt den Lernprozeß noch vor sich haben«, sehe er seine Aufgabe darin, »die entscheidende Errungenschaft des politischen Systems in der DDR unbedingt verteidigen« zu wollen — nämlich den Primat der Politik über die Ökonomie. 

Zwar kann er dazu nichts Substantielles sagen, doch auf die Frage, wie man das bloße Kopieren des <american way of life> verhindern könnte, reagiert er mit dem etwas überraschenden Vorschlag, daß erst mal zwei Millionen Menschen auf »Expedition« in ihr eigenes Land gehen und versuchen sollten, »sich selbst versorgende Gemeinschaften zu bilden« — dies als »die strategische Entscheidung für ein Stück neue Gesellschaft«

Zur politischen Perspektive sagt er, das wichtigste sei, daß die DDR, die »eine demokratisch-politische Revolution zustande gebracht hat, nicht gleich aufgesogen wird von dem ökonomisch fürchterlich überlegenen und zugleich selbstmörderischen westlichen System. Die Autonomie des politischen Prozesses DDR jetzt zu halten, ist das Entscheidende.«  

Und er hält es für möglich, daß die Reformkräfte in der DDR in der Lage sein müßten, mit der sich verändernden Gesellschaft »von vornherein eine ökologische Perestroika ins Auge zu fassen«

Soweit das Prinzipielle aus Bahros strategischer Sicht. Persönlich wolle er sich dem Neuen Forum und der SED (ohne Mitglied zu sein) zuordnen — auf die Frage: »Sind Sie immer noch Kommunist?« kommt die Antwort: »Sicherlich!« —, und auf jeden Fall will er Mitte Dezember dabeisein, wenn der Sonder­parteitag der SED stattfindet, schließlich sei er qualifiziert, zur Einschätzung der Lage dort etwas zu sagen.

Es folgte schnell die Tat: 

Wie sich Volker Braun erinnert, wurde er schon am nächsten Tag, genauer: nachts um 1.30 Uhr, von Bahro angerufen (Tage zuvor bereits ich), um seinen Entschluß mitzuteilen, und am 25. November war er schon das erste Mal zu einem kurzen Orientierungsbesuch wieder in Ostberlin. Dann kam er am 10. Dezember mit Frau und Kind an die Grenze, wo sie von Bahros altem Freund Rudi Wetzel abgeholt wurden, der auch Thomas Thiele, den Lebensgefährten von Wetzels Tochter Marianne, mitbrachte (der in den nächsten Wochen und Monaten zum außerordentlichen Helfer wurde). Ganz kurz wurde eine Behelfswohnung in der Ackerstraße (zweiter Hinterhof) angesehen und von Beatrice energisch abgelehnt, dann wohnte die Familie provisorisch drei bis vier Wochen bei Marianne und Thomas in der Seelower Straße, bis Beatrice wieder zurückfuhr in die Eifel.

Später im Spiegel-Interview von 1995 wurde er gefragt, was ihn denn 1989 in die untergehende SED-Republik getrieben habe, die ihn zehn Jahre zuvor verstoßen hatte. Seine Antwort: »Na, irgendwie die DDR noch retten, obwohl ich es eigentlich besser wußte.«

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Bahro hatte nicht viel Zeit, um sich umzusehen. Er wollte dabeisein, seine Erfahrungen und seine Theorien einbringen. Die Auftrittsorte der Folgezeit waren: die Medien, der Parteitag der SED, die Universität. In den zahlreichen Interviews, deren Fragen und Antworten sich so ähnelten, daß ich hier nur auf einige Punkte eingehen will, exponierte er sich dadurch, daß er die Erwartungen der DDR-Bürger nach westlichem Lebensstandard und die Erwartungen vieler SED-Mitglieder nach einem ökonomischen Aufschwung der DDR brachial abwehrte und statt dessen unverständliche Alternativen vorschlug.

 

In einem Gespräch mit der <Berliner Zeitung> vom 30.11.1989 betonte er eingangs, daß die jetzige Entwicklung in der DDR »eine andere deutsche Möglichkeit ist, vielleicht mehr als das, überhaupt eine andere Möglichkeit, mit der Krise der Menschheit umzugehen«. Und er ging unbeirrt noch einen Schritt weiter, indem er gegen alle bisherigen Erfahrungen postulierte, daß das sozialistische System in seiner Grundanlage geeigneter als das westliche sei, mit der ökologischen Krise umzugehen. Als er dann gebeten wird, seine Vorstellungen von einem »linken, ökologisch orientierten Gesellschaftsmodell« zu erläutern, da mußte er seine Leser notgedrungen schockieren: 

»Primat der Ökologie heißt, alles von der Wiedereinordnung ins Naturgleichgewicht her zu denken. Es ist die erste Bedingung unserer Fortexistenz überhaupt, mit der materiellen Expansion aufzuhören. Erweiterte Reproduktion in dem bisherigen Sinne ist nicht mehr möglich. Vielmehr müssen wir mit Kilogramm und Kilowatt pro Kopf zurückgehen. Wenn die Menschheit so leben will, wie heute die Bevölkerung der Bundesrepublik, ist spätestens in zwei Generationen der Ofen aus. Es ist ebenso bequem wie bewußtlos, diesen Lebensstil zu vertreten bzw. erreichen zu wollen. Noch ist es freilich unpopulär, so was zu sagen. Doch man sollte es schon ins Auge fassen.« 

Aber genau dieser Lebensstil sollte ja erreicht werden — das wollten Ost und West. Bahros Mahnung stand quer zu den allgemeinen Erwartungen — das war er gewohnt.

 

Der politische (Wieder-) Einstieg:  Rede auf dem Außerordentlichen Parteitag der SED-PDS  

 

Das wichtigste für Bahro war zunächst der Kontakt zu Gregor Gysi — jetzt nicht mehr sein Anwalt, sondern seit dem 9. Dezember der Vorsitzende der SED —, auch um über ihn Einfluß auf die in ihre Auflösung eingetretene SED zu bekommen.

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Auf dem Höhepunkt ihrer Krise — sichtbar in der großen Zahl von Parteiaustritten, von Protestschreiben der Dringebliebenen, von entrüsteten Angriffen der von der SED jahrzehntelang gegängelten und drangsalierten Bevölkerung — fand in Berlin am 8. und 9. Dezember ein Außerordentlicher Parteitag der SED statt. Über dessen Beginn schreibt eine SED-Dokumentation: 

»Sachzwänge diktierten die Tagesordnung des Parteitages. Statt umfangreicher Berichte und wohlvorbereiteter Diskussionsbeiträge nach vorgeplantem Szenarium, gab es eine emotionsgeladene und spontane Debatte um die Frage Selbstauflösung oder Fortbestand der Partei. In der Diskussion entluden sich Enttäuschung und Zorn über das Versagen und die partei- und gesellschaftsschädigenden Machenschaften der alten Führung. Sie mündeten in Vorschläge, die SED sofort aufzulösen und eine gänzlich neue Partei zu formieren, wobei über deren Charakter und Bezeichnung die Meinungen auseinandergingen. Motiv solcher Vorschläge war das Bedürfnis, sich von der Last der Vergangenheit freizumachen und die Radikalität des Bruches mit Theorie und Praxis der SED zu unterstreichen.« (Der schwere Weg der Erneuerung, 259) 

Doch zur Auflösung kam es nicht. Dafür sorgten viele alte Kader und deren Wortführer Hans Modrow sowie der neugewählte Parteivorsitzende Gregor Gysi. Dieser erklärte in seinem Referat: 

»Die Auflösung der Partei und ihre Neugründung wäre meines Erachtens eine Katastrophe für die Partei. [...] Mit welchem Recht sollten wir uns alle einer politischen Heimat berauben. Außerdem entstünde in unserem Lande ein politisches Vakuum, das niemand ausfüllen kann und das die Krise mit unabsehbaren Folgen verschärfen würde.« 

Nach dieser politischen Warnung die finanzielle: »Mit einer Auflösungsentscheidung sind sämtliche Mitarbeiter des Apparats arbeitslos und die soziale Existenz der Mitarbeiter der parteieigenen Betriebe und Einrichtungen wäre erheblich gefährdet. Das Eigentum der Partei wäre zunächst herrenlos, anschließend würden sich sicherlich mehrere Parteien gründen«, von denen Gysi annahm, daß dorthin die SED-Gelder verlorengehen würden. (Ebd., 263) Der Parteitag vertagte sich um eine Woche und wurde am 16. und 17. Dezember fortgesetzt. Dabei fiel dann auch die Entscheidung für den Kompromißnamen SED-PDS.

Das war also die Situation in der SED, als Bahro dort auftreten und eingreifen wollte.

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Bei der Vorbereitung seiner Rede schrieb er am 16. Dezember gereizt an Gregor Gysi: »Ich war davon ausgegangen, in den Tagen nach unserem Treffen, daß es schon möglich sein würde, mich hier vor der Partei zu rehabilitieren. Die Art, wie schließlich auch meine Anwesenheit erwähnt wurde, entspricht wohl noch nicht der Einladung als >Ehrengast<. Jemand vom Präsidium bzw. in dessen Auftrag richtete mir aus, ich würde nicht sprechen können, sicherlich schon gar nicht in der beabsichtigten Ausführlichkeit. Die Partei verpaßt eine Gelegenheit.« Dann nennt er die Passagen, die er unbedingt vortragen müßte — als »Minimum, um einen Effekt im gemeinsamen Interesse zu erzielen«, und als Voraussetzung dafür, »daß mein voller Text innerhalb der nächsten Woche im ND dokumentiert wird«.

Was ich dem Außerordentlichen Parteitag der SED sagen möchte ist der vorbereitete Text von 15 (und zwei später eingeschobenen halben) Seiten Länge (vom 16. Dezember), auf dessen Deckblatt er folgende Punkte notiert hat:

Der Text der Rede war klug aufgebaut. Er positionierte sich sofort:

Zwischen ihm und der SED sei jetzt »alles ohne bitteren Rest geklärt, was es für mich zu klären gab«. Aber er zieht einen harten Trennungsstrich: Die teilweise erneuerte, umbenannte SED sei nicht jene »Partei der sozialistischen Erneuerung«, mit der er noch einmal eine Strecke hätte gehen können. Dann wollte er sagen: »Ich kann nicht Mitglied einer Partei sein, die den institutionellen Bruch mit sich selbst, den wirklichen Neuanfang, den Schritt der Auflösung und eine sei es noch so kurze Nachtfahrt nicht wagt. Jetzt sehe ich hier sehr viele Menschen, die ihrem ganzen Habitus nach in eine konservative Partei gehören.« Was er ihnen vorwirft, ist deren fehlendes Verantwortungs- und Schuldbewußtsein für das, was jahrzehntelang in der DDR fehlgelaufen ist, und die überaus einfache Methode, alles auf »Herrn Honecker« abzuwälzen. 

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In diesem Zusammenhang geht er exemplarisch auf seine eigene schuldhafte Mitverantwortung ein: Er habe sich in seiner Studentenzeit nicht klar zu Robert Havemann bekannt, später in einer Dorfzeitung einen Hetzartikel gegen einen Bauern (SED-Mitglied) losgelassen, der nicht in die LPG wollte, im Forum unfairerweise Günter Kunert angegriffen — und: »Ich bin auch mitverantwortlich für den Weg der SED in den letzten zehn Jahren. Ohne eine Verbunden­heit mit der sozusagen überwirklichen Idee der Partei wäre ich jetzt nicht hier.«

Dann will er dankbarerweise auf jene eingehen, die ihm während der Arbeit an der Alternative geholfen haben — er beginnt mit Ursula Beneke, nennt 15 weitere Namen von Werner Busold bis Wolfgang Heise und endet mit einem Dank an Gundula, die »mich alles an ihrer Seite vollenden« ließ. Und folgender bemerkenswerter Satz steht auch da: »Bei einigen dieser Menschen stehe ich in einer Schuld, weil ich in einer bestimmten Situation der Unter­suchungs­haft den Hergang aufgedeckt habe, ohne daß es wirklich gerechtfertigt und notwendig war.«

Nach Fertigstellung des Manuskripts schiebt er in diese Blätter ein zusätzliches Blatt ein, auf dem er seine Gedanken zu den ersten freien Wahlen (die zu diesem Zeitpunkt für den Mai 1990 vorgesehen sind) formuliert. Er ist gegen eine Parteiendemokratie nach bundesdeutschem Muster und hofft, daß auch Parteifreie, Unabhängige kandidieren können. Er schlägt — im Geiste seines alten Vorbildes Antonio Gramsci — Räte in den Grundeinheiten der Arbeit (also in Betrieben und Institutionen) und territoriale Volksorgane vor, um eine »wirklich repräsentative Volksvertretung anzusteuern«, mit dem Ziel eines Rätekongresses der DDR. Wäre der halbwegs arbeitsfähig, dann könnte das Machtvakuum (das es ja im Dezember 1989 tatsächlich gab!) überwunden werden.

Anschließend will er über Grundsätzliches sprechen, an seine Alternative erinnern als »das Buch für Michail Gorbatschow« mit der Theorie einer Perestroika von oben, an die Logik der Rettung mit ihrer Botschaft von der »Rückkehr des Menschen ins Naturgleichgewicht mit Geist und Seele«.

Danach ist das Thema wirtschaftliche Erneuerung der DDR vorgesehen — übrigens mit dem bereits damals illusionären Gedanken, dabei auch positiv das andere Deutschland mitzuverwandeln. Ähnlich wie viele Mitglieder der SED-PDS sucht er einen »dritten Weg« mit Marktwirtschaft und nichtkapitalistischen Sektoren, doch gleichzeitig hält er es für notwendig, die alt-neuen wirtschaftspolitischen Vorstellungen dieser Partei zu kritisieren und »die reale Möglichkeit, ja Notwendigkeit einer Umkehr gerade jetzt« zu skizzieren. 

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Dazu knüpft er an eine Rede von Hans Modrow an, die der neue Ministerpräsident vor den General­direktoren der DDR-Kombinate gehalten hat, wobei er seine Industriekapitäne zu animieren versuchte, die auf den internationalen Märkten bislang erkämpften Positionen nicht aufzugeben, sondern im Gegenteil noch auszubauen (was sich ja dann sehr schnell als Illusion erwies). Eine solche vorrangig an Devisenbeschaffung orientierte Wirtschaftspolitik hält Bahro für einen Irrweg. Die »Renommierobjekte des ökonomischen Wettbewerbs mit dem >Klassenfeind<« lehnt er ebenso ab, da diese letztlich dazu geführt haben, daß wir (Bahros Angleichung!) deshalb »keine Arbeitskraft, keine Zeit, kein Material, kein Geld, keine Eigeninitiative, keine Lust zur Pflege unseres Wohnhauses DDR« mehr gehabt hätten. 

Also der Konkurrenzkampf auf dem Weltmarkt sei aussichtslos, denn »mit dem Kapitalismus ist zu dessen ökonomischen und kulturellen Bedingungen, die die Welt regieren, [...] nur der Kapitalismus konkurrenzfähig«, und den Generaldirektoren sagt er voraus, daß sie »bald nur noch bessere Filialleiter sein werden, später dann auf Abruf«. Das richtet sich aber primär gegen Modrow, der (vielleicht) noch hoffte, das Rennen »Trabant gegen Mercedes« fortsetzen zu können, während Bahro ihm ankündigt, daß der »Kampf der Systeme« in dieser Lesart ein für allemal verloren sei und deshalb »unsere Wirtschaft auf der Strecke bleiben muß«.

Was Bahro damit beabsichtigt, ist klar: nicht die krampfhafte Fortsetzung der alten Wirtschaftspolitik — jetzt eben nur ohne den Dilettanten Günter Mittag als SED-Wirtschaftsboß —, statt dessen eine tiefgreifende Umkehr, die sich nicht mehr an kapitalistischen Standards der Industriegesellschaft, sondern an den Bedürfnissen einer aufgeklärten DDR-Bevölkerung orientiert. (Ähnlich argumentierte ich auf der etwa zeitgleich stattfindenden I. Wirtschaftskonferenz des Neuen Forum in Berlin-Buch.) Deshalb sein erster Kernsatz, daß »der Industrialismus weltweit zum Himmel stinkt« (und er meinte dies durchaus auch wörtlich, indem er vom »qualifizierten Stinken von Hoechst und BASF« spricht, das langfristig noch gefährlicher sei als das »unqualifizierte Stinken« in Leuna, Buna, Zeitz und Espenhain). Deshalb auch sein .zweiter Kernsatz: Die Alternative heiße Weltmarkt oder ökologische Wende.  

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Nur so könne tatsächlich ein Abschied von der Wirtschaftspolitik seit Honecker vollzogen werden. Und Bahro führt das im restlichen Teil seines Textes, den er als Rede halten wollte, aus: Es gehe um die Befriedigung der Grundbedürfnisse auf dem Binnenmarkt, »um die sofortige spürbare Verschönerung des Alltags auf den verschiedensten Feldern«. Was er dazu vorschlägt, ist die Überprüfung der Produktion für den Außenhandel, der Abbruch vieler Investitionsvorhaben, die Schließung »alter Buden« mit katastrophalen Arbeitsbedingungen und Umweltbelastungen. Statt dessen sollte der Reparatur- und Dienstleistungssektor schnell ausgedehnt werden (Bahro denkt bereits an das Auffangen der aus der Industrie ausscheidenden Arbeitskräfte), die Wende von Großprojekten zu einer »Technik vom Stamme small is beautyfui, die Ivan Illich >konvivial< genannt hat«.

Parallel dazu stellte er sich den Umbau der Landwirtschaft vor. Hier nun die Sätze, die auf dem Parteitag beinahe zu einem Eklat geführt haben, so weltfern wirkten sie: 

»Ich denke, diese wird sich weiterhin entindustrialisieren, entchemisieren, entbetonieren, entspezialisieren. Das Dorf wird das Zusammengehörige wiedervereinen. Die Riesenflächen werden verschwinden, die schweren Maschinen auch. Es wird wieder Platz für Raine, Hecken, Büsche, Bäume, Teiche usw. [Die] Verarbeitung der Erzeugnisse auf handwerklicher und kleinindustrieller Stufenleiter (Mühle, Bäckerei, Fleischerei, Käserei usw.) muß keiner zentralen Industrie obliegen.«

Und seine letzte Botschaft lautete: Wir müssen — ökonomiegeschichtlich gesehen — wieder Physiokraten werden, darunter versteht er, die Primärproduktion auch primär zu behandeln und zu bewerten, »unser Verhältnis zur Erde, zum Boden, zu Gewässern und Lüften, zu Pflanzen und Tieren zum Ausgangspunkt der ganzen gesellschaftlichen Perspektiv- und Rahmenplanung machen«.

Das wollte er den Genossen ans Herz legen, die bislang auf eine Wirtschaftspolitik eingeschworen worden waren, in der Großproduktion, Renommierprojekte, Devisenbeschaffung, Chemisierung und Industrialisierung der Landwirtschaft sowie die Aufhebung des Unterschiedes zwischen Stadt und Dorf als Grundpfeiler sozialistischer Ökonomie galten.

Was wäre geschehen, wenn er diese Rede wirklich so gehalten hätte? Sie wäre in jedem Fall auf Widerspruch gestoßen, doch erstens war sie zu lang (ca. 45 Minuten), und zweitens hielt er sich deshalb nicht an das Manuskript und verschlechterte den Text noch während des Vortragens.

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Damit er überhaupt vor den mehr als 2500 Delegierten sprechen durfte, war — nach vorheriger interner Beratung — ein Antrag von 35 Unterschriften und dessen Abstimmung durch alle Anwesenden nötig. Als dies geschehen war, verlas Versammlungsleiter Wolfgang Berghofer das Ergebnis: »Es haben 1427 Delegierte, sprich 53,95 %, dafür gestimmt, daß Rudolf Bahro 30 Minuten spricht.«

Das bedeutete allerdings auch, daß 46,05 % ihn nicht hören wollten ... Und Bahro fühlt die darin sich ausdrückende Spannung und beginnt nicht gerade werbend: »Ich verstehe gut die Gespaltenheit des Parteitages zu dieser Frage. Schließlich habt ihr heute früh erst gehört, daß es um mich ganz anders bestellt sein soll. Mehr könnt ihr im Augenblick auch gar nicht denken, als das die letzten Jahre hier gedacht worden ist.«

Dann las er ausdrucksvoll die Namen derjenigen vor, »die bei der Alternative mit mir waren«. Als er die Reihe beendet hatte, kamen bereits Zurufe: »Zur Sache!« 

Darauf reagierte er eher ungeschickt: »Was jetzt die Sache betrifft, da bitte ich euch, euch doch so zu meiner Meinung zu stellen, daß es vielleicht ohne Beifall und ohne Pfeifen geht. Es ist einfach ein Denkstück, das ich euch vortrage, hinter dem aber eine ganze Menge theoretischer Arbeit steht« — da fehlte es ihm bereits an Souveränität. 

Die »Sache«, die er nun vortrug, bestand aus der Kritik der Modrow-Rede — ausgerechnet an dem Hoffnungsträger Modrow! —, dann folgte er dem Manuskript und übte Kritik am ökonomischen Materialismus (»die tiefste Schicht dieser welthistorischen Korruption, der wir verfallen sind«) und an Marx — also an weiteren Glaubensartikeln der SED —, und als er wieder Modrow kritisierte, der ja nur das Hase-und-Igel-Spiel fortsetzen wolle, dieses Autorennen Trabant-Wirtschaft gegen Mercedes-Wirtschaft, das verlorengehen mußte — ertönte erneut ein Zwischenruf: »Konkret.« Da schulmeistert er in den Saal: »Erst muß die Analyse sein. Wenn ihr das nicht fassen wollt, erst einmal, was wir hier machen, da ihr keine Geduld habt zuzuhören, dann wird auch die Alternative nix.« Das bringt sogar Beifall ein. 

Also bleibt er bei der Kritik an Modrow, doch als er von den »vielen kleinen Mittags« spricht, kommt der ungeduldige Zuruf: »Vorschläge!«, auf den er nicht reagiert, so daß (lt. Protokoll) »Unmutsäußerungen« laut werden und Berghofer um Ruhe bitten muß. Bahro bleibt unbeirrt: Es folgen die (im Manuskript stehende) Kritik an Gorbatschow, ein Hieb auf Jelzin (der »vor Amerika auf dem Bauche liegt«) — dann endlich setzt er seine Ankündigung um und entwickelt ein Programm der ungefähren wirtschaftlichen Sanierung der DDR-Wirtschaft. 

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Man hört ohne Zwischenrufe längere Zeit zu — bis er zur Landwirtschaft kommt und den Reizworten vom entindustrialisierten und entchemisierten Dorf und dem Verschwinden der Riesenflächen. Da ertönen Pfiffe, das Protokoll notiert »Bewegung im Saal«, Berghofer sieht auf die Uhr und bittet Bahro (mit der genauen, aber distanzierenden Anrede »Kollege«) um den Schlußsatz, der dann sofort kommt: »Ja, also ich denke, ich habe das Wesentliche meiner Orientierung, meiner Botschaft euch sagen können.« Und Berghofer schlägt — was sicher taktisch das Beste für Bahro war — vor, daß es zu diesem Vortrag keine Diskussion geben wird. Man tritt in eine Pause ein.

Es war eine beinahe tragische Begegnung. Die anwesenden SED-Mitglieder — basisdemokratisch als Delegierte der zerbrechenden Partei gewählt — hatten den monatelangen Widerstand von Hunderttausenden gegen das Honecker-Regime, den Zusammenbruch der SED-Herrschaft, den Rücktritt des Politbüros und der Regierung, die blamable Rede Erich Mielkes und den Zerfall der einst allmächtigen Staatssicherheit erlebt, sie sorgten sich um den Erhalt der maroden DDR, waren noch in Unkenntnis über den Zustand der DDR-Wirtschaft — »Joint ventures« galten seit einigen Wochen als das Heilmittel (das nie zum Einsatz kam) — und hofften auf eine schnelle Erholung des Landes. 

Da kommt ein Rudolf Bahro aus dem Westen, kritisiert alles und jedes, macht seltsame Vorschläge und redet an den Bedürfnissen der Zuhörer völlig vorbei. Da die meisten Delegierten Bahros Originalpositionen aus der <Alternative> und der <Logik der Rettung> nicht kannten, nahmen sie nur die Kritik an Modrow wahr und fanden Bahros holzschnittartige Vorschläge eher absurd. 

Das <Neue Deutschland> veröffentlichte am 19. Dezember im Rahmen mehrerer Diskussionsbeiträge den leicht redigierten Text, dem kursiv angefügt wurde, was Berghofer — anders als im Protokoll — gesagt hat: »Es mögen viele für, viele gegen das sein, was wir jetzt gehört haben. Es ist, so meine ich, auf alle Fälle kein Grund, einen Menschen dafür acht Jahre seiner Freiheit zu berauben. Insofern haben wir heute alle ein kleines Stück Schuld abgetragen, indem wir zugehört haben.« (Eine äußerst konfuse Erklärung — bitte ein zweites Mal lesen!)

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Wenige Tage später öffnete ihm das <Neue Deutschland> erneut die Seiten: <Ökologische Alternative — aber keine Rückkehr zum Hakenpflug>, (ND, 23./24.12.1989). Bahro warnte wieder vor dem westlichen System: »Dieses verflucht effektive System drüben, das ist in seinem Erfolg der Untergang der Menschheit. Die <sichersten< Atomkraftwerke sind schlimmer als Tschernobyl, weil sie der Menschheit das tödliche Modell weiterempfehlen.« (Ob Bahro das anstrebt oder nicht: damit wird er für viele SED-Mitglieder interessant.) 

Von den Redakteuren nach seinem Gegenentwurf befragt, wiederholt Bahro in etwa seine Vorschläge aus der Parteitagsrede, also Orientierung auf gesundes Gemüse und schönes Alltagsleben, auf kleine ländliche oder mittlere städtische Strukturen, auf das Schrumpfen des großindustriellen Sektors. Das ist für seine Gesprächspartner eher Spielerei (so schnell haben sie die Marktwirtschaft begriffen): 

»Das ist zweifellos interessant, aber — mit Verlaub gesagt — doch blanke Utopie angesichts der gegenwärtigen Lage. [...] Was Sie vorschlagen, kostet doch Geld, anstatt Geld einzubringen. Aus welchen Mitteln soll denn das Projekt finanziert werden?« 

Da ist Bahro überfragt. Er rettet sich mit zwei Wunschvorstellungen: »Ich meine einfach eine Revolution in den Prioritäten unserer Investpolitik. Wenn wir nur wollen, können wir ganz anders mit unseren Mitteln umgehen.« (Hervorhebungen von mir, G. H.)  

Und: »Wenn es uns erst gelungen ist, ein neues, schöneres Leben anzufangen, einen ökologischen Sektor wirklich werden zu lassen — wer würde es dann wagen, uns das kaputtzumachen?« Darauf die Redakteure: »Nun, das ist Ihre Auffassung. Es fragt sich nur, ob die Bürger der DDR diesen Weg gehen wollen.« Darauf kann Bahro nichts Schlechteres erwidern als: »Ich räume ein, es könnte sein, daß die Devisen für Bananen knapp werden.«

Das war im wesentlichen seine erste Botschaft, mit der er die revolutionäre und sich gleichzeitig reformierende DDR von ihrem wirtschaftlichen Schlingerkurs Richtung Westen abbringen wollte. Bahro selbst hat Jahre später dies so zusammengefaßt: 

»Als sich herausstellte, daß mir der Parteitag mit sehr knapper Mehrheit eine halbe Stunde zugestand — sehr viel im Vergleich, eine Viertelstunde zu wenig für meinen Text —, strich ich sofort fast alles vergangen-heitsorientierte Politische und ließ nur stehen, was ich an inzwischen soviel tiefer durchdachter ökologischer Grundposition herüberbringen wollte. Es war immer noch zuviel Text, so daß ich — der ich inzwischen öffentlich zu reden gelernt hatte — ihn ziemlich asozial herunterrattern mußte; mußte, insofern mein entscheidendes Vortragskriterium war, daß jedes wirklich gesprochene Wort nachher anderthalbmillionenmal gedruckt durch das Parteiorgan Neues Deutschland verbreitet werden würde.«

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Aber dann heißt es noch genauer: 

»Die Spontaneität meines Auftritts war nur möglich, weil ich hierüber von aller Theorie verlassen war, emotional verleugnen konnte, was ich laut <Alternative> theoretisch wissen mußte: daß es nichts mehr zu reformieren gab, weil das Spiel auf dieser Grundlage in Wirklichkeit schon gänzlich aus war, und schon seit 1968 spätestens.«

Dies schrieb er etwa 1994/95 während der Krankheit — nachdem er Sahra Wagenknecht im Fernsehen ein einziges Mal gesehen hatte und (auch) in ihr sofort den »Typ Rosa Luxemburg« wahrnahm — in einem großen Essay für sie, »ihre Freunde und ihre Partner — diesseits und jenseits von >Plattform< und Partei« mit dem barocken Titel Das Buch von der Befreiung aus dem Untergang der DDR. Dabei über das scheinbar abseitige Thema Ökologie und Kommunismus, ja über das scheinbar noch viel abseitigere, wie die PDS doch einen Sinn machen könnte. (Der Essay wird uns noch interessieren.) Da heißt es zusammenfassend zu seinem Auftritt: 

»So hat mich nicht meine eigene Reife, sondern nur die Wirklichkeit des letzten SED-, des ersten PDS-Parteitags davor bewahren können, noch einmal auf die letztmögliche Illusion zu setzen, die mich denn auch den Monat von Anfang November bis Anfang Dezember '89 über besetzt gehalten hatte: die Illusion von einer möglichen <Partei der Sozialistischen Erneuerung>.«

Im Spiegel-Interview beendete er diesen Punkt mit der Feststellung: »Der Parteitag war für mich die endgültige Zäsur. Da habe ich begriffen, da ist keine Reformfähigkeit mehr drin. In die PDS wäre ich nie gegangen.« Doch damit war diese Frage für ihn keinesfalls abgetan.

 

   Praktisches: Wohnen und Leben und Arbeiten  

 

Irgendwie mußte sich Bahro in Berlin, genauer in Ostberlin, einrichten. Als ich ihn am 15. Januar — von der »Erstürmung« des Ministeriums für Staatssicherheit kommend — in der Seelower Straße besuchte, herrschte dort Hektik. Bahro saß von Papieren eingedeckt, sprach in verschiedenen Räumen mit verschiedenen Personen, dazwischen wurde telefoniert — es gab weder Ruhe zu einem Gespräch, noch konnte diese hektische Atmosphäre für Thomas und seine Frau Marianne auf die Dauer erträglich gewesen sein. So zog Bahro bald darauf mit seinem Adlatus Thomas Thiele in eine Wohnung in der nahegelegenen Gleimstraße.

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An diese Zeit kann sich Wetzels Tochter Marianne, eine Psychologin, gut erinnern. Sie hatte ihn schon zu DDR-Zeiten öfter gesehen, als er sich mit ihrem Vater über die Alternative besprach und das Manuskript bearbeitet wurde. Dann hatte sie das Buch in der hektografierten DDR-Auflage gelesen. Mit Bahros Rückkehr wurde der Kontakt schon wegen der Wohnung enger. Nachdem ihr Lebenspartner, besagter Thomas Thiele, ein Enlightenment in Niederstadtfeld mitgemacht hatte und wie verwandelt wiederkam, versuchte sich auch Marianne Wetzel an dieser Art der Selbsterkenntnis. Und sie hatte ein gutes Verhältnis auch zu Beatrice.

Die durch Bahros West-Übersiedlung abgebrochene (aber nie ganz unterbrochene) Freundschaft mit Volker Braun konnte jetzt mit gegenseitigen Besuchen aufgefrischt und gefestigt werden.

Auch beruflich sollte es eine Neuorientierung geben. Ohne auf Niederstadtfeld ganz zu verzichten, wollte er in Berlin arbeiten — und zwar an der Humboldt-Universität. Schließlich war er habilitiert, hatte mit seiner Alternative Weltruhm erlangt, steckte in einem großen internationalen Netzwerk ökologisch orientierter Wissenschaftler und brachte Ideen in die DDR, die zwar — wie die Reaktionen zeigten — in der SED-PDS nicht verstanden wurden, doch an einer Universität auf Resonanz hoffen lassen durften. So entstand die Idee eines eigenen Institutes mit ihm als Professor an der Spitze. Der Weg dahin führte über den Prorektor Dieter Klein, der einst die Alternative negativ begutachtet hatte, und den neuen Rektor, den Theologen Heinrich Fink, der bis zu seinem erzwungenen Abgang (IM »Heiner«) als Reformer einen sehr guten Ruf besaß.

Wie mir Fink erzählte, kam Bahro direkt vom Sonderparteitag der SED in die Theologische Fakultät in der Burgstraße und verlangte geradezu, daß die Universität erneuert werden muß und daß die Theologen dabei eine Vorreiterrolle zu spielen hätten. Dann traf sich Bahro mit dem Prorektor, der sich aufgeschlossen zeigte und eine Professur in Aussicht stellte, was nach Rücksprache mit dem Rektor schnell und unbürokratisch als Vorschlag an das Ministerium ging. Das war der hoffnungsvolle Start — was dann an Rückschlägen folgte, wird im entsprechenden Universitäts-Kapitel berichtet.

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Ein weiterer erfolgreicher Schritt war die schnelle Herausgabe seiner beiden wichtigen Bücher: Die <Alternative> erschien — mit einem für die DDR geschriebenen Nachwort, ansonsten unverändert — 1990 im gewerkschaftseigenen Tribüne-Verlag, die <Logik der Rettung> kurz darauf im Union-Verlag.

Parallel dazu gab es weiterhin Artikel über ihn, und er gab Interviews: Man ist neugierig, was dieser ehemalige Dissident und einstige West-Grüne den Menschen im Osten zu sagen hat. Und er schont sie (und die fragenden Journalisten) nicht. Er warnt unablässig vor dem westlichen Vorbild, der kapitalistischen Wirtschaft und dem Run auf schickere Autos; er empfiehlt — wie auf dem Sonderparteitag der SED-PDS — den Verzicht auf große Investitionen, die Schließung unrentabler Betriebe, die Umgestaltung der Landwirtschaft, ein neues einfaches Leben. 

Doch er wird weder von den Befragern noch von der Masse der Leser verstanden. Schnell hat er auch im Osten den Ruf des <Spinners> oder freundlicher den des <Utopisten> weg.

Noch einmal versuchte er den Gedankenaustausch mit der SED-PDS — diesmal auf einem von ihr arrangierten »Öko-Treff« im Hause des ehemaligen Zentralkomitees. Erneut drückte er seine Hoffnung auf eine ökologische Wende in der DDR aus, warnte vor der Übernahme kapitalistisch praktizierter Marktwirtschaft und verwies auf den — im Weltvergleich gesehen durchaus vorhandenen — Reichtum der DDR, der im einseitigen Bezug auf die Bundesrepublik von der Bevölkerung leicht übersehen werde. 

Gerade die in der Bevölkerung entstandenen Wünsche nach Westprodukten in jeder Form wurden von Bahro als »deformierte Bedürfnisstruktur« abqualifiziert und den westwarenhungrigen Bürgern ein »unumgänglicher Konsumverzicht« zur Rettung des Gleichgewichts zwischen Mensch und Natur empfohlen. Sein Vorschlag, daß »Klosterwirtschaft-Gesellschaften« Impulse für ein neuartiges Zusammenleben der Menschen aussenden könnten, fand jedoch wenig Aufmerksamkeit (vgl. Martin Woldt: <Vorschläge eines Querdenkers>, Junge Welt, 2.2.90)

In einem <Tribüne>-Interview vom 2.3.90 benennt er erstmals seinen großen Irrtum: Er sei zurück in die DDR gekommen, weil er hoffte, sie könnte ihre Autonomie bewahren; doch was er statt dessen erfuhr, war die Einsicht in das Illusionäre seiner <Alternative> er mußte erst das »immer noch Ichhafte und Machtorientierte, das selbstische Projekt an meinem <Kommunismus>, an jedem <Ismus>« begreifen lernen. (Ob ihn die Interviewer verstanden haben?)

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Den inneren Abstand von seinen auf die erneuerte SED gesetzten Hoffnungen gewinnt er in einem kleinen Aufsatz, der die Feststellung vom »gesamtgesellschaftlichen Zusammenbruch« und von der »perfekten Konterrevolution« mit der (maßvoll vorgetragenen) ökologischen Perspektive eines wirtschaftlichen Unibaus zu verbinden sucht. Darin wirft er der SED vor, daß sie die Ursache des Untergangs der DDR sei. Und niemand habe sich zu einer »wirklichen Tat, zu einem Bruch der schlechten Kontinuität aufgerafft«, und zum Schluß »sorgte die Partei mit Gregor Gysi durch ihren Fortbestand für jenes Schwarze Loch, in dem alle gesellschaftliche Energie verschwindet, die für eine Alternative gut gewesen wäre«. 

Seine Rückkehrbilanz: »Hoffte ich, daß sich aus der Substanz der DDR, die sich doch nicht auf <Stalinismus> reduziert, in den nächsten Jahren noch etwas entwickelt, was ganz Deutschland mitverwandelt, so scheint [...] inzwischen schon jede Chance politischer Souveränität verloren.« Und an anderer Stelle:

»Was also will ich noch hier? Das eine Deutschland wird sich nach dem nationalen Taumel schnell zur Tagesordnung der ökologischen Krise zurück­gezwungen sehen. Ich will Grundlagen ökologischer Politik lehren und über den ökologischen Umbau der zivilisatorischen Fundamente forschen. Dazu wäre ich in Westdeutschland nie an eine Universität gegangen. Macht es noch Sinn, ein Zentrum für Sozialökologie — wie ich das nennen will — an der Humboldt-Universität in Ostberlin, nicht mehr Hauptstadt der DDR, aufzubauen?« (<Alles kommt auf eine ökologische Alternative an>, 100, 102)

Der »Stalinismus« sollte auch das Thema seines akademischen Einstiegs in der Humboldt-Universität sein. 

Zwischen dem 1. und dem 12. März hielt er vier Vorlesungen mit der Gesamtüberschrift <»Stalinismus« als Gesellschaftsformation?> — sie sind aus gutem Grund nicht veröffentlicht worden. Vom Thema und vom Inhalt verharren sie auf der Stufe der <Alternative> von 1977 (genauer, da es um den Teil I seines Buches geht, auf der Stufe von 1972/73). Jetzt als Vorlesungen sind sie geschwätzig, sprunghaft, wenig durchdacht — vielleicht wirken sie beim gläubigen Zuhören etwas besser, doch beim Nachlesen merkt man, daß sie einfach schlecht sind. Er will den Stalinismus als »Tragödie des menschlichen Geistes« verstanden wissen, doch worin diese bestehen soll, wird nicht gesagt. Den realen Terror erwähnt er nirgends. Stalin erscheint lediglich als der »Ober-Industrialisierer«, und Bahros Gesamturteil soll wohl sein, daß es unmöglich sei, »den Stalinismus unter dem Gesichtspunkt des Moralismus und des politischen Totalitarismus einfach zu verwerfen«. 

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Es muß den Zuhörern schwergefallen sein, aus den wenigen Bemerkungen — bei immerhin vier Vorlesungen — herauszuhören, daß Bahro den Stalinismus nicht rechtfertigt. Mehr als alles andere geht es ihm dabei — gut marxistisch — um die »Produktivkraftentwicklung«, und am häufigsten spricht er über die asiatische Produktionsweise — auch dabei vereinfacht er unglaublich.

Geradezu weltfremd erscheint seine Vorlesung vom 12. März — sechs Tage vor den ersten freien Wahlen in der Geschichte der DDR. Er will wie angekündigt zum Thema Demokratie, Verfassung und Regierung sprechen, real befaßt er sich statt dessen hauptsächlich mit geschichtlichen Exkursen, dem Schamanismus, der Pharaonenherrschaft, dem Inka-Staat, und kommt zu dem Zwischenergebnis, daß der glücklichste Zustand für die Regierungskunst bei den Irokesen erreicht worden sei. 

Wer sich dagegen mit der Frage einer Verfassung für das wiedervereinigte Deutschland befasse, müsse wissen, daß er sich mit einer »toten Ebene« abgebe. Über Demokratie könne man nur sinnvoll reden, wenn es keine Imperative der Technik und Ökonomie mehr für die Gesellschaft gebe — daran schließt sich der Vorschlag an, die Gesellschaft müsse wieder so konstituiert werden wie auf der Stammesebene. 

Auf eine eigenartige Weise verteidigt er die alte DDR: Im Prinzip habe es im Sozialismus die gesamtgesellschaftliche Verfügung über die Wirtschaft gegeben, im Prinzip war das Herangehen richtig. Während er solche marxistischen Phrasen in seiner Alternative noch analytisch betrachtet und widerlegt hatte, ist er sich jetzt nicht zu schade zu behaupten, daß »die DDR-Verhältnisse nicht weiter von der Wahrheit entfernt lagen als die in der BRD« — und er sei zu diesem Ergebnis durch eine »intuitive Gesamtrechnung« gekommen. Für viele Zuhörer war dies einfach nebulös und regressiv und kein Beitrag für die neuen, demokratischen Verhältnisse.

»Stalinismus« und SED sind auch Themen seines Nachwortes zur DDR-Ausgabe der Alternative. Den einen verteidigt er wieder mit einem falschen Bild: Der Stalinismus sei eine Larve gewesen, in der ein Schmetterling verborgen gewesen sei (548), und Bahro wendet sich — aus welchen Motiven und aus welchen Erkenntnissen eigentlich? — gegen die »herrschende Meinung«, daß diese Periode nichts gebracht habe, um die Menschheitsprobleme zu lösen (557). Gegen die SED ist er jetzt hart: Sie ist zu nichts mehr gut, sie muß als Partei verschwinden.

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»Sie ohne Kontinuitätsbruch — samt Apparat und samt halb feudal, halb asiatisch erworbenem Eigentum — reformieren zu wollen, gehört zum Krankheitsbild. Jede <Plattform>, die sich im Augenblick der äußersten ideologischen Beliebigkeit noch auf die Partei bezieht, zeugt den Krebs mit fort. Was wir heute als SED-PDS sehen, ist nur die um ein weiteres Stadium fortgeschrittene Agonie.« (555 f.) 

Und in einem unfreundlichen Bild heißt es abschließend dazu: »Man kann nicht auf einer Müllkippe biologisches Gemüse anbauen.« (556) Dabei verab­schiedet er sich auch von einem tragenden Gedanken der <Alternative>, wenn er feststellt, daß die Idee eines »Bundes der Kommunisten« jetzt obsolet geworden sei (554). Aber er hat seinen Glauben an den Kommunismus nicht aufgegeben. Er erinnert daran, daß er in einer <Report>-Sendung Mitte November 1989 seine Rückkehr in die DDR ankündigte und auf die Frage von Franz Alt nach seinen Themen im Osten geantwortet habe: Kommunismus und Ökologie. Und das sei eben »das Thema der Epoche: Kommunismus und Ökologie, oder besser umgekehrt: Ökologie und Kommunismus« (558). 

Und damit positioniert er sich als alt-neuer Bahro für die Leser in der DDR: Wer immer dieses Buch durchgelesen habe, werde spüren, »daß es unmöglich wäre, ihm durch eine aktuelle Redaktion den Kommunismus auszutreiben. [...] Es ist aus einem Glauben geschrieben, und der Berg ist nicht erloschen.« (557) 

Aber: Sein Denken ist inzwischen komplexer geworden. Der Kommunismus bleibe die »einfache Lösung« für die ökonomische Dimension (das war ja der Grundgedanke seines Buches), doch politisch gehe das nicht — wie einst angenommen — kollektivistisch, »sondern nur als Republik der Könige und Königinnen, wie sie unsere größten Aufklärer verlangt haben. Geistig-geistlich setzt das aber die innere Befreiung voraus, zu der uns jene Meister den Weg gewiesen haben: den Weg des Ich-Entwerdens, der Selbst-Vergessenheit.« (559) 

Und so endet das Nachwort folgerichtig mit einer dem Alten Testament nachempfundenen Prophetie: »Wenn sich der Sturm aus der Tiefe der menschlichen Wesenskräfte erhebt, vergeht die Anziehungskraft der Konsumtempel in einer Nacht.« Dann spendet er abschließend Trost: »Wir mögen jetzt in der DDR an einem Ende sein — vor allem sind wir an einem Anfang.« 

Dieses Glitzerspiel verschiedener Facetten aus alter und neuer Zeit setzt er bei vielen Gelegenheiten fort.

In der <Jungen Welt> vom 3.11.1990 entzieht er sich im Interview einer für die Leser und überhaupt für die ihm skeptisch Begegnenden sicher hilfreich gewesenen Positionierung: »Ich verstehe mich nicht als Linker, bin aber auch nicht das Gegenteil von links.« Und auf die spätere Frage »Ich denke, Sie sind Materialist?« antwortet er unbefangen: »Nein. Ich bin auch nicht das Gegenteil.«  Das sorgt nicht gerade für Klarheit. 

Aber zwischen diesen beiden Antworten präludiert er bereits ein Thema, das der Interviewer zwar nicht aufgreift, das aber bald darauf zu einem Topos wird, Bahro zu den Rechten zu zählen. Als er zur »nationalen Frage« etwas sagen sollte, wendet Bahro dies zu einer Kritik an den GRÜNEN, die nach seiner Meinung genau deswegen für die westdeutsche Bevölkerung eine Enttäuschung seien, weil diese Partei das »nationale«, und damit auch das »<völkische Moment> nicht bedient« habe. In diesem Zusammenhang kommt er dann auch auf den schon zitierten »grünen Adolf« zu sprechen. 

(Was Bahro damit meinte und was daraus wurde, ist im Kapitel <Politische Auseinandersetzungen> nachzulesen.)

Ich bin der Chronologie vorausgeeilt, um seine ersten öffentlichen Statements einigermaßen zusammenhängend wiederzugeben. Jetzt folgt ein für ihn wichtiges Ereignis, zu dem er auch eine bemerkenswerte Erklärung abgibt. 

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  Rückkehr in die DDR 1989, Bahro-Biografie  - Von Herzberg