9. Rudolf und Marina
Herzberg
563-569
Wie sie sich kennenlernten: Natürlich hatte Marina Lehnert 1977 von der Alternative gehört, in ihrem Freundeskreis existierte auch ein Exemplar dieses Buches, doch sie interessierte sich nicht dafür: einen Mann, der die DDR und den Sozialismus reformieren wollte, fand sie irregeleitet. In späteren Jahren sah sie ihn als GRÜNEN auch öfter im Fernsehen. Aber erst mit den großen Erschütterungen und Veränderungen in der DDR im Herbst 1989 begann sie auf den zurückgekehrten Bahro aufmerksam zu werden, las im Neuen Deutschland dessen Rede auf dem SED-Parteitag und ging zwei Tage später mit ihrem Freund Peter zu einem Streitgespräch, das Bahro unter dem Fernsehturm mit dem Ökonomieprofessor Harry Nick führte.
Sie war beeindruckt, wie er sprach, welche große Ausstrahlung er besaß, wie er das Gefühl des Aufbruchs vermitteln konnte. Anfang März ging sie deshalb auch in die überfüllte Veranstaltung im Stadt-Haus Böcklerpark zu den Deutsch-deutschen Visionen, sah Bahro erneut auf dem Podium, suchte sich aber im Wochenend-Workshop nicht seine, sondern die Arbeitsgruppe von Rainer Langhans aus, doch mußte sie feststellen, daß die dortige Diskussion sie nicht interessierte. Da kam Rudolf auf sie und andere Frauen aus Ostberlin zu und lud sie zum Ökologie-Seminar nach Niederstadtfeld ein. Vorher besuchte sie noch zusammen mit ihrem Freund die vier sogenannten Stalinismus-Vorlesungen Bahros in der Humboldt-Universität.
Dann fuhr sie nach Niederstadtfeld. Wie sie sich dort fühlte, berichtete sie in dem Band Rückkehr (und das ist im Kapitel Mittwochskreis nachzulesen), und sie ergänzte mir gegenüber, daß sie dort an einem Abend mit Tanz auch mit Rudolf flirtete. Ihr näherer Eindruck von ihm war, daß er etwas hilflos wirkte, und er tat ihr leid, weil sie spürte, wie Beatrice ihn vor den anderen abwertete. Als sie aber sah, wie liebevoll er mit der behinderten Hannah umging, entstanden in ihr sehr freundliche Gefühle. Seit dieser Begegnung ging sie zu den Treffen der Gruppe, hörte sich Vorträge von Rudolf an. Ihre Interessenlage sei dabei gewesen: erstens die Thematik Politik und Spiritualität (jedoch in umgekehrter Reihenfolge), zweitens die sich dort herausbildende Gemeinschaft, erst an dritter Stelle der Mann Rudolf.
Auf einem späteren Workshop Mitte Juni in Kleinmachnow kamen die beiden sich näher. Noch hatte sie einen festen Freund, und Rudolf stand — für sie jedoch nicht deutlich — unter dem Einfluß von Dieter Duhm und dessen Ideologie von Sex und freier Liebe. Rudolf sprach davon, daß er keine Besitzansprüche und keine Eifersucht kenne und daher keine Probleme sehe. Marina wollte aber ihren Freund nicht verlassen. Sie machte zuerst einen anderen Schritt: Die studierte Ingenieurökonomin kündigte im selben Monat ihre Stelle im Funkwerk Köpenick und interessierte sich fortan stärker für den Mittwochskreis und das langsam entstehende Institut.
Rudolf kam in dieser Zeit oft mit Hannah aus Niederstadtfeld, wußte aber nicht, wo er sie bei seinen vielen Terminen unterbringen sollte, da sprang schon seit September 1990 immer häufiger Marina ein. Sie kannte also ihre jetzige Tochter seit deren zweitem Lebensjahr — und Hannah war sehr anhänglich, doch Marina sagte dieses unklare Familienspielen nicht sehr zu.
Ein Tai Chi-Workshop (10./11. November) brachte dann die beiden ein Stück näher, für Marina folgte daraus die Trennung von ihrem Freund, und Rudolf gestand im Frühjahr 1991 diese neue Liebe seiner Frau Beatrice, worauf sie einen entsprechenden Brief an ihre Konkurrentin schickte, den diese nicht beantworten wollte.
Marina bekam im Mai eine ABM-Stelle und übernahm für Rudolf — zusammen mit Barbara Hohenberg — die organisatorischen Arbeiten des Instituts. In den Sommern 1991 und 1992 organisierte sie auch für die Gruppe ein kleines Zeltlager im mecklenburgischen Feldberg, nahm an den verschiedenen Workshops in und außerhalb von Berlin teil.
Ich fragte sie: »Was gefiel dir an Rudolf besonders?«
Aus ihren Antworten ergibt sich folgendes Bild:
Er verfügte über ein Wissen, was sie als notwendig ansah, um in jener komplizierten Umbruchzeit zu sehen, wie es weitergehen kann
Verstand und Gefühl stimmten bei ihm überein, und dadurch fielen ihre persönlichen Vorstellungen und ihr Traum von einer besseren Gesellschaft in einer Person zusammen
seine Natürlichkeit, seine Freundlichkeit und die innere Unabhängigkeit
564
die Ahnung, daß es neue Wege in der Liebe gibt
seine Selbstsicherheit hatte etwas Ansteckendes, sie versprach auch Geborgenheit
sie war unbewußt auf Vatersuche, und sie hätte sich Rudolf auch als Vater vorstellen können
er war ein Held in der DDR (und sie suchte einen)
bei der Stalinismus-Vorlesung sei ihr einfach so in den Sinn gekommen: ist der aber süß (wie ein kleines Mädchen süß sein kann)
er war unscheinbar und bescheiden, doch sein Blick war männlich, voll Kraft und Macht
schließlich war er sehr gebildet, konnte interessant erzählen und gut zuhören.
Was gefiel ihm an dir?
Sie war attraktiv (dies nannte Marina aber fast zuletzt)
für ihn anziehend wie gefährlich: das Fremde, das Heidnische (was so nicht stimmte: sie war gläubig, zweifelte aber an ihrem praktischen Christsein)
sie war eine gute Mutter
der Beruf war ihr weniger wichtig als ein Mann
sie war intelligent
schließlich war sie eine Ostfrau mit Ostbonus.
Während er in seiner DDR-Zeit den »Typ Rosa Luxemburg« gesucht hatte, zogen ihn später gesellschaftlich unangepaßte Frauen an — darin wurde er von Christine Schröter verändert. An dieser wurde ihm erstmals bewußt, daß seine tiefe Sehnsucht nach einer Frau mit einer bislang unerkannten Erlösungsproblematik zusammenhing. Marina sagte, daß sie an Christine viel über Rudolf erfahren habe. So verstand sie auch, daß er sie mit dieser Frau verglich, obwohl äußerlich davon nichts zutraf — aber beide verkörperten für ihn die mögliche Versöhnung von Mann und Frau: Ein Thema, das ihn zutiefst beschäftigte, weil er die Zerstörung der Umwelt und die Selbst" Zerstörung des Menschen auf die Konflikte zwischen dem Männlichen (dem Patriarchalischen) und dem Weiblichen zurückführte.
Immer häufiger war er nun in Berlin. Von Niederstadtfeld hatte er sich innerlich bereits zurückgezogen. Im Januar 1992 hat er Marina das erste Mal gefragt, ob sie mit ihm und Hannah zusammenleben möchte. Das war eine schwierige Frage. Marina hatte ihre beiden Söhne gerade großgezogen, nun kam er mit einem dreijährigen Mädchen zu ihr und behauptete, daß Beatrice kaum Hannah alleine großziehen würde und er sich nie von Hannah trennen könnte.
565
Doch es stellte sich bald anders dar und übte einen starken Druck auf ihn aus. Auch Beatrice wollte sich nicht von Hannah trennen und erklärte ihm: Wenn du gehst, wirst du Hannah nicht mehr sehen. Das führte dazu, daß er sich trotz anderer Wünsche nicht von seiner Frau trennen konnte, und er stand unentschlossen und entsprechend taktierend zwischen beiden Frauen.
So blieb es nicht aus, daß mit Beatrices überraschender Anreise zum Kommunetreffen im Hof Frohberg bei Meißen (12.-14. Juni 1992) eine kritische Situation zu dritt entstehen mußte.
Bald darauf fuhr Rudolf mit Marina für zwei Wochen nach Spanien — auf den Spuren des Islam in Cordoba (der größten Moschee in Europa) und in Granada, zur bewunderten Alhambra. Rudolf interessierte sich für alle großen Religionen, besonders aber für den Islam, nicht zuletzt seit auf einem Seminar Anfang 1991 in Niederstadtfeld zum Thema <Logik der Seele> Hussein Abdul Fatah (Stefan Makowski) sehr erfolgreich — und wie Marina fand: zwielichtig — für diese Religion geworben hatte, so daß es bald darauf in Berlin zu einem Treffen mit dem Leiter eines Sufi-Ordens auf Zypern, Sheik Nasim, kam, auf dem Rudolf für den Islam gewonnen worden sein könnte, ohne daß er jedoch nun Muslim wurde.
Nach dieser Reise gab es zwischen beiden begründete Meinungsverschiedenheiten: Zur Beerdigung von Rudolfs Freund Rudi Wetzel (gestorben am 31.08.1992) kam auch Beatrice nach Berlin, und Rudolf erreichte wieder eine der vielen Versöhnungen mit seiner Frau, so daß für Marina und ihn nur eine Trennung in Frage kam. Sie dauerte bis hinein ins Frühjahr 1993. Beatrice schöpfte daraus neue Hoffnung für ihre Ehe.
Doch im Sommer waren die Getrennten wieder zusammen. Gemeinsam verbrachten sie im August zehn Tage auf einem Psycho-Workshop im »Haus am See« am Berliner Dianasee im Grunewald. Dort kam es zu einer erneuten Begegnung mit dem Italoamerikaner Frank Natale, der sich für Schamanismus und Tranceerfahrungen interessierte, den Rudolf schon von einem Wochenend-Seminar in der Ostberliner »Kulturbrauerei« kannte und der auch im Rahmen des Studium generale im Mai 1993 einen Vortrag gehalten hatte.18)
Diese Treffen waren für beide so vielversprechend, daß er Rudolf zusammen mit Marina zu einem weiteren Workshop Ende August in Amsterdam einlud. Rudolf in seiner unendlichen Neugier machte dort neue Erfahrungen: Eine Gruppe aus Brasilien brachte einen Saft aus vergorenen Pflanzen mit — Ayahuasca —, der schrecklich schmeckte, doch Rudolf trank davon, weil er einen neuen Durchbruch in seiner Vorstellungswelt erhoffte, und auch Marina nahm mit Neugier von diesem Getränk.
566
Von Amsterdam fuhr er nach Niederstadtfeld zu Beatrice zurück. Mit Marina traf er sich erneut, als er in Potsdam Gespräche im Umweltministerium zu führen hatte. Er wußte, daß am nächsten Tag Beatrice nach Berlin kommen würde und es an der Zeit wäre, ihr von seiner erneuerten Beziehung zu Marina zu berichten. Dies wollte er nach Hannahs Geburtstag — der ist am 1. September — tun.
Was dann geschah, war im voranstehenden Kapitel nachzulesen.
Der Tod von Beatrice war nicht nur für Rudolf eine ungeahnte Katastrophe, sondern auch Marina litt seit dieser Zeit an Schuldgefühlen: Sie hätte am 4. September nicht nach Dessau mitfahren dürfen, war ihr quälender Selbstvorwurf. Doch das eigentliche Problem lag wohl eher bei Rudolf, der trotz der Selbstmordsignale seiner Frau mit Marina nach Dessau fuhr, anstatt in irgendeiner Weise zu dritt die weitere Konstellation zu klären.
Der Tod warf noch ein anderes Problem auf: Hannah hatte nun keine Mutter mehr — und Rudolf war mit ihr eindeutig überfordert. Damit kam auf Marina eine neue Aufgabe zu, die sich zudem als ungeheuer schwierig erwies. Hannah war nicht nur anstrengend, sondern auch schlecht erzogen, und zudem auch voller Aggressionen gegen Marina, die nun ihre neue Mutter sein sollte. Das ging soweit, daß Hannah bei einem Besuch in Pommritz abends am Lagerfeuer gegen Marina wütete: »Die muß weg, ich hasse sie!« Dabei blieb es nicht. In Vogelsang, wo sie zusammen Urlaub machten, schrie und tobte sie: »Ich mache die ganze Welt kaputt! Ich springe vom Turm!«
Trotzdem zog Marina zusammen mit ihrem 15jährigen Sohn Konrad ein halbes Jahr nach Beatrices Tod, also im Februar 1994, zu Rudolf in die Wohnung. Diese hatte er inzwischen mit Dingen aus Niederstadtfeld angefüllt, was Marina begreiflicherweise empfindlich störte. Aber damit nicht genug. Es ging um den Platz von Marina und von Hannah in der Familie. Es gab deutliche Ablehnungen der neuen Frau und deutliche Zuwendungen — Hannah wollte zwar, daß Marina als Mutter bleibt, aber diese sollte nicht zu dicht an ihrem Vater sein. So drängte sie sich möglichst überall — auch nachts — zwischen Rudolf und Marina.
567
Eine spürbare Veränderung trat im Laufe der nächsten Zeit ein, auch deswegen, weil Rudolf sich für Hannahs Erziehung nicht richtig verantwortlich fühlte und dadurch die Tochter näher an Marina heranrückte. Kurz vor dem Ausbruch seiner Krankheit tanzte Hannah plötzlich — es war wieder in Vogelsang — auf dem Hof und rief: »Marina soll meine Mama sein!« Und ihr Verhältnis zu Marina verbesserte sich später immer genau dann, wenn Rudolf im Krankenhaus lag, und wurde schwieriger, wenn er wieder zu Hause war. Marinas Kommentar: Hannah konnte nicht zu dritt sein.
In der Folgezeit sah der Tageslauf etwa so aus: Nachdem einer von beiden, im Wechsel, Hannah zum Kindergarten gebracht hatte, wurde ausgiebig gefrühstückt. Rudolf aß nur zweimal am Tag, weil es ihm um die Zeit leid tat — er konnte nicht kochen, hatte sich früher immer sehr einseitig ernährt und mit seinem Körper Raubbau getrieben. Dabei wurde viel über seine Arbeit gesprochen, anschließend verzog er sich (Marina: »verkroch er sich«) an den Schreibtisch und zum Computer. Hier arbeitete er so konzentriert und hingegeben, da hätte nach ihren Worten die Wohnung zusammenkrachen können — er hätte es kaum bemerkt. Er konnte aber auch sehr fürsorglich sein — etwa als Marina einmal krank war. Es gab praktisch von seiner Arbeit her keinen Unterschied zwischen Wochentagen und Wochenenden. Sie hatten keinen Fernseher, dafür las er ihr gern vor — auch ganze Romane.
Der Normalabend bestand darin, daß er lange arbeitete, danach wurde spätabends sehr intensiv Musik gehört: immer wieder Beethoven, Mozart, Schubert (der ihn zunehmend stärker ansprach), aber auch Tschaikowski, Bach oder Händel. Weniger Interesse hatte er an Opern, das ging mehr von ihr aus: Sie liebte Mozart und Wagner, und er hörte sich mit ihr den Tristan an, wodurch er einen verschütteten Zugang wieder freilegte, der zurückging auf sein Jugenderlebnis mit der Walküre.
Zum Thema »Rudolf und die Frauen« bemerkte Marina, daß für ihn die Selbsterlösung des Menschen eine bohrende Frage war und darin auch die Aufgabe der Geschlechter läge: Der Mann könne nur von der Frau erlöst werden — und umgekehrt. Er liebte und verehrte das Mütterliche, was soweit ging, daß er selbst für Hannah in Niederstadtfeld das Mütterliche war (er »stillte« sie z.B. aus der Flasche mit Beatrices Milch) — wodurch ihr eigentlich der Vater fehlte. Weiter sagte Marina, daß er - dieser umschwärmte Mann - vor bestimmten Frauen Angst hatte, die ihn zugleich stark anzogen (z.B. Christine und sie).
War es die Angst vor zu großer Abhängigkeit, die das Kreative womöglich abtöten könnte? Wollte er deshalb die Frauen lieber selbst formen und damit erhöhen? (Wir erinnern uns an das Gedicht, in dem er Ursula Beneke »erhöhte«.) Eifersucht hat er sich und anderen verboten — war aber gegenüber kurzzeitigen erotischen (oder sexuellen) Beziehungen auch verantwortungslos. Marinas Fazit nach diesem sehr offenen Gespräch: Er sei mit den Frauen nie wirklich ins reine gekommen.
Die Beziehung zwischen Rudolf und Marina veränderte sich in unvorhersehbarer Weise, als im Laufe des Jahres 1994 seine zunächst noch unklare Krankheit ausbrach. Damit soll auch notgedrungen ein neues (das übernächste) Kapitel einsetzen.
568-569
#