3.11 Krankheit und Tod
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Die Krankheit, die zum Tode führte, begann unauffällig und ließ sich mehr als dreieinhalb Jahre Zeit. Angefangen hat sie im Februar 1994 mit einer Infektion, die ihm zwei Wochen lang schwer zu schaffen machte, dann fühlte er eine angebrochene Rippe, und im Mai brach bei einer geringen Belastung eine zweite Rippe. Da meinte er noch, das seien kleinere Fälle für den Hausarzt.
Als er dies überstanden glaubte, traten später Bauchschmerzen auf, dann wurde der Bauch unangenehm dick. (Rudolf: »Das macht nichts.«)
Zum Herbst 1994 fuhr er mit Marina und Hannah nach Vogelsang, einer kleinen Kommune in Schmölln bei Prenzlau, zu einem Seminar und zum anschließenden Ausspannen. Einige Wanderungen hielt er noch durch, dann nahmen die Schmerzen so zu, daß er zum Arzt mußte, der eine alarmierende Vergrößerung der Milz feststellte. Die Ferien wurden trotzdem nicht abgebrochen, erst nach der Rückkehr suchte er in Berlin Prof. Rudolf Natusch auf (der 1989 auch Erich Honecker operiert hatte). Seine Diagnose: Die Milz muß entfernt werden.
Rudolf hatte andere Vorstellungen. Er neigte zu einer alternativen Therapie — und Angebote gab es in Westberlin reichlich. Er entschied sich für die chinesisch-russische Diagnostik der »Kirilian-Fotografie«, bei der zuerst die menschliche Aura aufgenommen wird und daraus psychologische Folgerungen gezogen werden. Für Rudolf lautete die Botschaft, daß sein Tod bevorstünde, wenn nicht eine bestimmte störende Kraft zerstört werden kann. Das richtete sich offenbar gegen Marina (die gegen diese »Therapie« war), von ihr habe er sich zu trennen.
Zwei Wochen hielt Rudolf diese Heiler mit ihren homöopathischen Mitteln aus, denn er glaubte fest an seine Selbstheilungskräfte, dann bekam er wahnsinnige Schmerzen, und die abgelehnte Schulmedizin in Gestalt von Prof. Natusch wies ihn per Rettungswagen ins Krankenhaus Friedrichshain ein. Kurz bevor er im Oktober operiert werden sollte, glaubte er immer noch an die Heilwirkung der homöopathischen Mittel und bat die an seinem Bett sitzende Marina, schnellstens nach Hause zu fahren und die Medikamente zu holen — was sie auch tat. Er nahm sie noch, dann ließ er sich operieren.
Der Chirurg, der ihm die Milz herausnahm, hatte auch Heiner Müller operiert. Als Marina fragte, wie denn die Lebenschancen für Rudolf seien, tröstete er sie: Er wird länger leben als Heiner Müller (und das stimmte auch).
wikipedia Heiner_Müller 1929-1995
Doch die Diagnose hieß: Non-Hodgkin — ein Blutkrebs, dessen Heilungschancen Bahro so beschrieb: »Man würde zwar nicht wieder gesund, aber die Krankheit ließe sich unter die Nachweisschwelle drücken.« Seine Aussichten: »Vermutlich noch fünf Jahre, darunter ein schlimmes letztes, wenn sie nichts machen, sonst noch um die 15, also im Rahmen meiner normalen Lebenserwartung« (Brief an Günter Baumgart, 5.1.1995).
Rudolf wollte nicht ans Ende denken. Er ließ sich ins (katholische) Hedwigs-Krankenhaus einweisen und begann dort mit der Chemotherapie. Doch nach der ersten Runde überlegte er es sich wieder anders und stieg aus. Ende November schrieb er seinen behandelnden Ärzten, daß er die Chemotherapie nicht fortsetzen möchte, weil sich sein Paradigma von der Krankheit gewandelt habe. Er führt nunmehr seine Erkrankung »auf einen schweren Einbruch im Selbstwertgefühl zurück, der sich nach wenigen Monaten als Krebs« geäußert habe. Dies bringt er mit dem Freitod seiner Frau Beatrice zusammen — als dem »schwersten Schlag, der mich je getroffen hat«. Etwas unbestimmt heißt es weiter: »Akut war die Erkrankung tatsächlich erst einmal 5-9 Monate nach dem Ereignis.«
Er erwähnt die Infektion vom Februar und die beiden angebrochenen Rippen, dann nennt er die Diagnose — »nach Hamer muß es ursprünglich ein Knochenkrebs gewesen sein«. Mit diesem glaubt Bahro jetzt, daß Krebs nicht eine Krankheit, sondern die Überwindung eines zurückliegenden Traumas sei, so daß sowohl Leukämie als auch die übernatürlich angeschwollene Milz letztlich bereits Symptome des Heilungsvorganges seien.
Er schildert dann weit zurückliegende Ereignisse, in denen psychisch ihn belastende oder bedrohende Umstände — 1962 der Übergang nach Berlin und 1976 der Kampf um die Fertigstellung der <Alternative> — schmerzvolle und als gefährlich diagnostizierte Anfälle hervorgerufen hätten. Und deshalb will er den Ärzten erklären: »Es ist eine Frage an die in so vieler Hinsicht kompensatorische Ich-Instanz, an die spezifische Form, in der unsere Grundängste je virulent werden können. [...] Es ist dann aber nicht wesenslogisch, bei den Zellen therapeutisch anzusetzen.«
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So also begründet er freundlich den Ärzten seinen Rückzug. An seine Freundin Christine Schröter schreibt er dagegen am 8.12.1994, daß unter dem durch den Tod von Beatrice verursachten Trauma noch eine tiefere Schicht seiner Krankheit liege, die bis in seine frühe Kindheit zurückreiche.
Ihm ging es furchtbar schlecht, durch die Chemotherapie fielen ihm auch die Haare aus, bei geringen Anlässen brachen seine Rippen. Wieder suchte er Hilfe bei verschiedenen Heilern. Die Angebote drangen bis in sein Krankenzimmer. Ständig klingelte das Telefon und kamen gutgemeinte Ratschläge. Schließlich hörte er auf Hussein Abdul Sheiknasim und fuhr mit Marina zu einem Arzt und Heilpraktiker namens Habel nach Westdeutschland, vier Wochen später erneut.
Der Erfolg kann nicht groß gewesen sein, denn (durch Maik Hosang vermittelt) begab er sich bald darauf in die Hände des bekannten, jedoch nicht mehr praktizieren dürfenden Arztes Ryke Geerd Hamer. Dieser hatte selbst Krebs gehabt und sich geheilt. Seine Methode war denkbar einfach: Er tat nichts. Seine Botschaft: Ohne Behandlung überlebt man; sterben kann man entweder an der Operation oder an der Chemotherapie. Vermutlich dachte Rudolf bereits ebenso.
Man traf sich — leicht konspirativ — in Bad Honnef, auf dem Weg dorthin machte er Station bei einem Hellseher — der sah (für entsprechendes Honorar) Rudolf fast schon geheilt. Marina, die den Schwerkranken ständig begleitete (und unter schlimmen Schuldzuweisungen der verschiedenen Heiler zu leiden hatte), berichtet über das Treffen mit Hamer: Es kamen mehrere Heilpraktiker, die nach Hamerscher Methode praktizierten, mit ihren Patienten zusammen, der Patient stellte sich und seine Krankheit vor, dann berichtete der Heilpraktiker. Auch Rudolf schilderte seinen Fall (trotz der stärksten Vorbehalte Marinas gegen Hamer) und bekam die Antwort: Das gibt sich von alleine.
Im Januar 1995 war Rudolf am Ende seiner Kraft. Er wollte sich wenigstens vorübergehend von der Welt zurückziehen, selbst von Marina, die ihn zu Hause pflegte. Für ihn lag es nahe, in ein Kloster zu gehen, und er wandte sich an seinen Freund Hermann Barbieri in Brixen (Südtirol). Die Wahl fiel auf das seit der Römerzeit existierende Kloster Seben, hoch auf einem Berg über dem Städtchen Klausen (zwischen Brixen und Bozen). Schwerkrank stieg er alleine in den Zug (Marina blieb bei Tochter Hannah). Er hatte Schmerzen am ganzen Körper, jedoch reiste er ohne Medikamente. In Brixen wurde er von Barbieri abgeholt und fuhr mit ihm nach Klausen.
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Es war Winter, der Weg bergauf zum Kloster war für Autos unbefahrbar, nur einmal am Tag quälte sich ein Traktor hoch. Als er mit diesem völlig entkräftet im Kloster ankam, waren die Nonnen entsetzt. Sicher waren sie medizinisch überfordert, doch sie pflegten ihn eine Zeitlang, dann ging es nicht mehr. Er mußte zurück. Wieder holte ihn Barbieri ab, er nahm Rudolf mit in seine Wohnung, seine Frau als ausgebildete Krankenschwester sorgte sich um ihn, doch es ging ihm schlechter und schlechter.
Es konnte nur noch eines helfen: zurück auf die Onkologische Station des Hedwigs-Krankenhauses. Marina war selbst krank geworden und konnte ihn nicht abholen, dafür sprang Reinhard Spittler ein. Mit dem Krankenwagen wurde Rudolf nach München transportiert, mit dem Zug ging es nach Berlin, am Bahnhof wartete schon der nächste Krankenwagen, der ihn mit Blaulicht ins Krankenhaus fuhr. Dort kam Rudolf beinahe als Gerippe an. Mit Lungenriß und Wasser in der Lunge.
Von März bis Juni 1995 lag er dann wieder im Hedwigs-Krankenhaus. Sein Zustand war ernst, sein Geist stark geschwächt, zeitweilig wurde er in milder Form aggressiv — er war nicht mehr er selbst. In dieser kritischen Situation mußte er zwangsläufig an die Zukunft seiner Gefährtin Marina und seiner Tochter Hannah denken. Was ihm noch möglich war: Auf dem Krankenbett heiratete er am 17. Mai Marina. Es war nicht sehr feierlich. Die Standesbeamtin stand am Bett, zwei Trauzeugen waren rasch bestellt: Ärzte, die gerade greifbar waren. (»Hauptsache, sie haben ihren Ausweis bei sich.«)
Als es ihm ein Geringes besser ging, wollte er unbedingt nach Hause. Die Ärzte ließen ihn mit größter Skepsis gehen und nur unter der Bedingung: Wenn die Temperatur 38,5° übersteigt, müsse er sofort wieder zurück. Zu Hause hatte er natürlich gleich Fieber, meist bis 40°, aber er weigerte sich, erneut ins Krankenhaus zu gehen. Dafür kam zweimal am Tag Prof. Natusch mit Injektionen. Für Marina begann eine Qual: Rudolf konnte mit seiner gestiegenen Aggressivität nicht mehr umgehen, er wollte trotz seiner Schwäche die Beziehung zu Marina abbrechen. Auf der anderen Seite war Hannah eifersüchtig. Dazu die Hitzewelle des Sommers '95, in der man nachts kaum schlafen konnte.
In dieser mehr als anstrengenden Zeit wurde ihr Sohn Erik ein wichtiger Helfer, der sich sehr um Rudolf kümmerte und von ihm dafür auch geschätzt wurde. So verlebte Rudolf einige ihn quälende Wochen, in denen er meist apathisch dalag, in seiner Wohnung, bis er im September zur Chemotherapie wieder in die Klinik mußte.
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Überraschenderweise ging es anschließend mit ihm bergauf. Als er geistig wieder klarer wurde, konnte er sich an den kritischen Zustand zuvor nicht mehr erinnern. In Abhängigkeit von seinen Blutwerten und dem Allgemeinbefinden begannen dann die Zyklen der Chemotherapie: jeweils eine Woche im Krankenhaus, zwei Wochen zu Hause, dann erneut ins Krankenhaus. Doch insgesamt verbesserte sich sein Zustand, auch äußerlich: Die Haare wuchsen wieder.
Vermutlich in dieser ihn belebenden Phase entstand einer seiner letzten großen Texte. Marina berichtet auch, daß es im selben Jahr eine größere Krise zwischen ihnen gab, da sich beide geistig in verschiedene Richtungen zu entwickeln begannen und verschiedene Interessen hatten. Sie versuchte sich — indem sie sich mit Astrologie und Tarot befaßte — seinem intensiven Einfluß zu entziehen, worauf Rudolf empfindlich reagierte.
Es renkte sich bis zum Spätherbst wieder ein, und seinen 60. Geburtstag (am 18. November 1995) konnte er groß feiern — passend mit einer kleinen Konferenz in einem Hotel (früher ein FDGB-Heim) auf einem Hügel in der Nähe von Pommritz. Die Thematik entsprang der zufälligen Zeitungslektüre eines Freundes: Der hatte von einer Vereinigung englischer Adliger gelesen, die finanziell ihre Schlösser oder Landsitze nicht mehr halten konnten und sich deshalb zusammenschlossen, um die Kosten zu optimieren und gleichzeitig mehr Naturschutz zu treiben. Rudolf fand diese Idee durchaus nachahmenswert, und so ging es auf diesem Geburtstag fast schon um die Gründung eines solchen Trustes zur alternativen Bewirtschaftung niederliegender Güter.
So fröhlich und hoffnungsvoll begannen seine letzten beiden Lebensjahre. Plötzlich mußte — praktisch war es ja, aber er hatte sich bislang verweigert — ein Auto gekauft werden (ein viertüriger Polo), man machte Ausflüge, und im November sah er erstmals seit seiner Kindheit wieder seinen Geburtsort Bad Flinsberg und sein Elternhaus — alles im hohen Schnee. Das durch die Krankheit gestörte Verhältnis zu Marina verbesserte sich mit jedem Monat.
Auf Anraten der Ärzte fuhr er nach dem Weihnachtsfest zur Kur nach Tabarz in Thüringen, einige Tage später folgte ihm Marina, und sie verbrachten dort erholsame Tage, angereichert mit Spaziergängen und kleineren Autotouren. Die Kur tat ihm gut, er konnte sich festigen, plötzlich war ihm die Natur wichtiger als alle Kultur. Und beide hatten Hoffnung, daß nun das Schlimmste überstanden sei.
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Doch Ende Januar 1996 verschlechterte sich sein Zustand, er mußte erneut für mehrere Wochen ins Krankenhaus. Wieder unterzog er sich einer Chemotherapie, sie schlug an, sein Zustand verbesserte sich ein weiteres Mal. Kaum wurde dies spürbar, wollte er wieder seine Vorlesungen halten. Er begann damit nach einjähriger Unterbrechung im Sommersemester, erst wie gewohnt wöchentlich. Von der Wohnung oder vom Krankenhaus wurde er in die Uni gefahren, doch hatte er seine Kräfte überschätzt. Er mußte sein Programm reduzieren, auf einen 14-Tage-Rhythmus übergehen, manchmal auch die Vorlesungen ausfallen lassen.
Im Sommer konnte er mit Marina und Hannah für drei Wochen an die Ostsee fahren, nach Kloster auf Hiddensee. Hier traute er sich kleinere Wanderungen zu, ging auch schwimmen, arbeitete nichts Theoretisches, hielt aber in einem kleinen Hotel einen Vortrag über Sozialökologie und widmete sich der Familie — was von Hannah in regelrechten Eifersuchtsattacken auch ausgenutzt wurde. Rudolf hatte ihr gegenüber permanent ein schlechtes Gewissen, und so konnte sie sich fast alles erlauben. Anschließend fuhren sie in die Kommune Vogelsang, wo sie recht spartanisch in einem ehemaligen Zirkuswagen wohnten. Dann war die nächste Chemotherapie fällig, also wieder eine Woche Hedwigs-Krankenhaus.
Ende September war er soweit gekräftigt, daß er mit Marina wieder eine Reise wagen konnte: zuerst nach Schloß Kappenberg bei Stuttgart, dann weiter nach Belgien, wo er sich in Löwen mit dem Philosophen, Ökologen und Herausgeber des Husserl-Nachlasses Ulrich Meile traf. Sie waren dort Gäste der Grünen Partei Belgiens, Bahro hielt Vorträge und beteiligte sich an Diskussionen, dann ging es weiter zur alternativen Buchmesse in Antwerpen, eine Stadt, die ihn sehr beeindruckte. Hier traf er sich mit dem norwegischen Philosophen und Ökologen Arne Naess, einem der bedeutendsten Vertreter der Deep Ecology Movement.
Im Herbst ging es ihm wieder schlechter, trotzdem begann er, sich selbst überwindend, mit den Vorlesungen an der Humboldt-Universität, doch gegen Ende des Jahres ging es weiter bergab — nur noch einige dieser Vorlesungen konnte er mit Mühe halten.
Zum Jahreswechsel hörte er zusammen mit Marina in der Gethsemane-Kirche seinen geliebten <Messias>, und im Januar 1997 ging es ihm vorübergehend so gut, daß er mit Marina nach Mecklenburg zur Beerdigung ihres Großvaters fahren konnte.
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Da die ganze Wohnsituation für Rudolf nicht günstig war — er lag in seinem mit Büchern und Papieren vollgestopften Arbeitszimmer und fühlte sich offensichtlich davon bedrängt —, wurde die gerade freiwerdende Nachbarwohnung noch angemietet, in der ein weiteres Arbeitszimmer für ihn, vor allem jedoch ein seinem Ruhebedürfnis und der Krankenpflege angemessenes Schlafzimmer eingerichtet werden konnte.
Zu Ostern (Ende März 1997) begab er sich wieder einmal in die Hände eines Wunderheilers. Dessen Spezialität war die Heilung per Computerstrahlen (für die Kleinigkeit von 25.000 DM). Bahro sollte dazu für drei Wochen in eine Westberliner Wohnung einquartiert werden, um sich dort vor den Computer zu setzen. Bedingung war jedoch, daß die Ehefrau einbezogen werden sollte. Marina weigerte sich, was sofort zu Spannungen führte, zumal bei der ersten Sitzung bereits diagnostiziert wurde, daß Marina an der Krankheit schuld sei.
Empört fuhren beide gleich wieder nach Hause, doch dann zog es Rudolf erneut zu diesem Wundermann. Ein weiterer Termin wurde ausgemacht, nun mit der neuen Bedingung, daß Marina für die ganze Zeit keinen Kontakt zu ihm haben durfte, aber in seiner Nähe sein mußte. Sie wurde in einer benachbarten Wohnung untergebracht. Kontakt zu Bahro hatte nur der »Heiler« (ein unangenehmer Typ aus Sachsen, der dort im Knast gesessen hatte — wie Marina sich erinnert).
Tatsächlich verbrachte er dann dort - tagsüber allein - drei Wochen in dieser Wohnung, zu der lediglich der geschäftstüchtige Sachse und dessen Frau Zutritt hatten. Er bekam dort hohes Fieber, ließ sich mit einer Taxe zu Prof. Natusch fahren, um dann zu dem wundertätigen Computer zurückzukehren. Drei Wochen lang, dann durfte er wieder nach Hause.
Obwohl es ihm weiterhin schlecht ging, mußte er im April unbedingt zu einem Seminar nach Pommritz fahren, wozu es ihn trieb, weil er das Gefühl hatte, das LebensGut entwickele sich von seinen ursprünglichen Vorstellungen immer weiter weg. Es war sein letzter Besuch dort.
Anfang März flog er trotz Marinas Protest allein für eine Woche nach Istanbul zu einem Vortrag. Obwohl am Start alles schiefging und es nach Abbruch aussah, kam er schließlich doch in der Türkei an, wurde dort auch gut betreut und konnte so seine letzte Auslandsreise besser als erwartet abschließen. Zurück in Berlin erwartete ihn die nächste Runde Chemotherapie — sie schlug überraschend gut an.
Als ich ihn das letzte Mal im Mai besuchte, hatte er zugenommen, die Haare waren gewachsen, er sah gut aus, war sehr klar und wirkte ausgesprochen agil. Sso ahnte ich nicht im geringsten, daß dies unsere letzte Begegnung war.
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Drei Tage später zu Pfingsten konnte er mit Marina zu einem Treffen ihrer Verwandtschaft nach Mecklenburg fahren und bei dieser Gelegenheit auch einen Abstecher zur Journalistin Marlies Menge westlich der Elbe machen. Ihm ging es bei der Rückkehr nach Berlin so gut, daß er mit Marina wieder einen dreiwöchigen Ostseeurlaub auf Hiddensee plante.
Am 14. Juli flog er für einen Tag nach Stuttgart, um sich mit dem Philosophen Günter Rohrmoser — über den er in der Humboldt-Universität am 14. April eine Vorlesung gehalten hatte — zu treffen. Diese Begegnung kam dann aber doch nicht zustande, dafür hielt er einen Vortrag in der Buchhandlung Wendelin Niedlich und traf seine frühere Lebensgefährtin Ursula Beneke wieder.
Mit Fieber kehrte er am nächsten Tag nach Berlin zurück, bekam bei seinem geschwächten Immunsystem sofort eine Lungenentzündung und mußte gleich wieder ins Krankenhaus. Dann rückte der Tag des geplanten Ostseeurlaubs heran. Obwohl Rudolf nicht reisefähig war, wollte er unbedingt vom Krankenbett direkt ins Auto steigen. Die von Marina herbeigerufenen Ärzte fanden das höchst riskant, konnten ihn aber nicht zum Dableiben zwingen. Im allerletzten Augenblick überfiel ihn dann aber eine derartige Schwäche, daß er im Krankenhaus bleiben mußte.
Von diesem Zeitpunkt an ging es mit seinem Zustand rapide abwärts. Noch Ende Juli wurde er auf die Intensivstation verlegt, hing er an einer Sauerstoff-Flasche und war teilweise nicht mehr ansprechbar. Er halluzinierte — und eine Vision, die immer wiederkehrte, ist politisch so interessant, daß sie hier auch wiedergegeben werden darf: Er sah und führte Gespräche mit Dschingis Khan und Karl dem Großen, und zwar sah er darin die welthistorische Versöhnung zwischen Ost und West, und das Besondere war, daß dieses Treffen genau am Brandenburger Tor stattfand.
Auf der Intensivstation wurde er täglich von Marina besucht, für einen Tag kamen aus den verschiedenen Himmelsrichtungen seine drei Kinder Andrej, Bettina und Sylvia zu ihm, auch ihnen erzählte er seine Halluzinationen, nahm aber seine Kinder als Personen nicht mehr richtig wahr. Dann überfielen ihn Ängste, er wollte unbedingt von dieser Station weg, wieder redete Marina mit den Ärzten, er wurde in die Hämatologische Abteilung verlegt, und Marina durfte rund um die Uhr bei ihm bleiben.
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Bald darauf nahm ihn der Chefarzt der Pulmologie, Prof. Pawlowski, auf seine Station. Bei ihm bekam er — zusammen mit Marina — ein schönes Zimmer, und wie sie mir erzählte, gab es hier eine wunderbare katholische Schwester mit Namen Theresa, die für Rudolf so wichtig wurde, daß er auf seiner ständigen Gottessuche ernsthaft den Gedanken faßte, zum Katholizismus überzutreten. (Daß es nicht dazu kam, lag in der verständnislosen Art des Krankenhausgeistlichen, der sich auf Bahro nicht einstellen konnte.)
Auf Rudolfs Wunsch mußte Marina unter erheblicher Mühe eine Reproduktion von Rembrandts »Bildnis eines alten Mannes« (nicht sein berühmtes Selbstporträt) besorgen, daß er dann immer in seinem Blickfeld hatte und stundenlang betrachtete. Sie konnte dort auch die Röntgenaufnahme von Rudolfs Lunge sehen — es war nur noch ein Rest. Weil die Chemotherapie nicht mehr richtig anschlug, bekam er ab Ende August zusätzlich noch Bestrahlungen.
In dieser Situation gab er sein letztes Interview (Es grummelt unter der Erde, postum veröffentlicht am 13./14. Dezember 1997) und antwortete auf die Frage nach seinem Zustand: »Das schwankt mit dem Zyklus meiner Krankheit: Ich muß etwa alle vier Wochen an den Tropf. Fünf Tage Chemotherapie, danach drei bis vier Wochen Erholung. Wenn ich Pech habe und mir nach der Chemotherapie eine Infektion hole, muß ich gleich noch mal rein. [...] Therapie ist eigentlich nicht der richtige Begriff. Es heilt nicht, es treibt den Krebs nur ein wenig in die Defensive.«
Auf die Frage »Was haben Sie sich vorgenommen, wenn die Krankheit Ihnen noch etwas Zeit läßt?« antwortet er: »Ich wollte Hegel noch einmal ganz lesen, das Lebenswerk. Das schaffe ich wohl nicht mehr. [... ] Solange ich noch auf die Leiter steigen kann, um die Bücher rauszuholen, werde ich weiter schreiben und arbeiten.«
Und er denkt in dieser Zeit auch gelassen an den Tod:
»Wenn man 60 Jahre alt ist, hat man sowieso Glück gehabt im Leben. Die Ideale meiner Jugend — Beethoven, Schubert, Fichte, Hölderlin —, die sind alle nicht so alt geworden [biographisch korrekt fügt er natürlich hinzu: Bei Hölderlin muß man die Zeit des Wahnsinns im Tübinger Turm abziehen]. Meine Frau und ich haben kürzlich beim Musikhören die Sechste von Tschaikowski, die sogenannte Todessinfonie [Pathetique h-moll op. 74], aufgelegt. Ich empfand sie beim Hören eigentlich freundlich in ihrem Thema.«
Wie Marina berichtete, hörte er auch in dieser Zeit viel Musik, und am stärksten beeindruckte ihn der Messias, den er wieder und wieder auflegte (und mitsummte und -sang) und Schuberts große Klaviersonate B-Dur — die auch auf seiner Trauerfeier erklang.
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Ins Krankenhaus kamen regelmäßig die Freunde. Bei einem solchen Besuch entstand auf Anregung Gysis ein Testament (daran hatte Bahro bislang nicht gedacht), und über dessen Vermittlung erschien auch Markus Wolf am Krankenbett, um die Fragen nach dem unentschlossenen Verhalten der Staatssicherheit vor der Verhaftung von 1977 wenn nicht zu beantworten, so doch mit Bahro zu bereden.
An dieser Stelle kann vorausgreifend (aus rechtlichen Gründen allerdings nur verkürzt) erwähnt werden, daß es noch am Todestag Rudolf Bahros mittels eines Vertragsentwurfes Bemühungen von seiten der Gemeinschaft für Sozialökologie e.V. gab, dessen Vorstandsmitglieder zu diesem Zeitpunkt Michael Wende und Maik Hosang waren, die Rechte am Lebenswerk Rudolf Bahros übertragen zu bekommen. Doch der Tod war schneller.
Am 7. Oktober kam er wieder einmal für kurze Zeit nach Hause und wurde jeden zweiten Tag zu den Bestrahlungen ins Krankenhaus gefahren. Eine neue Hausärztin — eine warmherzige, russische Krebsspezialistin — besuchte ihn fast täglich. Von ihr stammte die Idee, die ihm für kurze Zeit noch einmal half: Für ein paar Wochen wurde er Ende Oktober/Anfang November in das anthroposophische Krankenhaus »Havelhöhe« verlegt, dort bewirkte die Pflege eine letzte erstaunliche Linderung. Er konnte wieder aufstehen, die Sauerstoff-Flasche verlassen und ein paar Schritte im Park spazierengehen.
Von dort kam er wieder zurück ins Hedwigs-Krankenhaus auf die Hämatologische Station, wo es weiterging mit der Chemotherapie und mit Bestrahlungen. Der Zustand wurde für ihn immer unerträglicher: Seine Speiseröhre war so stark angegriffen, daß er künstlich aus Tuben ernährt werden mußte, nicht ohne vor jeder Mahlzeit erst ein Gelee zu schlucken, das in der Speiseröhre kurzzeitig einen dünnen Film bildete.
Die Lunge war weitgehend zerstört, er mußte dauernd an ein Sauerstoffgerät angeschlossen bleiben. Und sein Gehör wurde schnell schwächer, so daß die Kommunikation — wie bei seinem großen geliebten Vorbild Beethoven — nur noch über Zettel erfolgen konnte. Über seinen 62. Geburtstag blieb er im Krankenhaus, ein paar Tage danach kam er in einem sehr geschwächten Zustand erneut nach Hause, die Bestrahlungen wurden ambulant fortgesetzt.
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Der ausweglose Rest ist schnell erzählt:
Ihm ging es anhaltend schlecht, er war entkräftet und matt, doch während des Wachseins mitunter auch wieder klar. Die Schmerzen nahmen zu, er bekam ein Schmerzmittel, das ihm nicht viel half, doch das stärkere Morphium lehnte er angstvoll ab. Als die Schmerzen nicht mehr auszuhalten waren, wurde dann am 3. Dezember doch Morphium injiziert, danach verfärbte sich sein Gesicht blau. Marina eilte zu Prof. Natusch (er praktizierte in derselben Straße), dieser kam herüber, ein Krankenwagen brachte Bahro mit Sirene ins Krankenhaus — er kam nicht mehr zu Bewußtsein und starb am 5.12.1997.
Marina hielt die Totenwache, und es war mehr als ein Zufall, daß ein enger Freund, der Friedens- und Konfliktforscher Juan Goterez, genau zu diesem Zeitpunkt aus Spanien nach Berlin gekommen war und nun mit ihr gemeinsam am Totenbett trauerte.
Die Beisetzung auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof — der Ruhestätte von Fichte, Hegel, Brecht (und des von Bahro so geliebten Johannes R. Becher) — war kein gesellschaftliches Ereignis, aber ein Treffen besonderer Menschen, die mit ihm in Liebe oder Freundschaft oder Achtung oder Bewunderung verbunden waren. Und ausgesucht war auch das Programm. Eingebunden in die große B-Dur-Klaviersonate von Franz Schubert und Hölderlins Die Eichbäume, hielt Jochen Kirchhoff die Trauerrede.
In dieser durch und durch musikalisch konzipierten Rede erinnerte er daran, daß Bahro ohne das, was wir klassische Musik nennen, nicht denkbar sei. Über lange Zeit war Beethoven für ihn »bewundertes Vorbild und Meister in einem, gleichsam der Mensch schlechthin. [...] Wie Beethoven war, so wollte Rudolf Bahro sein; mit Abstrichen gilt dies auch für Hölderlin, für Fichte, für Meister Eckhart oder Thomas Müntzer.«
Er habe - so Kirchhoff - den Weg Beethovens vom heroischen Pathos der fünften Sinfonie zu der meditativen Heiterkeit und Gelassenheit der späten Streichquartette in gewisser Weise selbst nachvollzogen — als Weg vom kulturrevolutionären Pathos und der Leidenschaft des Überzeugen-, ja Herrschenwollens zu einer taoistisch anmutenden Ruhe und Gelöstheit.
Und er erinnert weiter an Bahros Liebe zu Bach und Haydn und Schubert — »und zunehmend war ihm Mozart der Angekommene, der des drängenden Pathos nicht mehr bedurfte: Mozart und Laotse: diese beiden rückten für ihn zusammen. Mozart als der musikalische Verkünder und Gestalter des Tao, der Großen Ordnung, der kosmischen Intelligenz, von deren Wirken Rudolf Bahro zutiefst überzeugt war.«
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Zum Wesen Bahros gehörte die an Laotse gewonnene Spiritualität, und während er in den 80er Jahren für die Öffentlichkeit wie niemand anders das Bündnis von Ökologiebewegung und richtig verstandenem Sozialismus verkörpert hatte, versuchte er in den 90er Jahren die Zusammenführung von Ökologie und Spiritualität — und das wurde nicht mehr verstanden: Zunehmend galt Bahro als Fremdkörper in dieser Gesellschaft, und er selbst ist im Westen nie heimisch geworden.
Gegen Ende seiner Rede fragt Kirchhoff: Wer war Rudolf Bahro, was war Rudolf Bahro? Und er ergänzt die Frage:
»Ich habe oft darüber nachgedacht, und ich habe keine restlos befriedigende Antwort gefunden. Vielleicht war er ein mystisch orientierter Politiker oder ein politisch orientierter Mystiker, ein Mönch, den es danach drängte, Kulturrevolutionär zu sein (halb Luther, halb Müntzer), ein Reformator, [...] der Reformator einer Kirche, die sich dann in Nichts auflöste. Vielleicht war er — und manchmal hatte ich den Verdacht — ein Musiker, dem es an Möglichkeiten fehlte, diese Befähigung auszuleben.
Er war ein Denker, der im eigentlichen Sinne gar nicht denken, sondern wirken und handeln wollte. Wie viele (gerade deutsche) Denker verlangte es ihn nach der großen, befreienden Tat. Dann wieder war er ganz der spirituelle, der meditative Mensch. [...] Zugleich war er ein Mensch, der wie wenige andere über das Verhältnis von Liebe und Macht grübelte. Hier, meinte er, lägen die tiefsten Neurosen. Über seinen eigenen Machtwillen hat er oft, auch öffentlich, reflektiert. Der späte Bahro hatte die Strahlkraft eines Menschen, der nicht mehr siegen muß, der wirklich loslassen konnte.«
Die Abschiedsworte am offenen Grab sprach der Theologe Heinrich Fink, endend mit einem Segenswort, in dem er Rudolf Bahros Wünsche aufbewahrt fand:
Keinen Tag soll es geben,
an dem du sagen mußt,
niemand ist da,
der mir Hoffnung gibt.Längere Zeit war das Grab in seiner Schlichtheit kaum auffindbar, heute ist es erkennbar an einem großen Feldstein, darauf allein sein handschriftlich nachgebildeter Namenszug.
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