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1. <Das gestohlene Leben>

 

Der Fall Ursula und andere Opfer

 

13-30

Unsere Filmdokumentation war bereits überall angekündigt worden, dann aber kurzfristig aus rechtlichen Gründen aus dem Programm genommen. Unter den vielen erbosten Anrufern war eine ältere Frau. Sie schien äußerst resolut und beschwerte sich über den unzutreffenden Titel. Unser Film sollte nicht »Die gestohlene Kindheit«, sondern »Das gestohlene Leben« heißen, denn das ganze Leben würde denjenigen genommen, die in ihrer Kindheit sexuell mißbraucht worden wären.

Die Frau brachte ihre Ansicht ohne Selbstmitleid oder Resignation vor; es lag Empörung in ihren Worten. Bis zur Staatskanzlei habe sie telefoniert, um herauszubekommen, warum der Film nicht gesendet würde, aber sie habe keine Auskunft bekommen. Mit einem der Auskunftsverweigerer habe sie sich sogar angelegt, und erst nach ihrer Erklärung, daß sie selbst eine Betroffene sei, habe er sich rücksichtsvoller verhalten. Sie forderte uns auf, dafür zu kämpfen, daß der Film doch noch gesendet würde. (Er wurde schließlich mit dreiwöchiger Verspätung in geänderter Fassung ausgestrahlt.) Sie erzählte uns auch, daß sie Mitglied bei den Grauen Panthern sei, und ihre Wachheit, ihr Engagement machten uns neugierig. Wir verabredeten uns.

 

Ursula

Bei unserem Treffen gesteht Ursula gleich, daß sie Beruhigungstabletten genommen habe, da es sie sonst zu sehr aufregen würde, sich über ihre Kindheits­erlebnisse zu äußern. Sie ist von zwei entsetzlich fetten Katzen eingerahmt. »Aus Tierversuchen gerettet«, klärt sie uns über deren Herkunft auf. »Ich hab sie aus der Mülltonne gefischt — die Kanülen steckten noch drin.«

Dann spricht sie über ihre momentane Situation. Ihre Ehe sei sehr glücklich, berichtet sie. Aber als sie vor einigen Tagen bei den Fernsehanstalten angerufen habe, da habe ihr Mann mitbekommen, daß sie sich selbst eine Betroffene nannte. Sie habe es ihm auch später noch einmal wiederholt, es sei aber keine Reaktion von ihm gekommen.

Unsere Frage, ob ihr Mann denn nichts von dem Mißbrauch wisse, verneint sie mit der Begründung, sie hätte die Ehe nicht belasten wollen. Ursula hat bereits zwei gescheiterte Ehen hinter sich.

Sie wuchs in einem preußisch strengen Elternhaus, ohne Zärtlichkeit oder Wärme auf. Strenge und Disziplin gehörten zu den Haupttugenden. Das Verhältnis zum Vater war förmlich und die Beziehung zur Mutter kühl und distanziert. Es gab einen Nennonkel, den besten Freund des Vaters, der im Hause ein und aus ging. Die Kinder, zwei Schwestern und ein Bruder, wurden von Gouvernanten und Hausmädchen betreut, und es gab selten unmittelbaren Kontakt zwischen Eltern und Kindern.

»Ich ging zu meinem <Onkel>, vor allem weil ich mit seiner Tochter Marie-Luise befreundet war — wir waren sozusagen Busenfreundinnen. Ich war damals vier.

Mein Vater nahm mich immer in das Haus des Onkels mit. Ich erinnere mich daran, daß ich auf dem Schoß dieses Onkels saß und die Knöpfe seiner Weste zählte. Ich war ganz stolz darauf, daß ich schon zählen konnte. Als ich fertig war, sagte er: >Da habe ich auch noch Knöpfe<, und deutete auf seine Hose. Natürlich zählte ich hier auch weiter.

Beim nächsten Besuch — ich weiß nicht, wo mein Vater und Marie-Luise waren — fragte mich der Onkel, ob ich immer noch zählen könne. Also fing ich an zu zählen. Aber diesmal war die Hose schon offen, und er war vollkommen entblößt. Ich erschrak furchtbar, ich weiß nicht einmal, warum — ich hatte so etwas noch nie gesehen. Doch instinktiv hatte ich eine Abneigung. Ich wollte nach Hause. Ich wollte nur weg. Wo war mein Vater? Wo war meine Freundin?

Mein Onkel drohte mir: >...Wenn du was zu Hause erzählst, dann kann es sein, daß du hier wohnen bleiben mußt und nie mehr nach Hause darfst...< Und das Schlimmste — ich würde dann meine beste Freundin, seine Tochter, nicht mehr sehen dürfen. Er sagte, auch wenn ich mich weigerte, seine Wünsche zu erfüllen, dürfte ich nicht mehr nach Hause. Meinem Onkel — er gehörte quasi zur Familie — mußte ich gehorchen.«

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Von diesem Zeitpunkt an wurde Ursula regelmäßig von ihrem >Onkel< herbeizitiert — acht lange Jahre, bis sie mit zwölf ihre Periode bekam. Ursula ist so bewegt von dieser Erinnerung, daß sie kaum sprechen kann. Sie scheint nicht achtundsechzig Jahre alt zu sein, sondern sie erinnert an ein vierjähriges Mädchen. Das ganze Entsetzen, der Ekel, die Scham — das alles ist in diesem Augenblick gegenwärtig wie zum Zeitpunkt des Geschehens.

»Er hat sich angefaßt, er hat mich angefaßt, er hat bei mir... also das ist furchtbar, das kann man sich gar nicht vorstellen...« Pause. Auf die Frage, ob der Schmerz heute immer noch da sei, Sagt sie: »Nein, nein, das ist kein Schmerz, das ist Zorn — weil ich nicht das wußte, was ich heute weiß. Und ich übertrage es heute auf jeden Mann. Deshalb bin ich jetzt zum drittenmal verheiratet. Es gab in den beiden anderen Ehen irgendwie ähnliche Situationen — ganz subjektiv betrachtet, waren sie harmlos, aber auf einmal hat mich etwas abgestoßen, das ich nicht hätte begründen können, und ich habe mich verweigert oder einge­schlossen. Daran sind meine Ehen gescheitert, daß es auf einmal so etwas wie eine Wiederholung gab, eine Erinnerung — ich weiß nicht, woran es lag.«

Kann sie sich an Einzelheiten des Mißbrauchs erinnern? »Er hat sich befriedigt und meinen Körper dazu benutzt — einmal, zweimal die Woche — ich frage mich immer wieder: Wo war mein Vater — das habe ich nie lösen können. Es geschah immer im Arbeitszimmer dieses Mannes. Er war ein angesehener Stadtrat. Ich weiß nicht genau, wie lange es jeweils ging. Ein Kind kann nicht sagen, >eine Stunde, zehn Minuten<, ich denke das so oft, wenn diese Kinder ausgefragt werden. Sie können es gar nicht sagen. Ein Kind sagt: >Das waren drei Stunden oder ein halber Tag<, und dann wird es als Lügner hingestellt. Ein Kind empfindet so etwas als wahr, und dann brauchte es jemanden an seiner Seite, der seine Hand hält und antwortet, wenn den Angaben widersprochen wird.«

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In den Einzelheiten sieht Ursula das Belastendste für ein Kind. »Wenn dieser Samen an den Körper kommt, das ist so widerlich, das kann man sich gar nicht vorstellen. Das muß man wegwaschen, unbedingt wegwaschen! Das war immer da. Das hat gebrannt. Und das Allerschlimmste ist, niemandem etwas sagen zu können. Das hat er mir eingebleut wie das Vaterunser: daß man mir nicht glauben würde und daß ich allein die Schuld hätte, weil ich zu ihm käme. Er hat die Dinge so eingefädelt, daß ich mich ihm nicht entziehen konnte. Ich dachte ja, ich hätte nie mehr nach Hause gedurft, wenn ich mich geweigert hätte. Ich habe immer mal versucht, mich zurückzuziehen — aber dann ist er grob geworden. Mein Gott, so eine Gewalt, so eine Macht, die da auf mich zukam. Diese Brutalität liegt einer Frau ganz fern. Jetzt gehe ich auf die Siebzig zu, und ich mußte so alt, werden, um darüber sprechen zu können.«

Nun gibt es für Ursula kein Zurück mehr. Sie hat sich uns anvertraut und beginnt — nach mehr als sechzig Jahren — damit, ihre Situation aufzuarbeiten. Dabei ist ein Konflikt entstanden, mit dem sie nicht gerechnet hat. Ihr Mann, mit dem sie seit einunddreißig Jahren verheiratet ist und der sie mit seiner Zärtlichkeit und Einfühlsamkeit, wie sie findet, >erst ins Leben geführt hat<, weiß nichts von dem Mißbrauch. Nun erzählte sie ihm von dem Telefonat mit dem Fernsehsender, in dem sie sich als Betroffene bezeichnet hatte. War es Feigheit? Wollte er nichts davon wissen? Warum fragte er überhaupt nicht nach? Ursula ist nicht in der Lage, ihm von sich aus von dem Geschehenen zu erzählen. Sie fürchtet, ihrer Ehe damit zu schaden. In einem ähnlichen Konflikt befinden sich auch Töchter sehr oft, die mißbraucht wurden und nun einerseits auf das Verständnis und die Unterstützung ihrer Mütter hoffen, andererseits aber Skrupel haben, sie mit der entsetzlichen Wahrheit zu überfordern, und sogar Ablehnung befürchten oder Enttäuschung, falls die Mütter diese Unterstützung verweigern. Ursula wartet darauf, daß ihr Mann sie anspricht. Sie möchte es ihm sagen, schafft es aber nicht, von sich aus dieses Tabu zu brechen.

Ihre erste Ehe hatte sie dazu benutzt, dem Elternhaus zu entkommen. Bei der Heirat wußte sie bereits, daß die Verbindung nicht halten würde. Auch die zweite Ehe hatte kaum bessere Chancen. Ursula stürzte sich in die Arbeit.

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In einem Großunternehmen war sie >siebte von oben< und verdiente fünfmal soviel wie die meisten Männer. »Da war ich die Chefin und konnte die Männer tanzen lassen.« Ihre berufliche Laufbahn verhalf ihr zu Sicherheit und Selbstbewußtsein, aber diese Sicherheit bestand natürlich vor allem in der Möglichkeit, Kontrolle über andere auszuüben: »Der Haß war immer da, ich habe ihn auf alle Männer übertragen. Ich habe meine Stellung ausgenutzt, und das machte mich hochmütig. Ich bin heute noch so: berechnend und falsch. Vorneherum bin ich stinkfreundlich, aber eigentlich habe ich an jedem was auszusetzen.«

Ursula schwankt zwischen Stolz und Selbstkritik. Ein Gefühl von Schuld ist aus allem herauszuhören, auch wenn sie das nicht zugeben würde. Sie versucht, dieses Schuldgefühl auszugleichen, indem sie alte Menschen pflegt und Sterbende in den Tod begleitet. Heute ist Ursula selbst eine kranke Frau. Sie hat nur noch eine Niere, und die zweite ist fast völlig zerstört. Die Verletzung in ihrer Kindheit ist ihr buch­stäblich an die Nieren gegangen. Seit sie Cortison nehmen muß, hat sie zwanzig Kilo zugenommen. Vor zwei Jahren hatte sie einen Hirninfarkt. Mit eisernem Willen schaffte sie es, wieder sprechen, essen und laufen zu lernen.

Ursula sagt, der Mißbrauch habe sie wachsamer und kritischer als andere werden lassen. Auch die Doppel­moral zu Hause habe sie schon früh durchschaut: »Mein Vater hatte ein uneheliches Kind von einem Kindermädchen, aber er hat seinen Sohn verleugnet, er durfte nicht unseren >ehrenwerten< Namen tragen. Und als später ein anderes Hausmädchen schwanger wurde, hatte es selbstverständlich sofort zu gehen, mit der Begründung, wir wären ein >anständiges Haus<.«

Ursulas Zorn ist heute noch so lebendig wie damals. Er hat sie aufmerksam und berührbar gemacht, aber auch vor schweren Depressionen bewahrt. Die Zärtlichkeit und Wärme ihres Mannes bedeuten ihr alles. »Aber wenn ich herausbekäme, daß er sich an kleinen Kindern vergreift, ich würde ihn entmannen — im Schlaf.«

Eines wird sie niemals klären können: die Beziehung ihrer Eltern zu dem Mißbrauch. Hat ihr Vater davon gewußt oder ihn sogar erst ermöglicht? Hätte ihre Mutter sie geschützt, wenn Ursula sich ihr anvertraut hätte? Wie für so viele Frauen gibt es auch für sie keine Antwort mehr auf diese Kernfragen.

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Pamela

»Mut« sei eines der Schlüsselwörter, meint Pamela Berlin. Mut, seinen Vater anzuzeigen, Mut, nach jahrelanger Verdrängung sich wieder mit diesem Thema zu beschäftigen, Mut, sich zu äußern und Gespräche zu führen. Mut, nichts mehr zu verschleiern, Zusammenhänge zu erkennen und zu akzeptieren.

Bei Pamela fing es mit zwölf Jahren an. Und es war die »Hölle«, fünf Jahre lang. Neben dem sexuellen Mißbrauch gab es Gewalt in jeder Form, die ihr zeigen sollte, wie es ihr erginge, wenn sie irgend jemandem etwas verriete.  »Sicher habe ich auch meiner Mutter etwas gesagt. Doch Mütter glauben es erst, wenn sie es selbst sehen. Ratlosigkeit und keinen Glauben schenken - auch heute noch -, das sind die Reaktionen, die ich immer wieder spüre.«

Pamela ist jetzt sechsundzwanzig. Als Kind sei sie immer weggerannt, man habe sie aber immer wieder nach Hause »geschleift«, erzählt sie uns. Mit achtzehn ging sie endgültig. Heute, acht Jahre später, sagt sie selbst: »Ich bin ziemlich am Ende.« Seit zwei Jahren wird sie von schweren Migräneanfällen, unkontrollierten Blutungen und Hautausschlägen geplagt. Dazu kommen Alkohol und Drogen. »Sicher habe ich daran gedacht, mir das Leben zu nehmen. Der einzige Ausweg? Auf jeden Fall habe ich im Moment keine Motivation, keine Basis, ich sehe kein Licht!« Pamela wartet auf einen Therapieplatz. Sie hat Angst vor der Zukunft, hofft jedoch, ihr Leben einmal in den Griff zu bekommen.

 

Petra

Petra, erzählt uns, es sei so viel Entsetzliches passiert, daß sie nicht wisse, wo sie anfangen solle zu erzählen. Selbst fünfundzwanzig Jahre nach dem Mißbrauch leide sie immer noch an den Folgen. Petra ist heute fünfunddreißig Jahre alt. Ihr Vater war Beamter bei der Bundesbahn, die Mutter Lehrerin. Zehn Tage nach ihrer Geburt bekam die Mutter eine Gehirnembolie, so, daß Petra die ersten Jahre bei einer Pflege­mutter untergebracht wurde.

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Nur wenn die Mutter am Wochenende einmal aus der Rehabilitationsklinik zu Besuch kam, mußte die Tochter nach Hause. Diese Sonntage waren die reinsten »Horrorvisionen«, denn beide Elternteile waren alkohol­abhängig. Als sie acht Jahre alt war, wurde sie endgültig nach Hause geholt, die Eltern verboten Petra, die Pflegemutter auch nur zu besuchen.

Samstags, so erzählt Petra, wurde sie vom Vater »gebadet«, die Mutter saß vor dem Fernseher. »Seine Hände waren überall, und ich hatte solche Angst, ich wollte gerne weg und kam nicht weg. Ich war diesem Menschen hilflos ausgeliefert. Ich wurde krank, und der Hausarzt riet meinen Eltern, mich wieder zu meiner Pflegemutter zu geben. Seltsamerweise erlaubte meine Mutter das, obwohl sie mich vorher unbedingt bei sich haben wollte. Wochenlang hatte ich Alpträume. Jede Nacht träumte ich, daß ein Mann auf einem Leiterwagen hinter mir her war, er streckte seine Hände nach mir aus, ich wollte weglaufen und kam nicht von der Stelle.

Die Sonntagsbesuche aber gingen weiter, bis zu meinem elften Lebensjahr. Dann starb meine Mutter. Als ich zwölf war, starb meine Pflegemutter. Ich wollte nicht zu meinem Vater zurück, aber alles kam so, wie es kommen mußte. Da wir nur eine Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung hatten, wurde ich bei meiner Rückkehr im Ehebett der Eltern untergebracht. Das heißt, ich schlief im Bett meiner toten Mutter, neben meinem Vater. Es geschah an einem Sonntagmorgen. Mein Vater nahm mich im Bett in den Arm. Ich weiß noch, wie glücklich ich in diesem Moment war. Meine Eltern hatten mich nie in den Arm genommen. Ich naives Schaf habe wirklich geglaubt, nun würde alles gut. Endlich hätte er mich lieb. Plötzlich begann er, mich zu streicheln. Dann hielt er mich mit seinen Händen fest und vergewaltigte mich. Ich habe diesen Mann angefleht aufzuhören. Ich habe gebettelt und gewimmert. Je mehr ich weinte und flehte, desto grausamer wurde er. Ich weiß noch, irgendwann lag er über mir, und ich flehte Gott an, mich doch wegzuholen. Ich wollte nur noch sterben.

Ich ging am nächsten Tag zu unserer Nachbarin, die inzwischen die Freundin meines Vaters war, und erzählte ihr von dem Vorfall. Sie machte meinem Vater Vorhaltungen. Er stritt alles ab, sagte, ich sei genauso verrückt wie meine Mutter, ich gehörte in die Irrenanstalt oder käme ins Heim.

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Das Resultat war, daß ich vom Schlaf- ins Wohnzimmer verfrachtet und ab diesem Moment für die nächsten eineinhalb Jahre in der Wohnung wie eine Gefangene gehalten wurde. Ich durfte zur Schule gehen, hatte anschließend fünfzehn Minuten Zeit für den Rückweg und wurde dann von meinem Vater oder seiner Freundin in der Wohnung eingeschlossen. In dieser Zeit habe ich oft auf dem Balkon gestanden und gedacht, wenn ich runterspringe, ist alles vorbei.

Nachts, wenn mein Vater betrunken und nur mit einem Slip bekleidet ins Wohnzimmer kam, erstarrte ich zu einer lebenden Toten auf dem Sofa. Nur so habe ich alles über mich ergehen lassen können. Ich habe nur in Angst gelebt, habe nie gewußt, aus welcher Ecke der Wohnung dieses Tier mich ansprang. Ich war meinem Vater völlig ausgeliefert, und es war niemand da, der mich vor ihm beschützte.«

 

Mit vierzehn konnte Petra das Haus verlassen, weil sie einen pflegerischen Beruf erlernte; sie wohnte nun im Internat einer Pflegevorschule. Die eineinhalb Jahre, die Petra von ihrem Vater mißbraucht wurde, verdrängte sie damals vollständig aus dem Gedächtnis. Als sie ihren ersten Freund hatte, geriet sie in Panik. Sie stand mit dem jungen Mann im Schlafzimmer, wußte vor Angst nicht mehr ein noch aus und bekam einen Tetanie-Anfall, das heißt, sie konnte nicht mehr sprechen, sich nicht mehr bewegen.

Nur Gehör, Verstand und Angst blieben ihr. Petra kam ins Krankenhaus, doch niemand fand die Ursache für den Anfall heraus.

Mit achtzehn lernte Petra den Vater ihrer Tochter kennen. Er war fünfunddreißig, beschützte sie, war zärtlich und freundlich zu ihr. Am Anfang fühlte sie sich geborgen. Nur im Bett hielt er sie für prüde und ängstlich. »Ich habe mir im Leben oft anhören müssen, ich würde im Bett liegen wie eine lebende Matratze. In Wirklichkeit erstarrte ich im Bett mit einem Mann wieder zur Toten. Wenn mir so etwas vorgeworfen wurde, fühlte ich mich schuldig, wußte aber nicht, warum, denn ich hielt mich für normal.«

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Als diese Beziehung in die Brüche ging, versuchte Petra, sich das Leben zu nehmen. Weil sie aber einen Menschen liebhaben und für ihn dasein und sorgen wollte, bekam sie von diesem Mann ein Kind. Als die Tochter geboren wurde, lebte Petra schon allein.

1977 lernte sie ihren heutigen Mann kennen. Sie bekamen zwei Söhne. Doch im Laufe der Jahre konnte Petra immer weniger die körperliche Nähe ihres Mannes und die der Kinder ertragen. »Wenn meine Kinder mich in den Arm nehmen oder mit mir schmusen wollten, habe ich sie meist unter einem Vorwand weggeschickt. Wenn sie mir sagten, >wir haben dich lieb<, habe ich es zwar gehört, bloß glauben konnte ich es nicht.«

Petra wurde depressiv, völlig leistungsunfähig und hatte nur den, einen Wunsch: zu sterben. Sie begann eine Therapie, und im Laufe der ersten sechs Monate kamen die Erinnerungen an den Mißbrauch zurück. »Es war fürchterlich, mir das eingestehen zu müssen.«

Petras Schicksal blieb in all den Jahren nicht ohne Folgen für ihre Familie. Die Tochter rutschte in die Skinhead-Szene ab. »Sie tat, was sie wollte, und ich hatte keine Kraft mehr, mich wirklich gefühlsmäßig um sie zu kümmern. Ich sah zwar, daß mein Kind tiefunglücklich war, aber ich fühlte mich völlig. überfordert und hilflos.« Ihr Mann, der wie Petra nie gelernt hatte, über seine Gefühle zu reden, war mit dieser Situation ebenso überfordert. Petra schaffte es trotz Therapie nicht, die Mauer, die zwischen ihr und ihrem Mann und ihren Kindern stand, einzureißen, obwohl sie das so gerne wollte. »Ich wollte keinem weh tun, wollte keinen verletzen und erst recht nicht verlieren. Ich habe zu diesem Zeitpunkt überhaupt nicht gemerkt, daß ich mich wieder in dem gleichen Zustand befand wie in meiner Kindheit.«

Vor ein paar Monaten eskalierte die Situation innerhalb der Familie. Ihre Tochter, der die Schwierigkeiten über den Kopf wuchsen, versuchte sich das Leben zu nehmen. Petra selbst bestand ab diesem Punkt nur noch aus Angst. »Ich begriff nur eines: daß mein Mann und ich die Ursache waren. Ich bekniete ihn täglich, mit mir in die Therapie oder zu einer Eheberatung zu gehen.

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Er weigerte sich strikt. Er hätte schließlich kein Problem, sondern nur wir vier anderen. Als er sagte, er würde eher ausziehen und sich ein Zimmer nehmen, als eine Therapie anzufangen, brach für mich die Welt zusammen. Am selben Abend versuchte ich, mir das Leben zu nehmen.«

Petra weiß, daß sie ihre Therapie fortführen muß, um zu überleben und eines Tages die Kraft zu haben, mit ihren Kindern und ihrem Mann über ihr Schicksal zu reden und es gemeinsam aufzuarbeiten, um die Kraft zu haben, ihre Kinder und ihren Mann zu lieben. Das, was sie immer wollte: lieben und geliebt werden, eine Fähigkeit, die auf die grausamste Weise von ihrem Vater zerstört wurde.

 

 

Bärbel

Bärbel kam in Stuttgart als uneheliches Siebenmonatskind zur Welt. Die Mutter war alkoholabhängig, der Vater lebte zu dem Zeitpunkt noch bei seiner Frau und seinen drei Söhnen. Aufgrund der Berufstätigkeit der Mutter war Bärbel im Kinderhort untergebracht oder wurde von einer Nachbarin versorgt. Die Mutter kümmerte sich immer weniger um das Kind, ließ es oft stundenlang schreien und ohne Nahrung. Die Nachbarin kümmerte sich dann um das Baby. Einmal beobachtete sie, so erzählte sie Bärbel, wie ihre Mutter ein größeres Paket in die Mülltonne packte, die bereits zur Leerung an den Straßenrand geschoben worden war. Die Nachbarn sah nach und fand Bärbel in dem Paket. Bärbel erzählt: »Ein anderes Mal hatte die Nachbarin mich in der Wohnung mal wieder länger schreien hören. Als sie nach mir sehen wollte (sie hatte einen Zweitschlüssel zur Wohnung), überraschte sie meinen Vater gerade dabei, wie er mich im Genitalbereich verletzte. Er verließ fluchtartig die Wohnung, und sie brachte mich ins Krankenhaus. Mein Vater handelte sich damit eine fast dreijährige Haftstrafe und absolutes Kontaktverbot zu mir ein.«

Ein Nierenleiden hatte Bärbels Mutter zur Frührentnerin gemacht. »Völlig betrunken lag sie immer irgendwo im Wohnzimmer, auf dem mit Rotwein, Chantre und Urin durchtränkten Teppichboden. Sie war trotz des jämmerlichen Zustandes so unberechenbar, daß man sich ab und zu vor fliegenden Weinflaschen oder anderen Gegenständen in acht nehmen mußte. Auch wenn sie laut weinte, war das kein Entwarn­ungs­zeichen.«

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Nach der Haftentlassung des Vaters besuchte die Mutter ihn zusammen mit Bärbel in seiner Wohnung. Die Tochter wußte zu diesem Zeitpunkt noch nichts von dem Kontaktverbot. Ihre Erinnerungen an diesen Besuch: »Es war Nacht. Meine Eltern lagen in einem größeren Bett als ich. Plötzlich begann meine Mutter sehr zu stöhnen. Ich stand auf und fragte, was los sei. (Obwohl ich damals gerade erst fünf Jahre alt war, meinte ich, auf meine Mutter aufpassen zu müssen.) Da stand sie plötzlich auf und verließ das Zimmer; im selben Moment packte mich mein Vater und zog mich zu sich ins Bett. Ich weiß nicht, ob es richtiger Geschlechtsverkehr war oder ob er nur seine Finger benutzte, aber er lag auf mir und tat mir ordentlich weh. Als er dann von mir abließ und ich zu meinem Bett ging, lag meine Mutter schon wieder schlafend an seiner Seite. Wahrscheinlich hatte sie in ihrem Rausch von alldem nichts bemerkt.«

Bärbels Mutter kam zur »Kur«. Bärbel selbst wurde eingeschult und für einige Monate bei einer Pflege­mutter untergebracht. Danach sprach die Mutter nur mit ihr, wenn sie Wein kaufen gehen sollte. »Ab und zu kam eine Frau vom Jugendamt vorbei, kaufte mit mir neue Kleider, die ich oft wutentbrannt zerschnitt.« Bärbel hatte viele Wutanfälle, zerriß Schulbücher, Zeugnisse, Hefte, das Impfbuch oder fügte sich selbst Schmerzen zu, vorwiegend im Genitalbereich. In den ersten Schuljahren begann sie, ein »richtiges Lotterleben« zu führen. Sie stahl in diversen Lebensmittelgeschäften etwas zum Essen, ging nur unregelmäßig zur Schule. Den Kindern in der Nachbarschaft war verboten worden, mit ihr zu spielen, weil die Mutter eine Trinkerin sei. In der Schule riefen sie oft in Scharen: »Krause, die Versoffene«. Das Schule­schwänzen nahm zu, bis das Jugendamt durch die Schule eingeschaltet wurde. Heiligabend verbrachte sie als Zehnjährige auf dem Stuttgarter Hauptbahnhof, weil eine Lehrerin einmal erzählt hatte, daß dort Menschen, die auf der Straße lebten, eine Bescherung bekämen.

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Mit zwölf kam Bärbel in eine Pflegefamilie. Es wurde ihr vom Jugendamt eindringlich verboten, die Mutter zu besuchen. Bärbel hielt sich daran, machte sich jedoch Jahre später starke Vorwürfe deswegen. Sie gab und gibt sich auch heute noch die Schuld, nichts für die Mutter getan, ihr keine Hilfe angeboten zu haben. In der Pflegefamilie gab es zunehmend Probleme mit ihr. Bärbel bekam anstatt Fleisch nur Wurst, weil das Jugendamt angeblich nicht so viel Geld für sie zahlte. Das machte ihr nicht sehr viel aus. Als belastender hingegen empfand sie die Situation an den Wochenenden, wenn zum Beispiel die Großeltern der Familie ihren Besuch ankündigten. Das bedeutete für Bärbel, daß sie sich »unsichtbar« machen mußte. Niemand sollte erfahren, daß die Familie ein Pflegekind angenommen hatte. Da hieß es: ordentlich aufräumen und ab ins Kino.

An einem Sommernachmittag sprang Bärbel dann von einer Fußgängerbrücke auf die darunterliegenden Bahngleise. »Ich empfand dabei nicht die geringste Traurigkeit, sondern es war ein ganz nüchterner Entschluß, weil ich einfach nicht wußte, wo ich eigentlich hingehörte, ohne zu stören.«

Nach dem Krankenhaus kam sie übergangsweise in eine andere Pflegefamilie, bis ein Heimplatz in einem Kinderheim im Nordschwarzwald frei wurde. Auch ihre Mutter kam in ein Pflegeheim, die Wohnung in Stuttgart wurde aufgelöst. Dies erfuhr sie von der Leitung des Kinderheims. Bärbel war dreizehn, und sie glaubte, von Schuldgefühlen erdrückt zu werden. Heute meint sie zu ihrer damaligen Heimunterbringung: »Wäre ich nicht dort gelandet, ich wäre mit größter Wahrscheinlichkeit eine abgebrühte Kriminelle geworden.« Hier begann zum erstenmal ein sehr geregeltes Leben mit regelmäßigem Schulbesuch, regel­mäßigen Mahlzeiten, richtiger Erziehung. »Vor allem genoß ich es, nach der Schule in eine gute Atmosphäre zu kommen.«

Als Bärbel vierzehn Jahre alt war, kam ihres Vaters Schwester zu Besuch, die sie nicht kannte. Sie lud Bärbel zum Kaffeetrinken ein. Die Fahrt endete beim Vater und seiner neuen Ehefrau. Trotz ihres Erlebnisses als Fünfjährige bekam Bärbel keine Angst, sondern fand das alles recht spannend, zumal sie inzwischen wußte, daß ihr Besuch von Seiten des Jugendamtes verboten war. Bärbel half beim Abwasch. Der Rest der Familie ging spazieren.

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»Ich weiß heute nicht mehr, ob wir den Abwasch zu Ende brachten oder ihn unterbrachen. Jedenfalls wollte mein Vater mir die Wohnung zeigen, und schon waren wir im Schlafzimmer. Was dann folgte, war recht schrecklich und brachte mich so aus dem Gleich­gewicht, daß ich von da an fast ein ganzes Jahr kein einziges Wort mehr sprach. Seine so humor­volle, freundliche Art schlug in Brutalität um. Er zog mich aus, zerrte mich ins Bett und verge­waltigte mich. Ich fühlte mich stocksteif und meinte an einem dicken Kloß im Hals zu ersticken.«

Im Heim und in der Schule wunderten sich alle über Bärbels abrupte Verhaltensänderung, fragten auch, was geschehen sei. Bärbel wünschte sich, daß irgend jemand von sich aus eine Frage in Richtung sexuellen Mißbrauchs gestellt hätte, woraufhin sie vielleicht hätte nicken und den Bann brechen können. Doch die Frage kam nicht, und Bärbel fühlte sich wie »zugeklebt«. Ihr Schweigen wurde als apathisch, bockig, introvertiert und stur interpretiert. Das »sprachlose« Jahr erlebte sie als schrecklich. In dieser Zeit fing Bärbel wieder an zu stehlen, hinterließ eindeutige Spuren. Schon während der Ausführung der Tat freute sie sich auf den kommenden Tadel irgendeiner Erzieherin. 

Selbstzerstörerische Tendenzen nahmen zu. Bärbel wurde bulimisch. Sie stahl aus dem Lebensmittelvorrat des Heims, soviel es ging, aß Mengen in sich hinein, um sie anschließend auf der Toilette wieder zu erbrechen. Die Suizidgedanken nahmen zu. »Abends stellte ich einen Eimer zwischen Wand und Bett, um mir in der Nacht die Pulsadern zu öffnen. Jedesmal aber war ich zu feige dazu.« Mit einundzwanzig kam dann »der langersehnte und schönste Tag seit Jahren: Nach Dienstschluß duschte ich, räumte das Zimmer auf, legte mich ins Bett, schluckte die gesammelten Tabletten und las noch einen Abschnitt im Johannes­evangelium.«

Nach sieben Tagen Intensivstation kam Bärbel in die psychiatrische Klinik. Es war ihr einundzwanzigster Krankenhausaufenthalt. Hier erzählte sie das erste Mal von dem sexuellen Mißbrauch. Telefonisch nahm sie Kontakt mit ihrer Arbeitsstelle auf; sie war Praktikantin in einer staatlich anerkannten Lebensberatungsstelle und wartete auf einen Ausbildungsplatz im Pflegeberuf. Der Leiter dieser Stelle erfuhr von dem Mißbrauch, und sie mußte ihm versprechen, sich einer Therapie bei ihm zu unterziehen, auch wenn sie sehr hart sein würde.

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Bärbel willigte ein. Doch die Therapiemethode, die er anwandte, steht in keinem Lehrbuch. Es folgten eineinhalb Jahre, die Bärbel als die schlimmsten ihres Lebens bezeichnet. Vor einigen Monaten schilderte sie die Vorgänge ihrer jetzigen Therapeutin. Bis zu dem Zeitpunkt war ihr nicht der Gedanke gekommen, diese »Methode« als sexuellen Mißbrauch anzusehen, weil sie sich mitschuldig fühlte. Es fand zwar nie ein Geschlechtsverkehr statt, dennoch »waren diese sexuellen Sitzungen furchtbar«. Im Laufe der Zeit bekam Bärbel mit, daß ihr »Therapeut« mehrere Frauen mit dieser Methode »behandelte«. Als sie glaubte, das alles nicht mehr ertragen zu können, besorgte sich Bärbel in mehreren Apotheken erneut Schlaftabletten und versuchte sich die Pulsadern zu öffnen. Das Elend fand ein Ende, als sie den Mut hatte, sich einer Kranken­schwester dieser Beratungsstelle anzuvertrauen, die ihr sofort glaubte.

Trotz dieser »entspannten« Lage hörten die Suizidgedanken nicht auf. Die Bulimie war im Lauf der Jahre in einen Abführmittelmißbrauch übergegangen, und kurz vor dem Examen als Krankenschwester mußte Bärbel wieder in eine psychiatrische Klinik. Die Ärztin, die sie damals auf dieser Station behandelte, ist bis heute ihre Therapeutin geblieben. Diese letzten vier Jahre, so sagt Bärbel, waren »die bisher schönsten meines Lebens«. Auch wenn die suizidalen Phasen vorerst nicht abnahmen, so ging es doch in kleinen Schritten immer vorwärts. »Noch nie fühlte ich mich so verstanden, angenommen, sicher und uneklig wie bei ihr.« Die Therapie­stunden wurden für Bärbel zu »Geborgenheitsstunden«.

Bärbel hat es mit Hilfe ihrer Therapeutin geschafft, einen großen Teil ihrer Probleme zu lösen. Sie nimmt keine Appetitzügler mehr und auch von den Laxantien nur noch ein Zehntel der Höchstdosis. Sie konnte sich als Dialyseschwester qualifizieren und arbeitet gern in ihrem Beruf. Sie hat nun keine übermächtige Angst mehr, wenn sie mit einem Mann allein im Zimmer ist; kann auch anderen Menschen die Hand geben.

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»Ich glaube, nicht mehr so eklig zu sein.« Die Selbstverletzungen haben rapide abgenommen. »Auch die Kopfhaare schneide ich mir in depressiven Phasen nicht mehr einfach ab.«

Bärbel hat keinerlei körperlichen oder sexuellen Kontakt zu anderen Personen. »Der einzige, den ich mal in den Arm nehme, ist und bleibt mein Teddy und ab und zu auch meine Katze.«

Als Bilanz ihrer dreißig Lebensjahre sagt sie: »Ich bin froh, nicht abgetrieben worden zu sein, auch wenn mein richtiges Leben erst mit meiner Therapie vor vier Jahren begann.«

 

 

Monika

Monika war gerade zwölf, auf dem Heimweg von der Schule, als sie ein älterer Mann mit Probeaufnahmen fürs Fernsehen lockte. Er lebte in der Nachbarschaft, sie kannte ihn und seinen vierzehnjährigen Sohn, ging also arglos zu ihm in die Wohnung. »Nach einer Weile fing er an, mich auszuziehen, mit der Begründung, er wolle von mir Aufnahmen in Unterwäsche machen und müsse erst mal fühlen, ob auch etwas an mir dran sei. Da ergriff mich Panik, ich nahm meine Sachen und rannte wie der Teufel aus der Wohnung.«

Als sie mit siebzehn eine Stelle als Ladenhilfe bekam, erlebte sie etwas Ähnliches. »Ich mußte für meinen Chef Kuchen und fertige Torten in den Keller bringen, und regelmäßig kam er mir hinterher, faßte mir unter den Rock und an den Busen, zog seinen Reißverschluß an der Hose auf, und dann mußte ich ihn befriedigen. Wenn er fertig war, hämmerte er mir ein zu schweigen. Er drohte mit Kündigung, wenn ich seiner Frau etwas erzählen sollte, die mir sowieso nichts glauben würde.«

Mit neunzehn mußte sie regelmäßig zum Zahnarzt. Hier passierte ihr das gleiche. Er zwang sie, »ihm die Hose aufzumachen und seinen Penis zu bedienen«. In ihrer langjährigen Ehe wurde sie von ihrem Mann zu perversem Geschlechtsverkehr mit Dritten (in seinem Beisein) gezwungen und mehrmals von ihm verge­waltigt. Schließlich schluckte sie eine Überdosis Schlaftabletten. Der Magen wurde ihr ausgepumpt. Erzählen konnte sie niemandem, warum sie versuchte, sich das Leben zu nehmen. Heute leidet Monika unter den entsetz­lichsten Auswirkungen.

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Sie ist magersüchtig, medikamentenabhängig, hat schwere Depressionen und fügt sich immer wieder selbst die grausamsten Schmerzen zu. Monika haßt Sexualität und alles, was damit zusammenhängt. Sie haßt jeden Mann und ist unfähig, Liebe zu geben oder anzunehmen. Seit kurzer Zeit ist sie in einer Selbsthilfe­gruppe und hofft, eine Therapeutin zu finden, weil es ihr unmöglich ist, ihre Geschichte einem Mann mitzuteilen. Auch hätte sie sich außerstande gefühlt, so sagte sie uns, mit den Tätern über das Geschehene zu sprechen.

 

 

Susanne

Susanne war dreißig Jahre alt, als ihr bewußt wurde, daß sie in ihrer Kindheit sexuell mißbraucht worden war. Erst ein völliger physischer und psychischer Zusammenbruch führte dazu, daß ihr im Laufe eines stationären Kranken­hausaufenthaltes in der psychotherapeutischen Abteilung klar wurde, daß sie selbst von Mißbrauch betroffen war. Auch heute noch hat sie an die Jahre zwischen ihrem dritten und zwölften Lebensjahr nur äußerst lückenhafte Erinnerungen. Gedanken an ihren Vater lösen bei ihr Haß, Ekel und Wut aus, ohne daß sie einen Grund dafür angeben könnte. Ihre Erinnerungen bestehen nur aus Gedankenfetzen, lange unter­drückten Gefühlen, Träumen.

»Ich bin mir sicher, daß jeder, der es hätte sehen wollen, gemerkt hätte, daß mit mir etwas nicht stimmte, denn ich war ein total neurotisches Kind, freßsüchtig, hypoch­ondrisch, konnte auch als Schulkind nicht allein im Haus bleiben, weil ich panische Angst bekam. Meine Mutter verschloß die Augen und zog sich selbst in Krankheit zurück. Gleichzeitig gab sie mir ständig das Gefühl, <besser> als ich zu sein, das heißt, sie lebte in einer Konkurrenzsituation zu mir, die sie dazu veranlaßte, alles, womit ich mich beschäftigte, schlechtzumachen bzw. mir zu signalisieren, daß ich dieses oder jenes aufgrund meiner Unzulänglichkeit sowieso nicht könne. Das war gepaart mit einer geradezu übertriebenen Angst, mir könne etwas passieren, wenn sie keine Kontrolle über mein Tun hatte, so zum Beispiel beim Fahrradfahren oder beim Spielen vor dem Haus. Ich kann mich nicht erinnern, daß jemand meine Signale ernst genommen hätte.«

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Susannes Vater starb, als sie zwölf Jahre alt war. Sie war glücklich darüber, zeigte aber ihre Freude nicht, der Mutter zuliebe. Von da an holte sie vieles nach. Sie nahm schlagartig ab, fand Freunde in der Schule, machte sich zunehmend unabhängig. Mit achtzehn zog sie von zu Hause aus. Beruflich hatte sie Erfolg, obwohl sie sich ständig überforderte. Ihre Beziehungen zu Männern gestalteten sich allerdings schwieriger. »Ich hatte eine Zeitlang viele sehr kurzlebige Beziehungen, in denen ich entweder den Betreffenden nur benutzte und schnell wieder fallenließ, oder ich suchte mir anderweitig gebundene Männer aus.«

Mit einundzwanzig Jahren wurde Susanne schwanger. Doch die Beziehung zum Vater ihres Kindes war schon wieder beendet, als sie von der Schwangerschaft erfuhr. Susanne liebt Kinder, aber damals war ihr schon bewußt, daß sie »keinen Vater dazu« haben wollte. Als ihr Sohn zwei Jahre alt war, wünschte sie sich ein weiteres Kind. »Ich war damals mit einem verheirateten Mann zusammen, von dem ich dann auch schwanger wurde.« Doch er zog sich zurück. Ihr Studium konnte sie nicht zu Ende bringen, weil sie überfordert war: zwei Kinder, Diplomarbeit, Abschlußprüfungen, zudem war sie körperlich sehr erschöpft. In dieser Zeit tat sie sich mit ihrem heutigen Mann zusammen, was für Susanne aber eine noch größere Belastung bedeutete, denn er lebte zunächst mit seinen vier Kindern allein. (Erst später gingen zwei der Kinder zur Mutter zurück.)

Diese Vorgänge führten zu ihrem körperlichen Zusammenbruch. Während der ärztlichen Betreuung wurde der sexuelle Mißbrauch offenbar. Danach hatte Susanne große Probleme im Zusammenleben mit ihrem Mann. Sie konnte seine Berührungen nicht mehr ertragen. Susanne bekam 1990 trotz allem noch einen Sohn. So konnte sie die Beschäftigung mit dem Inzest durch ihren Vater erst einmal verdrängen. Doch seit einiger Zeit geht sie zu Beratungsgesprächen, die es ihr möglich machen, ihre Geschichte zu verarbeiten.

»Mein Mann und ich leben mittlerweile gemeinsam in einem Haus mit zwei getrennten Wohnungen, jeder mit seinen Kindern, und wir sind zusammen, wenn wir es wollen.« Für Susannes Mann ist diese Situation sicherlich sehr schwierig, doch für sie ist es zur Zeit die einzige Möglich­keit, mit ihm — oder überhaupt mit einem Mann — zusammenzuleben.

»Sicherlich haben meine Kinder unter meiner Geschichte zu leiden, allein deshalb, weil ich ihnen den Vater vorenthalten habe. Oft bin ich depressiv, nicht ansprechbar für ihre Wünsche oder Bedürfnisse. Trotzdem glaube ich, daß wir unser Leben gemeinsam in den Griff bekommen werden.«

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