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  Teil 1

 Psychoanalyse als politische Wissenschaft  

 

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»Schuster, bleib bei Deinen Leisten. Psychoanalytiker, bleib bei Deiner Couch«, so denken viele Politiker, aber so denken auch viele Psychoanalytiker. Psychoanalytiker verstehen nichts von Politik, Politiker nichts von Psychoanalyse. Das ist eine weitverbreitete Meinung, die bisher dazu führte, daß nur wenige fruchtbare Kontakte zwischen Psychoanalytikern und Politikern zustande kamen. 

Zwischen den beiden Berufsgruppen besteht eine Berührungsscheu, die wohl damit zu tun hat, daß jede Gruppe die andere als übermächtig und unbeeinflußbar erlebt und gleichzeitig auch in gewissem Sinne als minderwertig beurteilt. Die Angehörigen beider Gruppen übersehen zumeist, daß ihr Anliegen, ihre Probleme und ihre Möglichkeiten oft sehr ähnlich sind: Beide Gruppen befassen sich mit zwischenmenschlichen Beziehungen und mit deren Störungen.

Bei Versuchen, mit Politikern über solche Ähnlichkeiten ins Gespräch zu kommen, machte ich die Erfahrung, daß die Grenz­überschreitung zwischen Psychoanalyse und Politiker zugleich faszinierend und ängstigend ist. Zwischen Politikern und Nichtpolitikern, zwischen Psychoanalytikern und Nichtpsychoanalytikern, zwischen Theoretikern und Praktikern gibt es Grenzen, die die Verteilung von Zuständigkeiten, Verantwortung und Macht in der Gesellschaft sichern. Wenn Psychoanalytiker sich (allzu selten und zumeist in einer für Laien schwer verständlichen Sprache) zur Politik äußern, wird das von Politikern nur selten zur Kenntnis genommen.

Ähnlich geht es aber auch Naturwissenschaftlern und anderen »politischen Laien«. Außer den Politikern selbst dürfen sich eventuell noch Politikwissen­schaftler in unserer Gesellschaft ungehindert zu politischen Themen äußern. Natur- und Geisteswissenschaftler bekommen zum Beispiel an manchen Universitäten Hausverbot, wenn sie über ihren Beitrag zur Friedens­sicherung miteinander sprechen wollen.

Gemeindeglieder dürfen auf Anweisung ihres Pfarrers in ihrer Einladung zu einer entsprechenden Veranstaltung die Worte »Frieden« und »Ökologie« nicht verwenden, Worte, die Politiker täglich im Munde führen. Aber auch zwischen den Theorien der Politikwissenschaftler, Soziologen und Sozialpsychologen einerseits und den »Praktikern« dieser Wissenschaften, den Politikern, andererseits gibt es Grenzen. Wegen der für Laien schwer verständlichen Sprache der Wissenschaftler bleiben deren Theorien zumeist für Politiker im verborgenen, während die Theoretiker in ihrer abstrakten Wissenschaftlichkeit die Praxis aus den Augen verlieren. Grenzüberschreitungen und die damit verbundenen Veränderungen von Zuständigkeiten machen Angst. Die Aufgabe, den Frieden zu sichern, liegt bei den Politikern. Gemeindeglieder, Vertreter von »unpolitischen Wissenschaften« und Theoretiker haben damit nichts zu schaffen.

Die mir gegenüber häufig wiederholte Meinung: »Psychoanalytische Erkenntnisse mögen ja auf dem Gebiet der Psychotherapie sehr richtig sein, auf das Gebiet der Politik sind sie nicht übertragbar, da herrschen ganz andere Verhältnisse«, ist mir so wichtig, daß ich ihrer Diskussion den ersten Teil dieses Buches widmen möchte. 

Im ersten Kapitel möchte ich der Frage nachgehen, was denn nun wirklich so »ganz anders« ist in der Politik: Ich will aufzeigen, wo ich Unterschiede und wo ich Ähnlichkeiten sehe, ich will die Dynamik der Widerstände gegen eine Verbindung von Psychoanalyse und Politik untersuchen, und ich will vor allem auf die Chancen hinweisen, die nach meiner Meinung in einem psychoanalytischen Verständnis von politischen Zusammenhängen liegen.

Im zweiten Kapitel geht es mir um die Frage, wieweit und wodurch die Psychoanalyse ihr revolutionäres und damit ihr politisches Potential im Laufe ihrer Geschichte selbst immer wieder beiseite geschoben und unterdrückt hat. Ich untersuche die Bedingungen, unter denen Psychoanalyse und Psychoanalytiker politisch wirksam werden können. Ich vertrete die These, daß die Psychoanalytiker sich dazu mit der »strukturellen Gewalt« in ihren eigenen Theorien, in ihrer eigenen Ausbildung und in ihren eigenen Institutionen befassen müssen und daß sie sich nicht auf ein Selbstverständnis als Hilfswissenschaftler der Medizin beschränken dürfen. Nur in dem Maße, wie die Psychoanalyse die eigene Befreiung aus struktureller Gewalt und struktureller Verantwortungs­losigkeit gelingt (vgl. Kapitel 7), wird sie politisch bedeutsam sein oder werden können.

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1. Kann man Erkenntnisse aus der Psychoanalyse auf die Politik übertragen?

 

 

   a) Die Übermacht »objektiver« Strukturen 

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In der Diskussion um die Übertragbarkeit psychoanalytischer Erkenntnisse auf die Politik wird von den Gegnern einer solchen Übertragung häufig die Macht »objektiver« Strukturen ins Feld geführt. Die real existierenden ökonomischen, politischen, militärischen, bürokratischen Strukturen seien weder mit Hilfe der Psychoanalyse zu verstehen noch mit Hilfe psychoanalytischer Deutungen aufzulösen. Ebensowenig wie ein einzelnes Individuum etwas gegen die Macht des Staatsapparates oder der Rüstungsindustrie ausrichten könne, so wenig könne auch das psychoanalytische Verständnis zur Veränderung oder Beseitigung solcher Strukturen beitragen.

Psychoanalyse sei eine Therapiemethode für neurotische Patienten, die sich aus einem Leidensdruck heraus in Behandlung begeben. Selbst wenn man sagen könne, daß die Überrüstung oder gewisse Strukturen unseres gesellschaftlichen Systems Ausdruck einer kollektiven Neurose sind, so habe man es doch in diesem Bereich nicht mit Einzelpersonen, sondern mit überstarken Mächten zu tun, deren Repräsentanten nicht den geringsten Leidensdruck hätten und deshalb auch keinen Anlaß, in eine psychoanalytische Behandlung zu gehen. Nein, Psychoanalyse sei für die Reintegration der psychisch kranken Randfiguren der Gesellschaft zuständig, nicht für eine unerbetene Therapie unserer Politiker oder für die Veränderung unserer gesellschaftlichen und politischen Strukturen.

Verschiedene Politiker, mit denen ich die Übertragbarkeit psychoanalytischer Erkenntnisse auf die Politik diskutierte, argumentieren etwa so: »Die Wirtschaftsmacht ist die eigentliche, die originäre Macht. Sie ist unvermeidbar, weil sie eine eigene Ideologie entwickelt, die von der Bewußtseins­veränderung einzelner Personen nicht tangiert wird. Politische Macht ist nur eine abgeleitete Macht. Politiker sind Gefangene dieser vorgegebenen Strukturen. Sie werden im Lauf ihres Politikerdaseins durch diese Strukturen immer mehr zu funktionierenden Rädchen in einer großen Maschinerie umgeprägt. Machtstrukturen sind im politischen Bereich nicht im gleichen Sinne auflösbar wie in psycho-analytischen Behandlungen, wo beide Teile sich um eine solche Auflösung bemühen. Sie können nur durch die Einrichtung von Gegenmacht eingeschränkt oder beseitigt werden.«

Ich glaube, daß die Vertreter beider Disziplinen, die Politiker und die Psychoanalytiker, in gewissem Maße betriebsblind geworden sind. Betriebsblindheit wird erst erkennbar, wenn man versucht, mit den Vertretern anderer »Betriebe« in ein fruchtbares Gespräch zu kommen. In solchen Gesprächen wurde mir deutlich, daß ich bisher die Verselbständigung der Bedrohung in Form der in Wirtschaftsimperien etablierten kollektiven Gier und die Verdinglichung der Bedrohung durch die bloße Existenz von Waffen aller Art unterschätzt hatte. Meine Gesprächspartner aus dem politischen »Betrieb« ihrerseits hatten aus dem Auge verloren, daß es immer auch an ihnen (wie an uns allen) liegt, wenn wir unsere Denkstrukturen, wenn wir das, was wir für veränderbar bzw. für nicht veränderbar halten, davon abhängig machen, ob wir als kleiner David den großen Goliath »mit einem einzigen Stein« beseitigen können oder nicht.

Auch wenn es manchem Außenstehenden oft nicht so zu sein scheint, so haben wir es in der Psychoanalyse doch auch sehr häufig, oder eigentlich immer, mit scheinbar unveränderbaren Strukturen zu tun. Das psychische Gleichgewicht jeder Person, jedes Paares, jeder Familie beruht zu mehr oder weniger großen Teilen auf (Abwehr-) Strukturen, die zunächst oft unveränderbar. zu sein scheinen. Jeder Mensch, jede Beziehung enthält Anteile, in denen der Krankheitsgewinn größer ist als der Leidensdruck, in denen die Angst vor der Destabilisierung durch eine Veränderung größer ist als das Leiden unter der durch die (Abwehr-) Strukturen bedingten Einschränkung.

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 Genau wie in der Politik scheinen »die Strukturen« keinen Bezug zum Erleben der Person oder der Personen zu haben. Es sind Eigenheiten, vielleicht »Verrücktheiten«, die feststehende Charaktereigenschaften zu sein scheinen. Für das subjektive Erleben des einzelnen sind sie »normal« oder vielleicht auch störend, in ihrem psychodynamischen Sinn aber kaum verständlich — und vor allem nicht »durch einen Steinwurf« oder durch einen Schritt zu verändern. Als Psychotherapeut hält man solche Strukturen so lange für unveränderbar und deshalb für übermächtig, solange man glaubt, vor der Alternative zu stehen: entweder in einem Schritt beseitigen oder resignieren. Große Teile der Friedensbewegung waren in bezug auf die Verhinderung der Stationierung von Pershing-2-Raketen in dieser Phantasie befangen.

Als »objektiv« werden Strukturen dann bezeichnet, wenn sie vom bewußten Wollen des wahrnehmenden Subjekts nicht zu beeinflussen sind und wenn sie als ich-fremd, als nicht zur eigenen Person gehörend, nicht von der eigenen Person produziert und aufrechterhalten, erlebt werden. In der Psychopathologie sind Rituale, die unter einem unausweichlichen Zwang immer wieder ausgeführt werden müssen, ein Beispiel für solche Notwendigkeiten, denen der Patient dann hilflos ausgeliefert ist. Auch für solche Rituale existiert zumeist eine eigene Ideologie, die unbeeinflußbar zu sein scheint; auch sie werden als ich-fremd, als nicht zur eigenen Person gehörend und nicht von ihr hervorgerufen erlebt. Diese »objektiven«, mit der Subjektivität des einzelnen scheinbar in keinem Zusammenhang stehenden Strukturen erscheinen in der Politik als »Sachzwänge«, in allen Wissenschaften als Denkzwänge und in ähnlicher Form eben auch in der Psychoanalyse und Psychotherapie. Sie alle scheinen auszudrücken: So ist das eben, da brauchst du gar nicht zu glauben, etwas ändern zu können. Es gibt immer auch rationale Begründungen für die Existenz und Notwendigkeit solcher Zwänge, und zumeist ist es sehr schwer, die erdrückende Objektivität dessen, was einein da erklärt wird, nicht ohne weiteres zu übernehmen, sondern die eigene Subjektivität, die eigenen Gefühle und Phantasien zu bewahren.

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In der Psychotherapie wie in der Politik, so meine ich, sind solche Strukturen nicht, noch nicht oder nicht mehr auflösbar, je nachdem, wie weit ihre verdinglichende Objektivierung schon fortgeschritten ist, und je nachdem, in welchem Maße die von ihnen betroffenen Personen noch fähig sind, einen subjektiven Bezug zu ihnen herzustellen. Fast nie sind solche Strukturen in einem Schritt auflösbar, es geht immer um schwierige Veränderungsprozesse, in denen sich der »Veränderer«, also der Psychoanalytiker oder der Politiker oder die politisch engagierte Privatperson, selbst mitverändert. Solche Strukturen bleiben verhärtet oder verhärten sich noch mehr in dem Maße, in dem man versucht, sie nur durch eigenes Hartbleiben zu beseitigen. Sie können sich lockern in dem Maße, in dem man als betroffene und beteiligte Person es wagt, seine eigene Wahrnehmung dieser Strukturen in Frage zu stellen, nicht mehr nur zu fragen, wie sie beseitigt werden können, sondern auch zu fragen, weshalb sie nötig sind und wodurch sie eventuell auch von einem selbst mit aufrechterhalten werden. Ich werde mich mit der Auflösung unbewußt gewordener Machtstrukturen im 4. Kapitel noch ausführlich beschäftigen.

 

  b) Die »Realpolitik« und ihre Strategien 

 

In der Politik - so antworten mir manche Politiker - gehe es um Interessenunterschiede, um Auffassungs­unterschiede und Machtkonflikte. Subjektivität, also persönlich erlebte Zweifel und Ängste, schränkten die Handlungsfähigkeit ein. Es sei deshalb in diesem »Handwerk« sinnvoll und nötig, auf persönliche Gefühle zu verzichten und sich in seinen Entscheidungen »sachlich« nach den Erfordernissen der Realität zu richten. Utopien seien auf diesem Gebiet gefährlich, ja man mache sich lächerlich, wenn man persönliche Phantasien verfolge, die nicht mehrheitsfähig sind.

Zu den als Erfordernisse der Realität erkannten Tatsachen gehören in der Politik zum Beispiel das Ringen um Mehrheiten beim Volk (eventuell auch gegen die eigene Überzeugung), taktisch möglichst geschickte und harte Verhandlungen mit potentiellen oder tatsächlichen Koalitionspartnern und die »psychologisch geschickte« Diffamierung des politischen Gegners in der Öffentlichkeit.

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Was von einem moralischen Gesichtspunkt aus als verwerfliche Propaganda zum Zweck des Machterhalts oder Machtgewinns oder sogar als bewußte Irreführung des Volkes oder als Erpressung (z.B. des Koalitions­partners) beurteilt wird, gehört im politischen Geschäft zum normalen Verhalten, was sich die politischen Gegner gegenseitig wiederum oft nur zu Propagandazwecken vorwerfen, letztlich aber nicht verwerflich finden. Sie betreiben ja alle dasselbe »Geschäft« und akzeptieren dessen Unmoral als objektive Notwendigkeit. Anders kann Politik nicht mit Erfolg betrieben werden, so scheint es. Auf andere Weise kann sich auf die Dauer kein Politiker, keine Partei über Wasser halten, so wird gesagt.

Das Mehrheitsprinzip als institutionelle Form der Austragung und Regelung von Konflikten in der parlamentarischen Demokratie zwinge zu solchen Verhaltensweisen, die zugegebenermaßen im persönlichen oder familiären Bereich nicht adäquat sein würden. Parteien müßten ihre Ziele über Mehrheiten erreichen, deshalb befänden sie sich naturgemäß immer in einer Beziehung »gegeneinander«. Jede Stimme, die eine Partei oder ein Politiker bekommt, geht den anderen Parteien und Politikern verloren, wird gesagt. Das sei einer der Sachzwänge, die Politiker hart machten und ihnen Eigenschaften und Verhaltensweisen abverlangten, für die sie im persönlichen Bereich nicht geliebt werden oder würden. Die Politik, so sagen viele Politiker, sei eine »Ellenbogengesellschaft«, in der die »sanfte Tour«, wie sie die Psychoanalytiker verfolgen, nicht gefragt sei. Im Gegenteil, die »sanfte Tour« der Psychoanalyse sei in der Politik schon deshalb fehl am Platze, weil sie das Funktionieren des Apparates und seiner Teile, der Politiker, nur stören würde.

Gerade bei den Grünen könne man beobachten, daß persönliche Differenzen und allzuviel Rücksicht auf Minderheiten die ganze Partei in ihrer Arbeit und Effektivität lähmen. Ein guter Politiker dürfe sich nicht von persönlichen und moralischen Skrupeln daran hindern lassen, als ein guter Mitstreiter die Linie seiner Partei mitzutragen. Er müsse sich an der ständigen Propaganda­arbeit beteiligen, die die eigene Partei in ein gutes, die gegnerische Partei in ein schlechtes Licht rückt. Kein Politiker dürfe mit den Angehörigen einer anderen Fraktion verwechselbar werden.

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Wenn die andere Partei innere Konflikte zu bewältigen hat, so müsse das öffentlich als Mangel an Geschlossenheit, als Unsicherheit über die eigenen Ziele oder als Führungsschwäche bezeichnet werden. Wenn die eigene Partei uneins sei, dann sei das in der Öffentlichkeit als Lebendigkeit und Kreativität zu bezeichnen. So etwa lautet der Konsens in der »Realpolitik«.

Das Resümee der Argumentation gegen die Übertragbarkeit psychoanalytischer Erkenntnisse auf die Politik heißt dann oft: Wenn in dem einen Feld ganz andere Bedingungen und Strukturen herrschen als in dem anderen, dann sind die Konzepte und Strategien zwischen den beiden Feldern nicht übertragbar.

 

Als Psychoanalytikerin bin ich gewöhnt, gerade »Realitäten«, die mir als unabänderlich und besonders übermächtig dargestellt werden, zu hinterfragen. Ich weiß, daß »Realitäten« immer nur Ausschnitte aus der Wirklichkeit sind, die durch den Ausschluß anderer Inhalte aus der bewußten Wahrnehmung zustande kommen. »Realitäten« beruhen außerdem auf Konventionen von Angehörigen einer Gruppe, die bewußt oder unbewußt miteinander vereinbart haben, bestimmte Dinge für wahr, andere für nicht wahr, bestimmte Dinge für veränderbar, andere für nicht veränderbar zu halten. So erscheinen mir als der Parteipolitik relativ fernstehender Person die eben angedeuteten »Realitäten« der sogenannten Realpolitik nicht so unausweichlich, wie sie mir wohl erscheinen würden, wenn ich selbst ein voll integriertes Mitglied der Gruppe der aktiven Politiker wäre. Es tut jeder Gemeinschaft gut, auch der psychoanalytischen, wenn ab und zu von außen jemand kommt und fragt: Muß denn das wirklich alles so sein? Habt ihr euch nicht vielleicht in »Notwendigkeiten« verrannt, die so notwendig gar nicht sind? Auf diesem Prinzip beruht jede psychoanalytische Therapie, sei es beim einzelnen, bei Paaren, bei Familien oder Gruppen.

Die Reduktion der Politik auf Interessen(gegensätze) entspricht einer Definition des Menschen als eines materialistischen Wesens, das außer Konsumgütern wie Nahrung und Kleidern, Macht und Sicherheit gegen den Feind nichts braucht, insbesondere keine lebendigen und befriedigenden zwischenmenschlichen Kontakte. Obwohl Politik die Bedürfnisse der Menschen und damit die Probleme zwischenmenschlicher Beziehungen im großen und kleinen Rahmen zum Gegenstand hat, ist sie fast ausschließlich zu einer Theorie und Praxis von Machtstrategien verkommen.

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Anstatt die ganze Kraft dafür zu verwenden, die eigene Beziehung zu den jeweiligen »Feinden« zu verbessern, denken sich die Politiker immer bessere, perfektere Kriegspläne zur psychischen und physischen Zerstörung der »Feinde« aus. Wer die gegnerische Partei in einer Rede am besten »trifft«, ist auch in der eigenen Partei »oben«. Ein Gremium, in dem mitmenschliche Beziehungen auf ein solches Niveau des ausschließlich strategischen Umgangs untereinander reduziert sind, kann auch nach außen hin keine wirksame Friedenspolitik leisten.

Natürlich sind nicht nur unser Bundestag oder unsere anderen Volksvertretungen auf dieses strategisch verarmte Niveau zwischen­menschlicher Beziehungen »abgesunken«, wie das viele Kritiker und Enttäuschte gegenwärtig sehen. Der Bundestag repräsentiert tatsächlich nach wie vor das Volk, vor allem im psychischen Sinn. Er repräsentiert die politische Kultur in unserem Land, und das heißt, die Qualität unserer zwischenmenschlichen Beziehungen. Es ist ein Ausdruck unserer allgemeinen Beziehungs­losigkeit, wenn in der Politik und in der politischen Wissenschaft kaum Worte und Begriffe für die verschiedenen Qualitäten von Beziehungen existieren, wenn mögliche Schritte zur Verbesserung von Beziehungen im kleinen wie im großen nur als relativ pauschale Schlagworte wie »Sicherheitspartnerschaft« vorkommen. Wenn ich Angst vor den für mich mit einer Verbesserung meiner Beziehungen einhergehenden Risiken habe, dann kann es sein, daß ich doch lieber den Weg solcher riskanten Annäherung gar nicht kennen und untersuchen will. Lieber glaube ich dann an die Aussichts­losigkeit derartiger Bemühungen, als mich in Frage zu stellen.

Obwohl die Erkenntnisse der Psychoanalyse seit bald einem Jahrhundert zur geistigen Verfügung stehen, unterscheiden wir in unseren Alltagsbeziehungen immer noch vorwiegend zwischen »richtigen« und »falschen« Verhaltensweisen. 

Wir sehen nicht die überall vorhandene Gegenläufigkeit der Gefühle und Wünsche, wir sind blind für die Stellen, an denen wir unsere eigenen guten Absichten unbewußt selbst sabotieren müssen, wir rechnen nicht mit unbewußten Vorgängen bei uns selbst wie bei anderen, deren

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