Francis Bacon — Neu-Atlantis
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Es bestehen einige Zweifel, ob man <Neu-Atlantis> als ein ideales Gemeinwesen oder als die Beschreibung einer idealen wissenschaftlichen Universität betrachten soll, und tatsächlich ist Bacons Utopie nicht so vielseitig wie die von Morus oder Campanella. Die Tatsache, daß diese "Fabel" im Untertitel als Fragment bezeichnet wird, führt auch zu der Annahme, daß die wissenschaftliche Universität, oder Salomons Haus, nur eine Einrichtung unter vielen war, die Bacon zu beschreiben beabsichtigte. Und Dr. Rawley, sein Hauskaplan und Herausgeber seiner Werke sagt:
Der Verfasser hatte übrigens im Sinne, in dieser Fabel ein Buch über die Gesetze oder über die beste Staatsverfassung zu schreiben. Da aber dieses Werk zu lang zu werden drohte, setzte er, um nicht an der Arbeit an seiner Naturgeschichte und der Fortführung der anderen Teile der <Großen Unterweisung>, die er für weit wichtiger hielt, gehindert zu werden, hier einen Punkt.
Ob Bacon nun zu Neu-Atlantis einen zweiten Teil schreiben wollte oder nicht, so ist es doch unwahrscheinlich, daß er den grundsätzlichen Charakter seiner Gesellschaft verändert hätte, die der Naturwissenschaft und den Naturwissenschaftlern eine führende Rolle zuteilte.
Wie Plato in allen Einzelheiten die Gesetze aufzählt, die das Leben der Wächter bestimmen, uns aber wenig über die anderen Klassen mitteilt, so ist Bacon nur an den Institutionen und der Arbeit seiner Wächter, der Mitglieder des Hauses Salomon, interessiert, und sagt fast nichts über das Leben der übrigen Bevölkerung. Das Ungesagte kann jedoch genau so bedeutend sein wie das Gesagte; Plato und Bacon kümmern sich nur um die herrschende Klasse, da sie ihrer Meinung nach die einzige ist, die zählt. In diesem Sinne kann Neu-Atlantis als ein ideales Gemeinwesen betrachtet werden.
Bacons Werk wurde jedoch hauptsächlich deshalb berühmt, weil dort zum ersten Mal eine vollständige, auf experimenteller Wissenschaft basierende, wissenschaftliche Universität beschrieben wird. Ob sein Entwurf tatsächlich der erste seiner Art war oder ob er sich an die Schriften von Andreae und Campanella oder an die naturwissenschaftlichen Akademien, die während der Renaissance in Italien entstanden waren, anlehnte, ist Anlaß zu mancher Kontroverse gewesen. Ohne sich selbst darin zu verwickeln, kann man wohl mit Sicherheit behaupten, daß die Idee einer Universität für naturwissenschaftliche Forschung zu der Zeit, als Bacon seinen Entwurf verfaßte, in der Luft lag, und daß viele Philosophen vor ihm die Bedeutung experimenteller Wissenschaft herausgestellt hatten.
Betrachtet man sein Werk auf dem Hintergrund dessen, was schon vorher geschehen war, scheint es, wie Harald Hoffding sagt, daß
dieser Mann, der so oft als der Begründer empirischer Naturwissenschaft bezeichnet wurde, nicht einmal den Namen eines Moses, der das verheißene Land erblickt hat, verdient. Sicherlich besaß er eine gewisse prophetische Einsicht und gab oft Anregungen zu Gedanken, die den Verlauf menschlicher Forschung erhellten.
Darüberhinaus war er sich vollkommen seiner oppositionellen Haltung gegen die Scholastiker bewußt; doch er hatte noch nicht bemerkt, daß das verheißene Land schon von da Vinci, Kepler und Galileo erobert worden war. Bescheiden bezeichnet er sich nicht als Kämpfer, sondern als Boten, der zur Schlacht ruft. Die Forscher jedoch, die die moderne empirische Naturwissenschaft begründeten, brauchten seinen Trompetenstoß zum Kampfe nicht.
Wenn man auch mit Bacon bezüglich der Originalität seiner philosophischen Ideen zu nachsichtig war, so ist doch die Tatsache unbestritten, daß er als erster Philosoph eine Erneuerung der Gesellschaft durch Naturwissenschaft ins Auge faßte. In früheren Utopien wurde diese Erneuerung durch Sozialgesetzgebung, Glaubensreformen oder die Verbreifung des Wissens erreicht, und auch wenn Wissenschaft wie im Sonnenstaat oder in Christianopolis eine wichtige Rolle spielte, so wurden die Stadträte nicht nur aufgrund ihrer Kenntnisse, sondern auch ihrer religiösen und moralischen Tugenden gewählt. In Neu-Atlantis bilden die Wissenschaftler eine Kaste, die mit höherer Macht betraut ist als der König. Salomons Haus ist keine vom König geförderte und abhängige Gesellschaft wie die Royal Society, der sie als Anregung gedient hatte; sie war ein Staat im Staate mit anscheinend unbegrenzten Geldmitteln, Geheimagenten und der Berechtigung, der übrigen Gemeinschaft Geheimnisse vorzuenthalten.
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Darüberhinaus ist Bacon insofern ein Neuerer, als er den Naturwissenschaften eine fast ausschließliche Bedeutung zumaß. Er führte die Spezialisierung, die während der Renaissance begonnen hatte, einen Schritt weiter, was das Ende des universellen Menschen, der sich gleichermaßen für Philosophie und Kunst, Naturwissenschaft und Literatur interessierte, bedeutete.
Neu-Atlantis nimmt nur einen kleinen Raum in Bacons umfangreichem Werk ein, doch man hat gesagt, daß vielleicht keine seiner einzelnen Schriften so viel von ihm selbst enthält. Bacon war kein Moralist wie Morus, kein Glaubensreformer wie Andreae, kein universeller Philosoph wie Campanella; er war Politiker mit leidenschaftlichem Interesse für Naturwissenschaft, und sein Neu-Atlantis ist ein Wunschtraum, wo Wissenschaft und Macht sich in hervorragender Weise vereinigen und regieren. Es ist ein Traum von riesigen Laboratorien, zahlreichen Assistenten und ungeheuren Geldmitteln, so wie ihn jeder Wissenschaftler, der allein mit unzulänglichen Mitteln kämpft und entmutigt ist vom Mangel an Geld und Assistenten, haben könnte. Doch es ist auch der Traum eines enttäuschten Politikers, der trotz seiner Begabung und Skrupellosigkeit nicht zu der Macht gelangte, die er sich wünschte.
Bacon war fest davon überzeugt, daß er eine Machtstellung brauchte, um seine philosophische und wissenschaftliche Arbeit durchführen zu können, und aus diesem Grunde widmete er sich der Politik.
Doch die Macht lockte ihn auch um ihrer selbst willen. In Neu-Atlantis sind Macht und Wissen ideal vereint, doch in seinem Leben behinderte ihn sein Hunger nach Macht und Ruhm eher, als daß er ihm bei seiner wissenschaftlichen Arbeit zugute kam. Um noch einmal Hoff ding zu zitieren: Er sah ein großes Werk vor sich, das Machtmittel erforderte. Er verehrte Machiavelli und glaubte wie er, daß der Zweck die Mittel heiligt, und bei der Wahl seiner Mittel war er nicht zimperlich. Bei ihm wie bei Machiavelli gewannen die Mittel die Oberhand über den Zweck, der sie heiligen sollte.
Neu-Atlantis ist eine Illustration der bekannten Behauptung Wissen ist Macht, doch wenn es Bacon auch gelang zu zeigen, daß Wissenschaft den Menschen Macht über die Natur gibt, so vermutete er doch eher als daß er bewies, daß Wissenschaft, indem sie die Bedürfnisse des Menschen befriedigt, ihn automatisch glücklicher macht. Bacons Vertrauen in die Wissenschaft als eine Waffe für Verbesserungen für die Menschheit nimmt die moderne, eher materialistische als idealistische Vorstellung von Fortschritt vorweg; sie geht davon aus, daß das Glück in der Befriedigung ständig wachsender materieller Bedürfnisse besteht. Plato und andere utopische Schriftsteller nach ihm sahen dagegen in der Vervielfachung der menschlichen Bedürfnisse ein Hindernis für Freiheit und Glück.
Neu-Atlantis wurde um 1624 verfaßt und nach Bacons Tod 1627 veröffentlicht. Es wurde zuerst in Englisch geschrieben und später von Bacon selbst ins Lateinische übersetzt. Der englische Text erschien in dem Band, der auch Sylva Sylvarum enthielt. Bacon hatte es selbst so bestimmt, denn die Beschreibung des Hauses Salomon sollte eine Illustration der möglichen praktischen Ergebnisse seiner naturgeschichtlichen Studien darstellen.
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In Neu-Atlantis ist kaum etwas aus früheren Beschreibungen idealer Gemeinwesen entlehnt, obwohl der Schauplatz dieser "Fabel" von den Mythen über Atlantis angeregt wurde, die in Platos Timaeus und seinem fragmentarischen Dialog Kritias enthalten sind. Es gibt keinen endgültigen Beweis, daß Bacon den Sonnenstaat kannte, doch er erwähnt Campanella in einem seiner Briefe, und es gibt viele ähnliche Einzelheiten in den beiden Werken, Wahrscheinlich hat Bacon auch Andereaes Christianopolis gelesen. Neu-Atlantis unterscheidet sich jedoch in all seinen wichtigen Institutionen beträchtlich von früheren Utopien. Privateigentum, Geld und Klassenunterschiede sind nicht abgeschafft, und während die meisten bisher betrachteten Utopien ein Anflug von Strenge durchdringt, wird Bacon nicht müde, prächtige Kleider, Kopfbedeckungen, Schuhe, Mäntel, Schmuck und Kutschen zu beschreiben mit einem ebenso langweiligen wie überflüssigen Reichtum an Einzelheiten.
Bacon gibt nur ein paar Hinweise auf die gesellschaftlichen und politischen Institutionen des idealen Landes Bensalem. Mr. Alfred B. Gough bemerkt, daß der Geist von Bewegung oder Fortschritt, der das geistige Leben der Nation beherrscht, im politischen und moralischen Leben offensichtlich vollkommen fehlt: die Regierungsform ist monarchisch und besteht schon seit mindestens dreitausend Jahren, die grundlegenden Gesetze des Königreiches, die König Solamona vor 1900 Jahren niedergelegt hat, sind noch in Kraft.
Die Grundlage der Gesellschaft ist die patriarchalische Familie, und obwohl wir nichts darüber erfahren, wie die Mitglieder ihren Alltag verbringen, beschreibt ein langer Abschnitt bis in die kleinste Einzelheit, was geschieht, wenn ein Mann dreißig Nachkommen älter als drei Jahre hat und auf Staatskosten ein prächtiges Fest erhält (moderne Regierungen belohnen im allgemeinen eher die Mutter einer großen Familie als den Vater). Die Ehe ist hochgeachtet und unauflöslich, und obwohl Bacon über Morus' Vorschlag spottet, daß Männer und Frauen einander vor der Ehe nackt sehen sollten, ermöglicht er die Prüfung durch einen Stellvertreter.
Und so erläutert ein Bewohner von Bensalem dem Reisenden ihre Einstellung zur Sexualität und ihre Ehebräuche:
Du wirst sehen, daß man unter der Sonne kaum noch ein so keusches Volk findet wie das von Bensalem und keins, das so rein von jedem Schmutz und jeder Befleckung ist: die Jungfrau der Welt' möchte ich es nennen. Ich erinnere mich, in einem von euren europäischen Büchern von einem eurer heiligen Einsiedler gelesen zu haben, wie dieser den Geist der Unzucht habe sehen wollen und ihm darauf ein kleiner häßlicher und schandbarer Äthiope erschienen sei; wenn er den Geist der Keuschheit Bensalems zu sehen gewünscht hätte, wäre er ihm zweifellos in Gestalt eines schönen und strahlenden Cherubs erschienen. Nichts unter den Menschen nämlich ist schöner oder bewunderungswürdiger als die reine Gesinnung dieses Volkes. Darum will ich dir verraten, daß es bei ihnen keinerlei Freudenhäuser, keine Bordelle, keine bezahlten Buhlerinnen noch etwas anderes dieser Art gibt. Ja, nicht ohne eine gewisse Verachtung wundern sie sich, daß ihr in Europa derlei zulaßt. Sie meinen, ihr hättet die Ehe ihrer eigentlichen Bestimmung beraubt.
Denn die Ehe ist als Heilmittel der unerlaubten Begierden eingerichtet worden; der natürliche Trieb aber ist so viel wie der Anreiz zur Ehe.
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Da jedoch den Menschen ein Heilmittel erst dann angenehm ist, wenn ihre Begierden bereits verdorben sind, ist die Ehe fast beseitigt. Daher sieht man bei euch unzählige Männer, die keine Frau nehmen, sondern vielmehr ein zucht- und zügelloses Junggesellenleben dem ehrenvollen Joch der Ehe vorziehen. Ferner tun es viele, die eine Frau nehmen, zu spät, wenn Blüte und Kraft der Jugend bereits erloschen sind. Wenn sie aber eine Ehe eingehen, was ist ihnen dann die Ehe anderes als ein bloßes Geschäft? Man fragt dabei nach Verwandtschaft, Mitgift oder Ansehen, mit einem gewissen Interesse an der Nachkommenschaft, jedoch wie an einer gleichgültigen Sache. Keineswegs aber kommt ihnen jene treue eheliche Gemeinschaft zwischen Mann und Frau, die von Anbeginn das Wesen der Ehe ausmacht, in den Sinn. Und es ist ganz undenkbar, daß Leuten, die einen so großen Teil ihres Lebens und ihrer Kräfte so willkürlich vergeudet haben, die Kinder, unser zweites Leben, überhaupt etwas wert sind. Und wendet sich dann etwa während der ehelichen Bindung alles zum Besseren, wie es geschehen müßte, wenn diese Ausschweifungen nur auf Grund der Notwendigkeit geduldet würden? Keineswegs! Es bleiben vielmehr dieselben Begierden auch nach der Eheschließung, zu Schimpf und Schande der Ehe selbst. Denn weder der Besuch der Freudenhäuser noch der Umgang mit Buhlerinnen wird bei Ehemännern härter bestraft als bei Junggesellen. Die Neigung zu neuen Liebschaften aber und die Freude an dem Verkehr mit Buhlerinnen macht, sobald die Sünde zum Handwerk geworden ist, die Ehe zu einer törichten Einrichtung und gewissermaßen zu einer Last oder einer Art von Auflage. Sie hören, daß diese Dinge von euch verteidigt werden, indem ihr sagt, man dulde sie, um größere Übel wie Ehebruch, Schändung von Jungfrauen, widernatürliche Unzucht und Ahnliches zu vermeiden. Diese Klugheit aber halten sie für verkehrt und nennen sie die Verfassung Lots, der, um seine Gäste vor Schande zu bewahren, seine eigenen Töchter anbot. Weiterhin sagen sie, daß damit wenig oder gar nichts gewonnen werde, da dieselben Fehler und die Sucht nach dem Schlechten weiterbestünden und überhandnähmen, weil es sich mit der unerlaubten Liebe wie mit einem Ofen verhält, indem die Flamme, wenn man sie ganz abschließt, verlöscht, aber wenn man ihr einen Zugang eröffnet, auflodert. Was aber die Männerliebe betrifft, so kennen sie diese nicht einmal vom Hörensagen. Dennoch wird man auf der ganzen Erde keine treueren und unerschütterlicheren Freundschaften finden. Kurz, in einem Wort, wie ich schon vorher sagte: ich habe noch von keinem Lande gelesen, in dem die Keuschheit so in Blüte steht wie hier. Ja, es ist sogar die Rede bei ihnen, daß der Schamlose seine Ehre verliere. Die Ehre aber ist nächst Gott und der Religion der mächtigste Zügel aller Fehler.
Es bestehen auch mehrere und zwar sehr kluge und anständige Gesetze über die Eheschließung. Die Mehrehe dulden sie nicht. Sie haben festgesetzt, daß weder eine Hochzeit eher gefeiert, noch ein Heiratsvertrag früher geschlossen werden darf als einen Monat, nachdem sich die Verlobten zum ersten Male erblickten. Ohne Einvernehmen der Eltern geschlossene Ehen halten sie zwar nicht für ungültig, strafen sie aber bei der Erbschaft; denn den Kindern solcher Ehen entzieht man zwei Drittel des Erbes.
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Ich habe nun zwar in einem Buche irgendeines eurer Schriftsteller über den Staat irgendwelche Vorstellungen gelesen, denen zufolge denjenigen, die die Ehe miteinander eingehen wollen, erlaubt wird, sich gegenseitig nackt zu sehen. Aber dies billigen sie nicht. Sie halten es nämlich für eine Schande, wenn einer nach einer so vertraulichen Kenntnisnahme abgewiesen wird. Dagegen haben sie in Ansehung mehrerer geheimer Fehler an Männern und Frauen, die die Ehe später unglücklich machen könnten, eine weit anständigere Sitte: In der Nähe jener Stadt gibt es zwei Teiche, die sie die Teiche Adams und Evas nennen, wo es einem von den Freunden des Mannes und ebenso einer von den Freundinnen der Frau erlaubt ist, diese allein im Bade zu betrachten.
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Von den vielen weisen Gesetzen, die der König Solamona dem Volk von Bensalem gab, werden nur die aufgezählt, die Reisen in fremde Länder betreffen, was er untersagte und die rücksichtsvolle Behandlung von Reisenden, die zufällig in das Land kamen. Das größte Werk dieses Königs jedoch war die Einrichtung eines Ordens oder einer Gesellschaft, die er Haus Salomon oder Solomon nannte. Manchmal wird sie auch als Kollegium der Werke der Sechs Tage bezeichnet, die großartigste Gründung aller derartigen auf der Erde und eine große Leuchte dieses unseres Landes und der Erforschung und Betrachtung der Werke und Geschöpfe Gottes geweiht... zur Erforschung und Erkenntnis des wahren und inneren Wesens aller Dinge..., damit Gott als ihr Schöpfer umso größeren Ruhm ob ihres Baues empfange, die Menschen aber in ihrer Auswertung um so reichere Früchte ernteten.
Damit die Mitglieder des Kollegiums Informationen für ihre Arbeit sammeln können, traf der König eine weitere Anordnung:
Tatsächlich... verordnete der König, nachdem er seinen Untertanen und außerdem den in diesem Lande unterstellten Gebieten jegliche Schiffahrt untersagt hatte, nichtsdestoweniger folgende Bestimmung: Alle zwölf Jahre sollen aus diesem Lande zwei Schiffe in die verschiedenen Gegenden des Erdkreises geschickt werden. Mit beiden Schiffen sollen jeweils drei Männer der Bruderschaft des Hauses Salomons ausfahren. Diesen ist aufzutragen, uns von den Einrichtungen und den Verhältnissen jener Länder, in denen sie landen, vor allem aber von den Wissenschaften, Künsten, Handwerken und Erfindungen der gesamten Erde Kunde zu bringen und bei ihrer Rückkehr Bücher, Instrumente und Unterlagen jeder Art mitzuführen. Die Schiffe sollen, nachdem sie die Brüder an Land gesetzt haben, zurückkehren; die Brüder aber sollen bis zur nächsten Fahrt in der Fremde bleiben. Die Schiffe sollen mit keiner anderen Fracht beladen werden als mit einer ausreichenden Menge an Lebensmitteln sowie mit einer angemessenen Summe Geldes, damit die Brüder jene Dinge kaufen und nötigenfalls ihnen gefällige Leute belohnen können.
Euch nun aber noch die Art und Weise, in der die Masse der Seeleute ausgebildet wird, damit sie in den Ländern, in denen sie landen, nicht erkannt werden, auf welche Weise sie sich, sobald sie an Land sind, unter dem Namen anderer Völker verbergen oder in welche Gegenden unsere Fahrten stattgefunden haben oder in welche Länder neue Reisen vorgesehen sind, sowie alle anderen derartigen Umstände, die die praktische Seite der Sache betreffen, zu verraten, bin ich nicht befugt. Dies gehört sicher auch nicht zu eurer Frage.
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Ihr seht jedenfalls, daß wir einen Handelsverkehr unterhalten, nicht um des Goldes, des Silbers und der Edelsteine, nicht um Seide und Gewürze und auch nicht um sonstiger einträglicher und wertvoller Dinge, sondern nur um der ersten Schöpfung Gottes: des Lichtes willen, des Lichtes, sage ich, das ja schließlich an jeder Stelle der Erde hervorbricht und Leben zeugt.
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Zum ersten Mal finden wir Wissenschaft von solcher Geheimnistuerei umgeben, und dieser Absatz hat einen seltsam modernen Klang. Der Wissenschaftler von Bensalem betätigt sich als Spion für seinen Staat oder sein Kollegium, und obwohl sie der Welt alle neuen Erfindungen und Ideen entziehen, geben sie ihr nichts dafür zurück. Heute, da Gold und Silber weniger eifersüchtig bewacht werden als Atomgeheimnisse, ist dies eine vertraute Vorstellung, doch zu jener Zeit bedeutete es einen Bruch mit der universalistischen Tradition des Humanismus der Renaissance.
Dieselbe geheimnisumwitterte Atmosphäre umgibt auch das Haus Salomon. Als einer der Väter des Kollegiums in die Stadt kommt, ist das ein großes Ereignis, denn seit zwölf Jahren hat man keinen mehr von ihnen gesehen, und seine Ankunft wird feierlich begangen, ihr Grund ist geheim.
Der Vater des Hauses Salomon ruft zwar einen der Gäste zu sich, beschreibt ihm lang und breit die Reichtümer des Hauses Salomon und schließt mit folgenden Worten: Es segne dich Gott, mein Sohn! Ebenso möge er den Bericht, den ich dir gegeben habe, segnen! Ich gebe dir die Erlaubnis, ihn zum Wohle anderer Völker zu verbreiten, da wir ja hier als ein den Fremden fast unbekanntes Volk im Schoße Gottes leben. Doch aus der Erzählung wird deutlich, daß er kein Geheimnis preisgibt und eher darauf bedacht ist, seinen Gast zu beeindrucken als ihm zu einem Verständnis der Institution zu verhelfen.
In Christianopolis wird dem Besucher, als er durch die Universität geführt wird, nichts verborgen gehalten, und wir schließen daraus, daß er Fragen stellen konnte. Hier haben wir das Gefühl, auf einem Jahrmarkt zu sein; der Schausteller draußen vor dem Zelt erregt unsere Neugierde mit einer grellbunten Beschreibung dessen, was drinnen vor sich geht, doch wir dürfen noch nicht einmal durch den Spalt im Vorhang lugen.
Und was für ein großartiger Schausteller Bacon doch ist! Erfindungen werden ohne jegliche Rücksicht auf Ordnung und Methode beschrieben mit dem einzigen Ziel, den Leser zu blenden. Viele sind geblendet worden und sprachen von seiner außergewöhnlichen prophetischen Gabe, doch die meisten Erfindungen, die er beschreibt, hatten schon die Philosophen und Wissenschaftler der Renaissance und viele andere lange vor seiner Zeit beschäftigt. Zum Beispiel machte der Andalusier Abul Abbas Kasim ibn Firnas um 880 den Versuch, eine Flugmaschine zu bauen, und von Leonardo da Vinci wird berichtet, daß er ein Unterseeboot erfunden habe. Burckhardt erwähnt Leon Battista Alberti, der im fünfzehnten Jahrhundert mit seiner geheimnisvollen 'Camera Obscura' großes Aufsehen erregte. Darin zeigte er einmal die Sterne und den über Felsenhügel aufgehenden Mond, ein anderes Mal weite Landschaften mit Gebirgen und Schluchten, die sich im, verschwommenen Hintergrund verlieren, und Flotten, die im Schatten oder Sonnenschein auf dem Wasser heransegeln.
Was Bibliotheken, botanische Gärten und sogar zoologische Gärten betrifft und den Einsatz von Agenten, die in fremden Ländern Handschriften zusammentragen, so sind all dies Wesenszüge der italienischen Renaissance.
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Interessanter in Neu-Atlantis ist die moderne Beschäftigung mit der praktischen – man könnte fast sagen industriellen – Anwendung wissenschaftlicher Ergebnisse. Bacons Beschreibung der Fabrik für Lebensmittelersatzprodukte und synthetische Stoffe würde das Herz manches zeitgenössischen Industriewissenschaftlers höher schlagen lassen:
Wir haben große unterirdische Höhlen von verschiedener Tiefe. Die tiefsten von ihnen sind bis zu sechshundert Klafter vorangetrieben. Einige davon sind unter hohen Bergen ausgegraben, so daß, wenn man die Tiefe der Grube mitberechnet, manche von ihnen eine Gesamttiefe von drei Meilen haben. Wir meinen aber, die Höhe des Berges bis zum Meeresspiegel und die Tiefe der Grube vom Meeresspiegel ab sei einerlei, da beide in gleicher Weise von der Sonne, der Himmelsstrahlung und der frischen Luft entfernt sind. Diese Gruben nennen wir die Region der Tiefe. Wir brauchen sie zu allen Vorgängen des Gerinnens, Verhärtens, Abkühlens und Konservierens von Körpern. Wir bedienen uns ihrer auch, um natürliche Minerale nachzubilden, sowie zur Erzeugung neuer künstlicher Metalle aus Stoffen und Steinen, die wir dort herrichten und auf viele Jahre vergraben.
Wir haben auch Räucherwerk- und Geruchshäuser, wo wir außerdem Versuche mit Geschmäcken anstellen. Dort vervielfältigen wir die Gerüche, eine Tatsache, die vielleicht sonderbar anmutet, und verstärken sie. Wir ahmen die natürlichen Gerüche nach, indem wir es zuwege bringen, daß aller Art Gerüche aus anderen als den natürlichen Mischungen strömen. Auf gleiche Weise ahmen wir auch die Geschmäcke nach, so daß sie den Geschmackssinn, auch den noch so geschärften, einfach täuschen. In diesem Hause befindet sich außerdem eine Bäckerei, wo wir Naschwerk, Kuchen und anderes dergleichen sowohl in feuchtem als in trockenem Zustande bereiten. Und wir stellen dies nebst anderen beliebten süßen Sachen ohne Zucker und Honig her. Auch bereiten wir dort erstklassige Weine, Milchspeisen und Suppen, Salz- und Essiggerichte, alle sehr schmackhaft und bei euch keineswegs gebräuchlich.
Bacon erwähnt auch solche Entdeckungen wie ein Perpetuum mobile, lebensverlängernde Elixiere, Selbstzeugung, die Alchemisten und Philosophen jahrhundertelang beschäftigten und erst aufgegeben wurden, als man feststellte, daß sie auf einer falschen Wissenschaftskonzeption basierten.
Die Organisation wissenschaftlicher Arbeit gründet sich auf strikter Arbeitsteilung:
Was die Ämter und Dienste unserer Brüder betrifft, so gibt es zwölf, die unter fremden Namen - denn den Namen unseres Landes verraten wir nie - in fremde Länder fahren und Bücher und Versuchsmuster zu uns bringen. Diese nennen wir die 'Lichthändler' (mercatores Lucis).
Drei gibt es, die alle Versuche, die in Büchern zu finden sind, sammeln. Diese nennen wir die .Beutesammler' (depraedatores).
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Drei gibt es die Versuche in allen mechanischen Künsten, ferner in allen freien und auch in allen angewandten Wissenschaften, die sich nicht zu einer besonderen Kunst verbunden haben, anstellen. Diese nennen wir 'Jäger' (venatores).
Drei gibt es, die sich an neue Versuche machen, sofern sie ihnen ausführbar erscheinen. Diese nennen wir 'Gräber-' oder 'Grubenarbeiter' (fossores sive operatores in Mineris).
Drei gibt es, die die Versuchsergebnisse der genannten anderen in Lehrsätze und Tabellen bringen, damit der Verstand sich besser danach richten kann, um daraus Beobachtungsmöglichkeiten und Grundsätze zu entnehmen. Diese nennen wir 'Aufteiler' (divisores).
Drei gibt es, die dazu bestimmt sind, die Versuche ihrer Brüder zu überwachen, Auszüge davon zu machen und betreffs der Ergebnisse zu überlegen, was dem täglichen Gebrauch und der Praxis dient, was den Wissenschaften nicht nur als Tatsache, sondern auch als Ausgangspunkt geläufiger Erklärungen der Ursachen dienlich ist, die ferner den Mitteln nachsinnen, mit denen natürliche Erleuchtungen und die einfache und einleuchtende Unterrichtung, welches die in den einzelnen Körpern verborgenen Teile, welches die Kräfte sind, zustande gebracht werden können. Diese nennen wir die ,Wohltäter' (euergetas).
Dann aber nach vielen Zusammenkünften und Beratungen der Gesamtheit der Brüder, die die bisherigen Arbeiten und Sammlungen eingehend begutachten und gleichsam wiederkäuen, gibt es drei, deren Aufgabe es ist, aufgrund der bereits vorliegenden Versuchsergebnisse neue, tiefer in das Wesen der Natur dringende Versuche von höherer Bedeutung anzuregen und zu leiten. Diese nennen wir die 'Leuchter' (lampades).
Drei gibt es, die die so empfohlenen und aufgetragenen Versuche praktisch ausführen und über ihre Erfolge berichten. Diese nennen wir die 'Pfropfer' (insitores).
Schließlich gibt es drei, die die bisherigen Erfindungen und Entdeckungen in der Natur durch Versuche zu umfassenderen Beobachtungen, zu Axiomen und Aphorismen ausbauen und zusammenfassen; dies tun sie jedoch nicht ohne vorherige Beratung und Unterredung mit der Gesamtheit der Brüder. Diese nennen wir die 'Ausleger der Natur' (interpretes Naturae).
Wir haben auch, wie es das Unternehmen erfordert, einige Novizen und Schüler, damit die Kette der zu Versuchen und Forschungen bestimmten Männer nicht abreißt, außerdem zahlreiche männliche und weibliche Diener und Gehilfen.
Diese Spezialisierung der wissenschaftlichen Arbeit birgt gewisse Gefahren, auf die Mr. A.B. Gough in seiner Einführung zu der 1924 veröffentlichten Ausgabe von New Atlantis hinweist:
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Bei der Behandlung dieses neuen Problems der Arbeitsteilung, zu dem die eigene Erfahrung ihn zwang, machte Bacon den im Lichte späterer Geschichte seltsam anmutenden Fehler, nicht verschiedene Wissenschaften, sondern verschiedene Stadien im allgemeinen Forschungsprozeß an verschiedene Arbeiter zu verteilen. Zwar muß es verschiedene untergeordnete Mitarbeiter geben: Forschungsreisende, Sammler, Feldforscher usw., die das Material sammeln; Studenten und Assistenten, die kleinere Experimente durchführen; Rechner und Statistiker, die mathematische und andere Einzelheiten ausarbeiten; Verleger, die die Ergebnisse für die wissenschaftliche Arbeit in der Welt in Jahrbüchern und Zeitschriften sammeln, zusammenfassen und besprechen; Techniker, die die Ergebnisse in der Praxis anwenden. Solche Arbeiter korrespondieren mit einigen von Bacons Klassen. Doch ihre Funktion kann nicht eng umschrieben und begrenzt werden. So sind die "Leuchter" und "Ausleger der Natur" oft auch "Wohltäter" gewesen. Davy erfand die Sicherheitsleuchte und Kelvin verbesserte den Marinekompaß und den Telegraphen. Je bedeutender die Arbeit, desto lebenswichtiger wird die persönliche Komponente, die Bacon kaum berücksichtigte. Die Organisation des Hauses Salonion wie auch Bacons logisches System, in dem sie sich wiederspiegelt, ist zu mechanisch und unflexibel für das freie Spiel des Genies. In Ben-salem ist kein Raum für einen Kopernikus, einen Newton, einen Darwin oder einen Pasteur, die niemals Ausleger der Natur gewesen wären, wenn sie sich nicht auch ständig mit geringerer Arbeit beschäftigt hätten. Es ist verwunderlich, daß der Staat- eine ständige Nachfolge von nicht mehr und nicht weniger als drei prächtig herausgeputzten Funktionären unterhält, die einer Arbeit nachgehen, die in Wirklichkeit der krönende Erfolg des geduldigen Lebenswerkes der seltensten und erhabensten wissenschaftlichen Genies ist.
Noch erstaunlicher ist, daß diese Funktionäre berechtigt sind, dem Staat ihre Entdeckungen vorzuenthalten; wie der Vater von Salomons Haus erläutert:
Auch ist es bei uns üblich, genau zu erwägen, was von unseren Erfindungen und Versuchsergebnissen zu veröffentlichen angebracht ist, was dagegen nicht. Ja, wir verpflichten uns sogar alle durch einen Eid, das geheimzuhalten, was wir geheimzuhalten beschlossen haben. Wenn wir auch einiges davon mit allgemeiner Zustimmung zuweilen dem König oder dem Senat enthüllen, so halten wir anderes doch völlig innerhalb unserer Gemeinschaft.
Heute, da die meisten Staaten ihre wissenschaftlichen Universitäten und Forschungsinstitute haben und ein Heer von Wissenschaftlern besolden, ist uns klar, daß eine Gesellschaft mit den Vorrechten, wie Bacon sie schaffen wollte, innerhalb des Staates unmöglich bestehen könnte. Die Existenz einer dualen Macht ist nicht möglich; entweder sind die Wissenschaftler Instrumente des Staates, wie es heute der Fall ist, oder sie beherrschen den Staat, wie es in Bensalem gewesen sein muß.
Neu-Atlantis kann uns kaum begeistern, da wir heute alle in einem Haus Salomon leben und wie Bacon geblendet sind von den Reichtümern und Wundern, die es dort gibt.
Uns wird nun allmählich deutlich, daß Wissen und wissenschaftlicher Fortschritt nicht mit menschlichem Glück gleichzusetzen sind, und wir haben den Verdacht, daß die begeisterten Verfechter des Fortschritts in Wirklichkeit nicht am Glück der Menschheit interessiert waren, sondern an der Macht, die dieses Wissen und dieser Fortschritt ihnen gaben.
Und genau das ist der Grund, warum Bacon so viel über Ehren, Privilegien und die Macht der Mitglieder des Hauses Salomon erzählt und so wenig über das Glück, das sie den Leuten brachten. Wir sind heute auch eher in der Lage, die Gefahren einer Wissenschaft ohne Bewußtsein (science without conscience) zu erkennen. Der Gedanke, daß die Nutzung der Atomenergie das Ende unserer Zivilisation bedeuten könnte, hat die Wissenschaft ihres Heiligenscheins beraubt. Der Wissenschaftler wird nicht mehr als Wohltäter der Menschheit gesehen, sondern nimmt unfreiwillig eine finstere Rolle an, und manchmal kommen ihm selbst Schuldgefühle.
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Francois Rabelais — Die Abtei Thelem
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Man kann der Versuchung schwer widerstehen, Rabelais' <Abtei Thelem> in die Utopien der Renaissance mitaufzunehmen, auch in dem vollen Bewußtsein, daß man sie ehrlicherweise nicht als ideales Gemeinwesen bezeichnen kann. Doch wir werden uns einmal an die Regel der Thelemiten <Tu was du willst> halten, jedoch nicht ohne einige Berechtigung, denn Rabelais' imaginäre Gemeinschaft verkörpert weit vollkommener den Geist der Renaissance als die bisher betrachteten Utopien.
Rabelais selbst ist ein typischer Mensch der Renaissance. Sein enzyklopädisches Wissen, seine tiefe Verehrung für die griechische Literatur, sein Haß auf scholastische Lehren, sein heidnisches Christentum, seine Verachtung für das Klosterleben, seine Freiheits- und Schönheitsliebe waren charakteristisch für die italienischen Humanisten. Wie sie hatte er eine Leidenschaft für das Wissen und beschäftigte sich nicht nur mit Literatur und Philosophie, sondern auch mit Medizin und Juristerei.
Wie die meisten Humanisten interessierte er sich auch nicht für "gesellschaftliche Fragen".
Sein Aufstand war individuell, und er schloß sich nicht einem Aufstand gegen das Gesellschaftssystem an.
Er erkannte die Übel der Gesellschaft seiner Zeit, doch er suchte nicht nach ihren Ursachen und empfahl keine Heilmittel.Die Renaissance war keine Reformbewegung, sie war ein Aufstand von Individuen, die nach Freiheit vor allem für sich selbst strebten. Trotz ihres Namens bemühten die Humanisten sich nicht um Humanität, sondern um ihre eigene Individualität und deren Aus-drucksmittel. Sie lehnten jegliches Einschreiten weltlicher oder geistlicher Autoritäten vollkommen ab und waren sich ihrer Rechte zutiefst bewußt, doch sie kämpften nicht für die Freiheit oder die Rechte der Masse der Leute.
Die Abtei Thelem ist mehr als die Beschreibung eines idealen Königshofes, einer idealen Universität oder, wie Mumford es nennt, eines idealen Landhauses. Es ist die Utopie der neuen Aristokratie der Renaissance, einer Aristokratie, die sich eher auf Intelligenz und Wissen als auf Macht und Reichtum gründet. Rabelais beschreibt, wie diese hochgeborenen, gebildeten, begabten und edlen Männer und Frauen leben sollten. Sie brauchen keine Gesetze und Anwälte, Politiker und Prediger, Geld und Wucherer, Religion und Mönche.
Sie brauchen keine Vorschriften, denn sie wissen, wie sie ihre Zeit auf die sinnvollste und angenehmste Art verbringen, sie brauchen keinen äußeren moralischen Zwang, denn sie sind von Natur aus aufrichtig und edelmütig. Sie erfreuen sich vollkommener Freiheit und vollkommener Gleichheit zwischen Männern und Frauen.
Nichts ist zu schön und zu kostbar für Männer und Frauen, die sozusagen die Blüte der Menschheit darstellen. Sie leben in einem Schloß, prächtiger als das Chateau Touraine, sie tragen die kostbarsten Gewänder, sie haben einen Burgherrn mit offensichtlich unbegrenzten Schätzen, und ein Heer von Dienern und Handwerkern steht ihnen zur Verfügung und erfüllt all ihre Wünsche:
Und um sotane Geschmeid und Anzug ist desto besserer Ordnung zu halten, stund in der Näh des Thelemer Waldes ein großes mächtiges Gebäud einer halben Meilen lang, fein hell und wohlbelegen: darin wohnten die Goldschmiede, Juweliere. Sticker, Schneider, Sammetweber, Goldzieher, Tapeten- und Teppichwirker, und arbeiteten da ein jeder in seinem Handwerk, lediglich für diese Ordensbrüder und Schwestern.
Die Thelemiten erhalten eine Erziehung, als wären sie zukünftige Fürsten oder Höflinge, und tatsächlich ähnelt sie sehr Castigliones Beschreibung eines idealen Höflings der Renaissance:
Der Cortigione muß mit allen edlen Spielen vertraut sein, auch mit dem Springen, Wettlaufen, Schwimmen, Ringen; hauptsächlich muß er ein guter Tänzer sein und (wie sich von selbst versteht) ein nobler Reiter. Dazu aber muß er mehrere Sprachen, mindestens Italienisch und Latein, besitzen, und sich auf die schöne Literatur verstehn, auch über die bildenden Künste ein Urteil haben...
Eine Erziehung, wie sie die Ordensbrüder und Schwestern der Abtei Thelem erhalten, mag zu einem hohen Grad persönlicher Vollkommenheit führen, doch sie ist merkwürdig losgelöst von jeglichem nützlichen Zweck. Die Thelemiten sollen offensichtlich keinen sinnvollen Beruf oder ein Gewerbe ausüben, sondern haben ihr Leben lang Diener zu ihrer Verfügung. Es ist auch unwahrscheinlich, daß sie viel Vergnügen an der Arbeit finden würden, die für sie nur eine körperliche oder geistige Übung, aber nie darauf gerichtet ist, etwas Sinnvolles zu schaffen.
Trotz aller Pracht kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß das Leben in Rabelais' Abtei bald eintönig würde und daß die Thelemiten die Langeweile überkommt, wie es bei vielen Fürsten und Höflingen auch an den glänzendsten Höfen der Fall war. Um Rabelais gerecht zu werden, muß man sich jedoch erinnern, daß es in seiner idealen Gemeinschaft keinen König oder Fürsten gab, dem geschmeichelt und der unterhalten werden mußte.
Diese Bemerkungen wären überflüssig gewesen, wenn nicht viele Leute, die von der Begeisterung über Rabelais'berühmtes Tu was du willst hingerissen waren, vergessen hätten, daß dies nur für bestimmte Leute galt:
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Hie aber kommt und tretet frei herein
Ihr Ritter fein, ihr edeln Herrn zumal!
Hie ist der Saal, wo man die Renten sein
Wohl mag verleihn, auf daß wir Groß und Klein
Erhalten sein bei Tausend an der Zahl.
Ihr mein Spezial und meines Herzens Wahl,
Froh, cordial, freisam in Tat und Rat,
mit einem Wort, erlesrie Kamerad.Hie kommt ihr hohen Frauen auch genaht,
Auf frischer Tat! Glück sei mit euerm Chor,
Ihr Schönheitsflor, der Himmelsäuglein hat;
So kerzengrad, sittsam in Mien und Tat:
Auf diesem Pfad sprießt Ehre nur hervor.
Für euch erkor der Meister dieses Tor
Und Haus zuvor...
Trotz der exklusiven Eintrittsbedingungen und der durch und durch "unmoralischen" Prunksucht bleibt die Abtei Thelem eine vergnügliche Phantasie, und es ist schade, daß wir hier nur die zwei folgenden Kapitel wiedergeben können.
WIE GARGANTUA FÜR DEN MÖNCH DIE ABTEI THELEM ERBAUEN LIESS
Blieb itzt allein der Mönch noch zu bedenken übrig, den Gargantua zum Abt von Seuille machen wollt: aber er schlug es aus. Dann wollt er ihm die Abtei zu Bourgeuil schenken, oder auch die zu Saint Florent, welche ihm selbst die liebste war, oder auch beide, wenn er sie gern hätt: aber der Mönch gestand ihm frei, daß er von Mönchen weder Vogt noch Vormund sein möcht. "Denn", sprach er, "wie sollt ich andre regieren, der ich mich selbst nit regieren kann? Wenn es euch aber bedeucht, als hätt ich euch angenehme Dienst geleistet oder möcht sie in Zukunft noch leisten, so vergönnet mir, eine Abtei nach meinem eignen Sinn zu stiften." Die Bitt gefiel dem Gargantua, und bot ihm sein ganzes Land Thelem am Loir Fluß, zween Meilen vom großen Forst von Port Huault belegen, dazu an. Da bat er den Gargantua, daß sein Orden das Widerspiel aller ändern sein dürft. "So muß man", sprach Gargantua, »erstlich schon keine Mauern darum ziehn; denn alle ändern Abteien sind erschrecklich vermauert." — »Freilich", spricht der Mönch, "und von Rechtswegen. Wo Mauern sind, da ist hinten und vorn nur Murren und Knurren, Trauern, Versauern, Neid, einer macht wider den ändern Meut." — Ferner, weil es in etlichen Köstem dieser Welt Brauch ist, daß wenn ein Weibsbild (ich mein ein frommes und sittsames) hineinkommt, man die Spur ihnen nachfegt, da sie getreten sind, so ward geordnet, daß wenn von ungefähr etwan ein geistlicher Bruder oder Schwester dorthin kam, man hinwieder ihnen säuberlichst alle Schritt und Tritt nachfegen sollte. Und weil in den Stiftern dieser Welt alles nach Stunden eingeteilt, verschränkt und clausuliert ist, so ward beschlossen, daß da weder Uhr noch Seiger sein sollt, sondern ein jedes Geschäft nach Schick und Gelegenheit verrichtet würde.
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Denn, sprach Gargantua, der einzige Zeitverlust,den er wüßt, war das Stunden-Zahlen. Was hätt man davon? Und war die größte Narrheit der Welt, sich nach dem Schall einer Glocken zu richten, statt nach des Geistes Stimm und Sinn.
Item, weil man derzeit niemand ins Kloster stieß als blinde, lahme, hokrige, häßliche, mißgeschaffne, unreimische, törigte, verhexte, vertrackte Weiber, desgleichen nur die verkrüppelten, blöden, lendenlahmen, hauslästigen Männer — ("Ad vocem!" fiel der Mönch hie ein: "Ein Weib, das weder schön noch fromm ist, wozu nutzt es?" — "Ins Kloster zu stecken", antwort Gargantua. — "Recht", sprach der Mönch, "und Hemden zu machen") —: so ward verfügt, daß man da niemand als schöne, wohlgestalte Frauen, und niemand als schöne, wohlgestalte, wohlgeartete Männer aufnahm. Item, weil Männer in Frauenklöster nicht anders als heimlich kommen könnten, oder im Sturm, ward decretiert, daß da kein Weib sein sollt, es war denn ein Mann dabei, noch auch ein Mann, wo nicht ein Weib war. Item, weil so die Männer als Weiber, einmal ins Kloster aufgenommen, nach ihrem Probjahr lebenslang darin zu verharren gezwungen werden, ward festgesetzt, daß jeder Mann und jedes Weib da aufgenommen, wanns ihnen gut däucht', frei und gänzlich wieder heraus marschieren dürften. Item, weil die Ordensleut gemeinlich drei Gelübd tun, nämlich Keuschheit, Armut und Gehorsam: so ward versehen, daß man allda in Ehren möcht beweibt sein, daß ein jeder reich war, und in Freiheit leben sollte. Anlangend das rechtsmäßige Alter, nahm man die Frauen mit zehn bis fünfzehn, die Männer mit zwölf bis achtzehn Jahren.
Wie der Thelemiten Lebensart reguliert war
Ihr ganzes Leben ward nicht geführt nach Satzung, Regel noch Statuten, sondern nach eigner freier Wahl. Stunden vom Bett auf wann ihnen gut schien; tranken, aßen, arbeiteten, schliefen wann sie dazu das Verlangen ankam. Keiner weckt' sie, keiner zwang sie weder zum Trinken noch zum Essen, noch sonst etwas. Denn also war es vom Gargantua eingerichtet. In ihrer Regel war nicht mehr als dieser einige Fürbehalt:
TU WAS DU WILLST.
Weil wohl geborene, freie, wohl erzogene Leut in guter Gemeinschaft aufgewacht sen, schon von Natur einen Sporn und Anreiz, der sie beständig zum Rechttun treibt und vom Laster abhält, in sich haben, welchen sie Ehre nennen. Diese, wenn sie durch niedrigen Zwang und Gewalt unterdruckt und knechtisch behandelt werden, richten nun den edeln Trieb, aus welchem sie frei nach Tugend strebten, auf Zerbrechung und Abwerfung dieses Sklavenjoches. Denn wir trachten allzeit nach dem Verbotenen, und uns gelüstet nach dem, was versagt ist. — Aus dieser Freiheit erwuchs in ihnen ein löblicher Wettstreit, alles zu tun, wovon sie sahen, daß es dem einen angenehm war. Wenn einer oder eine sprach: "Lasset uns trinken", so tranken sie alle. Sprach er: "Lasset uns spielen", so spielten sie alle. Sprach er: "Kommt ins Feld spazieren", so gingen sie alle gleich hinaus.
Wollten sie auf die Vogelbeiz oder Jagd, so setzten sich die Frauen auf schöne Zelter, das Prunk-Roß zur Hand, und jede trug, zierlich behandschuht, auf ihrer Faust einen Sperber, Habicht, oder Schmerling.
Die Männer trugen die andern Vögel. So adlich waren sie all erzogen, daß unter ihnen auch nicht einer noch eine war, die nicht hätt lesen, schreiben, singen, musizieren, fünf bis sechs Sprachen reden und sowohl reimweis als in ungebundener Red darin dictieren können. Niemals hat man so wackre galante Ritter ersehen, so fertig zu Fuß und Roß, so rüstig und regsam, so wohl in allen Waffen bewandert, als es da gab.
Niemals hat man so stattliche Frauen, so artige, so wohl gelaunte, zur Hand, zur Nadel, ja zu jeder ehrlichen freien weiblichen Kunst geschicktere Frauen gesehen als da.
Daher dann, wann die Zeit erschien, daß einer auf seiner Freund Begehren oder sonst einen andern Grund, aus diesem Stift austreten wollte, er eine der Frauen mit sich nahm, die ihn etwan zu ihrem Getreuen erkoren hätt, und wurden dann zusammen vermählt, und hatten sie in Thelem treu und einig gelebt, so fuhren sie im Ehestand noch besser damit fort und liebten einander am letzten Tag ihres Lebens wie an dem ersten Hochzeittag.
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