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Nachspiel

 

 

349-382

1

Die Zimmerstraße stinkt nach Pferdemist, das Treppenhaus nach Bohnerwachs, und im Korridor riecht es nach Mottenkugeln. Ich sammele die Post vom Boden auf, lege sie unter den Spiegel, und während Edith den Koffer auspackt, lüfte ich die Zimmer. Meine Kammer kommt mir fremd und unheimlich vor, weil sie verdunkelt ist. Ich lasse das Schnapprollo hochsausen und sehe, daß der Schatten der Heringsräucherei schon bis zum Fenster reicht. 

Mein Teddy liegt auf dem Kopfkissen. Er trägt noch dieselbe Strickjacke wie vor einer Woche und blickt mich vorwurfsvoll an, als wolle er sich über meine lange Abwesenheit beschweren. Ich nehme ihn in die Arme, schaukele ihn eine Weile und frage, ob er meinen Spazierstock sehen möchte. Er bleibt stumm, doch seine Augen leuchten, und ich zeige ihm das Wappen der Schneekoppe. Dann höre ich die Mutter rufen und setze mich zu ihr in die Küche. Sie liest Briefe und Ansichtskarten beim Abendessen. Gefällt Edith eine Zeile besonders gut, lacht sie schallend, und wenn sie auf etwas Unangenehmes stößt, runzelt sie die Stirn. Doch meine Fragen wehrt die Mutter rundweg ab, gleichgültig, ob sie sich ärgert oder freut. Das ist nichts für dich, sagt sie streng, verschmiert die Namen der Absender mit Spucke und überläßt mir die Kuverts wegen der hübschen Briefmarken. Wir stellen uns noch eine Weile ans Fenster und blicken in den dämmerigen Hof. 

Mir ist, als sehe ich mich schon mit meinem Fahrrad über den Asphalt brausen, und eine bange Hoffnung erfüllt mein Herz. Dann küßt mich Edith, wünscht mir gute Nacht und schickt mich in die Kammer. Ich mustere die Poststempel. Der Brief aus Berlin stammt sicher von Tante Irma, der aus Leipzig von Tante Lotti und der aus Potsdam von Onkel Ludwig; das merke ich sofort an dem seidengefutterten Umschlag. Es ist nichts Besonderes dabei. Warum werden die Briefbögen eigentlich versteckt? Das bleibt mir ein Rätsel. Ich kann die schwungvolle Handschrift der Erwachsenen sowieso nicht lesen, sondern bin froh, wenn ich einige Buchstaben aus meiner Schulfibel wiedererkenne.

Als die Mutter ins Bad gegangen ist, ziehe ich das Schnapprollo herunter und krieche ins Bett, halbtot vor Müdigkeit. Ich klammere mich an den Teddy, finde aber keinen Schlaf. Habe ich im Zug zu lange am offenen Fenster gestanden? Oder ist der Kanonenofen geheizt? Unsinn. Kein Mensch macht Feuer bei solchem Wetter. Mir wird siedendheiß unter der Decke. Ich wälze mich auf dem Laken und suche vergebens eine kühle Stelle. Mir bricht der Schweiß aus. Ich schnappe nach Luft. Ein endloser Zug mit tausend Waggons stampft heran. Ich höre die Schwellen dröhnen. Ich will schreien vor Angst, doch mir sitzt ein Frosch in der Kehle. Die Räder rollen über mich hinweg. Plötzlich wird es ganz still. Sag irgendwas, sag, daß ich die Schönste bin! flüstert eine Stimme von weit her. Laß mich in Frieden! brülle ich, stoße den Teddy aus dem Bett, und der Zug schleift mich durch die Nacht.

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2

Am anderen Morgen höre ich die Mutter durch den Korridor gehen, und plötzlich fällt mir ein, daß ich gestern abend vergessen habe, meine Kammer abzuschließen. Soll ich die Tür öffnen? Ach was, lieber schwindele ich ein bißchen. Edith klopft an und staunt, weil der Schlüssel nicht herumgedreht ist. Sperrst du dich nicht mehr ein, wie früher? fragt sie lächelnd. Ich mache es mal so und mal so, du wirst es schon merken, antworte ich und höre mein Herz gegen die Rippen schlagen. 

Die Mutter läßt das Schnapprollo hochsausen und klappt die Fensterflügel auf. Ihr Kleid kommt mir bekannt vor, doch ich erinnere mich nicht daran, wann sie es zuletzt angezogen hat. Seitdem müssen Jahre vergangen sein. Es war ein braunes Kleid gewesen, nicht das kaffeebraune mit dem tiefen Ausschnitt, sondern ein hellbraunes mit weißen Punkten, das mir jetzt blitzartig vor die Augen tritt und mich heillos verwirrt. Edith trug ein solches Kleid in Kutarskys Büro. Herr Sengebusch und ich waren auch dabei. Was danach passierte, weiß ich nicht mehr. Aber dasselbe Kleid trägt die Mutter heute. Ich gehe aufs Klo und krieche wieder ins Bett. Nach einer Weile bringt mir Edith das Frühstück. Du bist so blaß, du mußt dich ausruhen, sagt sie und geht in die Küche, ohne die Tür zu schließen. Ich esse und trinke, aber es schmeckt mir nicht. Ich würge alles nur herunter, damit der Teller leer wird. Als Edith zwischendurch mal hereinschaut, sieht sie meinen Teddy neben dem Nachttopf liegen. Was soll denn das? fragt sie verwundert. Er stört mich immer beim Schlafen, antworte ich, doch in Wahrheit wünsche ich mir, daß dieses Plüschvieh sobald wie möglich verschwindet. Ich bin kein Kind mehr, verflixt und zugenäht.

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Setz ihn wenigstens auf den Stuhl, bittet die Mutter. Ich tue es, und Edith ist zufrieden. Aber für mich steht fest: Der Teddy muß weg. Ein paarmal höre ich die Uhr im Wohnzimmer schlagen. Möchtest du nicht langsam aufstehen? ruft die Mutter aus der Küche. Ich sage weder ja noch nein. Eine Riesenlast drückt mich gegen das Laken. Ich schwitze. Das hellbraune Kleid mit den weißen Punkten flimmert vor meinen Augen. Ich will nicht im Bett bleiben. Ich will auf den Hof laufen. Ich will mein Fahrrad aus dem Keller holen. Aber irgend jemand raunt mir ins Ohr: 

Wozu die Anstrengung? Warum hast du's so eilig? Warte doch, morgen ist auch noch ein Tag, sogar dein Geburtstag! Was willst du dich mit anderen Kindern abgeben? Weißt du überhaupt, ob sie dich noch kennen? Wer sagt dir denn, daß sie freundlich zu dir sind? Willst du auf den erstbesten Jungen zugehen und ihn fragen, ob er sich daran erinnert, wie du mit ihm Mikado gespielt und dir dabei in die Hosen gemacht hast? Weißt du noch, wie dich Frau Reichwein in die Badewanne gestellt und mit kochendheißem Wasser abgespritzt hat? Gellt dir noch dein Geschrei von damals in den Ohren? Wie nannte sie dich denn, die schöne Frau Reichwein? Mein lieber Junge? Nein. Du kleiner Hosenscheißer, hat sie zu dir gesagt. Warum willst du unbedingt auf den Hof, wo die Ratten zwischen der Aschengrube und der Heringsräucherei hin und her flitzen? Was hast du dort zu suchen? Wenn dich ein fremder Junge auslacht und dir eine Ohrfeige gibt, was machst du dann? Haust du zurück, bis ihm die Nase blutet? Was hast du davon? Was bringt es dir ein, wenn du frei herumstreunen darfst? Ist es nicht tausendmal besser, im Bett zu bleiben, ohne dich oder ein anderes Kind zu quälen?

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3

Jetzt wird Sturm geklingelt. Ich erschrecke nicht. Schon im Zug hat mir Edith gesagt, daß Onkel Arnold und Tante Adele heute die Großmutter zurückbringen. Vor den Verwandten habe ich keine Angst, und mit dummen Fragen werden sie mich hoffentlich verschonen. Leider weiß ich von Onkel Arnold nur noch, daß er kahlgeschoren ist und daß seine Frau wunderbar stricken kann. Mach, daß du aus der Falle kommst! ruft Edith und rennt ins Treppenhaus. Ich ziehe mich rasch an, folge ihr bis zum Podest und neige mich über das Geländer. Immer langsam voran, mahnt eine tiefe Männerstimme. Das muß der Onkel sein, denke ich, und bald darauf sehe ich seine spiegelnde Glatze neben Louises grauem Dutt. Mir wird schlecht vom Gesumm und Gewisper der beiden Schwägerinnen. Ihre zischelnden Zungen widern mich an. Ich laufe in den Korridor und überlege, wo ich mich verstecken kann.

Nicht vor Tante Adele graust mir, sondern vor der Großmutter. Beim Besuch des Kognakdoktors im letzten oder vorletzten Winter hat sie gedroht, mich mit dem Bügeleisen zu erschlagen. Wie soll ich mich dagegen wehren, wenn es ihr plötzlich einfällt, das Versäumte nachzuholen? Soll ich aufs Teerdach klettern oder unters Bett kriechen? Nichts dergleichen. Mir wird so wohl, als mich Louise in die Arme nimmt. Endlich bist du wieder bei mir, flüstert sie und küßt mich. Onkel Arnold stellt einen Blechkessel auf die Flurkommode und versucht Edith zu erklären, wie man das vorgekochte Essen darin anwärmen soll. Aber nun gibt Tante Adele ihren Senf dazu, und für eine Weile stehe ich inmitten einer Menschenmenge, über der als einziger Halt das freundliche Mondgesicht des Onkels schwebt. Dann gehen wir ins Wohnzimmer.

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Die Mutter weist jedem einen Platz zu und schwenkt dabei die Hüften in ihrem braunen Kleid mit den weißen Punkten. Louise drückt den Rücken an die Sofalehne und behält uns im Auge, als dürfe sie sich kein Wort entgehen lassen. Ich sitze auf dem Hocker, zähle die Ofenkacheln und wünsche mich fort von hier. Tante Adele langt das Strickzeug aus dem Beutel und schwatzt mit der Mutter über den neuen Kochtopf. Louise wickelt die Fransen der Tischdecke um den Daumen und gähnt. Dann tuscheln die Frauen miteinander.

Rauchst du schon? erkundigt sich Onkel Arnold todernst und streckt mir eine offene Packung Zigaretten entgegen. Ich erschrecke und werde rot. Nein? fragt er schmunzelnd. Ich bin drauf und dran, den Verstand zu verlieren. Ich weiß nicht, wie mir geschieht. Meine Brust wird ganz eng und ebenso schnell wieder ganz weit. Am liebsten würde ich weinen, aber ich schäme mich vor den Verwandten. Onkel Arnold zündet eine Zigarette an, saugt den Rauch über die Oberlippe in die Nasenlöcher, und es dauert ziemlich lange, bis er ihn wieder ausstößt. Ich nehme allen Mut zusammen und frage den Onkel, ob er auch Feuer schlucken kann. Selbstverständlich, sagt er lächelnd, dreht das glühende Ende herum und bläst den Qualm durch das Mundstück. Ich klatsche vor Freude in die Hände, doch Edith verzieht das Gesicht. Wie war's denn eigentlich im Riesengebirge? fragt Tante Adele und beäugt mich durch ihre blitzende Brille. Schön, sage ich. Aber das ist der Tante zu wenig. Erzähl mal ein bißchen, ermuntert sie mich wohlwollend und schiebt die Stricknadeln in den angefangenen Pulloverärmel, als wolle sie mir bis Mitternacht zuhören. Dort gab es einen Billardtisch, sage ich vorsichtig und will, weil es so harmlos klingt, auch den Zitherspieler erwähnen. Aber Ediths Gnade-dir-Gott-Blick läßt mich verstummen.

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Das muß ja entzückend gewesen sein! ruft Tante Adele treuherzig und sieht mich gespannt an, als erwarte sie die Fortsetzung. Laß den Jungen mal in Ruhe, kommandiert Onkel Arnold und nimmt mich auf den Schoß. Ich drücke die Stirn gegen das rauhe Jackett und fühle im Nacken eine große sanfte Hand. Du brauchst nicht zu weinen, jetzt wird alles gut, höre ich eine abgrundtiefe Stimme sagen und bin selig. Nun redet Edith auf Teufel komm raus, ohne Scham, ohne mit der Wimper zu zucken, das Dreckstück. Sie spricht von unserem idyllischen Zimmer in der Freudenschloßbaude, von den Besuchen des Vaters, der uns mit Geschenken überhäuft hat, von den herrlichen Wanderungen in der unberührten Natur, von den aufmerksamen Kellnern, von den reizenden Kurkonzerten, von dem himmlischen Essen und den sagenhaften Preisen. 

Ich könnte kotzen vor Wut. Das falsche Luder lügt wie gedruckt. Aber mir macht es nichts aus, denn zum erstenmal im Leben spüre ich eine Männerhand im Nacken, die mich meinetwegen, nicht Edith zuliebe, streichelt. So, dann wollen wir noch einen schmettern! ruft Onkel Arnold, und ich befürchte schon, daß er zum Frühschoppen gehen will, wie es bei Robert der Brauch gewesen war. Aber der Onkel ist ein Mann von anderem Schlag. Er setzt sich ans Klavier, winkt mich heran und spielt eine leise, zärtliche Melodie, ohne die Zigarette aus dem Mund zu nehmen. Ich bewundere ihn und blicke gebannt auf die dahingleitenden Finger, die jede Taste, ob weiß oder schwarz, nur zu überfliegen, nicht zu berühren scheinen. Als die Asche von der Zigarette zu fallen droht, halte ich einen Blechteller darunter, und Onkel Arnold strahlt übers ganze Gesicht, während er weiterspielt. 

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Sei du mein Vater, wenigstens bis die Schule anfängt, bitte ich ihn stumm. Du würdest mich nicht so behandeln wie der Entfernungsschätzer im Riesengebirge. Du würdest mit mir Mühle spielen und mich auch mal gewinnen lassen. Du würdest mein Fahrrad aus dem Keller holen. Du würdest mir beibringen, wie ich mit den Kindern im Hof reden soll. Du würdest nicht dulden, was mir deine Schwester antut. Du würdest diesem Rabenaas die Leviten lesen. Du würdest ihr das braune Kleid mit den weißen Punkten in den Rachen stopfen, bis sie daran erstickt. Du würdest ihr zeigen, wer der Herr im Hause ist. Du würdest alle ins Bockshorn jagen, Oswin Kutarsky, den Kognakdoktor und den Schrankenwärter! brülle ich lautlos beim letzten Ton. 

Das war ein Lied ohne Worte von Mendelssohn-Bartholdy, sagt Onkel Arnold und erkundigt sich, ob es mir gefallen hat. Ich umarme ihn und spüre die Bartstoppeln an meiner Wange. So schön wie du möchte ich auch spielen können! rufe ich, und die Großmutter zwinkert mir zu, als wisse sie längst, >j wonach ich mich sehne. Doch ich bringe es nicht über die Lippen. Ein Engel fliegt durchs Zimmer. Ich spüre seinen "• Flügelschlag. Ein Zittern überläuft mich. Onkel Arnold und Tante Adele verbeißen sich ein Lächeln. Edith spitzt den Mund und sieht mir argwöhnisch in die Augen, Louise stemmt die Ellbogen auf den Tisch und faltet die Hände, wie zum Gebet. Frag deinen Onkel doch mal, ob du bei ihm Klavierspielen lernen darfst! stachelt sie mich an. Mir stockt der Atem. Ich glühe am ganzen Leib und sehe zu Onkel Arnold hin. Das ist kein Zuckerlecken, da muß man fleißig üben, brummt er mit seinem abgrundtie- ^ fen Baß. Ich glaube, für den Jungen ist es noch zu früh, sagt Edith nach einer Weile. Nein! widerspreche ich und sehe, daß der Onkel den Kopf schüttelt. Als du so alt wie dein Sohn warst, habe ich dich auch ans Klavier gesetzt, stimmt's, Edith? fragt er grob. 

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Die Mutter nickt, und während Onkel Arnold in seinem Notizbuch blättert, zischt sie mir zu: Aber wehe, wenn du deswegen deine Fibel vernachlässigst! Ich bin im siebten Himmel. Wie wäre es donnerstags zwischen zwei und drei? fragt Tante Adele. Onkel Arnold wirft einen Blick in die Kladde und ist einverstanden. Mein Gott, ich konnte euch gar nichts anbieten, jammert Edith, als wir in den Korridor treten. Euer Essen steht auf der Kommode, laßt es euch gut schmecken, wünscht Onkel Arnold. Bis Donnerstag! rufe ich ihm und Tante Adele durchs Treppenhaus nach, sorglos und glücklich wie noch nie.

 

4  

Schon am Morgen ist es heiß in der Kammer. Durch die Ritzen neben dem Schnapprollo fallen schmale Sonnenstreifen auf die Glasplatte des Schreibtisches, und ich sehe ihren Widerschein auf der Tapete. Außer mir ist noch niemand wach. Nur die Spatzen zwitschern, und über die Laderampe der Heringsräucherei rumpelt ein Faß auf die Straße. Ich dehne und strecke mich wohlig. Seit heute bin ich sieben Jahre alt, und keiner darf mich mehr <du Rotznase> oder <du Dreikäsehoch> nennen. Was wird mir die Mutter zum Geburtstag schenken? Einen Ball oder einen Federbusch, wie ihn die Indianer tragen? Ein Schießgewehr oder einen Flitzbogen? Oder erlaubt mir Edith, mein Fahrrad aus dem Keller zu holen, damit ich endlich wieder durch den Triftweg sausen kann oder vielleicht sogar zum >Tivoli<? Ich schiebe die Finger zusammen und gratuliere mir selber zum Geburtstag. Ein Flugzeug fliegt so niedrig übers Haus, daß die Fensterscheiben klirren. Dann ist es wieder still. 

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Die Sonnenstreifen wandern bis zur Schreibtischkante und landen auf dem Bettvorleger. Schritte huschen über die Dielen, machen halt vor der Kammer, und mir ist, als flüstere jemand. Nun aber hopp, hopp, ich muß ins Büro, sonst wird Oswin fuchsteufelswild, drängelt die Mutter und klappert mit den Absätzen. Ich sehe, wie die Klinke heruntergedrückt wird, springe aus dem Bett, und die Tür öffnet sich. Hoch soll er leben, hoch soll er leben, dreimal hoch! singen die beiden Frauen, schnappen nach meinen Händen, beglückwünschen und küssen mich. Doch Ediths schiefer Mund kündigt eine Enttäuschung an. Darauf kann ich schwören. Louise hat es auch begriffen. Leider mußt du auf deine Geschenke bis zum Mittagessen warten, weil ich furchtbar in Eile bin, aber nachher wirst du dich maßlos freuen, verspricht die Mutter, gibt mir noch einen Kuß, und die Korridortür knallt hinter ihr ins Schloß.

Ich warte, bis Edith verschwunden ist, und setze mich an den Schreibtisch. Mir spritzen die Tränen aus den Augen. Dieses Luder, dieses verdammte Luder, denke ich, wische die Glasplatte mit den Hemdsärmeln trocken und sehe mich an, wie im Spiegel. Das bin ich, sage ich zu mir, nehme die Schiefertafel aus dem Schubfach und schreibe immer wieder meinen Namen darauf, als müsse ich mich an ihm festhalten. Nach einer Weile bringt die Großmutter das Frühstück und fragt, ob sie mich waschen und anziehen soll. Nein, das mache ich ab heute selber! fauche ich ihr ins Gesicht, und sie trollt sich kopfschüttelnd. Während ich esse und trinke, zähle ich ununterbrochen jeden Bissen und jeden Schluck. Dann schleiche ich ins Bad, wasche mich, streife mir ein Hemd über und schlüpfe in die alte Lederhose. Louise rumort mit Tassen und Tellern, als wolle sie vor Wut das Geschirr zertrümmern. Ich öffne die Wohnzimmertür, trete ans Klavier und stemme den schweren Deckel hoch.

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Wie lange muß ich noch warten, bis Onkel Arnold kommt? Warum bin ich kein Zauberer, der die Zeit verkürzen kann? Ich drücke behutsam eine Taste, doch das Klavier bleibt stumm. Ich schlage stärker auf. Jetzt schwingt mir der Ton in den Ohren, und es hört sich so an, als spiele Onkel Arnold das Lied ohne Worte. Ich schließe den Deckel und gehe in die Kammer zurück, um noch ein paar Zeilen aus der Schulfibel abzuschreiben. Aber die Sätze sind mir zu albern. Der Hund sagt wauwau, der Vogel sagt piep, und die Katze sagt miau. Blödsinn. Plötzlich höre ich zwei Stimmen vom Hof heraufschallen. Die eine muß die Stimme eines Mädchens sein, die andere die eines Jungen. Ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist blau! ruft das Mädchen. Der Fleck dahinten? fragt der Junge, und an dem krähenden Gelächter erkenne ich Hella Reichwein.

Jetzt hält es mich nicht länger in der Kammer. Ich flitze in die Küche und öffne das Fenster. Olaf steht neben seiner Schwester vor der Aschengrube und blickt zu mir herauf. Kommst du bald runter? fragt er, als seien wir verabredet. Gleich! rufe ich und renne Louise beinah über den Haufen. Benimm dich anständig! trompetet sie hinter mir her. Ich bin längst weg. Vor der Hoftür packt mich ein Grausen. Mir ist, als müsse ich in eiskaltes Wasser springen und ertrinken. Soll ich umkehren? Soll ich in meine Kammer zurückgehen und die idiotischen Sätze aus der Schulfibel abschreiben? Nein. Wo bleibst du denn? höre ich die Reichweingeschwister rufen und trete auf den Hof. Olaf und Hella begrüßen mich mit Handschlag, wie einen Erwachsenen. Also gut, sage ich, macht weiter mit eurem >Ich sehe was, was du nicht siehst<. Aber dazu haben beide keine Lust mehr. Sie sind neugierig. Sie wollen wissen, wo ich gewesen bin, und ich erzähle es ihnen. 

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Sie lachen sich halbkrank darüber, wie ich mit meinem Spazierstock die Wiese vor der Freudenschloß­baude abgemessen habe. Dann erkundigen sie sich, wieviel Taschengeld ich pro Woche kriege, und nun muß ich schwindeln. Fünfzig Pfennig, behaupte ich, und Olaf fallen vor Staunen die Augen aus dem Kopf. Nanu, da bist du ja wieder! höre ich jemand rufen, drehe mich um und sehe Frau Reichwein mit einem leeren Wäschekorb herankommen. Meine Beine brennen, aber ich halte es aus, obwohl ich fast verglühe. Schön braun bist du geworden, lobt sie und streicht mir durchs Haar, als sei nichts gewesen, weder beim Mikado noch in der Badewanne. Ich lerne jetzt Klavier spielen, sage ich zu Frau Reichwein, und sie strahlt übers ganze Gesicht. Für dich ist Post da! ruft die Großmutter aus dem Küchenfenster und winkt mir zu. So ein Käse, brummt Olaf. Kommst du bald wieder? fragt Hella. Klar, antworte ich und höre die Sirene der Zuckerraffinerie heulen, während ich die Treppe hinaufspringe. Es ist nur eine Ansichtskarte aus dem Riesengebirge. Die spinnebeinigen Buchstaben sind mir ein Rätsel. Louise setzt die Brille auf und braucht eine Weile, um die krakelige Schrift zu entziffern. Dann liest sie: Mein lieber Junge, ich wünsche Dir alles erdenklich Gute zur Vollendung Deines siebten Lebensjahres. Sei immerdar strebsam und tüchtig, damit Du in der Schule vorankommst! Demnächst sende ich Dir einige Briefmarken mit Sonderstempel. Bleibe gesund! Von Herzen grüßt Dich Dein Vater. Bei zwei Worten hake ich ein. Was heißt >erdenklich<? will ich wissen. Hm! schnaubt Louise durch die Nase und sagt: Robert hat's bestimmt gut gemeint. Und was bedeutet, >immerdar<? quengele ich. Dazu habe ich jetzt keine Zeit, schnauzt die Großmutter, hebt eine Schokoladentorte mit einer glasierten Sieben vom Büfett und trägt sie hinaus. 

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Ich will Louise folgen, doch sie verbietet es, und weil mir die Geschenke wichtiger sind als die Torte, bleibe ich am Küchenfenster stehen. An den Wäscheleinen hängen Laken und Bettbezüge, Nachthemden und Handtücher. Die Großmutter kehrt zurück und stellt den Suppentopf auf den Gasherd. Ich beobachte die Kinder im Hof. Die kleinen Mädchen spielen Himmel und Hölle, die kleinen Jungen rollern über den Asphalt, und dort, wo die Grasnarbe anfangt, bauen die größeren Jungen ein Zelt aus Latten und Kartoffelsäckcn. Louise schlürft ihre Suppe Löffel um Löffel. Ich rühre nichts an. Ein blonder Junge in meinem Alter geht über den Hof. Er holt eine zerbrochene Wäschestange aus dem Schuppen, legt sie auf die Aschengrube und schneidet die Bruchstellen mit dem Fuchsschwanz weg. Ein dunkelhaariger Junge tritt zu dem Blonden, und neidisch sehe ich mit an, wie sie die Holzstücke ins Zelt schleppen. Komm endlich zum Essen, Herbert, sonst knallt's! ruft eine Frau mit überschnappender Stimme von irgendwoher. Der große blonde Junge schiebt die Kartoffelsäcke beiseite und droht mit solcher Wucht zu einem Fenster hinauf, daß die Zeltstangen wackeln. Laß mich zufrieden! ruft er. Na warte, du Schlawiner! höre ich die Frau brüllen und sehe, wie sich der Schwarzhaarige im Nachbarhaus verdrückt. Herbert bleibt mit gekreuzten Armen vor dem Wigwam stehen. Ich bewundere seinen Mut. Dich schlage ich windelweich, du Lümmel! schreit die Frau, als sie ihren Sohn erreicht hat. Hau doch zu! brüllt Herbert zurück. Was seine Mutter antwortet, ist nicht zu verstehen. Sie redet pausenlos, doch Herbert schüttelt nur den Kopf. Nach einer Weile gibt die Frau auf und verschwindet. Ich erschrecke, als mir jemand in den Nacken bläst, und drehe mich um. Jetzt darfst du dir deine Geschenke angucken, sagen Edith und Louise wie aus einem Mund. 

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Au ja! jubele ich und stürme ihnen voran ins Wohnzimmer. Kein Indianerkostüm. Kein Ball. Kein Flitzbogen. Nur die Schokoladentorte mit der glasierten Sieben und eine schmale Schachtel, in der, seit ich denken kann, silberne Teelöffel liegen. Schau's dir wenigstens mal an, ermuntert mich Louise. Ich hebe den Deckel ab und sehe eine Armbanduhr zwischen der Watte. Nein, nein, nein, stammele ich ungläubig und merke, daß mir schwindlig wird. Es ist noch etwas drin, sagt Edith, doch durch meine Tränen erkenne ich nur einen Streifen Blech, der sich allmählich in ein blinkendes Klappmesser verwandelt. Ich fliege der Mutter um den Hals und schluchze vor Freude, während sie mir die Uhr ans Handgelenk schnallt. Solche teuren Geschenke kriegen Jungen in deinem Alter normalerweise nicht, sagt Louise und zwinkert Edith zu. Ich tanze und singe. Ich habe eine Armbanduhr und ein Klappmesser! jauchzt mein Herz. Dann setzen wir uns zu Tisch, und bevor Edith die Torte anschneidet, legt sie mir die glasierte Sieben auf den Teller. Ich mag keinen Puderzucker, doch der Mutter zuliebe schlucke ich die zerbröckelte Zahl mit dem Kakao herunter. Was hältst du denn von einem kleinen Mittagsschläfchen? fragt Edith. Ich schüttele den Kopf. Und wenn wir anschließend die Noten für deine Klavierstunde kaufen, dann auch nicht? fragt die Mutter lächelnd. Das ist was anderes, sage ich leise und folge ihr durch den Korridor ins Schlafzimmer. Am Fußende der Betten bleibe ich stehen und werfe mir vor, daß ich jetzt nicht bei Herbert bin. Zu zweit hätten wir bestimmt mein Fahrrad aus dem Keller holen können. Mach es dir schon gemütlich, sagt die Mutter und zieht das Schnapprollo herunter. Ich schlüpfe aus den Schuhen und setze mich auf die Bettkante. Mir ist irgendwie unheimlich, ich weiß nicht, warum. 

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Die Mutter steht vor dem Spiegel, wirft die Haarklemmen auf die Marmorplatte, knöpft das Kleid auf und läßt es über die Hüften rutschen. Jetzt gehe ich weg und renne zu Onkel Arnold, schwöre ich mir. Das ist leicht gesagt. Wo wohnt er überhaupt? Ich könnte Louise fragen, aber sie würde mich verpetzen, Geburtstag hin oder her. Hilfst du mir mal mit diesem dämlichen Ding? fragt die Mutter zappelig. Ich schiebe die Hand unter den Büstenhalter und öffne die Schließe. Mein Gott, sind deine Finger kalt, sagt Edith seufzend und verlangt, daß ich mich umdrehe. Ich setze mich wieder auf die Bettkante und starre gegen die rosige Deckenlampe. Die Mutter nimmt eine Dose aus dem Schubfach der Frisierkommode und schmiert sich Creme auf die Haut. Es ist ein glitschiges, seifiges, ekliges Geräusch. Mir wird schlecht davon. Du hast dich ja immer noch nicht hingelegt, was ist los? staunt die Mutter. Ich strecke mich auf dem Laken aus und betrachte meine Armbanduhr. Als die Sprungfedern quietschen, wälze ich mich auf die Seite. Warum rückst du von mir weg? fragt Edith flüsternd. Weil es hier zu heiß ist, lüge ich und schlage die Beine übereinander. Die Mutter atmet tief ein und aus. Dann legt sie den Arm um mich und fängt an zu schnarchen.

 

5

Ungefähr eine Stunde später schlendert die Mutter mit mir bis zur Ecke und scheint zu überlegen, ob wir nach links oder rechts abbiegen sollen. Ich ahne, warum sie zögert. Einerseits hat sie Angst davor, den Schrankenwärter zu treffen; andererseits ist sie zu faul, den weiten Weg um die Schultheißbrauerei herumzulaufen, damit ich zu meinen Noten komme.

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Ich sehe auf die Armbanduhr. Es ist Viertel drei. Ediths Faulheit siegt. Oder ihre Neugier. Oder ihre Sehnsucht nach der blauen Uniform mit den blitzenden Knöpfen. Wir gehen stumm auf den Bahndamm zu. Als sich die Schranken senken, klopft mir das Herz im Hals. Der Zug donnert heran. Das Pflaster zittert. Der Löwenmäulchenzüchter dreht die Kurbel. Alles ist ganz unwirklich, ganz fremd. Na, junge Frau, auch mal wieder im Lande? fragt der Schrankenwärter. Edith grinst wie ein Mondkalb und ruckelt ihren Büstenhalter zurecht. Hinter dem Zaun hoppeln weiße Kaninchen und stoßen die roten Nasen gegen den Maschendraht. Heute habe ich's ziemlich eilig, aber bei Gelegenheit, warum nicht? höre ich die Mutter sagen und folge ihr über die Gleise. Wir gehen durch den Siegfriedsgang bis zum Akazienwäldchen. Du Miststück, du Ratte, du Drecksau, denke ich bei jedem Schritt. Aber stimmt denn das? überlege ich. Wer hat mir die schöne neue Uhr geschenkt? Wer das Klappmesser? Wer begleitet mich in die Stadt, damit ich Klavier spielen lerne? Wem verdanke ich das alles? Mir zerreißt die Brust. Ich hake mich bei Edith ein. Du bist ein richtiger Schwerenöter, sagt sie und schlingt meinen Arm um ihre Taille. Im Schloßgarten, gegenüber der Orangerie mit dem Kentaur und der nackten Bronzefrau, setzen wir uns eine Weile hin. Edith zieht die Pumps aus, weil ihr die Füße schmerzen, und knackst mit den Zehen. Ich denke an Louises achtzigsten Geburtstag und an die vielen Gäste, die damals Spalier standen. Ich sehe auf die Armbanduhr. Mir bleibt das Herz stehen. Ich kann es nicht glauben. Es ist immer noch Viertel drei. Die Mutter hat den Kopf in den Nacken gelegt und sonnt sich. Wie spät ist es eigentlich? frage ich. Du hast doch selber eine Uhr, antwortet Edith und scheucht die Fliegen weg, ehe sie das Gesicht wieder in die Sonne hält. 

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Ich muß dir was zeigen, sage ich. Jetzt nicht, laß mich mal ein paar Minuten ausruhen, du Quälgeist! bellt die Mutter und strafft die Stirn dabei. Ich stupse die Schuhspitzen in den Sand. Ich koche vor Wut. Was giftet mich diese Dreckschleuder dauernd an? Was habe ich ihr getan? Frauen mit Kinderwagen, Männer in hellen Jacketts und Pimpfe mit schwarzem Halstuch traben über die Wege. Es ist immer noch Viertel drei, flüstere ich. Ja und? fragt Edith gähnend. Ich ertrage es nicht länger. Als wir von zu Hause weggegangen sind, ist es nämlich auch schon Viertel drei gewesen, erkläre ich ihr und merke, wie mir der Schweiß über den Rücken rinnt. Die Mutter biegt sich vor Lachen und schlüpft in die Pumps. Anscheinend hast du was vergessen, sagt sie höhnisch. Ich stehe starr. Dann fallt es mir ein. Mein Gott, ich habe sie nicht aufgezogen! rufe ich erlöst, drehe das Rädchen zwischen den Fingern und drücke die tickende Uhr ans Ohr, bis wir den Schloßpark verlassen. Die Musikalienhandlung in der Straße des 30. Januar hat wegen Betriebsausflug geschlossen, doch das Türschild weist uns zu einem Geschäft in der Nähe des Rathauses. Es ist nicht weit. Trotzdem werden mir unterwegs die Füße lahm. Etwa deshalb, weil ich im Schloßgarten versäumt habe, die Uhrzeiger richtig einzustellen? Nein. Mich wurmt etwas anderes. Wer hat mir bloß die Idee eingeblasen, Klavier spielen zu lernen? Wann finde ich noch Zeit zum Schreiben und zum Radfahren? Im Schaufenster liegen Blöckflöten und kleine Trommeln, Gitarren und Trompeten. Hier sind wir falsch, warne ich die Mutter, doch sie hört nicht auf mich, und wir treten ein. In dem großen Regal liegen Noten über Noten, Hunderte oder Tausende. Mir wird elend. Wie soll ich das alles jemals spielen, selbst wenn Onkel Arnold nicht nur donnerstags, sondern von morgens bis abends mit mir übt? 

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Edith räuspert sich. Ich will auf die Armbanduhr sehen, doch jetzt kommt ein grauhaariger alter Herr an den Tresen und zwinkert mir freundlich zu, während er sich nach den Wünschen der Mutter erkundigt. Ich weiß nicht, was mir an ihm gefällt. Es ist wie ein Wetterumschlag. Meine Angst vor den Noten verfliegt. Gehst du schon zur Schule? fragt er lächelnd. Es dauert noch ein Weilchen, antworte ich fröhlich. Edith sagt dies und das. Ich habe nur Augen für den freundlichen alten Herrn, nur Ohren für seine dunkle Stimme und möchte ihm am liebsten helfen, als er die Klavierschulen für Anfänger vor uns ausbreitet. Das ist Beethoven, sage ich und zeige auf den Umschlag mit dem Struwwelkopf. Donnerwetter, du bist ein kluger Junge, woher kennst du ihn denn? fragt mich der alte Herr, während Edith die Heftseiten durchblättert. Der hängt bei meinem Onkel Franz, antworte ich stolz und spüre, wie mir das Herz im Hals schlägt. Gut, das nehmen wir, sagt Edith, läßt die Noten mit einem Gummiring einrollen, und der alte Herr öffnet die Tür. Viel Glück! ruft er uns hinterher, doch mir ist, als habe er nur mich gemeint. Nach wenigen Schritten bleibt die Mutter vor einem Schaufenster stehen, zupft sich in der spiegelnden Scheibe die Frisur zurecht und prüft den Sitz der Strumpfnähte. Ich lege den Kopf in den Nacken und blicke hoch zu dem mächtigen Turm des Rathauses, um den die Schwalben fliegen. Auf der großen Uhr mit den goldenen Strichen ist es fast halb fünf. Auf meiner Armbanduhr ist es immer noch Viertel drei. Mir bricht der kalte Schweiß aus. Mir stockt der Atem. Ich schnappe nach Luft und zittere, als müsse ich sterben. Etwas in mir zerreißt. Du hast mich belogen! platze ich heraus, binde die Uhr ab und halte sie der Mutter vor die Nase. Ihre Augen sind klein und stechend.

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Was soll denn das heißen? faucht sie mich an. Ich will die Uhr nicht mehr, sage ich. Du undankbarer Patron, dir werde ich gleich ein paar Backpfeifen geben! keift Edith, und am Zucken der Mundwinkel merke ich, daß sie es ernst meint. Wehe, wenn du mich verhaust, ich erzähle alles Onkel Arnold! drohe ich ihr. Vom Rathausturm erklingen zwei Glockenschläge. Eine Weile bleibt es still. Die Mutter beißt sich auf die Lippen, steckt die Armbanduhr in die Handtasche und ist plötzlich ganz freundlich. Wahrscheinlich müssen wir diesen dämlichen Wecker mal reparieren lassen, weil du dauernd daran rumgefummelt hast, sagt sie schmunzelnd. Nein, widerspreche ich und sehe Edith so lange ins Gesicht, bis sie knallrot wird. Mir ist wie dem treuen Heinrich, dem die eisernen Bande von der Brust springen. Mein Herz wird leicht und frei. Mir kribbeln die Fingerspitzen. Mir juckt die Nase. Ich spüre die Notenrolle unterm Arm und bin selig. Manchmal will ich langsamer gehen, weil mir die Augen flimmern, aber die Mutter zieht mich weiter, und erst an der Kavalierstraße machen wir halt.

 

6

Im Schloßgarten schräg gegenüber wird die große Fontäne aufgedreht, und mir ist, als wehe der Wind die Tropfen heran. Möchtest du nach Hause, oder wollen wir noch ein bißchen bummeln? fragt Edith, während der Verkehr an uns vorbeirollt. Ich traue ihr nicht. Vielleicht hat sie außer der kaputten Uhr noch eine andere Gemeinheit auf Lager. Am liebsten würde ich mal mit der Straßenbahn fahren, antworte ich und erwarte ein Stirnrunzeln oder Naserümpfen. Doch ein Wunder geschieht. 

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Das kommt ganz zuletzt, wenn wir den Einkauf hinter uns haben, sagt sie heiter und hakt sich bei mir ein. Was willst du eigentlich kaufen? erkundige ich mich neugierig. Ach, wenn ich schon in der Stadt bin, kann ich auch ein paar Besorgungen erledigen, sagt die Mutter obenhin, aber ihrer Stimme höre ich an, daß es sich um etwas Besonderes handeln muß. Edith kennt jedes Geschäft zwischen dem Alten Theater und dem Museum. Sie weiß die Namen aller Ärzte und Apotheker, aller Rechtsanwälte und Fabrikanten, aller Schauspieler und Opernsänger, die hier wohnen. Doch sie selber wird von niemand gegrüßt. Ein Ladenschwengel zwinkert ihr zu, während er die Markise hochkurbelt. Ein Soldat legt den Zeigefinger ans Käppi und wackelt mit der Zungenspitze. Ich schäme mich ein bißchen für Edith, aber schließlich ist es ihre Sache, nicht meine. Wir biegen in die Askanische Straße ein und schlendern zur Konditorei Mrozek. Auf der Terrasse stehen Tische und Stühle unter den Sonnenschirmen, und es gelingt mir, zwei freie Plätze zu ergattern. Du bist ein Pfiffikus, lobt mich die Mutter, streckt die Füße aus, als wolle sie ihre Pumps abstreifen, und bestellt mir einen Eisbecher mit Sahne. Du wolltest doch noch etwas besorgen? frage ich nach einer Weile. Mein Gott, das -hätte ich beinahe verschwitzt, antwortet Edith und ruckelt den Stuhl in die Sonne, damit ich nicht merke, daß ihr Gesicht flammendrot geworden ist. Ein Herr am Nachbartisch schneidet eine Kerbe in seine Zigarre, hält ein brennendes Streichholz unter die Spitze und raucht. Die Mutter klappt die Handtasche auf, pudert sich die Nase und fragt schelmisch: Kann ich dich einen Augenblick allein lassen, oder rennst du gleich weg? Ich bleibe hier, verspreche ich ihr, und sie verschwindet im Gewühl der Passanten. Ich löffele genießerisch den Becher leer und sehe dabei zum

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Askanischen Platz hinüber, wo das arme Schneiderlein mit seiner geblümten Frau wohnt. Daran denke ich ungern zurück. Ich falte lieber die Papierserviette, bis sie zwei Flügel hat und wie ein Segelflugzeug zwischen den Tischen landet. Ich bin allein, aber mir fehlt niemand. Der einzige Mensch, nach dem ich mich sehne, ist Herbert, der blonde Junge mit dem Fuchsschwanz und dem Indianerzelt, der seiner Mutter mit der Faust droht, wenn sie ihn zum Essen ruft. Das ist ein Kerl. An Herbert werde ich mich halten. Auf Edith kann ich verzichten. Den Nachhauseweg durch die Bismarckstraße und den Siegfriedsgang kenne ich Schritt für Schritt. Ich weiß nur nicht, womit ich das Eis bezahlen soll, doch zur Not wird mir irgend jemand aus der Patsche helfen. Vielleicht der Herr mit der Zigarre dort drüben oder die Witwe mit den beiden Eheringen am Finger? Mir kann nichts passieren. Ich schlage mich schon durch. Mut macht alles gut. Ich hab's geschafft! höre ich Edith rufen und sehe, wie sie eine prallgefüllte Tüte schwenkt. Ich klemme die Noten unter den Arm und laufe ihr entgegen. Die Mutter wehrt jede Frage ab, ehe sie sich an den Tisch setzt. Dann öffnet sie die Tüte, zieht einen nagelneuen Schulranzen heraus und schluchzt ohne Tränen: Jetzt hast du endlich dein richtiges Geburtstagsgeschenk, mein Junge. Ich bin baff. Mir dreht sich der Kopf. Ich glaube nicht, was ich sehe. Es ist ein Traum. Freust du dich wenigstens ein bißchen, du Strick? fragt die Mutter mit schiefem Mund. Ja, danke sehr, antworte ich, obwohl es mich wurmt, daß ich mir den Ranzen nicht selber aussuchen durfte. Ach, ich bin so glücklich, weil es doch noch geklappt hat, sagt Edith ein ums andere Mal, während ich die Notenrolle in den Ranzen lege, den Deckel schließe und die Tragriemen über die Schulter schnalle. 

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Nun weiß ich, er gehört mir, und bald werde ich mit meiner Zuckertüte zwischen den ABC-Schützen auf dem Schulhof stehen. Vielen, vielen Dank, flüstere ich Edith ins Ohr, umarme sie und lasse mich abküssen, bis mir die Luft wegbleibt. Der Herr am Nachbartisch und die Witwe mit den doppelten Eheringen lächeln freundlich herüber. Möchtest du zur Feier des Tages noch eine Eiswaffel? erkundigt sich die Mutter und winkt die Serviererin zu sich. Ja, gern, aber dann fahren wir Straßenbahn, wie du versprochen hast, fordere ich, und Edith gibt achselzuckend nach. Es sind bloß zwei Stationen, erklärt sie mir unterwegs. Das macht nichts, antworte ich mit vollem Mund, zermalme die Waffel und gehe Edith voraus bis zur Haltestelle. Wir müssen warten. Ich fische mit der Zunge nach den Bröseln und blicke auf die schnurgeraden Gleise. Bist du müde? fragt die Mutter. Nein, überhaupt nicht, prahle ich trotzig und möchte mich am liebsten auf die Bordsteinkante setzen, weil mir mulmig wird. Du siehst aus wie Braunbier mit Spucke, reiß dich mal ein bißchen zusammen, stichelt Edith, als die Bahn kommt. Wir steigen ein. Der Schaffner reißt an einer Leine. Die Räder rollen. Die Häuser fahren weg. Mir wird schlecht, aber wegen des Ranzens kann ich mich nicht zurücklehnen. Ich sehe das erbrochene Eis über meine Kniestrümpfe sickern. Ediths Augen werden starr und stechend. Bleib still sitzen, sonst haue ich dich windelweich, zischt sie durch die Zähne und zerrt mich an der ersten Station vom Trittbrett. Ich spüre ihre Finger wie Vogelkrallen im Genick. Wenn ich torkele, schlingt sie die Hand um die Tragriemen und stößt mich vorwärts. Ich sehe den Schornstein der Zuckerraffinerie, und mir ist, als heule die Sirene in meinen Ohren. Vor dem Bahndamm bleibt die Mutter stehen und hält Ausschau nach dem weit entfernten Schrankenwärterhäuschen unterhalb des <Tivoli>. 

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Vielleicht möchte sie am liebsten über die Schwellen zu ihrem Löwenmäulchenzüchter laufen, das Luder. Hast du dich einigermaßen gerappelt? fragt Edith, während sie mir mit dem Taschentuch die Knie abwischt. Ich nicke und merke im Weitergehen, wie sich das Pflaster zu drehen beginnt, mal linksrum, mal rechtsrum, mal so, mal so. Das kommt davon, wenn man zuviel Eis in sich reinwürgt, sagt die Mutter vorwurfsvoll und läßt mich an ihrem Kölnisch Wasser riechen, bis die Steine wieder »ebeneinanderliegen. Ich stupse mich an der endlosen Mauer der Schultheißbrauerei entlang und summe das Lied von dem Soldaten, der sich nach einem Engel sehnt, weil der liebe Gott ihn vergessen hat. Das ist die Papierfabrik, und dort geht's zur Schule, sagt die Mutter, ehe wir in die Elisabethstraße einbiegen. Meine Schritte werden länger. Ich trabe wie mit Siebenmeilenstiefeln. Nicht so schnell, warnt Edith, als ich vorausrennen will. Doch in ider Zimmerstraße gibt sie mir einen Schubs, und ruft: Na los, Tempo! Ich springe. Ich fliege. Ich sause die Treppe hoch und drücke die Klingel. Niemand rührt sich. Nur Ediths Pumps klappern durch den Hausflur. Eine Weile wird mir schwarz vor Augen. Ist das etwa dein neuer Schulranzen? höre ich die Großmutter fragen, während Edith langsam die Stufen heraufkommt. Mir ist, als verliere ich den Verstand. Woher weiß Louise, daß mir Edith einen Schulranzen kaufen wollte? Mich schüttelt es. Hat diese alte augenzwinkernde Hexe schon vor dem Mittagschläfchen Bescheid gewußt? Ich klammere mich zitternd an das Geländer, und plötzlich leuchtet mir ein, daß mich die Großmutter an meinem eigenen Geburtstag ebenso betrogen hat wie die Mutter. Ein Abgrund tut sich auf. Ich stürze ins Bodenlose und schlage um mich, bis mir die beiden Weiber Ohrfeigen androhen. Jetzt bin ich still.

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Jetzt ist alles aus und vorbei. Jetzt setze ich mich sogar an den Küchentisch und trinke stumm eine Tasse Pfefferminztee. Edith nickt verlegen, als ich sie frage, ob ich in die Kammer gehen darf. Ich nehme den Ranzen unter den Arm und verschwinde.

 

7

Am anderen Morgen, gleich nach dem Frühstück, gehe ich in den Keller und suche mein Fahrrad zwischen den Verschlägen. Es ist staubig geworden mit den Jahren. In den Speichen hängen Spinnweben. Ich drücke den Dynamo gegen den Reifen, sehe das blakige Licht über den Ziegelboden huschen und wieder erlöschen. Hier möchte ich bleiben, wenigstens bis morgen, bis Onkel Arnold kommt und mir die erste Klavierstunde gibt. Ich brauche kein Fahrrad. Wozu soll ich die Schläuche aufpumpen und die Kette ölen? Wohin soll ich denn fahren? Die beiden Weiber würden sofort die Polizei auf mich hetzen. Nein, hier ist es am besten. Niemand stört mich. Nur ein bißchen wärmer könnte es sein, denn nach einer Weile dringt mir der naßkalte Hauch unters Hemd und in die Hosenbeine. Ich halte es nicht länger aus. Ich schultere mein Fahrrad, steige die Treppe hinauf und blinzele in die Sonne. Was hast du da unten gemacht? höre ich einen Jungen fragen, während ich das Rad an die Hauswand lehne. Ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll. Ich reibe mir die Augen und blicke dabei durch die Finger. Deswegen brauchst du doch nicht gleich zu heulen, sagt ein sommersprossiges Mädchen. Ich wende mich von ihr ab und schlendere zu Herrn Reichweins Tomatenbeet. Endlich bin ich wieder allein. Ich will niemand sehen. 

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Mir genügt es, auf die grünen Stauden mit den roten Früchten zu starren. Morgen kommt Onkel Arnold und bringt mir das Klavierspielen bei. Dann wird alles gut. Jetzt geht's los! höre ich Herbert rufen und sehe die Kinder in den schattigen Hofwinkel laufen. Ein Mann in blauer Montur zieht eine zweirädrige Pumpe hinter sich her, und ich folge ihm mit einigem Abstand. Mensch, das stinkt ja wie die Pest! schreien die Kinder, als der Mann den eisernen Dekkel anhebt und ein Rohr in die Jauchengrube schiebt. Ich trete näher und beuge mich über das Loch. Mir wird schlecht von dem Gestank. Herbert winkt mich beiseite, und wir gehen zu meinem Fahrrad. Er schnipst den Daumen gegen die Klingel und lächelt. Ich möchte ihm sagen, daß ich ihn bewundere, weil er so groß und stark ist, aber ich bin zu feige. Ich bringe kein Wort über die Lippen. Na ja, jetzt muß ich mich mal wieder um das Zelt kümmern, sagt Herbert gähnend, und durch meine Tränen sehe ich ihn hinter den Kartoffelsäcken verschwinden. Nach einer Weile läuft mir Olaf Reichwein über den Weg und verkündet mir freudestrahlend, daß er mein Fahrrad geputzt hat. Ich schäme mich. Ich bin ein Stiesel. Ich kann nicht einmal danke sagen. Ich schleppe das Rad in den Keller und bleibe dort sitzen, bis die Sirene der Zuckerfabrik pfeift.

 

8

Heute ist Donnerstag. Heute darf ich nicht auf den Hof. Heute kommt Onkel Arnold, und ich muß Louise beim Plätzchenbacken helfen. Als sie das Blech in den Herd geschoben hat, stelle ich mich ans Fenster. Von hier habe ich die beste Aussicht und höre alles mit, was die Kinder reden. Nach und nach merke ich mir sogar die Namen. 

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Das sommersprossige Mädchen heißt Jutta. Der schwarzhaarige Junge mit dem stechenden Blick heißt Fridolin. Der Blonde, der neben Herbert vor dem Zelt Wache hält, heißt Jürgen, und die rothaarige Göre mit den blauen Turnschuhen heißt Renate. Louise geht mit mir ins Wohnzimmer und deckt den Kaffeetisch für vier Personen. Das ist nicht nötig, Onkel Arnold und ich brauchen keine Teller, erkläre ich der Großmutter. Weißt du überhaupt, wem du die Klavierstunde verdankst? fragt sie und streicht die Falten aus dem Tuch. Ich zucke die Achseln. Mir, sagt sie bissig, mir ganz allein, aber das ist dir ja schnuppe, du Herumtreiber. Laß mich in Frieden, bitte ich. Ja, ja, an der Jauchengrube fühlst du dich wohler, stimmt's? fragt die Großmutter. Na und? murmele ich. Wenn du so weitermachst, nimmt es ein schlimmes Ende mit dir, droht die Hexe und fuchtelt mit dem krummen Zeigefinger vor meiner Nase. Ich blicke zur Uhr auf dem Büfett. Es ist halb eins. Denk mal darüber nach, sagt Louise, fuhrt mich in die Küche und zieht das Blech aus dem Herd, bevor sie die Suppe aufsetzt. Ich trete wieder ans Fenster. Die Kinder im Hof spielen ein Spiel, das ich nicht kenne. Jürgen zieht mit Kreide einen großen Kreis auf den Asphalt, Renate verbindet ihm die Augen, und die übrigen Kinder drehen Jutta immerzu herum. Blindekuh, Blindekuh! kreischen sie, aber ich weiß nicht, was es bedeutet. Ich spüre nur, daß mir schwindlig wird, und höre die Mutter im Bad poltern. Gibt's bald Essen? ruft sie. Noch 'ne Viertelstunde, antwortet Louise und schiebt mir ein warmes Plätzchen in den Mund. Ich habe keinen Hunger. Ich habe keinen Durst. Wo bleibt Onkel Arnold? frage ich mich zum tausendstenmal, schleiche in die Kammer, nehme die Noten aus dem Ranzen und trage sie zum Klavier. Der Deckel ist offen. 

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Ich drücke eine schwarze Taste und stemme zugleich den Fuß auf das rechte Pedal. Der Ton klingt wie eine Glocke. Mein Herz zittert vor Seligkeit. Aber dann höre ich die Mutter mit ihren hochhackigen Absätzen durch den Korridor gehen, lege die Noten beiseite und schließe den Deckel. Nach der Suppe fragt das Luder, ob ich ihr beim Mittagsschläfchen Gesellschaft leisten möchte. Nein, erwidere ich klipp und klar. Dann scher dich hin, wo der Pfeffer wächst, meckert sie, und ich höre die Sprungfeder ächzen. Es ist zwanzig Minuten vor zwei. Aber die Großmutter bleibt ganz ruhig, taucht meine Hände ins Abwaschwasser und putzt mir die Fingernägel. Ich sehe auf den Hof hinunter. Fridolin, der arme Kerl, steht mit verbundenen Augen im Kreis. Doch jetzt klingelt es endlich. Die Mutter ist die erste an der Tür, und nun erscheint Onkel Arnold. Er ist verdutzt, als er die beiden Weiber sieht, läßt sich aber von ihnen umarmen, legt mir die Hand in den Nacken und fragt spöttisch:

Habt ihr heute etwa auch Klavierstunde? Ach Bruderherz, wir möchten wenigstens beim erstenmal dabeisein, jammert Edith, und Louise zeigt auf den gedeckten Tisch. Warum macht ihr solche Umstände? erkundigt sich Onkel Arnold, während die Mutter den Kaffee einschenkt. Pst, nicht so laut, warne ich, und der Onkel lächelt mir zu, als er merkt, daß die Großmutter ihren Dutt gegen das Sofakissen lehnt. Eine Weile ist es ganz still. Louises Schnarchen ist wie ein Zirpen. Worauf wartet ihr denn noch? fragt Edith. Ja, das ist eine gute Klavierschule für Anfänger, übersichtlich, nicht zu schwer und mit praktischen Beispielen, sagt Onkel Arnold, während er ein Plätzchen kaut, am Kaffee nippt, endlich neben mir Platz nimmt und die erste Seite betrachtet. Ich wage mich nicht zu rühren. Ich starre auf die Tasten, die mir wie ein riesiges Gebiß mit schwarzen Plomben vorkommen. 

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Na, wollen wir ein bißchen üben? fragt Onkel Arnold schelmisch. Ich nicke. Das ist ein >c<, das ist ein >e<, das ist ein >g<, brummt er mit seinem tiefen Baß und tippt meinen Daumen, meinen Mittelfinger und meinen kleinen Finger auf die drei Tasten. Jetzt versuch mal, ob du es schon allein kannst, ermuntert er mich. Es gelingt. Und rückwärts? fragt Onkel Arnold. Ich haue daneben. Ich schäme mich. Der erste Patzer, meckert die Mutter. Sogar Louises Zirpen ist nicht mehr zu hören. Onkel Arnold zündet sich eine Zigarette an und bläst den Rauch gegen das Richard-Wagner-Bild. Wenn du nicht die Klappe hältst, muß ich den Unterricht leider abbrechen, Edith, droht Onkel Arnold bärbeißig und plinkert mir zu. Entschuldige bitte, höre ich die Mutter antworten und spüre mein Herz im Halse schlagen. Ich möchte Onkel Arnold die Hände küssen. Spiel's noch mal, sagt er, und ich wiederhole den Dreiklang so laut, daß der Aschenbecher scheppert. Onkel Arnold haut sich vor Freude auf die Schenkel und donnert mir zuliebe den Dessauer Marsch. In unserer Familie konnte jeder mit sieben Jahren Klavier spielen, und du wirst keine Ausnahme machen, gratuliert er mir schmunzelnd. Ich zucke verlegen die Achseln. Ein bißchen lesen kannst du doch, nicht wahr? fragt er und tippt auf die Wörter zwischen den Notenlinien. >Summ, summ, summ, Bienchen summ herum<, antworte ich stolz. Und wie steht's mit dem Singen? erkundigt er sich freundlich, drückt eine weiße Taste, und ich singe den Ton nach, bis mir der Schweiß ausbricht. Willst du's selber mal probieren? fragt Onkel Arnold. Ich nicke, drücke aber nicht stark genug auf die Tasten, und statt zu singen, brumme ich nur. Edith räuspert sich. Ruhe im Parkett, iür heute ist Feierabend! ruft er und kerbt den Daumennagel in den Notenrand, damit er weiß, wo wir aufgehört haben. Spiel noch etwas, bettele ich.

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Etwa >Fritze Bollmann<, den Barbier aus Brandenburg? fragt er lächelnd. Ich nicke. Mir ist alles recht, nur die Drossel im grünen Wald mit dem totgeschossenen Reh kann ich nicht ausstehen. Ich glaube, zu der Hitze heute paßt besser die >Petersburger Schlittenfahrt< sagt Onkel Arnold, und ich schmiege mich an die Wand, damit er genug Platz für die ruckenden Ellbogen und die springenden Hände hat. Wunderschön! jubeln die beiden Vogelscheuchen, und nach kurzem Hickhack erlaubt mir Edith, Onkel Arnold zur Ecke zu begleiten. Manchmal hast du so traurige Augen, woher kommt denn das? fragt er mich beim Abschied. Keine Ahnung, antworte ich leise und sehe ihm hinterher, bis seine Glatze verschwindet.

 

9

Es ist früh am Morgen. Die Mutter ist schon bei Kutarsky. Louise sitzt in der Küche, entkernt Kirschen und legt Einweckringe auf die Gläser. Ich zittere. Ich will weg von hier. Ich will nicht dauernd am Fenster stehen. Ich will raus aus diesem Loch, auch wenn es Wackersteine regnet und Hufnägel schneit. Mir ist, als würde ich verrückt. Ich rase die Treppe hinunter. Ich brauche keine Hand, die mich führt. Ich hole mein Rad aus dem Keller. Mir brennen die Beine. Aber ich gehe Schritt für Schritt auf Herbert zu, und während ich die Klingel drücke, sagt er, ohne mit der Wimper zu zucken: Setz dich her, Jürgen wird auch gleich hier sein. Ich denke, ich höre nicht recht. Meine Zehen, meine Fußsohlen, mein Bauch und meine Arme fangen an zu kribbeln. Mir schießt das Blut in die Ohren, und trotzdem spüre ich eine wohlige Gänsehaut auf dem Rücken. Wie heißt du eigentlich? fragt Herbert.

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Ich sage ihm meinen Namen. Jetzt tritt Jürgen zu uns. Er hat auch ein Fahrrad, kein neues wie ich, aber an der Lenkstange ist ein Rückspiegel befestigt. Wer will, kann sich bei mir umsonst rasieren lassen, pflaumt er, und zum erstenmal seit langer Zeit lache ich schallend. Also, was ist, machen wir ein Radrennen? fragt Jürgen und blickt sich um. Mich könnt ihr sowieso nicht gebrauchen, ihr Lackaffen, schimpft Herbert und will ins Zelt kriechen. Nein, dann bleibe ich hier, verspreche ich ihm. Meine Güte, fahrt doch zweimal, und ich passe inzwischen auf eure Kartoffelsäcke auf! ruft Jutta. Wir haben uns bald geeinigt: Zuerst fahren Jürgen und ich bis zum Triftweg und wieder zurück, und anschließend fahren Herbert und Jürgen dieselbe Tour. Aber wie kommen wir mit den Rädern durch den Hausflur? frage ich. Das ist eure Sache, bestimmt Jutta. Mir wird schwummerig, als ich mein Rad aus dem schattigen Flur auf die flimmernde Straße schiebe. Ich sehe die Schlaglöcher und spüre meine Knie zittern. Jürgen stemmt den Fuß auf das Pedal. Es gibt kein Zurück mehr. Mir trieft der Schweiß über den Nacken. Achtung, fertig los! höre ich Herbert rufen und schwinge mich in den Sattel. Ich strampele, was das Zeug hält. Der Fahrtwind weht mir ins Gesicht. Meine Brust weitet sich. Am liebsten möchte ich singen. Das Vorderrad wackelt, doch ich bewahre das Gleichgewicht und weiche den Schlaglöchern aus. Nach einer Weile merke ich, daß zu wenig Luft im Reifen ist und sehe, wie Jürgen am Triftweg kehrtmacht, während ich noch an der roten Mauer entlangpresche. Er dreht eine Kurve und winkt mir zu, als ich vor Kutarskys blauem Fabriktor wende. Ich kann Jürgen nicht mehr einholen. Er wartet auf mich an der Haustür. Das hätte ich dir nie im Leben zugetraut, sagt er anerkennend und legt mir die Hand auf die Schulter, als wir die Räder im Hof absetzen. 

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Nun ruht euch mal ein bißchen aus, sagt Fridolin, hakt eine Feldflasche vom Gürtel und gibt zuerst seiner kleinen Schwester einen Schluck, ehe wir an die Reihe kommen. Noch nie hat mir Leitungswasser so gut geschmeckt wie heute. Danke, sage ich und gebe die Flasche an Jutta weiter. Ich weiß nicht, wie mir ist. Ich schwebe. Ich wachse. Ich pumpe den Reifen auf. Ich öle die Kette. Ich helfe Herbert und Jürgen durch den Hausflur auf die Straße. Ich sehe die beiden zum Triftweg strampeln. Herbert wird Sieger. Ich gönne es ihm. Wir setzen uns auf die Kartoffelsäcke und blinzeln in die Sonne. Ich überhöre Ediths Geschrei aus dem Küchenfenster. Erst als sie mir Dresche androht, mache ich mich auf den Weg.

 

10

Nun rast die Zeit, und die Tage verschwimmen. Ich brenne darauf, der ganzen Welt zu zeigen, wie gut ich radfahren kann. Was hältst du davon, wenn wir einen Ausflug zum >Tivoli< machen? fragt die Mutter. Ich bin sofort Feuer und Flamme. Wir fahren durch die Elisabethstraße, lassen den Schrankenwärter links liegen und überqueren die Gleise. Nicht zu schnell, mahnt die Mutter, während ich mein Rad an der Bordsteinkante entlang bergauf schiebe. Aus der Gastwirtschaft dröhnt Blasmusik. Die Kellner in den grünen Westen schleppen Bier zu den Tischen. Ich stelle mich eine Weile vor das Kasperletheater, aber der Totenkopf kann mir nicht mehr imponieren. Bist du zufrieden? fragt Edith, als mein Eisbecher leer ist. Vielen, vielen Dank, antworte ich und verspreche der Mutter, ihr ein Kunststück vorzuführen. 

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Sie bezahlt die Rechnung, und ich schwinge mich in den Sattel. Paß auf! brüllt Edith hinter mir her. Ich lache. Ich nehme die Füße von den Pedalen und sause auf der Bordsteinkante abwärts. Juhu! schreie ich vor Freude, merke noch, wie mir ein paar Spaziergänger entgegenkommen, greife nach der Bremse und stürze auf das Pflaster. Die Blasmusik dröhnt weiter. Mir gellen die Ohren von den Paukenschlägen. Ich spüre einen schrinnenden Schmerz an Händen und Knien. Ich sehe einen roten Faden über das rechte Schienbein sickern. Mir steht das Wasser in den Augen, aber ich heule nicht. Tut's sehr weh? fragt Edith, während sie mir mit dem Taschentuch die Blutstropfen abtupft. Ach was, lüge ich stolz und schiebe mein Rad zum Bahndamm.

 

11

Es ist heiß in der Kammer. Am liebsten würde ich spazierenfahren, irgendwohin, auf gut Glück. Aber als Edith verspricht, mir eine Schultüte zu kaufen, wenn ich fleißig Schönschreiben übe, pfeife ich auf die Radpartie. Die Großmutter bringt ein Schälchen Wasser für den Schwamm und schleicht ins Turmzimmer. Ich nehme die Fibel aus dem Ranzen. >Schultüte< will ich als erstes Wort schreiben, doch der Griffel verrutscht, und der Schwamm wischt die angefangene Zeile aus. Ich reibe die Tafel trokken und suche ein anderes Wort, doch auf geheimnisvolle Weise erscheint noch einmal >Schultüte<. Es ist wie verhext. Ich lasse das Schnapprollo hochsausen, öffne einen Fensterflügel und blicke über das schräge Teerdach. Nichts rührt sich. Kein Hauch. Ich setze mich an den Schreibtisch und lege die Stirn auf die kühle Glasplatte.

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12

Heute ist Donnerstag. Ich freue mich auf die Klavierstunde, weil ich daran denke, daß mir Onkel Arnold zum Abschluß wieder die >Petersburger Schlittenfahrt< vorspielen wird. Als es endlich klingelt, stürme ich ihm entgegen und umarme ihn. Nachdem er die Mutter begrüßt hat, nehmen wir beide am Klavier Platz. Weißt du, wo wir letztes Mal stehengeblieben sind? fragt er lächelnd. Ich tippe auf den Abdruck seines Daumennagels am Notenrand und höre, wie sich Edith in den Ofensessel setzt. Wenn du Lust hast, können wir die C-Dur-Tonleiter üben, sagt Onkel Arnold lächelnd und streicht mir zärtlich durchs Haar. Mein Gott, das bringt der Junge nie fertig, mault Edith, aber Onkel Arnold gibt ihr Saures. Misch dich nicht ein, kümmere dich um deinen eigenen Kram, knurrt er und erklärt mir, wie ich an der schwierigsten Stelle, wo der Daumen unter die Hand gebogen wird, besonders achtgeben soll. Vorsicht, mahnt er freundlich. Ich will mich nicht blamieren. Ich will es unbedingt schaffen, aber ich haue immer wieder daneben. Ach du grüne Neune, so ein Tolpatsch! höre ich die Mutter lästern und merke, wie mir der Schweiß über den Rücken läuft. Onkel Arnold bleibt stumm, doch auf seiner Stirn schwillt eine Ader an. Du machst den Jungen noch verrückt, das lasse ich mir nicht länger bieten, scher dich raus, du dumme Pute! 

13

Es ist der Abend vor dem ersten Schultag. Ich packe meinen Ranzen und stelle ihn in die Kammer. Nach dem Essen setzt sich die Mutter mit ihrer >Box< neben mich, und während ich beobachte, wie der Film eingelegt wird, erklärt sie mir, daß ich morgen nicht zu den ABC-Schützen, sondern gleich in die zweite Klasse komme. Ich bin wie vom Donner gerührt. Ich verstehe es nicht. Warum? frage ich. Weil du so gut lesen und schreiben gelernt hast, antwortet Edith lächelnd. Aber wo bleibt meine Schultüte? brülle ich und trampele auf die Dielen. Du wirst doch wohl bis morgen warten können, sagt sie und gibt mir einen Gute-Nacht-Kuß.

14

Die Sonne überglänzt das Teerdach. Edith stellt die >Box< auf das Fensterbrett meiner Kammer, und Louise schiebt mir die Schultüte unter den Arm. Schon nach dem ersten Schritt begreife ich, daß mich die beiden betrogen haben. Am Giebel der Heringsräucherei bleibe ich stehen und öffne die leere Tüte. Ist doch bloß zur Erinnerung! rufen Edith und Louise wie aus einem Mund.

Klick, macht es.

382

 

 

Ende

 

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