Biermann

Die Gespenster treten aus dem Schatten

"Das Leben der Anderen": Warum der Stasi-Film eines jungen Westdeutschen mich staunen läßt

Wolf Biermann   www.welt.de   22.03.2006

 

Es gibt immer mehr Westmenschen in Deutschland, die dilettieren in der Rolle des edlen Zauderers. Beim Streitgespräch um die Verwicklungen von Ostmenschen in die Verbrechen des DDR-Regimes halten sie lieber lebensklug den Mund. Aus solchem beredten Schweigen höre ich dann einen verballhornten Hamlet-Monolog heraus:

"... Sein oder Nichtsein ... Nein: ... mische ich mich ein - oder mische ich mich lieber nicht ein ... das ist hier die Frage. — Ob's edler ist im Gemüt, über die Stasi-Troubles der Ossis dumpf zu schweigen, oder sich ins Getümmel der Maulschlachten zu werfen ... Nein! — Ich bin ein Wessi. Wer solche Unterdrückung selbst nicht durchlitten und mitgemacht hat, der kann eigentlich gar nicht mitreden und sollte also auch nicht rechten. — 

Unsereins lebte ja nie unter solchem Druck einer Diktatur. Ich will mich also nicht moralistisch aufblasen, will lieber bescheiden zugeben, daß ich auch nur ein kleiner Mensch bin, mit Ängsten und Schwächen. — 

Ob ich in der DDR mutiger gewesen wäre oder feige, ob ich womöglich ein Alles-Mitmacher hätte werden können oder wenigstens ein vorsichtiger Verweigerer, oder ob ich sogar den Widerstand gewagt hätte gegen das Regime - das kann ich nicht sagen. —

Und deshalb möchte ich all diese Dinge lieber gar nicht beurteilen, geschweige denn Menschen verurteilen, die - wer weiß - nur Mitläufer waren, oder in gutem Glauben an eine gute Sache mit den Organen der Staatssicherheit zusammengearbeitet haben oder einfach aus Unwissenheit oder Angst, selbst tief unglücklich, andere ins Unglück brachten. — 

Ich halte mich da raus. Ich danke dem Schicksal, daß ich niemanden denunzieren und bespitzeln und quälen mußte, bin froh, daß ich solchen Prüfungen niemals ausgesetzt war. Zum Glück ist ja nun alles vorbei und nur noch Geschichte."

Diese betrügerische Bankrotterklärung hört man immer öfter. Aber solch eine lumpenhafte Bescheidenheit ist nichts als die feige Flucht in das, was Immanuel Kant eine "selbstverschuldete Unmündigkeit" nennt. Wer von sich selber sagt: Wer weiß, ob ich nicht auch ein Schwein geworden wäre, der stellt sich vorsorglich einen Persilschein aus für Schweinereien. Egal wie man sich damals selbst verhalten hätte in solchen Nöten und Ängsten, es geht heute und hier nur darum, das Elend der Anderen nicht zu leugnen oder zu verharmlosen.

*

Vor zwei Monaten saß ich am Ostberliner Kollwitz-Platz im Prenzlauer Berg mit fünf Freunden zusammen. Marianne Birthler zeigte uns eine Voraus-DVD mit einem Film von einem unbekannten jungen Regisseur über die DDR: "Das Leben der Anderen". Wir, die wir uns am Fernseher den neuen Film anschauten, waren oppositionelle DDR-Bürger, manche von uns schmerzgeprüfte Knastkenner des Regimes. 

Als ich den Namen des jungen Regisseurs las, fiel mir ein, daß dieser Florian Henckel von Donnersmarck mir vor vielleicht zwei Jahren seinen Entwurf für einen Film über die DDR-Staatssicherheit geschickt hatte. Ich durchblätterte damals genervt das Filmskript. Ich wollte mit solch einem Projekt nichts zu tun haben. Ich war mir sicher, daß dieser Anfänger, dieser naive Knabe mit der Gnade einer späten Hochwohlgeborenheit im Westen nie und nimmer solch einen DDR-Stoff bewältigen kann, weder politisch noch künstlerisch.

Als wir den Film auf der DVD-Scheibe nach gut zwei Sunden gesehen hatten, war ich verblüfft, verwirrt, war angenehm enttäuscht und vorsichtig begeistert. Es entspann sich eine heftige Streitdiskussion. Zwei der versammelten Freunde dort fanden den Film voller Fehler im Detail. 

Nie und nimmer habe ein Kulturminister so viel Einfluß auf den Stasi-Apparat gehabt wie hier vorgespielt. Schließlich sei das MfS strikt und treuergeben das gewesen, was es sein sollte und auch sein wollte: "Schild und Schwert der Partei" - nicht mehr, nicht weniger. Ein Oberstleutnant in Mielkes Firma hätte sich doch nie und nimmer von irgendeinem Genossen Minister auf Trab bringen lassen! Die Entscheidungen wurden immer in der Parteiführung getroffen, der Staat war nur das ausführende Organ. Schon gar nicht ließ die Stasi sich als Machtinstrument von einem Kulturfunktionär zweckentfremden, nur weil dieser schlappe Knabe so altersscharf ist auf eine populäre DDR-Schauspielerin, die mit ihrem erfolgreich aufstrebenden DDR-Dramatiker lebt.

Und noch eine Ungenauigkeit: Dieser junge Schriftsteller sei doch im Film eher als ein systemkonformer Literat dargestellt. Dermaßen operativ bearbeitet, bespitzelt, abgehört und verfolgt wurden doch bevorzugt die wirklich oppositionellen Schriftsteller. Und und und! Und nie und nimmer hätten doch junge angehende Offiziere des MfS beim Unterricht an ihrer Hochschule sich im Hörsaal in Zivil rumgelümmelt! Diese und andere Details seien eben leider falsch. Und! und! und überhaupt verharmlose der Film die totalitäre Wirklichkeit.

Ich gehörte zu denen in unserer verfreundeten Expertenrunde, die solche Unschärfen in diesem Spielfilm für nebensächlich hielten. Die Grundgeschichte in "Das Leben der Anderen" ist verrückt und wahr und schön — soll heißen: ganz schön traurig. Der politische Sound ist authentisch, der Plot hat mich bewegt. Aber warum? Vielleicht war ich einfach sentimental bestochen, weil verführerisch viele Details aussehen, als wären sie aus meiner eigenen Geschichte zwischen dem totalen Verbot 1965 und der Ausbürgerung 1976 abgekupfert. 

Also bleiben Unsicherheit und Mißtrauen: Wenn es solche Saulus-Paulus-Wandlungen bei Stasioffizieren wirklich gegeben haben sollte, wo waren dann solche edlen Exemplare nach der Wende? Kein Einziger hat sich öffentlich oder privat bei mir oder meinen "zersetzten" Freunden erklärt, geschweige denn für eine Schuld sich entschuldigt, die nur die Zuschauer in den Ost- und West-Logen der geschichtlichen Kampfarena flott entschulden können.

Wenn ich dieses Kino mit den Augen meines toten Freundes Jürgen Fuchs betrachte, fällt mir natürlich auf, daß es in der Untersuchungshaftanstalt Hohenschönhausen noch viel härter zuging als in diesem Film. Der sanftmütige Jürgen Fuchs hätte in unserer kleinen Runde einen Wutanfall gekriegt. Er hätte wahrscheinlich gesagt: "Jetzt werden die Schergen der Diktatur auch noch vermenschelt! Das alltägliche DDR-Leben war brutaler, war grauer und grauenhafter. Werden jetzt die Stasi-Verbrecher wie Mielke und Markus Wolf historisch weichgewaschen, etwa wie der arme Mensch Adolf in den letzten Tagen im Führerbunker unter der Reichskanzlei?"

Ich kann nicht wissen, ob die wunderbare Wandlung des Stasi-Hauptmanns eine Geschichtslüge ist oder ein künstlerisches Understatement. Wir sind alle wie süchtig nach Beweisen für die Fähigkeit der Menschen, sich zum Guten zu verändern.

Ich weiß, daß Alexander Solschenizyn vor Jahrzehnten die größte Wirkung erzielte, aber nicht etwa mit den dicken Büchern, in denen alle entsetzlichen Massenmorde und systematischen Grausamkeiten im Archipel GULag wahrhaftig geschildert und mit enzyklopädischer Akribie aufgelistet wurden.

Nein, die stärkste Wirkung in der Welt erzielte er mit seiner allerersten Novelle: "Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch". Darin erzählt Solschenizyn nichts als einen eher angenehm überstandenen Tag eines normalen Häftlings in einem normalen Lager der Stalinzeit, ohne irgendwelche attraktiven Quälereien: eine raffinierte Untertreiberei. Und genau dieser alte Kunstgriff hat damals in Ost und West die Hemmschwelle überwunden, unerträgliche Wahrheiten wahrzunehmen. 

Erreicht hat Solschenizyn damit sogar die Menschen in der UdSSR, die alles selbst und genauer wußten, denn auch dort war nach dem XX. Parteitag, als Chruschtschow seine Geheimrede über die Verbrechen der Stalin-Ära gehalten hatte, dieses schmale Büchlein in Druck gegangen — leider nur für ganz kurze Zeit, dennoch: Die Wirkung war langanhaltend und wirkte auf verdrehte Weise auch in der DDR, verdreht, weil es nur auf Westdeutsch gedruckt wurde.

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Aber zurück zu unserem Film "Das Leben der Anderen". Das ist die Story: Ein professioneller Menschen-Zersetzer, ein verbohrter "Kämpfer an der unsichtbaren Front" wird selber zersetzt. Der MfS-Hauptmann Gerd Wiesler ist ein harter Knochen, aber er wird weich. Er belauscht über Abhörwanzen die Liebenden und schleicht dann nach Dienstschluß in den realsozialistischen Kachelsarg seiner Neubauwohnung und kriecht in sein leeres Bett. Ein anderes Mal verrichtet er in seinem sterilen Wohnzimmer mit einer 15-Minuten-Miet-Dame des MfS-Sex-Service seine Notdurft. Dieser Mann ist mindestens so einsam wie seine Opfer in der Einzelzelle und unvergleichlich schlechter dran als die Schauspielerin und ihr Schriftsteller, die er mit seinen Untergebenen rund um die Uhr abhören und beschatten muß.

Auf dem Dachboden über der verwanzten Wohnung zeichnet er wochenlang Wort für Wort die Diskussionen wie auch das Schweigen der operativ zu bearbeitenden Intellektuellen auf. Und er wird dabei mehr und mehr verführt von deren Lebendigkeit. Am Ende der Geschichte ist er verdorben für diesen miesen Job als Menschen-Zersetzer. Er geht im allerschönsten Sinn kaputt beim professionellen Kaputtmachen, und das ist die märchenhafte Variation einer deformation professionelle.

So ähnliche Geschichten habe ich immerhin mit zwei Frauen in der Chausseestraße 131 erlebt. Ich lag im Clinch mit tapfer kämpfenden Damen, die in Mielkes Diensten standen, die den Spezialauftrag hatten, den Klassenfeind "Lyriker" mit erotischen Waffen zu besiegen und die sich dann dekonspiriert haben und aus Mielkes erotischer Kampftruppe desertiert sind.

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Mir konnte dieser Film etwas vermitteln, was ich mir niemals "in echt" hatte vorstellen können.

In den Zehntausenden Seiten meiner Stasi-Akten fanden sich etwa 215 (in Worten: zweihundertund­fünfzehn) Decknamen dieser und jener Inoffiziellen Mitarbeiter, vulgo: Spitzel, — viele dieser Gesichter kenne ich natürlich. In den Dokumenten finden sich aber auch die bürgerlichen Klar-Namen etlicher offizieller Mitarbeiter, alles Offiziere, also höhere Schreibtischtäter, etwa die der Genossen Reuter und Lohr, also Gestalten wie in dem Film. Solch gesichtslosen Kanaillen leiht das Kunstwerk die Gesichtszüge der Schauspieler aus, in denen ich nun lesen kann. 

Lohr und Reuter waren jahrelang im Zentralen Operativen Vorgang (ZOV) "Lyriker" damit beschäftigt, mich - so chemisch klingt der terminus technicus im Stasijargon - systematisch zu "zersetzen". Zwei von den etwa 20 Maßnahmen stehen so da, mit beiden Stasi-Zeigefingern auf der Dienstschreibmaschine in die lange Liste getippt: "Zerstörung aller Liebes- und Freundschaftsbeziehungen". Eine andere: "Falsche medizinische Behandlung".

* *

Ich habe bis heute nie den Versuch gemacht, einen von diesen hochrangigen Verbrechern nach dem Zusammenbruch der DDR in Zivil Auge in Auge kennen zu lernen. Diese finsteren Lichtgestalten leben ja fast alle noch, und sie beziehen inzwischen eine Rente oder Pension als Beamte der wiedervereinigten Bundesrepublik Deutschland. Und es ist klar, daß kaum einer von diesen Tätern seinen Opfern je verziehen hat. Und schon gar nicht suchen diese dermaßen kommod davongekommenen Ober-Büttel des DDR-Regimes die Aussprache mit den Menschen, die sie jahrzehntelang systematisch verfolgt haben.

In diesem Film nun sah ich, freilich als Kunstfigur verfremdet, zum ersten Mal solche Phantome als lebendige Menschen, also auch in ihrem inneren Widerspruch. Die Gespenster treten aus dem Schatten. Manchmal hat das Kunstwerk mehr dokumentarische Beweiskraft als die Dokumente, deren Wahrheit angezweifelt wird — von den Tätern sowieso, aber schmerzhafter noch von den bald schon gelangweilten Zuschauern.

Den vorgesetzten Oberstleutnant des Hauptmann Wiesler, den Stasi-Offizier Anton Grubitz, spielt der Schauspieler Ulrich Tukur. Dieser starke Charakterdarsteller verleiht den ideologisch verkrusteten Schattenrissen in der Steinhöhle meines Gemütes endlich eine menschliche Fresse, hinter der dann sogar die Reste eines Gesichts sichtbar werden. So erfahren die schablonenhaften Bösewichte meines Lebens endlich eine lebensechte Konkretion, bei der ich erkennen kann, wie sogar in jedem verwüsteten Menschenantlitz alle Farben zwischen Schwarz und Weiß aufleuchten.

Ulrich Tukur wurde berühmt, als er vor vielleicht 20 Jahren beim Regisseur Zadek in Sobols "Ghetto"-Stück am Hamburger Schauspielhaus brillant brutal den jungen SS-Mann spielte, also den interessanteren Bösewicht. Ich habe die umstrittene Inszenierung damals gesehen - mißtrauisch, mit zusammengekniffenen Augen. Tukur sagte nun über sich selbst in einem Nebensatz eines Fernsehfeatures, daß er womöglich deshalb so gern die schwierigen und zynischen und miesen Charaktere spiele, weil er in seinem wirklichen Leben mit all solchen Leiden, Konflikten und Widrigkeiten noch niemals etwas zu tun hatte. Sein privates Menschenleben sei bisher ohne echte Katastrophen und tiefe Verzweiflungen und Enttäuschungen geblieben.

Jaja! - so dachte ich, Tukur, du tiefsinniger Gaukler, du brauchst eben gar nicht die Erfahrung der Gefangenschaft in einem Ghetto. Ein begnadeter Schauspieler wie du mußte keinen SS-Vater haben, mußte auch kein echter Stasi-Mann sein, um diese Rollen realistisch zu spielen. Ein Künstler, den die Musen lieben, muß nicht vorher durch irgendwelche Haßhöllen und Blutbäder waten.

Ich komme aus dem Staunen gar nicht raus, daß solch ein westlich gewachsener Regie-Neuling wie Donnersmarck mit ein paar arrivierten Schauspielern in den Hauptrollen ein dermaßen realistisches Sittenbild der DDR mit einer wahrscheinlich frei erfundenen Story abliefern konnte. Er hat ja alles das nicht selber erlebt! Und trotzdem kann solch ein junger Mann mitreden! Dieser Westler kann offensichtlich sehr wohl urteilen und auch verurteilen, er kann nicht nur mitreden, sondern sogar aufklären. Er braucht keinen deutsch-deutschen Persilschein.

Jedes Leben, auch das sogenannt leichte, das wohlbehütete, schärft den Blick. Auch eine konfliktärmere Vita liefert etwa einem wohlbehüteten Kind aus gutem Hause alles, was es braucht, um zu wissen, was Elend ist, was krumm und was grade. Wir wissen im dunkelsten Herzensgrund alle, was Kummer und Glückseligkeiten sind, was Verrat und Feigheit bedeuten, was Redlichkeit und Tapferkeit.

Deswegen gelang es dem Regisseur auch ohne die schmerzhafte Lehre einer DDR-Sozialisation, das Lebensgefühl der Untertanen in einer kafkaesken Diktatur zu vermitteln. Florian Henckel von Donnersmarck zeigt uns, wie verrückt und kompliziert das Gute und das Böse in einer Menschenbrust sich vermischen und heillos sich aneinander verwirren. Das Verwirrendste an den Schweinehunden sind ihre menschlichen Züge. 

Aber trotz aller komplizierten Kompliziertheit in menschlichen Dingen gilt dennoch das, was Gottvater in der Bibel von allen seinen irdischen Kindern verlangt: "Eure Rede aber sei Ja-ja , Nein-nein."

Von wegen: Vorbei! Wir tragen es offenbar vererbt tief in unseren Seele-Genen: Nichts ist ganz vorbei. Und nichts ist nur noch Geschichte.

Viele Leute in Ost und West haben die Diskussionen über Stasi und DDR-Diktatur schon satt, unter uns gesagt: ich schon lange. Mir reichen meine Stasiballade von 1966, meine Pasquille auf die verdorbenen Greise im Politbüro und meine polemischen Essays nach dem Zusammenbruch der DDR. Aber ich traue mir in diesem Punkte nicht. Der Film des Debütanten bringt mich auf den Verdacht, daß die wirklich tiefere Aufarbeitung der zweiten Diktatur in Deutschland erst beginnt.

Womöglich machen es jetzt besser die, die all das Elend nicht selbst erlitten haben.

 

 

Ende

 

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