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Auseinandersetzung mit der "Bild"-Zeitung 
Die Sozialisierung des Schnüffelns
Wir leben mit "Bild" wie mit der Bombe: Gerhard Henschel hat eine neue Polemik über das Boulevard­blatt verfasst. Es ist die Abrechnung mit der Dreistigkeit dieser papiernen Ringelpietzbrutalität.
Von Gustav Seibt    September 2006 
sueddeutsche.de/,tt4m3/kultur/artikel/315/85230  

 

Der Bild-Zeitung gegenüber hat die kritische Intelligenz im Lauf der Jahrzehnte so etwas wie das Stockholm-Syndrom entwickelt. Die Widerwärtigkeit und Unerträglichkeit des Boulevardblatts ist immer wieder beschrieben worden. Schriftsteller, Künstler, Engagierte aus allen Richtungen haben sich dem Kampf gegen Bild verschrieben, die Studentenbewegung wurde handgreiflich, Boykott-Verpflichtungen gegen den Verlag Axel Springer wurden mit großen Ernst und lange Zeit mit Erfolg eingegangen. In der Geschichte der deutschen Nachkriegsliteratur hat Bild ihren festen, unrühmlichen Platz, sei es, dass Heinrich Böll die hetzerische Gewalt des Blatts an einem Einzelfall darstellte, oder dass Günter Wallraff dessen dubiose journalistische Praktiken erkundete.

Aber all das blieb fruchtlos, und im Lauf der Jahre zerbröselten Boykott und Verachtung, um einem sonderbaren Gleichmut Platz zu machen. Schwankend zwischen Verdrängung und angewiderter Anerkennung haben wir mit Bild zu leben gelernt wie mit der Bombe — der Vergleich stammt von Hans Magnus Enzensberger, der Bild wie Bombe als abgründigen Ausdruck unserer Freiheit begriff und im Übrigen der grellen Ästhetik des Boulevards mit dem Rubrum vom "Barockblatt" seinen Tribut zollte.

Damit aber sind wir beim Stockholm-Syndrom, beim selbsttherapeutischen Schönreden des eigentlich Unerträglichen, das wir doch nicht loswerden können. Bild wird dann "witzig" gefunden, manchmal sogar als "Kult" anerkannt, und die Dreistigkeit seiner Ringelpietzbrutalität entlockt sarkastischen Schöngeistern sogar eine gewisse faulige Amüsiertheit. Kurzum, Bild hat gesiegt. Das Blatt ist, was es ist, eine Macht in unserer Öffentlichkeit, das Pferd in der Stube, nur dass es viel unedler ist als ein Pferd.

 

Das Verdienst von Gerhard Henschels neuem Buch Gossenreport besteht allein schon darin, dass er sich mit dieser Lage nicht abfindet. Er stellt den immerwährenden Skandal wieder her, und zwar auf die einfachste, eindringlichste Weise: Henschels Polemik zitiert unentwegt aus Bild, und zwar sowohl aus dem redaktionellen Teil wie aus den Anzeigen. Es geht nicht um exzesshafte Fehltritte, sondern um den Alltag des Blattes, seine moralische Atmosphäre. Das insistente Gemisch aus Spannertum, ordinärer Geilheit, Schadenfreude und käuflichem Sex wird aufs Niederschmetterndste vorgeführt. So werden wir einer moralischen Korruption wieder ansichtig, die als anthropologische Ekelhaftigkeit einen täglichen Angriff auf die Menschenwürde bedeutet.

"Menschenwürde" ist der geheime Zentralbegriff von Henschels Tirade. Klugerweise hält sich der Schriftsteller nicht bei politischen Richtungsfragen auf, mit denen frühere Bild-Kritiker ihre Position schwächten. Nein, hier schreibt ein wertkonservativer, vorpolitisch wahrnehmender Leser aus der Schule von Karl Kraus, dem es unerträglich ist, dass Bild physische Details des sexuellen Ehelebens von Charles und Diana ausposaunt; der es abscheulich findet, wenn eine Ministerin über ihren Orgasmus berichtet; der das "Schaumglocken"- und "Hupen"-Vokabular für eine Beleidigung weiblicher Brüste hält; für den die Abbildung zerfetzter Terroristenleichen inakzeptabel bleibt.

Natürlich zitiert Henschel auch die gut belegten Fälle, in denen Bild Menschen in den Selbstmord getrieben hat, er benennt Fälschungen und Erpressungen. Aber vor allem konfrontiert der Autor den täglichen Sex-Dreck des Blattes mit den Werten jener staats- und kirchentragenden Größen, die Bild als Gesprächspartner oder Autoren zur Verfügung stehen, sei es der evangelische Bischof Wolfgang Huber, seien es der vorige und der aktuelle Papst, die über "Volksbibeln" von Bild freuen. Und er stellt die Frage, wie wohl die verantwortliche Verlegerin darauf reagieren würde, wenn man in ihrem Bett genauso schnüffeln würde, wie es Bild für ihr unverbrüchliches Recht gegenüber sonstigen Prominenten hält.

Und wirklich bedeutet die Herausarbeitung des permanenten Angriffs auf die Menschenwürde einen viel wirksameren Angriff, als wenn man den politischen Proporz im Kampagnengeschäft des Boulevardblattes eruiert. Zeitungen dürfen "Tendenzen" haben, solange genügend verschiedene Zeitungen auf dem Markt sind. Aber warum treten Moralprediger in Umgebungen auf, wo "naturgeil und unrasiert" gestöhnt wird, wo sich "Hausfrauen mit Riesentitten" anbieten oder wo gefragt wird: "Pinkelte Paris Hilton ins Taxi?"

Gerhard Henschel geht es um die tagtägliche Verletzung der Scham, aus der eigentlich nur eines folgen kann: Dass diejenigen, die sie betreiben und verantworten, zu gesellschaftlichen Parias werden müssten. Wer mag, wenn er eine Woche Bild intensiv gelesen hat, noch vorbehaltlos Chefredakteur Kai Diekmann, Verlagschef Mathias Döpfner und Verlegerin Friede Springer begegnen? Dass diese Personen geachtete Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft bleiben können, das ist das eigentlich unfassbare Skandalon, das Henschels Buch wieder ans Licht hebt.

Dass Bild mit seinem jüngsten Werbetrick, dem "Bild-Leser-Reporter", also der Sozialisierung des Schnüffel- und Paparazzi-Wesens durch Appell an die Geldgier, zu einer gesamtgesellschaftlichen Seuche zu machen droht, verdient das Attribut satanisch. Wer möchte auf Dauer in einer Gesellschaft leben, in der der Typus Bild-Reporter zur Massenerscheinung wird?

Bewirken wird Henschels Angriff im Allgemeinen nichts, er kann vorerst nur die Widerstands­kraft Einzelner stärken. Eine Gesellschaft, die die Bild-Verantwortlichen ächtet, bleibt Utopie. Oder nicht? Gerhard Henschel zitiert aus dem rechtskräftigen Urteil, das im dem Prozess gesprochen wurde, den Diekmann wegen einer taz-Satire Henschels angestrengt hatte. Dort wird kühl festgehalten, Diekmann habe sich "mit Wissen und Wollen in das Geschäft der Persönlichkeitsrechtsverletzungen begeben", beziehungsweise er suche "bewusst seinen wirtschaftlichen Vorteil aus der Persönlichkeitsrechtsverletzung anderer".

So hat es ein Gericht glasklar gesagt. Was aber folgt daraus? Was ist von einem Rechtsstaat zu halten, der feststellt, ein Chefredakteur ziehe seinen wirtschaftlichen Vorteil aus der Persönlichkeitsrechtsverletzung anderer, und der dagegen doch nicht einschreitet? Ist es wirklich unmöglich, hier eine neue Grenze zu ziehen, um dergleichen Vorteilsnahmen zu unterbinden, ohne deshalb der bürgerlichen Meinungsfreiheit Schaden zuzufügen, die ein politisches Recht ist, aber bestimmt nicht den täglichen Angriff auf die Menschenwürde deckt? Diese verstörende Frage wird man immer wieder stellen müssen.

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