Rudolf Bilz Wie frei ist der Mensch? Paläoanthropologie
Aus der Verlagsleseprobe
Inhalt Vorwort (7-9)
I. Wie frei ist der Mensch? Über die paläoanthropologischen Bedingtheiten menschlichen Existierens (9)
II. Das Repertoire der Ursituationen und urszenischen Rollen (125)
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III. Subjekt und Umwelt (237)
IV. Schlaf, Müdigkeit und Übermüdung (369)
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Vorwort
7-9
In diesen Tagen sind erstmals Menschen in einem Raumfahrzeug auf dem Mond gelandet. Nicht nur Stimmen der Bewunderung, auch kritische Stimmen wurden laut. Sie brachten zum Ausdruck, daß uns der Mensch, das unbekannte Wesen, als Ziel der Forschung wichtiger sein sollte. Eine Fülle von konkreten anthropologischen Einzelheiten und Zuordnungen, die wir vielleicht haben könnten, bleibt uns verborgen, weil die für ihre Erforschung notwendigen Geldmittel und Institute nicht zur Verfügung stehen.
Wäre es nicht endlich an der Zeit, der politischen Barbarei und Verwirrung, dem Hunger und der Not Einhalt zu gebieten, anstatt sich mit extraterrestrischer Forschung zu befassen? Während die Leute fasziniert vor ihren Fernsehgeräten saßen, um die Vorbereitungen und den Flug zum Mond zu beobachten, erhielten sie zwischendurch Nachrichten aus Mittelamerika, wo plötzlich ein Krieg ausgebrochen war, mit Bombenabwürfen und allen Greueln, die dazugehören. Ursache: es hatte bei einem Fußballspiel Ärger gegeben.
Das ist die terrestrische Misere ohne Ende. In mehreren Erdteilen »wird gekämpft«. Das Mißverhältnis zwischen technischem Fortschritt und menschlicher Unreife ist erschreckend. Vielleicht sollte man sich wirklich zunächst einmal um eine Anthropologie bemühen.
Das vorliegende Buch hat sich die Aufgabe gestellt, uns, die noch unerforschten Menschen, in ihrer archaisch bedingten Verstrickung zu zeigen. Unsere Evolution ist noch nicht zu einem Ende gekommen: einerseits verhalten wir uns tierlich-barbarisch, andererseits sind wir noch heute von magisch-schamanistischen Erlebens- und Verhaltensbereitschaften erfüllt. Die Paläoanthropologie hat es sowohl mit den »Biologischen Radikalen«, d. h. den tierlich-menschlichen Übereinstimmungen zu tun, als auch mit der restierenden prophetisch-schamanistischen Übergangsphase, die - mit den Augen des Psychiaters gesehen - wie eine Psychose anmutet.
Die Methode unseres Vorgehens ist die der Psychoanalyse: sie deckt auf und macht bewußt, was bisher im Dunklen war. Das läuft auf eine Bewußtseinserweiterung hinaus. Während zahlreiche Forscher bereits mit der Zukunft des Menschengeschlechts befaßt sind, die sie mit naturwissenschaftlichen Methoden, etwa über Eingriffe in das genetische Substrat, gestalten wollen, utopische Verwirklichungen erstrebend, wird hier lediglich nach der alten psychoanalytischen Methode der Inventarisierung verfahren. Wir sollten überhaupt erst einmal wissen, was im Menschen »alles drinsteckt«. Wir wußten und wissen bisher zu wenig über uns selbst.
Das Buch, das in zwei Bänden erscheinen wird, stellt zusammen mit den Monographien Psychogene Angina (1936), Pars pro toto (1940), Lebensgesetze der Liebe (1943), Trinker (1958) und Psychotische Umwelt (1962) das Lebenswerk des Verfassers dar. Es handelt sich um mehr als achtzig Aufsätze, die im Verlaufe der zurückliegenden vierzig Jahre in medizinischen, psychotherapeutischen, psychologischen, psychiatrisch-neurologischen und anthropologischen Zeitschriften publiziert oder auch unlängst, in unseren Tagen, verfaßt worden sind.
Sie alle haben die Aufdeckung menschlichen Verhaltens und Erlebens zum Ziel: Seinen Wahn und Aberglauben, seine Schlaf- und Nahrungsgewohnheiten, seine Ängste, seine Aggressivität! - um zu zeigen, was der Mensch ist und was er möglicherweise sein könnte, wird, über den von der Psychoanalyse entwickelten lebensgeschichtlich-ontogenetischen Ansatz hinaus, die stammesgeschichtliche Vergangenheit (Phylogenese) einbezogen: der Mensch als ein in seiner Evolution noch nicht abgeschlossenes, auch stammesgeschichtlich-vorpersonal zu definierendes Lebewesen.
Mainz, im Juli 1969
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I.
Wie frei ist der Mensch?
Über die paläoanthropologischen
Bedingtheiten menschlichen Existierens (1969)1. Redlichkeit und Unbeugsamkeit 2. Störungen des Subjekt-Umwelt-Gleichgewichts 3. Archaische Gesundheit
4. Oligarchie der subjektdienlichen Instanzen 5. Macht und Ohnmacht des Geistes 6. Bedeutungsverleihung und Stimmung (Wahnstimmung)
7. Rache, Ressentiment und andere Formen der Barbarei 8. Von den Tugenden einer zukünftigen Zivilisation#
1. Redlichkeit und Unbeugsamkeit
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»Jede Tugend hat ihre Zeit.« Die Tugend unserer Zeit wird die Redlichkeit sein. Dieser Hoffnung hat Friedrich Nietzsche Ausdruck gegeben. Die intellektuelle Redlichkeit kommt in unserem wissenschaftlichen Denken zum Ausdruck, womit ich nicht sagen möchte, daß allem, was sich als »wissenschaftlich« ausgibt, in jedem Fall der Akzent der Redlichkeit zukommt. Als die »Tugend« der Jahrhunderte von Kepler und Galilei galt die Unbeugsamkeit, d. h. die konservative Beständigkeit, die sich an die Traditionen hielt. Das Weltbild des Mittelalters ließ sich nicht halten, und inzwischen ist sogar das Menschenbild, unser eigenes Bild, fragwürdig geworden. Wir sind nicht die freien Ritter des Geistes, für die wir uns hielten. Dostojewskij hat einmal gesagt: »Die Gesetze des Menschengeistes sind vorläufig so unbekannt und so geheimnisvoll, daß es bis jetzt weder gründliche Ärzte noch endgültige Juristen geben kann.«
Hinter der Unbeugsamkeit, die man auch als »Charakterstärke« bezeichnet, mag die Angst vor dem Chaos gestanden haben, vielleicht auch nichts als die Trägheit und das Festhalten am Genuß der Macht. Es kann sich auch, und zwar noch heute, eine fanatische Borniertheit hinter der Beständigkeit verbergen. »Charakterstark«, »unbeugsam« ist auch der mächtige Alpha-Pavian, der im Käfig innerhalb seiner Sozietät ständig im Recht ist. Die Aussage Nietzsches lautet wörtlich: »Wer jetzt unbeugsam ist, dem macht seine Redlichkeit oft Gewissensbisse, denn die Unbeugsamkeit ist die Tugend eines anderen Zeitalters als die Redlichkeit« (1).
Wir stehen an der Schwelle einer Anthropologie, der es um empirisch fundierte Zuordnungen zu tun ist. Uns interessieren Übereinstimmungen im Verhalten von Menschen und Tieren, die ich als Biologische Radikale resp. als Identische Exekutiven bezeichnen möchte. Die Methode unserer Forschung gliedert sich in Erfahrung, d. h. empirische Erfahrung, und Vergleich und Urteil. Anders gesagt: Wir treiben, indem wir uns für die Parallelen in Stoffwechsel und Verhalten interessieren, vergleichende Verhaltensforschung. Es gibt menschliches Verhalten, das man als animalisch-biologisch determiniert ansehen muß. Früher hat man in diesen Fällen von »instinktivem« Verhalten oder von »Trieb-Verhalten« gesprochen. Alle Menschen sind durch Verhaltensweisen dieser Art gekennzeichnet, was damit zusammenhängt, daß es sich dabei um ein stammesgeschichtliches Erbe handelt.
Außer diesem ererbten Verhalten kennen wir eine zweite Gruppe von ubiquitär-menschlichen Verhaltensweisen: Sie wurzeln nicht in unserer Animalität, sondern kommen aus den Bereichen, die man als magisch oder mythisch zu bezeichnen pflegt. Es gibt Gedankengebäude dieser Art, die dogmatisch anmuten und die ebenso ubiquitär bestehen wie die Biologische Radikale. Hier handelt es sich um gewisse Tabus oder um Riten und tradierte Sitten. Der Ethnologe Adolf Bastian (2) gebrauchte für diese über die ganze Welt verbreiteten Übereinstimmungen des Denkens und Brauchtums den Terminus »Ethnische Elementargedanken«. Wenn man diesem Parallel-Verhalten analysierend auf den Grund geht, wird man zu der Feststellung kommen, daß selbst in einer Anzahl dieser Fälle ein Biologisches Radikal zugrunde liegt. Man wird von den echten Besonderheiten menschlichen Verhaltens sprechen, wenn man Verhaltens-Ubereinstimmungen ubiquitärer Art vor sich hat, die bei Tieren nicht zu erweisen sind. Soviel zunächst über die Sonderstellung des Menschen.
Wir berufen uns an der Schwelle dieser zukünftigen Anthropologie auf die menschliche Stammesgeschichte. Die Biologischen Radikale, die identisches Verhalten auch bei Tieren, im besonderen bei Primaten, erkennen lassen, weisen auf unsere Phylogenese hin. Unsere Väter und Lehrer wollten von diesen Gedankengängen nichts hören. Ganz gewiß meinten sie, daß auch sie »redliche Denker« wären, aber ihre anthropologischen Konzeptionen haben sich inzwischen als unhaltbar erwiesen.
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Eine Fülle überlieferter Vorurteile engte ihre wissenschaftlichen Horizonte ein. Mit den letzten Vertretern dieser Generation haben wir es noch heute zu tun. Man darf mit Genugtuung feststellen, daß schon die Psychoanalyse mit einer Reihe grotesker Selbstmißverständnisse dieser Leute aufräumte. Das simple Welt- und Menschenbild unserer Väter und Lehrer wurde von dem Begriff des Unbewußten erheblich erschüttert.
Man war früher der heute unglaublich anmutenden Meinung, daß man Herr im eigenen Hause sei, so, wie man vor Kopernikus unsere Welt für eine Art Zelt oder Gebäude gehalten hatte, unter dessen Dach man geborgen war. Man sprach vom Himmelsgewölbe oder Himmelszelt. Es könnte sein, daß man, wenn man die Zusammenhänge mit den Augen des Psychiaters sieht, die Erscheinung, die wir seit Nietzsche als »Intellektuelle Redlichkeit« bezeichnen, möglicherweise als einen Zwang ansehen muß, der sich zunehmend vermehrt hat.
Gleichviel, welche diagnostischen Maßstäbe sich uns aufdrängen, wir müssen forschen und unsere empirisch gewonnenen Erkenntnisse interpretieren und auf uns beziehen. Mit anderen Worten: Ich kann nicht wählen, welche wissenschaftliche Erkenntnis ich akzeptieren will, es sei denn, daß mich ein Verdrängungsschutz daran hindert, der mich in Blindheit hält, aber selbst in diesem Falle kann ich nicht bewußt wählen. Wir sind der zunehmenden Bewußtseinserweiterung und der Verwissenschaftlichung unseres Denkens ausgeliefert, zwanghaft ausgeliefert. So müssen wir, ob es uns paßt oder nicht, die »Feste« der Erkenntnis feiern, wie sie fallen.
Dieser Mangel an Freiheit, nämlich Wahl-Freiheit, ist bemerkenswert. Um dieses Ausmaß der Unfreiheit an einem Beispiel zu demonstrieren: Es ist nicht in meine Entscheidungsfreiheit gestellt, ob ich den Pythagoreischen Lehrsatz oder die Tatsachen der Kernphysik anerkenne. Dazu bin ich mittels der logischen Beweise »gezwungen«. Der Psychiater und Psychotherapeut C. G. Jung, von dem man gewiß sagen kann, daß ihm ein neues Bild des Menschen vorschwebte, beschloß, die Biologie aus seinem wissenschaftlichen Denken auszuklammern.
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Man stelle sich vor, daß eine solche Entscheidung noch unlängst möglich war. Seine Lehre von den Archetypen (3) deckt sich weitgehend mit den Entdeckungen Adolf Bastians, der ebenso das ubiquitär-menschliche Verhalten im Auge hatte, als er von den Ethnischen Elementar-Gedanken (2) sprach. In der Antike, nebenbei bemerkt, wußte man genauso von diesen Erscheinungen. Man sprach von den logoi spermatikoi. Jung selbst war überzeugt, daß seine sog. Archetypen in der instinktiven Basis des Menschen begründet seien. Er sprach von den »darunter liegenden biologischen Vorgängen«. Es hätte also nahegelegen, sich mit den Verhaltensweisen der Tiere, etwa mit dem Verhalten der uns verwandtschaftlich nahestehenden Primaten, zu befassen, gleichviel, was dabei herausgekommen wäre. Jung (4) tat es nicht: »Sobald sich die Diskussion mit dem Instinktproblem einläßt, werden die Dinge schmerzhaft verworren und verwickelt. So gerät man in die Biologie und wird verwirrter denn je.«
Mit anderen Worten: Jung meinte, daß man die Befassung mit Grundfragen der Lebensforschung vermeiden, dabei aber eine Anthropologie begründen könne. Die intellektuelle Redlichkeit zwingt uns dazu, uns auch mit biologischen Fragen auseinanderzusetzen. Die Aussparung des biologischen Denkens scheint uns heute als unvorstellbar. Allein schon darum kann man auf die Biologie nicht verzichten, weil uns in der Befassung mit den grundlegenden Phänomenen eine neue Sprache zuwächst. Begriffe wie »Identische Exekutive« oder »Biologische Radikale« oder auch »Archaische Funktionsreserve« können wir nicht missen, wenn es sich um den Aufbau einer neuen Anthropologie handelt. Man »hat« eine Sprache, aber ebenso »hat uns die Sprache«. Es ist nicht gleichgültig, welche Sprache unser Denken manipuliert, ob es die tradierte alte Sprache ist oder die empirisch ausgerichtete neue Begriffs-Sprache. Unsere Väter und Lehrer »sprachen« auch, aber es war keine an empirischen Grundtatsachen ausgerichtete Sprache, die sich ihrer bediente.
Wie wenig es unseren Lehrern Ernst war, sich von ihrer mit
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Vorurteilen erfüllten Sprache und den alten Denkweisen zu trennen, läßt sich nicht nur am Beispiel C. G. Jungs demonstrieren, der sich mit der Biologie »nicht einlassen« wollte, sondern erweist sich sogar am grünen Holz: Der Biologe und Physiologe Jakob von Uexküll, der Begründer der Umweltlehre, der damit zugleich als Begründer der Verhaltensforschung zu gelten hat, wehrte sich zeitlebens gegen den Darwinismus. Er war und blieb in diesem Punkte konversativ-beständig. Die tier-menschlichen Verhaltens-Übereinstim-mungen ließ er gelten. Er war es, dem wir den Begriff »Schema« (5) verdanken, dem in unserer Verhaltensforschung grundlegende Bedeutung zukommt, aber er scheute sich vor der Konsequenz, in seinen Befunden ein Vorfahren-Erbe im Sinne Darwins zu sehen.
Wir wollen Ernst machen mit der Forderung, die schon Goethe in seinem »Entwurf einer allgemeinen Einleitung in die vergleichende Anatomie« (6) erhoben hatte: »das einfachere Tier im zusammengesetzten Menschen« wieder entdecken.1 Eine der Voraussetzungen für die Zuwendung zu einer vergleichenden Verhaltensforschung war die Entmythologisierung: Wer an der biblischen Schöpfungsgeschichte festhält, als ob es sich um einen tradierten wissenschaftlichen Bericht handelte, der für alle Zeiten unabänderlich gilt, bezeugt sich damit zwar als charakterstark-unbeugsam, versperrt sich jedoch den Weg zu fundamentaler anthropologischer Erkenntnis. Die Redlichkeit der Methoden, die zu neuen Erkenntnissen und neuen, zum mindesten vorläufig neuen Wahrheiten führt, muß rücksichtslos durchgehalten werden. Es gibt kein Zurück.
1 Das Zitat lautet im vollen Wortlaut: ». . . die Einsicht zuletzt, wie der Mensch dergestalt gebaut sei, daß er so viele Eigenschaften und Naturen in sich vereinige und dadurch auch schon physisch als eine kleine Welt, als Repräsentant der übrigen Tiergattungen existiere, alles dieses kann nur dann am deutlichsten und am schönsten eingesehen werden, wenn wir nicht, wie bisher leider nur zu oft geschehen, unsere Betrachtungen von oben herab anstellen und den Menschen im Tiere suchen, sondern wenn wir von untenherauf anfangen und das einfachere Tier im zusammengesetzten Menschen endlich wieder entdecken.«
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Ich sage nicht, daß der Mensch nichts als ein Primate ist, ein Tier durch und durch, genauso wie die anderen; ich anerkenne seine Sonderstellung, die ihm im Vergleich mit den Tieren zukommt.
Für seine besondere Mission spricht schon die Tatsache, daß der Mensch auf sprachliches Verhalten angelegt ist und daß diese Fähigkeiten in seinem Gehirn reifen; man denke etwa an die Leseschwäche (Legasthenie), in der man neuerdings eine Reifehemmung des Gehirns sieht. Allein schon die Fähigkeit des Sprechens, des Lesens und Schreibens kennzeichnen den Menschen, dieses im übrigen weitgehend unbekannte Lebewesen. Eine andere Fähigkeit des Menschen ist, daß er - ich zitiere Nietzsche - das »nicht festgestellte Tier« ist. Die anderen Tiere sind sozusagen auskristallisiert, während er, der ganz zuletzt auf der Bühne des Planeten erschien, noch immer im Werden ist. Ein Sperber ist heute wie vor tausend Jahren ein Sperber, darauf wies schon Voltaire in seinem Candide hin, während der Mensch in einem Prozeß der Wandlung und Verwandlung begriffen ist. Es steht zu hoffen, daß uns dabei auch die neue Tugend der Redlichkeit zu neuen Ufern führt.
Unlängst hatte ich ein Gespräch mit einem Philosophen, der mich auf die mangelhaften Platon-Übersetzungen hinwies. Wenn es wahr ist, daß das Griechisch, dessen sich Platon bediente, den Begriff »Situation« nicht kennt, so wird man, selbst wenn man als Übersetzer mit Engelszungen begabt ist, versagen. Eben aber für uns kommt dem Begriff der »Situation« eine grundlegende Bedeutung zu. Wir werden es mit Paracelsus halten, dem es nicht auf die Bücher der alten Philosophen ankam, der im Gegenteil den Vorschlag machte, im »Buch der Natur« Seite um Seite umzuschlagen. Anders gesagt: Uns kommt es zunächst auf einen Katalog empirisch-paradigmatischer Urphänomene an, und zum anderen auf eine Gleichnissprache. Dabei erscheint mir die Gleichnissprache besonders geeignet zu sein, die sich auf das Theaterleben bezieht: Regie, Repertoire, Szene (sich wandelnde Situation) und Rolle, die in einer Stimmung (Erlebnis- und Aktionsbereitschaft) begründet ist.
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2. Störungen des Subjekt-Umwelt-Gleichgewichts
Wir möchten nicht nur wissen, »was im Menschen alles drinsteckt«, sondern interessieren uns auch für seine Umwelt-Kommunikation. Es ist uns zu wenig über die Bedingtheit unserer Existenz bekannt. Was alles in uns drinsteckt? Da handelt es sich u. a. um umweltbedingte, genauer gesagt: um situationsbezogene Reaktionsmechanismen, die gleichsam losgehen, wenn die und die auslösenden Voraussetzungen gegeben sind. Beispiel: Es meldet sich ein Appetit, wenn das Anreizvermögen einer Nahrung auf mich einwirkt. Wenn ich jedoch längere Zeit nichts gegessen habe, kann sich genauso ein Nahrungsverlangen einstellen, und zwar auch dann, wenn in meiner Umwelt eine meinen Speichelfluß anreizende Nahrung nicht vorhanden ist. Subjekt und Umwelt sind einander zugeordnet. Mit anderen Worten: Wenn auf Seiten des Subjekts ein innerer Aktionsdruck ansteigt, gleichviel, ob er von außen her ausgelöst wurde oder allein von innen heraus, so tendiert er zur Entladung. Dieses Verlangen treffen wir genauso bei den Tieren an, so daß von einem »Biologischen Radikal« die Rede sein kann.
Wir bezeichnen diesen inneren Aktionsdruck, der mit einer Erlebnisbereitschaft verbunden ist, als Stimmung. Ein Vogel z. B. kann von einer Nestbau-Stimmung (Heinroth) erfüllt sein, wenn es Frühling wird, wobei Nistmaterial in seiner Umwelt anreizend wirkt. Wenn jedoch dieser innere Aktionsdruck so stark geworden ist, daß das Subjekt ihn nicht mehr halten kann, entlädt er sich, auch wenn das Anreizvermögen von Nistmaterial nicht vorliegt. In diesem Fall könnte man sagen, daß sich der Vogel als inkontinent erweist. Kontinent sein heißt, die Funktion zurückhalten können.
So beobachtet man, wie ein Webervogel in seinem Käfig sitzt und mittels typischer Schnabelbewegungen ein Nest in die Luft baut, ohne daß Zweige
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vorhanden sind, an die er das Nest anheften könnte, und ohne daß Nestbau-Material vorliegt.
Die Nestbau-Stimmung dominiert, das Subjekt baut ein imaginäres Nest ins Leere. Dieser Vogel erscheint als »inkontinent«. Stimmungen sind Bereitschaften, und zwar Erlebnisbereitschaften. Alsdann können die »Erbkoordinationen« (K. Lorenz) des Nestbaus sich manifestieren. Im Idealfall liegen Anreizvermögen vor, die in der Umwelt lokalisiert sind; bei dem Webervogel jedoch, der ins Nichts ein Nest baut, fehlen sie. Seine charakteristischen Bewegungen stellen ein Leerlauf-Verhalten dar (7). Auch dem Moment der illusionären Mißdeutung begegnen wir: Ich sah, wie in einem Tierpark ein Emu (Dromiceius novaehollandiae), der in Begattungs-Stimmung war, an einem vor ihm liegenden Knäuel von Sackleinwand kohabitatorische Bewegungen ausführte. Die unterschiedlichen Stimmungen (Erlebnis- sowie Reaktions- und Aktionsbereitschaften) begründen das Repertoire des Subjekts.
Der französische Arzt Claude Bernard sprach von einem milieu interne, dem das milieu externe gegenübersteht. Ich bringe einen neuen Gesichtspunkt in die Diskussion, wenn ich die einander gegenüberstehenden Phänomene, nämlich das milieu interne, die innere Verfassung des Subjekts, seine Stimmungen, und das externe »Umwelt-Milieu« der unterschiedlichen Situationen mit den Schalen einer Waage vergleiche. Zuordnung hieße dann, und zwar im Idealfall, ausbalancierte Entsprechung, Aequilibrium, Gleichgewicht. Wenn man das Moment der Ganzheit hervorheben wollte, so könnte man sagen, daß sich die Entsprechung der beiden Milieu-Phänomene als ein in sich geschlossenes Ganzes auffassen lasse, so, wie die Waage mit den korrespondierenden Schalen ein Ganzes ist. Die Idee dieser Ganzheit, nämlich einer dynamischen, d. h. in sich dynamischen Entsprechungs- oder Zuordnungsganzheit, die wie ein Haushalt anmutet, ist der Leitstern, unter den ich die folgenden Erörterungen stelle.
Wenn man im Italienischen einen Menschen, den man für »verrückt« oder zum mindesten für »ein bißchen verrückt« hält, als
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»squilibrato« bezeichnet, so wird damit auf eine Gleichgewichtsstörung angespielt.
Das Wort »squilibrato« weist auf das lateinische Aequilibrium hin, das Waage-Gleichgewicht bedeutet. Die »Desequilibres« der französischen Psychiatrie deuten auf die gleiche Vorstellung von einem gestörten Aequilibrium hin. Auch die Webervögel, die in ihrem Käfig Nester in die Luft bauen, sind in diesem Sinne desequili-briert.
Wenn man unter Gesundheit das Zusammenspiel der harmonischen Funktions-Zuordnungen versteht, wobei auch die von der Umwelt her gegebenen Anreiz-Vermögen einbegriffen sind, so kann man tatsächlich sagen, daß dieser Vogel, der aus Nichts ein Nest in das Nichts hineinbaut, »verrückt« ist. Gesund oder krank, diese diagnostische Alternative wird uns bei unseren Untersuchungen zu beschäftigen haben.
Man kann zwei Möglichkeiten des mangelnden Waage-Gleichgewichts unterscheiden, nämlich die, die uns das inkontinente Subjekt von einer heftigen Aktivität erfüllt zeigt, die explosionsartig oder drangartig aus ihm hervorbricht, und das Gegenteil davon: Da finden wir auf der einen Seite der Zuordnungs-Waage die mit Reizen erfüllte Umwelt, während das Subjekt »lahm« anmutet (Apathie, Stupor). Hier kann von einer drangbedingten Inkontinenz nicht gesprochen werden. Im Gegenteil, die Zuordnungs- oder Entsprechungs-Waage ist so beschaffen, daß das Schwergewicht zugunsten der Umwelt-Waagschale verlagert ist: Das Subjekt erweist sich als überfordert. Es ist dem Stimulations-Vermögen seiner Umwelt nicht oder nicht mehr gewachsen. Wir kennen Menschen, die eine so turbulente Umwelt brauchen, daß es schwer wäre, ihnen diese Umwelt zu liefern.(2)
Sie....
II. an J. J. Rousseau, der folgenden Wortlaut hatte: »Mein lieber Jean-Jacques, kommen Sie zu mir, ich bewundere Ihre Talente; zeigen Sie nun Ihren Feinden, daß Sie gelegentlich gesunden Verstand haben können: Das wird Ihre Feinde ärgern, ohne Ihnen bei Ihren Freunden zu scha-2 Der englische Schriftsteller Horace Walpole (1717-1797) war einer der Denker, die der Meinung waren, daß es Menschen gibt, die in einer leidvollen Umwelt leben und Unglück erfinden müssen. Er fingierte einen Brief des preußischen Königs Friedrich
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