Herausgegeben
von Karl-Heinz Baum

und Roland Walter

 

"... ehrlich und
gewissenhaft ..."

 

Mielkes Mannen
gegen das Neue Forum

 

2008 bei ZBA-Buch, Berlin

Baum, Böttger, Walter (2008)  "... ehrlich und gewissenhaft ..." - Mielkes Mannen  gegen das Neue Forum

2008   

200 Seiten

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detopia:

Start Böttger 

Pankowbuch

 

 

 

Inhalt    

 

Prolog:

Geschlossene Gesellschaft — Realsatire in einer Akte  (5)

Geleitwort — Gert Weisskirchen  (13)

Geleitwort — Eckhard Jesse  (15)

 

   Inhalt.pdf

Der Aufbruch der Vierzigjährigen: Beispiel Martin Böttger (18)

Vom Aufbruch zum Umbruch — Martin Böttger  (41)

Die Übergabe - Aus einem Stasi-Protokoll vom 23.8.1989  (44)

Sechs Wochen und die DDR ist eine andere  (47)

Quelle (48)

Dokumente: 30. September bis 3. Oktober (51)

Erste Feindberührung

Martin Böttger, geb. 1947, Physiker, Zwickau (57)

 

Die Menschen wollten eine verratene Idee wieder aufleben lassen:
die Idee der Menschenrechte

Dokument: 4. Oktober 61

IM erleichtert: Endlich Leute, die etwas verändern wollen

Steffen Kollwitz, geb. 1964, Goldschmied, Plauen 72

Auch das wiedervereinigte Deutschland steckt voller Konflikte und
Probleme. Trotzdem gibt es nichts zu bereuen

Hanno Schmidt, geb. 1937, Pfarrer, Coswig 76

Wir haben grundsätzlich darauf vernichtet, jemanden %u verdächtigen.
Es würde bestimmt den Falschen treffen
Dokument: 8. Oktober 78
Demo vor dem Luxor: Die Stasi zeigt Härte

Ilona Langer, geb. 1941, Grafikerin, Chemnitz 92

Ängste wollte ich keine zulassen, nur mir selbst war ich verantwortlich
und ich wollte es auch ertragen müssen, sollte es schief gehen
Johannes Gerlach, geb. 1954, Strahlenphysiker, Chemnitz 94
Meine Kinder sollten einmal ohne politisch motivierte Verbiegungen
ihr lieben gestalten können
Dokument: 11. Oktober 97

IM-Besuch bei Böttgers: Schokolade für die Kinder, Kaffee für die Gattin

Xaver Kutscher, geb. 1952, Ingenieur, Auerbach 107

Endlich war dieser Stillstand, dieses lähmende Nichts, nicht mehr
vorhanden. Man konnte wieder an Träume glauben

Ingo Andratschke, geb. 1941, Holzgestalter, Karl-Marx-Stadt 109

... ich habe das Geßihl, dass die Deutschen eigentlich an ihrem Wohlstand leiden

Dokumente: 12.-18. Oktober 111

Beim Führungsoffizier: Auftrag hoch konspirativ 113
MfS-Lauscher an „Ösers" Telefon 114
Aus dem schweren Alltag eines IM: Schuften für den Klassenfeind 117

Albrecht Kämpf, geb. 1952, Holztechniker, Annaberg 126

Heute sehe ich meinen Plat^ eher in der Zuwendung %u einzelnen
Personen, die in der freiheitlichen Ellbogengesellschaft ausgegrenzt sind
Dokumente: 20.-22. Oktober 128

Demonstrieren, damit etwas losgeht
Gerd Stemmler, geb. 1939, Ingenieur, Reichenbach/Vogtland 142
Viele sahen nur den ,Goldenen Westen' und gruben bereits ihr
persönliches Startloch ins neue Leben

Dr. Günter Bartsch, geb. 1940, Kinderarzt, Neukirchen 146

Wir hatten das feine Empfinden, jetzt ist der Zeitpunkt zum Geschichteschreiben
Dokumente: 25. Oktober - 8. November 149
Parteisekretäre zur Kundgebung des Neuen Forums
Parteibezirksschule lädt ein — IM zur Vorstellung des Neuen Forums

Joachim Harbort, geb. 1951, Bildhauer, Zwickau 170

Die Verwurzelung und der Drang %ur Mitgestaltung, vielleicht auch
der Respekt vor dem Geschaffenen, waren ^u groß um ^u gehen
Dokumente: 9.-13. .November 172
Ein Dienstwagen für den IM
Dokumente: 13.-15. November 193
Ein IM räumt auf: 40 Jahre DDR, 40 Jahre Korruption der SED

Das Ende eines IM - Martin Böttger 203

Herausgeber und Autoren 205
Anmerkungen / Bildnachweis 206

 

Lesebericht

zba-buch.de/rezension

Helmut Müller-Enbergs:

Geschlossene Gesellschaft – Die inoffiziellen Mitarbeiter und das Neue Forum in Karl-Marx-Stadt

„…ehrlich und gewissenhaft…“ Mielkes Mannen gegen das Neue Forum

– Herausgegeben von Karl-Heinz Baum und Roland Walter

– mit Geleitworten von Gert Weisskirchen und Eckhard Jesse

in Horch und Guck. Michael Richter, Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e.V. an der Technischen Universität Dresden

 

Martin Böttger versus „Achim Öser“ war ein Duell der besonderen Art, es spielte im Bezirk Karl-Marx-Stadt in den Monaten Oktober und November 1989. Anfangs folgte es den Regeln der Staatssicherheit, an seinem Ende jedoch denen des wenig bekannten „Code Duello“ aus dem 18. Jahrhundert – seinem Wesen nach eben „ehrlich und gewissenhart“.

Ein ehrlicher und freiwilliger Zweikampf war das anfangs ebenso wenig, wie er gleichfalls nicht vereinbart war, um etwaige Ehrenstreitigkeiten auszutragen. Festgelegte Duellregeln, die für beide Seiten überschaubar waren, gab es auch nicht. Und schließlich ging es nicht um die Ehre, sondern auf den Schultern der beiden Beteiligten lagen nichts Geringeres als zwei verschiedene politische Konzepte: Auf der einen Seite ein sozialstaatliches Modell, wie Martin Böttger es sich in Schweden vorstellte, auf der anderen Seite der Sozialismus in den Farben des Erich Mielke, der oberste Dienstherr von „Achim Öser“.

Das Duell gehorchte den Gesetzen der Konspiration, eben angepasst an die Bedingungen eines sterbenden, sich möglicherweise gewaltsam gegen den Untergang stemmenden Staates, was im Oktober 1989 keinesfalls ausgemacht war. Ebenso stand im Raum, ob dieser Staat seine Widersacher internieren würde. In solch einer Konstellation war widerständiges Verhalten stets die Suche nach öffentlich-legalem Raum, aber im Handgepäck die Instrumente der Konspiration und in stetem Unwissen darüber (oder allenfalls ahnungsvoll), wer der unsichtbare Duellant sein würde. Es musste ihn geben, aber er zeigte sich nicht. Und die Waffe auf Seiten Böttgers, deren Auswahl das Herzstück vor jedem freiwilligem Duell ist?

„Auf alles waren wir vorbereitet“, zitiert Gert Weisskirchen in seinem Geleitwort einen Satz eines SED-Spitzenfunktionärs, „nur nicht auf Kerzen“ (S. 14). Im Herbst 1989 hatte der 42jährige Martin Böttger hinreichend Erfahrungen mit der Staatsmacht gesammelt, und je hinreichender sie geworden waren, umso umfassender und zuverlässiger die Kenntnisse über die Konspiration. Böttger, aus dem sächsischen Frankenhain stammend, hatte Physik studiert, hatte während des Studiums die FDJ verlassen und sich der Evangelischen Studentengemeinde zugewandt. Er verweigerte den Waffendienst und war von 1970 bis 1972 einer von rund 200 Bausoldaten bei ansonsten gut 100 000 einberufenen Rekruten. Er wendet sich der Friedensbewegung zu, zeigte bei staatlichen Demonstrationen eigene Transparente und wurde 1976 festgenommen, und 1980 wieder. Er tummelte sich in der Berliner Szene, wurde 1983 wieder verhaftet und nach politischem Druck vierzehn Tage später freigelassen.

Im Sommer 1989 zog er nach Cainsdorf bei Zwickau, wenn man so will, ist das der Ort des Duells. Im September 1989 initiierte Böttger im Bezirk Karl-Marx-Stadt die Gründung des Neuen Forums, koordinierte es und wurde, als die Herbstrevolution 1989 konkrete Früchte trug, in die erste demokratisch gewählte Volkskammer entsandt. Bescheiden wie er ist und „frei von Geltungsbedürfnis“ – wie Eckhard Jesse im Vorwort hervorhebt (S. 16) -, trat er zugunsten eines anderen vom Mandat zurück. Es folgten vier Jahre sächsische Landespolitik für die Bürgerbewegung, und letztlich übernahm er im Dezember 2001 die Leitung der Chemnitzer Außenstelle der Stasi-Unterlagen-Behörde. Was für ein krönender Abschluss für ein Duell! Böttger bleibt im Osten. Für „Achim Öser“ hingegen endete in diesem Jahr das Leben – im Westen, in Franken. Böttger blieb also als siegreicher Duellant an Ort und Stelle – „Öser“ floh über Berlin. Das Duell endete wie bei Säbelduellen mit der Kampfunfähigkeit der Unterdrücker.

Am Anfang stand jedoch die Konspiration. Und das Wissen um geeignete Ansprechpartner, die im Westen publizieren konnten. Knorrige und willensstarke Journalisten eben wie Karl-Heinz Baum, den Martin Böttger im November 1978 am frühen Abend aufsuchte. Ohne einander zu kennen, verhielten sie sich professionell: Wortloses Betreten der Wohnung im fünften Stock auf der Berliner Fischerinsel 6, aufgedrehtes Radio und der „offene Brief“ von Bausoldaten, die Kriegsdienstverweigerung als „fundamentales Menschenrecht“ einforderten. „Ich antwortete erst einmal ausweichend“, erinnert sich Karl-Heinz Baum in einer lebendigen Skizze des dann über Jahre gemeinsamen Wirkens mit Martin Böttger (S. 18-40). Knapp drei Wochen später erschien die Meldung in der Frankfurter Rundschau auf Seite l so, dass kein Hinweis auf die Herkunft ersichtlich wurde und die Fährte in eine ungefährliche Richtung gelenkt war. Öffentlichkeit, die Bühne für Widerstand, war ein Geschäft auf gegenseitige Konspiration. In diese Konspiration versuchte die Staatssicherheit einzudringen und bot „Achim Öser“ auf.

Dieses Duell wird eben von Karl-Heinz Baum und dem Juristen Roland Walter anhand von Erinnerungen, Stasi-Unterlagen und Dokumenten rekonstruiert, wobei das Hauptaugenmerk auf der Rekonstruktion und leider weniger auf dem Lektorat lag.

Die „erste Feindberührung“ setzte am 30. September 1989 ein.

„Achim Öser“ nahm telefonischen Kontakt auf, meldete den Vollzug seinem Vorgangsführer bei der Staatssicherheit, die wiederum einen umfassenden „Auftrag“ ausarbeitete mit allerlei Verhaltensmaximen. Ziel war das „Eindringen in diese feindlich-negativen Kräfte“ um Martin Böttger, die im Begriff waren, das „Neue Forum“ aufzubauen. „Öser“ sollte wahrheitsgetreu sein, religiös indifferent, aber sich an gesellschaftlichen Veränderungen interessiert zeigen. Vorerst sollte er sich mühen, lediglich „akzeptiert“ zu werden. „Gehen Sie davon aus, dass diese feindlich-negativen Kräfte ebenfalls [sie!] konspirativ arbeiten und Sie einer möglichen Kontrolle unterziehen. Richten Sie Ihr Verhalten dementsprechend ein. Wenn Sie sich zu Hause davon überzeugt haben, dass Sie nicht beobachtet werden, dann nehmen Sie zu dem Ihnen bekannten Mitarbeiter telefonische Verbindung“ auf. (S.56). Am 4. Oktober 1989 kam eine persönliche Verbindung von „Öser“ mit Martin Böttger zustande. Er trat in das „Neue Forum“ ein, schriftlich. Ob er als Kontaktperson im Kreis Hainichen arbeiten wolle, war gleichfalls schriftlich zu erklären. Die Mitgliedschaft sollte er am Arbeitsplatz verbergen, „weil man sich damit sofort zu erkennen gibt und es dann Probleme“ gebe (S. 69). Ausführlich sprach „Öser“ diese Begegnung auf ein Tonband. Nach und nach gewann er das Vertrauen Böttgers und auch anderer aus dem „Neuen Forum“. Seine Berichte sind wie Goethes Eckermann, der „wegen fördernder Teilnahme, ganz unschätzbar“ war. Ein Trumpf nach dem anderen spielt er der Staatssicherheil in die Hände, bleibt im Hintergrund, und weil er Informatiker ist, vertraute ihm Böttger das Führen der Mitgliederlisten an (S. 105).

Schon am 12. Oktober 1989 wurde „Öser“ „über die Notwendigkeit einer hohen Konspiration“ belehrt und „nichts auf eigene Faust [sic!] [zu] machen“ (S. 113); er hatte also im Hintergrund zu bleiben. Allein durch „Achim Öser“ erhielt die Staatssicherheit einen detaillierten Überblick über alle Aktivitäten des „Neuen Forums“ und folglich Martin Böttgers und kannte jedes Mitglied namentlich. Drei Wochen nach der Kontaktaufnahme trat „Öser“ etwas aus der Deckung heraus und sollte über das „Neue Forum“ öffentlich berichten (S. 161). „Entsprechend meines Auftrages versuchte ich mein Auftreten in der Kirche zu verhindern, indem ich Böttger die Frage stellte, ob meine bisherige Arbeit nicht gefährdet wird, wenn ich öffentlich auftrete, da ich dann bekannt werde“ (S. 162), „Öser“ scheute das öffentliche Licht, in das Böttger ihn nun schickte. Und um besser voranzukommen, stellte die Staatssicherheit ihrem IM einen Lada im Wert von 30 000 Mark zur Verfügung (S. 174).

Das Duell aber war Mitte November 1989 so gut wie entschieden. Der Staat war ins Schlingern geraten, die Mauer offen und „Öser“ enttarnt. Martin Böttger lakonisch: „Achim Ösers‘ Ende vollzog sich schnell“ (S. 203). Ein Pfarrer hatte einen Tipp gegeben, Martin Böttger – „ehrlich und gewissenhaft“ – rief am 14. November 1989 bei der Staatssicherheit an und erkundigte sich, ob dort ein Rainer Burkl, wie „Öser“ bürgerlich hieß, bekannt sei (S. 199).

„Der Verdacht […] nährte sich bei uns vor allem durch seinen großen Fleiß, seine Sorgfalt im Umgang mit Mitgliederlisten, seine Beständigkeit und Pünktlichkeit. […] Wann immer ich ihm eine Aufgabe übertrug, er erledigte sie – zwar nicht ehrlich, aber doch sehr gewissenhaft“ (S. 203).

Darauf angesprochen, wurde er „weder rot noch blass“, „blieb auch weiterhin ruhig“ – und offenbarte sich nicht. Das Duell war glücklicherweise zugunsten des „Neuen Forums“ entschieden, doch wäre es anders gekommen, hätten „Ösers“ Informationen und Disketten mit Mitgliederlisten ein scheußliches Instrument der Staatssicherheit werden können – heute lediglich eine Archivalie unter vielen in der Stasi-Unterlagen-Behörde.

Noch vor dem Jubiläum „20 Jahre Herbstrevolution“ im nächsten Jahr haben Karl-Heinz Baum und Roland Walter anhand der Ereignisse in Karl-Marx-Stadt im Herbst 1989 Maßstäbe gesetzt. Sie zeigen in einem teils jüngeren Lesern, teils Mitstreitern und Zeitgenossen aus Chemnitz ans Herz zu legenden Sachbuch anschaulich, wie lebendig sich IM-Berichte und Erinnerungen von Zeitzeugen verknüpfen lassen. So lassen sich den Nachgeborenen jene bewegenden Tage, die Bürgersinn und Mut verlangten, nahe bringen. Und es wird deutlich, wie kompliziert es war, in der Konspiration die Konspiration der Anderen erfolgreich zu bekämpfen, um schließlich die geschlossene Gesellschaft zu einer offenen zu machen.

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Helmut Müller-Enbergs: Dr. Phil., geb. 1960 in Haltern (Westfalen). Dipl.-Politologe. Oktober 1989 Mitbegründer des Neuen Forums in Berlin/West. Januar 1990 Mitglied von Demokratie Jetzt, später Bündnis 90, seit 1992 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Stasi-Unterlagen-Behörde, dort Forschungsschwerpunkte Inoffizielle Mitarbeiter und Spionage; 2008/09 Gastprofessur an der Syddansk Universitet (Dänemark).


 

Michael Richter, Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e.V. an der Technischen Universität Dresden

 

In einem Prolog unter der Überschrift „Geschlossene Gesellschaft – Realsatire in einem Akt“ wird zu Beginn des Buches das Gespräch zwischen Martin Böttger und dem Stellvertreter für Inneres beim Rat des Bezirkes Karl-Marx-Stadt, Günter Flach (SED), wiedergegeben, das bei der Beantragung des Neuen Forums für den Bezirk am 3. Oktober 1989 geführt wurde.

Einige Seiten später gibt Böttger einen Überblick über die Hintergründe und einen kurzen Überblick über die Entwicklung des Neuen Forums. Er berichtet über seine Teilnahme an der Gründungsversammlung am 9. September 1989 in Grünheide, die Beantragung des Neuen Forums für den Bezirk Karl-Marx-Stadt und die folgende Observierung durch den MfS-Spitzel Rainer Burkl alias „Achim Öser“. Er meint, dieser habe seine Aufgabe „mit ganz besonderem Fleiß und großer Akribie“ betrieben. Das habe jedoch nichts daran ändern können, dass das MfS nur noch „staunend zuschauen“ konnte, „wie es mit ihr und der DDR zu Ende“ ging (S. 41).

Was war passiert?

Kurz bevor Ungarn am 11. September 1989 seine Grenze nach Österreich für Flüchtlinge aus der DDR öffnete und parallel zu regelmäßigen Protesten im Umfeld der Leipziger Nikolaikirche gründeten Vertreter verschiedener Oppositionsgruppen in Grünheide die Initiativgruppe „Aufbruch 89 – Neues Forum“. Zu den Initiatoren gehörten neben Bärbel Bohley, Katja Havemann, Rolf Henrich oder Jens Reich auch Vertreter aus den sächsischen Bezirken. Für Karl-Marx-Stadt war dies Martin Böttger. Am 19. September wurde die Zulassung des Neuen Forums für die gesamte DDR beantragt. Der Staat reagier­te mit Restriktionen, das Politbüro startete eine Kampagne gegen das Neue Forum. Am 21. September lehnte das Innenministerium die Zulassung der „staatsfeindlichen Plattform“ ab. Zynisch erklärte das SED-Regime, es gebe genügend Interessenvereinigungen, u. a. für „Briefmarkensammler, Hundehalter, Rosenfreunde und Bücherfreunde“.1 Die Ablehnung war demnach „endgültig“.2

Stasi-Chef Mielke erklärte, man werde „keine legale antisozialistische Opposition“ dulden.3 Trotzdem gingen zwischen dem 19. und 22. September auch in den drei sächsischen Bezirken bei den Räten der Bezirke Anträge auf Zulassung ein. Sie wurden durchweg abgelehnt. Statt über eine Kooperation mit Kräften nachzudenken, die an einer Erneuerung der Gesellschaft interessiert waren, ließ die SED-Führung die Antragsteller nur noch intensiver bespitzeln. Ungeachtet dessen riefen diese dazu auf, überall Gruppen des Neuen Forums zu bilden. In Betrieben wurden Aufrufe verlesen, in Theatern und bei Konzerten warben Künstler dafür. Ihren Resolutionen schlössen sich Tausende an. Erst als die Friedliche Revolution auf den Straßen bereits Tatsachen geschaffen hatte, die das SED-Regime nicht mehr ignorieren konnte, erklärte es seine Bereitschaft, sich mit Vertretern des Neuen Forums unter seinen Bedingungen an einen Tisch zu setzen. In Karl-Marx-Stadt bedeutete dies, entweder werde das Neue Forum „Bestandteil der Nationalen Front oder es wird verboten.“4

Während die Berliner Initiativgruppe um Bärbel Bohley eine Kooperation mit der SED anstrebte und dieser auch in Zukunft eine „entscheidende Rolle“ zubilligte,5 schlug das Neue Forum in Karl-Marx-Stadt andere Töne an.

Martin Böttger forderte am 19. Oktober, den Druck durch Demonstrationen noch zu erhöhen, um so zu einem Machtwechsel und zu einer Mehrparteienregierung unter Kontrolle des Neuen Forums zu kommen. Angesichts von soviel demokratischer Widerborstigkeit und der Tatsache, dass das Neue Forum bereits über eine Massenbasis verfügte, wählten die linksextremen Einheitssozialisten altbewährte Methoden wie Unterwanderung und Zersetzung der Strukturen. Es galt, so MfS-Chef Erich Mielke, „die Kontrolle über sie“ zu bekommen.6

Auch wurden alle Anhänger und Aktivisten zwecks späterer Inhaftierung erfasst, allein im Bezirk Karl-Marx-Stadt ca. 5 600 Personen.7 Seinen Höhepunkt erlebte das Neue Forum Anfang November. Als die SED sich unter dem Druck der Massendemonstrationen am 8. November zur Zulassung gezwungen sah, begann bereits das Ende einer beispiellosen politischen Kurzkarriere. Angesichts des Kurses einer Zusammenarbeit mit der SED zur Verwirklichung eines neuen sozialistischen Projektes in einer weiterhin eigenständigen DDR, wie ihn die Berliner Ini­tiativgruppe über westliche Medien verbreitete, rannten dem Neuen Forum die Bürger in Scharen wieder davon. Sie setzten stattdessen auf Kräfte, die deutlicher ihr Ziel der deutschen Einheit artikulierten.

Das Buch erzählt aber nicht die Geschichte des Neuen Forums, sondern Geschichten über den Umgang des SED-Regimes mit zivilgesellschaftlichem Engagement und von Menschen, die sich unter den Bedingungen der Diktatur für Demokratie, Freiheit und ein neues Verständnis sozialer Gerechtigkeit einsetzten. Geschichte, so Odo Marquard, realisiert sich in Geschichten und wird in diesen erst nachvollziehbar.8 Was wären alle Darstellungen zur DDR-Geschichte wert, wenn sie nicht durch Bücher flankiert würden, die zu verstehen helfen, wie es einzelnen Menschen ergangen ist? Dieser Aufgabe stellen sich die Autoren und Herausgeber in äußerst gelungener Weise. Das Beispiel Böttgers lässt keinen Zweifel an der Bedeutung des Engagements einzelner für den Erfolg der Friedlichen Revolution.

Im Kontrast dazu zeigt es aber auch den Werdegang von Rainer Burkl alias IM „Achim Öser“, der sich, wie der Titel des Buches das MfS zitiert „ehrlich und gewissenhaft“ für den Erhalt der Diktatur einsetzte. So zeigt das Buch die extremen Gegensätze zwischen einem Menschen, der sich ohne Rücksicht auf persönliche Nachteile für Demokratie und Menschenrechte einsetzte, und seinem Gegenüber, der sich für seine Spitzeldienste von der SED-Geheimpolizei mit einem Pkw bezahlen ließ.

Die IM-Berichte von Rainer Burkl, die sich im Bestand der heute von Martin Böttger geleiteten Außenstelle der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BStU) befinden, sind teilweise als Faksimile abgedruckt. Die Wiedergabe erfolgt im Wechsel mit persönlichen Berichten von Akteuren der damaligen Demokratiebewegung aus verschiedenen Orten Sachsens. Sie schaffen ein eindrucksvolles Gegenbild zu den Spitzelberichten, die der IM noch einige Tage nach dem Fall der Mauer in Berlin lieferte. Er hätte, so Böttger, wohl noch weiter gespitzelt, wenn seine akribische Mitarbeit im Führungszirkel des Neuen Forums des Bezirkes die anderen Akteure nicht stutzig gemacht hätte. Erst nach seiner definitiven Enttarnung gab er auf und verließ Sachsen zunächst in Richtung Berlin, dann Franken.

Warum agieren die einen so und die anderen ganz anders? In einem Geleit­wort geht Eckhard Jesse auf diese Frage ein, indem er die Person Martin Böttgers skizziert. Dieser kam aus einem Pfarrhaus, konnte wegen sehr guter schulischer Leistungen in Dresden Physik studieren, obwohl er den Dienst mit der Waffe verweigert hatte. Böttger stand keinesfalls erst 1989 in Opposition zum Regime, das Aufbegehren gegen die Diktatur begleitete vielmehr sein ganzes Leben. So engagierte er sich u. a. an den Friedensseminaren in Königswalde und war Mitbegründer der „Initiative für Frieden und Menschenrechte“. Dagegen nennt Jesse die Berichte Burkls „ein deprimierendes Zeichen menschlicher Schwäche“.

Karl Heinz Baum, der Hauptherausgeber des Bandes, war lange Jahre als Korrespondent der „Frankfurter Rundschau“ in Ost-Berlin tätig. Während der Friedlichen Revolution schrieb er immer wieder wichtige und erhellende Beiträge. Er engagierte sich schon zuvor – und im Gegensatz zu manchem seiner Kollegen – deutlich für die Opposition in den Ostblockstaaten. Baum berichtet, wie er den Bausoldaten Martin Böttger kennen lernte und ihn bei dessen Eintreten für Menschenrechte und gegen Militarismus unterstützte. Er beschreibt ihn als jemanden, der sich offensiv und ohne Rücksicht auf persönliche Nachteile für seine Überzeugungen und Ziele einsetzte und dafür auch immer wieder einmal vom MfS festgenommen wurde. Unter anderem organisierte er im Mai 1989 eine Kontrolle der simulierten Kommunalwahlen und erstattete Anzeige gegen Wahlfälschungen. Die ununterbrochene Kette seiner Aktivitäten gegen das SED-Regime führte direkt zur Gründung des Neuen Forums des Bezirkes.

Gert Weisskirchen, der als Mitglied des SPD-Bundesvorstandes und der Bun­destagsfraktion damals ebenfalls – als einer von wenigen Sozialdemokraten – Kontakte zu Oppositionellen in verschiedenen Ländern des Ostblocks unterhielt, stellt die Geschichte des Neuen Forums in einen größeren historischen Kontext. Er verweist auf die Bedeutung von Studien über die Zusammenhänge zwischen individuellen Motivationen, sozialen Lagen und Zukunftserwartungen und deutet das Engagement der Familie Böttger als Versuch der Generation der „Vierzigjährigen“, ihren fünf Kindern ein anderes Leben zu ermöglichen:

„Wenigstens ihre Kinder sollten sich nicht mehr verbiegen. Sie wollten die Lüge loswerden. Sie wollten ,in der Wahrheit leben‘, wie Vaclav Havel es geschrieben hatte“. (S. 13 f.)

Mit diesem Bestreben trafen sie auf den harten Widerstand der SED-Führung, der in ihrer ideologischen Verblendung als Mittel gegen bürgerschaftliches Engagement nur Observierung und politische Unterdrückung ein­fiel. Weisskirchen beschreibt die Friedliche Revolution als den geglückten Versuch, das linksextreme Gewaltregime mit gewaltlosen Methoden zu beenden.

Dank kompetenter und glaubwürdiger Autoren ist ein beeindruckendes Buch gelungen. Es besticht besonders durch seine Kontraste zwischen Spitzelberichten und biografischen Notizen aufrechter Frauen und Männer; die sich schon Jahre vor der Friedlichen Revolution gegen die realsozialistische Diktatur zur Wehr setzten. Es wäre zu wünschen, dass insbesondere junge Menschen die Möglichkeit bekämen, sich mit dem Wirken von Personen wie Martin Böttger zu beschäftigen, dessen aufrechte Haltung vorbildhaft war und ist.

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Michael Richter, Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e. V. an der Technischen Universität Dresden, 01062 Dresden.

Totalitarismus und Demokratie, 6. Jahrgang 2009, Heft 1

Quellen:

Neues Deutschland vom 23./24.9.1989. Protokoll des Politbüros des ZK der SED vom 26.9.1989, Punkt 13 (SAPMO-BArch, SED, J IV 2/2/2347). Zit. in Strafsache gegen Honecker und andere, Az: 111-1-90, Band 04/15. Zit. in Peter Przybylski, Tatort Politbüro, Band 2: Honecker, Mittag und Schalck-Golodkowski. Ber­lin 1992,S.120. Protokoll der Dienstversammlung des Leiters der BVfS am 17.10.1989 (BStU, ASt. Chemnitz,AKG435,B1.51). Interview mit Rolf Henrich. In: Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt vom 13.10.1989. Referat Mielkes zur Auswertung der 9- Tagung des ZK der SED vom 21.10.1989. Zit. bei Stefan Wolle, Der Weg in den Zusammenbruch. In: Eckhard Jesse/Arnim Mitter (Hg.), Die Gestaltung der deutschen Einheit. Geschichte – Politik – Gesellschaft, Bonn 1992, S. 73-110, hier S. 78. Vgl. Protokoll der Dienstversammlung des Leiters der BVfS Karl-Marx-Stadt am 23.10-1989: Auswertung Dienstversammlung des Ministers am 21.10.1989 (BStU, ASt. Chemnitz, AKG 434, Bl. 7). Odo Marquard, Die Philosophie der Geschichte und die Zukunft des Erzählens. In: ders., Skepsis in der Moderne. Philosophische Studien, Stuttgart 2007, S. 55-71.

 

 

 

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Baum, Böttger, Walter (2008) "... ehrlich und gewissenhaft ..." - Mielkes Mannen  gegen das Neue Forum