Hartmut Petersohn und Martin Böttger 

"Mit der Axt

 an die Erinnerung"

Behördenchef: Über das Stasi-Urteil hat sich nur die PDS gefreut
— auch im Fall <Kinder> droht Abbruch der Forschung

Hintergrundseite der "Karfreitagausgabe 2002" der sächsischen
Tageszeitung "Freie Presse" -
28.03.2002, Seite 4

Dr. Martin Böttger  und  Hartmut Petersohn  -  

freiepresse.de 

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Böttger Start

 

Chemnitz. Die Prognose stimmte nicht: Mord und Totschlag blieben aus. Als die Archive mit den Unterlagen des DDR-Staats­sicherheits­ministeriums geöffnet wurden, prophezeiten Gegner der Akten­offenlegung bürgerkriegs­ähnliche Zustande im Osten der vereinten Republik. Die Vermutung wurde gestreut, die sich gerade erst selbstbefreiten Brüder und Schwestern würden übereinander herfallen. Furcht und berechtigte Gegeninteressen nährten diese Ansichten. Alles falsch.

Die Ex-DDRler stellten brav ihre Anträge auf Akteneinsicht, warteten – die Macht der Gewohnheit – geduldig bis sie dran waren und zogen dann überwiegend ihre ganz privaten Schlüsse aus dem, was sie in den Spitzelberichten fanden. Keiner der Inoffiziellen Mitarbeiter (IM) – ob aus Betrieb oder Familie – wurde gesteinigt. Im Gegenteil suchten die Opfer des Verrats oft das Gespräch mit den Tätern – und verziehen ihnen in aller Regel.

Von den Bespitzelten wollte keiner einen Schlussstrich, niemand fühlte sich unzureichend geschützt. Im Gegenteil – die Akten waren Teil ihrer Erinnerungen an ihr richtiges Leben im falschen Staat. Mit dem Urteil über die Stasi-Dossiers von Altkanzler Helmut Kohl wurde aber gerade damit argumentiert, die Opfer benötigten einen besseren Schutz. Nur den wollen sie gar nicht.

Auch Martin Böttger nicht, der heute als Behördenchef den Nachlass des untergegangenen Staatssicher­heitsdienstes aus dem ehemaligen Bezirk Karl-Marx-Stadt verwaltet – auch seine Akte. Darunter findet sich ein Foto, auf dem Böttger, von einer Reihe Frauen flankiert, ein Plakat hoch über den Köpfen hält. Das Foto ist für ihn wichtig, es ist ein Zeitdokument.

Böttger beging 1975 den Kampf- und Feiertag der Arbeiterklasse im damaligen Karl-Marx-Stadt auf ganz eigene Weise. Er malte ein Plakat, das er sich weder von der SED noch dem FDGB genehmigen zu lassen gedachte. Am 1. Mai mischte er sich unter feiertäglich gestimmte Kindergärtnerinnen, die an den selbsternannten Karl-Marx-Städter Honoratioren vorbeizogen. Böttger hielt sein selbstgemaltes Plakat über die Köpfe. „Für die Verwirklichung der Menschenrechte“ stand drauf. Das hätte ihm von den zuständigen DDR-“Organen“ als staatsfeindliche Hetze ausgelegt werden können. Sie begnügten sich mit der permanenten Überwachung des gelernten Physikers und einstigen Bausoldaten - junge Männer, die sich weigerten, den Wehrdienst mit der Waffe zu leisten. Böttger wurde im operativen Vorgang „Spaten“, später unter dem geheimen Rubrum „Diplom“ ausspioniert.

Marianne Birtlers Außenstellenleiter in Chemnitz gilt zwar nicht als besonders eitel. Aber er besteht darauf, sich wahrheitsgetreu erinnern zu dürfen. Und damit hat Böttger seit dem Urteil über die Stasi-Akten von Altkanzler Helmut Kohl seine Schwierig­keiten. „Darüber hat sich nur die PDS gefreut“, weiß Böttger.

Denn, würde sich irgendwann jemand für Böttgers spektakuläre Widerstandsaktion an jenem 1. Mai 1975 wissenschaftlich interessieren, dann hinge die Aufarbeitung dieser geschichtlichen Momentaufnahme allein von ihm ab - und seiner ganz subjektiven Auslegung der Erinnerung. Käme er zu dem Schluss, seine Zivilcourage gegen die SED-Diktatur war falsch und darum dürfe sie für alle Zeiten nicht dokumentiert werden, dann fehlte ein kleines Stück realer Geschichte in ihrer wissen­schaftlichen Aufarbeitung. Und darüber ärgert sich der Chemnitzer Behördenleiter.

Wie Kohl darf sich Böttger "Opfer" nennen. Er galt vor dem Gesetz bisher als "relative Person der Zeitgeschichte“, da sich sein Wirken auf einen bestimmten Zeitraum beschränkte, und außerdem nicht die politische Tragweite hatte wie das des Ex-Kanzlers. Damit unterlagen Forschungen über Böttgers Tun und Lassen für Journalisten und Wissenschaftler besonders strengen Bedingungen.

Akten von Politikern wie Kohl hingegen, die als "absolute Personen der Zeitgeschichte“ galten, waren nicht so schwierig zu erlangen – selbstverständlich blieben Erkenntnisse der Stasi über persönliche Angelegenheiten tabu. Denn die Forscherneugier richtete sich in der Regel nicht auf die Privatperson, sondern auf ihre Rolle in der Geschichte.

Nun sollen auch die Funktionäre von einst einen speziellen Schutz genießen. Auch von ihnen müssen Forscher oder Journalisten sich künftig die Erlaubnis holen, bevor sie Täterschaft oder Verwicklungen in DDR-Unrecht recherchieren. Für Böttger ist das "eine mittlere Katastrophe“, an die Forschung werde "die Axt angesetzt“ meint er.

Spektakulärstes Beispiel: Johannes Kinder aus Grüna bei Chemnitz. Kinder war 1961 als Spitzel geworben wurden. Dass er in Nazideutschland kein Mitläufer war, sondern aktiver Gestapo-Mann, das war den Offizieren der DDR-Staatssicherheit bekannt - es störte sie nicht. Im Gegenteil nutzten sie dies als Druckmittel gegen Kinder, alias „Ernst“. Nach dessen Ehescheidung 1973 kam ans Licht, dass der Stasi-Spitzel während des Krieges an Massenerschießungen von Zivilisten beteiligt war. Kinder wurde 1976 in der DDR hingerichtet. Folgte man dem Spruch der Richter zur Kohl-Akte, müssten die Forschungen zu diesem brisanten Fall eingestellt werden. Denn Kinder könnte sich durch die Ermittlungen der Staatssicherheit gegen ihn wegen der Zivilistenmorde auf den Opferstatus berufen. Da er hingerichtet wurde, würdet er nun ein „post mortales“ Opferschutzrecht genießen. Ende der Forschung.

Streng genommen hätte danach eine Gedenkplakette an das Werdauer Gymnasium nicht angebracht werden dürfen, auf der an eine Protestaktion erinnert wird. Denn einige der 19 Schüler, die 1951 auf Flugblättern freie Wahlen und die Einheit Deutschlands gefordert hatten, waren nicht mehr auffindbar oder verstorben – man hätte sie nicht mehr um Einwilligung bitten können. Die Erinnerung an ihre mutige Tat, die von DDR-Richtern mit bis zu 15 Jahren Zuchthaus für die jungen Leute geahndet wurde, wäre damit vergessen.

Aber es gibt Hoffnung. Böttger sieht sie in der Novellierung des Stasi-Unterlagengesetzes. Die Opfer von Bespitzelung und Verfolgung haben mit Behördenchef Marianne Birthler Ende April eine Termin im Innen­ausschuss des Bundestages. Aus Sachsen dabei: Angelika Barbe Gründungsmitglied der Ost-SPD, und Johannes Beleites vom Bürgerkomitee Leipzig. Sie wurden als Sach­verständige nominiert, die sie seit Auflösung des Staatssicherheitsdienstes auch sind.

Barbe etwa hat bereits am ersten Stasiunterlagengesetz mitgearbeitet. Bei der wahrscheinlichen Novellierung des Stasi-Unterlagen­gesetzes hofft sie auf eine strikte Klärung der Frage: "Was ist möglich, was nicht." Ihr sei vor allem daran gelegen, die Freiheit der Forschung zu garantieren. Das müssten, meint auch Barbe, "Personen der Zeitgeschichte“ künftig weiter aushalten können.

27.3.2002   Von Hartmut Petersohn 
und
Martin Böttger

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