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7.  Haupt-Streitpunkte um die Primärtherapie 

  Ausblick 

 

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Die Primärtherapie ist eine sehr umstrittene Therapie. Das läßt sich ganz wörtlich verstehen, es wird heftig um sie gestritten. Allein das ist schon ein Verdienst, denn sie hat viele — längst überfällige — Diskussionen angeregt, manche Therapie aus ihrem "dogmatischen Schlummer" geweckt, indem sie radikal und provokativ viele altehrwürdige Therapeuten­weisheiten zur Disposition stellte. 

 

   1. Darf's noch ein bißchen früher sein? Wieweit reicht die Erinnerung zurück? 

Ein heiß diskutiertes Thema innerhalb der Primärtherapie, aber auch außerhalb ist: Wie weit sind die Erinnerungen authentisch, die man in der Therapie hat? Handelt es sich bei Erlebnissen im Primal wirklich um ein echtes Wiedererleben früherer Situationen oder sind es vom Unbewußten zusammenkonstruierte Artefakte? Bis zu welcher Zeit reicht die Erinnerung zurück — bis zur frühen Kindheit, zur Geburt, zur Zeit im Mutterleib oder noch früher?

May berichtet über seine Arbeit als Primärtherapeut: 

"Da erlebt man manchen Schock, will es aber noch nicht wahrhaben. Ich weiß ja von mir, was ich alles nicht wahrhaben wollte, anfangs. Anfangs denkst du doch immer, deine Gefühle sind nicht in Ordnung ... <Ist das wahr, was ich fühle?> Es ist eben alles wahr. Das mußt du erst einmal den Patienten bestätigen. Die denken doch alle, daß sie spinnen. Es ist alles wahr, was jemand fühlt, auch die vagen Gefühle." (May 1977, 131)

Andererseits wird dem immer wieder entgegengehalten, daß "Erinnerungen" — z.B. an eine Vergewaltigung als Kind — Phantasien seien, die sich aus Triebkonflikten ergäben. Oder Einbildungen, die man dem Therapeuten zuliebe produziere oder damit das "Erleben" mit dem Selbstbild übereinstimme.

Hemminger (1980) versuchte nachzuweisen, daß die "Einsichten" in einer Primärtherapie über die eigene Kindheit stark von der Theorie abhängen, die der eigene Therapeut vertritt. Sieht der z. B. die Geburt als wichtigstes Thema an, haben die Patienten verstärkt Geburtserinnerungen. Glaubt der Therapeut an frühere Leben, so produzieren die Patienten entsprechende Erinnerungen.

Der bekannte Psychoanalytiker Tilmann Moser spricht im Untertitel seines Buches "Grammatik der Gefühle" vorsichtig von "Mutmaßungen über die ersten Lebensjahre". Wir zitieren aus dieser einfühlsamen Ansprache an die Mutter:

Ich wage nicht, nach dir zu rufen im Morgengrauen, du bist unerreichbar. In der Phantasie aber will ich rufen, ich will dich herbeihalluzinieren. Du öffnest die Tür und trittst ein. Ich liege zusammengekauert auf der Seite, doch ich höre dich eintreten. Aus meinem Innern kommt ein leises Wimmern, dessen Zerbrechlichkeit mich selbst erstaunt. Über den Körper geht ein Schauer. Die Kopihaut schmerzt vom Kratzen. Ich liege, und meine ganze Haut ist voller Erwartung. Es stört dich nicht, daß ich nach Angstschweiß rieche. Ich verharre andächtig in dem langen Augenblick der Erwartung, bevor du mich berührst, ich zögere es hinaus, blinzle nach dir, hoffe, du sagst etwas Beruhigendes, ja, ein: ,Du, ich bin da.'" (Moser 1979, 15-16)

Oft kann man nicht mit letzter Sicherheit entscheiden, ob eine Erinnerung stimmt oder nicht, zumal sie häufig auch vage, undeutlich bleibt. Sicher können auch Verschiebungen und Symbolisierungen — wie im Traum — auftreten. Der echte Urschmerz ist aber so erschütternd, so evident, daß jedenfalls an seiner emotionalen Aussage, z. B. "ich fühle mich nicht geliebt", kaum zu zweifeln ist.

Zurück zu unserer Hauptfrage: Wieweit reicht die Erinnerung zurück?

Geht die Erinnerung denn nicht nur etwa bis zum vierten Jahr? Gibt es davor nicht eine Erinnerungslosigkeit, von Freud "Kindheitsamnesie" genannt? Und sind nicht Erinnerungen von der Geburt oder sogar davor unmöglich, weil das Baby bzw. der Embryo diese Zustände gar nicht wahrnehmen und speichern konnte?

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Die Auffassungen hierüber haben sich in den letzten Jahren deutlich gewandelt. Durch vielfältige Forschungen wurde aufgezeigt, daß der Mensch viel früher als man bisher dachte, auch schon vor der Geburt, durchaus Erfahrungen machen und speichern kann. Überblicke hierüber findet man z. B. bei Gross (1982), Tietze (1984) und Janov (1984).

Wenn solche Erinnerungen nicht direkt zugänglich sind, heißt das nicht, daß sie nicht unbewußt vorhanden sind. Vieles spricht dafür, daß nahezu jegliche Erfahrung gespeichert wird. So haben Untersuchungen des berühmten Neurochirurgen Penfield gezeigt, daß man durch elektrische Reizungen bestimmter Gehirnbereiche vollständiges Wiedererleben längst vergessener Situationen erreichen kann. Ähnliches ist aus der Hypnose bekannt.

Aber wie hat man sich das Wiedererinnern von Geburts- und pränatalen Erfahrungen in der Primärtherapie vorzustellen?

Nach Janov kann eine Erfahrung der ersten Ebene wie die Geburtserfahrung — zunächst einmal — auch nur auf der ersten Ebene, in Form körperlichen Bewußtseins, "erinnert" werden, d. h. indem der Geburtsprozeß körperlich noch einmal abläuft. Erst danach kann die Geburt — über die Wiedererfahrung — auch geistig erinnert werden. Aber das ist kein reines Erinnern, sondern man kann auf Grund der kognitiven Fähigkeiten, die man als Erwachsener besitzt, seine Therapieerfahrung als 'Geburtswiederholung' deuten (z.B. ein Gefühl der Einengung als Enge im Geburtskanal) — mehr eine Rekonstruktion.

Andere meinen sogar, man könne die Geburt direkt so wiedererleben, wie sie z. B. ein bereits Erwachsener erlebt hätte. Menschen berichten, daß sie sich genau an die Gesichter der Umstehenden erinnern könnten, wüßten, was gesprochen wurde, wie der Raum aussah etc. Das ist aber schwer zu glauben, denn das — für die Speicherung zuständige — Großhirn war ja bei der Geburt dafür noch gar nicht weit genug entwickelt.

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Anfangs galt Janovs Hauptinteresse der frühen Kindheit, dann der Geburt und heute pränatalen Traumata. Er erkannte, daß die Geschichte der Störungen weiter zurückreichte, als er zunächst dachte. Aber für Janov gibt es offenbar eine Grenze: Nach ihm können Menschen früheste Stadien der Embryonal­entwicklung nicht erinnern, da in dieser Zeit noch kein oder zu gering entwickeltes Nervengewebe vorhanden ist, was eine solche Speicherung erst ermöglicht. Konkret schreibt er hierzu:

"Nach ... wenigen Lebenswochen im Schoß kann der Fetus auf Input reagieren und ihn speichern." (Janov 1984, 31)

Andere halten eine — sogar konkrete — Erinnerung an Zeugung, Befruchtung usw. aber für möglich. Während die offizielle Psycho­analyse sich nur von der ödipalen Zeit allmählich zur vorödipalen Zeit vorgetastet hat, haben schon zu Anfangszeiten der Psychoanalyse und später Forscher wie Sadger, Fodor, Peerbolte und Laing entsprechende Aussagen gemacht.

Sogenannte Reinkarnations­therapeuten gehen noch weiter zurück, nämlich in frühere Leben (z. B. Bär 1981, Scharl 1981). Für Janov ist das nur neurotisches Ausagieren, Phantasterei.

Beim heutigen Stand der Wissenschaft ist kein absoluter Beweis möglich, daß der Mensch die pränatale Zeit und die Geburt speichert und später wieder abrufen kann.

Der britische Anti-Psychiater Ronald Laing plädiert aber für die "Stimme der Erfahrung" (1983). Er schreibt, daß Menschen, die in Kontakt mit ihren eigenen Geburtserfahrungen sind, einfach wahrnehmen, fühlen, daß ein gerade geborenes Baby ein Wesen ist, das schon Erfahrungen gesammelt, eine "Lebens­geschichte" hinter sich hat, die sich in seinen Gefühlen ausdrücken.

 

2. Fühlen allein genügt nicht —  über "Kopfarbeit" in der Primärtherapie 

Janov beschreibt das Gewinnen von Einsichten in der Primärtherapie als einen völlig spontanen, ungelenkten Prozeß, der sich allein aus dem Fühlen ergibt. Dabei betont er, daß ein emotionales Wiedererleben nur durch die Verbindung mit einer Einsicht eine wirkliche Urschmerz-Verarbeitung bewirke.

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Aber die Einsicht, zu der man in einem Primal gelangt, ist sicher nicht unabhängig von (der Kenntnis) der Janovschen Theorie über Traumata, Urschmerz usw. Hemminger meint sogar, daß die "Philosophie" des jeweiligen Therapieinstituts eine große Rolle spielt.

"In einer Institution, in der die Ansicht vertreten wurde, das Primärerlebnis könne bis zum Wiedererleben von Erfahrungen führen, die die Vorfahren machten, treten prompt entsprechende Phänomene auf ... Andere Teilnehmer in derselben Institution erleben sich im Primärerlebnis als Tier, zum Beispiel als Wildkatze. Der Leiter der Institution kann all dies erklären, da er an das 'Zellkerngedächtnis' glaubt ... In wieder anderen Gruppen wird an die Seelen­wanderung geglaubt, und ebenso prompt wird von Primärerlebnissen berichtet, die auf eine frühere Existenz zurückgehen." (Hemminger 1980, 33, 34)

Connections, Einsichten in einem Primal sind aber auch nicht immer eindeutig und evident, bleiben oft unbestimmt. So stellen Patienten manchmal falsche Verknüpfungen her, die aber nach vertieftem Fühlen wieder korrigiert werden können. Sind aber die Primal-Einsichten und -Erinnerungen überhaupt so wesentlich, wie Janov behauptet?

Hemminger (1980) schreibt, daß nicht die Erinnerung den Urschmerz auslöst, sondern umgekehrt das Schmerzfühlen die Erinnerung, welche damit sekundär wäre. Ähnlich meint der Schreitherapeut Casriel, entscheidend sei einfach, die verdrängten Basisgefühle Angst, Schmerz, Zorn und Freude zu befreien und auszudrücken.

Manchmal ist es aber auch notwendig, bestimmte Grundtraumata und Grundabwehrprozesse des eigenen Lebens zu identifizieren, zu durchschauen. Sonst kann man sie nicht auflösen, sondern verwebt sie — im Wiederholungszwang — stets von neuem in sein jetziges Leben.

Andererseits reichen die Spontaneinsichten eines Primals oft gar nicht aus. Janov meinte — früher —, im Geistigen ordne sich alles von selbst. Das funktioniert aber nur im Idealfall. Oft braucht man eine zusätzliche kognitive Integration, ein "Durcharbeiten" in Gesprächen — das gilt vor allem für Menschen, deren dritte, kognitive Ebene schwach entwickelt ist.

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Janov betont die Überlegenheit der Primärtherapie, weil sie nicht mühselig die Abwehrprozesse intellektuell analysiere, sondern direkt zum Urschmerz vordringe und damit der Abwehr den Boden entziehe. Aber Abwehrstrukturen können trotz emotionaler Aufarbeitung — verselbständigt — weiterbestehen, der Patient ist in seinem komplexen Abwehrsystem wie in einem Netz gefangen, z.B.:

Für solche subtilen Abwehrverstrickungen ist die Primärtherapie wenig gerüstet, da hilft eine Kombination mit Psychoanalyse oder Transaktionsanalyse weiter.

In einer Primärtherapie sollte der Therapeut allerdings den Klienten möglichst "seine Weisheiten selbst finden" lassen und nicht durch Deutungen ersetzen. Wenn die Interpretation und "Einstellungsarbeit" überhand nehmen, läuft in der Therapie (emotional) vermutlich etwas schief.

 

3.  Immer nur Urschmerz? Die Bedeutung von Freude in der Primärtherapie 

 

"Das Phänomen des Schmerzes ist in dem theoretischen Rahmen der Primärtherapie zu einem fast magischen, gottähnlichen, Rettung bringenden Status erhoben worden. Janov hat die Erfahrung des Schmerzes, vor allem das Wiedererleben des Schmerzes der Kindheit, zu einem way of life ... gemacht. Bevor man nicht seinen Urschmerz erlebt, kann man nichts erleben, das real, schön, wahr und gut ist. Der Schmerz ist das eine und einzige Allheilmittel für alle Krankheiten und Unvollkommenheiten." (M. Brown 1973)

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Die Therapeutin Sheppard vom Primal-Institut gibt offenherzig zu:

"Ich hatte Patienten, die kamen zu mir und sagten: <Ich glaube, ich mache mich zu, vielleicht unterdrücke ich meine Gefühle.> Ich fragte: <Was ist los?> und sie antworteten: <Ich wache am Morgen auf und fühle mich gut. Ich meine, ich gehe mit meinen Freunden und lache und unterhalte mich, es muß so sein, daß ich zumache.> Ich sage ihnen, sie sollen so weitermachen, ihr Urschmerz läuft ihnen nicht davon, sie können zur Therapie kommen und sich hinlegen, wenn er sich zeigt." (Sheppard 1975, 338-339; von den Autoren übersetzt)

Konzentriert man sich in der Primärtherapie wirklich zu sehr auf Schmerz? Nach einem Primal stellt sich ja oft spontan ein Glücksgefühl ein. Außerdem — wie Raben schreibt:

"Janovs starke Betonung des Schmerzes kann in einer Zeit der <Take-it-easy>-Ideologie dafür sensibilisieren, daß ohne Leiden und Leidens­bereitschaft ein Wachstum der Persönlichkeit nicht möglich ist..." (Raben 1977,435)

Trotzdem: Man kann bei einer Primärtherapie im Negativen steckenbleiben. Und es ist deshalb wichtig, auch positive Gefühle, eine "Primal joy", bewußt zu durchleben und auszudrücken. Ohnehin gibt es auch eine Abwehr gegen Freude, hinter der letztlich eine Angst vor Schmerz steht, den die (ungewohnte) Freude mit hochschwemmen könnte (Näheres dazu in Bohnkes Buch: "Machen wir uns selbst unglücklich?", 1985).

Manche Patienten haben aber so wenig Positives erlebt, daß das als Basis für eine neue Lebensfreude nicht ausreicht. Oft müssen positive, korrektive Neuerfahrungen in der Therapie hinzukommen:

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Janov lehnt jegliches reparenting ab: Für ihn kann ein kindliches Bedürfnis, das in der Vergangenheit unerfüllt blieb, in keinster Weise nachträglich noch befriedigt werden. Aber offensichtlich lösen sich ungestillte Kindheitsbedürfnisse nicht zwangsläufig durch Fühlen auf, sondern oft erst dann, wenn sie noch eine gewisse Erfüllung erfahren haben. Allerdings hat Janov recht, daß der Urschmerz so nicht "weggetröstet" und "zugestreichelt" werden darf.

 

4. Erfolg und Mißerfolg  — Was kann man bei einer Primärtherapie erhoffen oder was muß man befürchten? 

 

Primärtherapie — Supererfolge oder Pleiten? Janov gibt eine durchschnittliche Erfolgsquote von etwa 70 % an. Aber manche mißtrauen ihm, nach dem Motto: Trau keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast. Doch es gibt auch Untersuchungen unabhängiger Wissenschaftler:

Zwei norwegische Psychiater untersuchten 13 Primärpatienten vor der Therapie und nach zwei Jahren. Die — der Primärtherapie gegenüber sehr kritisch eingestellte — Zeitschrift "Psychologie heute" berichtet über diese Untersuchung (Dahl/Waal 1983) unter dem Titel: "Urschrei nützt doch":

"Behutsame akademische Fürsprache hat Arthur Janovs umstrittene Primärtherapie jetzt aus Norwegen erhalten. Alv A. Dahl und Helge Wahl, Psychiater an der Universität Oslo und von Hause aus eher der behavioristischen, respektive der psychoanalytischen Schule zugeneigt, kommen nach einer eigenen kleinen Studie nicht umhin, der so oft angefeindeten Seelenkur des kalifornischen Außenseiters bemerkenswerte Qualitäten zuzusprechen." ("Psychologie heute", Nov. 1983, 12)

Die beiden Psychiater folgern aus ihrer Studie, daß Primärtherapie ein wirkungsvolles Verfahren zur Behandlung von Neurosen sei. Bei wenig motivierten oder sehr schwer gestörten Patienten wäre aber ein Erfolg fragwürdig oder müsse von der Therapie abgeraten werden.

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Eine umfangreiche Untersuchung legte Videgard (1984) vor. Er untersuchte 32 Patienten des Primal-Instituts in Los Angeles (davon 24 als Zufalls-Stichprobe); seine Aussagen:

Fünf Patienten verließen die Therapie vorzeitig. Die anderen erreichten die folgenden Resultate: Sehr gut: 4, gut: 9, mittel: 8, schlecht: 6 (einschließlich eines Patienten, der sich das Leben nahm). Das Ergebnis ist ungefähr halb so gut wie Janov die Erfolge einer Primärtherapie angibt. Dennoch, verglichen mit anderen Therapien ist es vermutlich nicht schlecht. 
(Videgard 1984, 295; von den Autoren übersetzt)

Der ja schon genannte Hemminger und Vera Becker attackieren die Primärtherapie total. Sie schreibt (Hemminger/Becker 1985, 405):

Ich möchte die Gelegenheit nutzen, vor Primärtherapie zu warnen, denn es ist nicht nur eine unbrauchbare, sondern schlechthin die gefährlichste Methode überhaupt. Ich kenne keine Therapie, die so viele persönliche Opfer und menschliche Tragödien erzeugt hat wie die Primärtherapie. Was dort geschieht, grenzt an Körperverletzung und verstößt gegen die Menschenrechte. Sie hat bei mir zu einer dreijährigen Arbeitsunfähigkeit und zu einer bis heute bestehenden Medikamentenabhängigkeit geführt. 

Vera Becker beschuldigt die Primärtherapie sehr pauschal. Erstens war sie offensichtlich bei einem unqualifizierten Therapeuten, zweitens ist sie wohl auch ein "Problempatient" (dem in zehn Therapien nicht geholfen werden konnte). Hemminger wirft der Primärtherapie erstens vor, sie führe zu einer "Primal-Sucht". Weiter kritisiert er:

Die Langzeitschäden durch eine zu ausgedehnte Primärtherapie ... gehen vor allem in zwei Richtungen. Zum einen erhöht sich die Empfindlichkeit des Teilnehmers für alle negativen ... Einflüsse. Seine Stimmung verschiebt sich allgemein in eine depressive oder aggressive Richtung ... Zum andern fällt die körperliche Spannkraft in zum Teil erschreckender Weise ab. Die Teilnehmer sind immer weniger imstande, belastende Erfahrungen auch rein körperlich zu bewältigen. Sie verlieren die Fähigkeit, sich längere Zeit auf schwierigere Probleme zu konzentrieren und ermüden viel leichter als früher.

(Hemminger 1980,176-177) 

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Eine Primal-Sucht kann tatsächlich vorkommen. Man mag sie in Verbindung bringen mit der "malignen (bösartigen) Regression" nach Balint, d.h. daß die Rückversetzung in Kindheitsgefühle nicht zu deren Lösung führt, sondern der Klient sich immer mehr darauf fixiert. Das ist aber nur bei einem gestörten Therapieverlauf bzw. einer gestörten Therapeuten-Patienten-Beziehung zu befürchten.

Die angeblich krankhaft gesteigerte Empfindlichkeit: In der ersten Phase der Therapie, wenn der Patient seine Abwehr abbaut und erstmals den ihm ungewohnten Gefühlen ausgesetzt ist, reagiert er oft empfindlicher. Später, wenn er einen Teil des Urschmerzes aufgearbeitet hat, ist er im Gegenteil unempfindlicher, weil er z. B. nicht mehr so leicht gekränkt ist. Allerdings ist er in jedem Fall sensibel und toleriert von daher nicht mehr eine ungesunde Reizüberflutung, die einem blockierten Neurotiker (scheinbar) weniger ausmacht. Er mag zwar auch — bei traurigen Erfahrungen — leichter mit Weinen reagieren, aber gerade indem er den Schmerz empfindet, verarbeitet er ihn, während der "unempfindliche" Neurotiker ihn verdrängen muß.

Ähnlich ist es mit der Spannkraft: Die Primärtherapie kostet den Patienten zu Anfang viel Kraft, so daß er einfach zunächst mehr Ruhe braucht. Und indem die Therapie ihm erlaubt, wohl das erste Mal in seinem Leben, sich wirklich zu entspannen, kommt oft eine jahrelang unterdrückte Müdigkeit hoch, die eine echte Erholung fordert. Da außerdem der ständige Antrieb durch den Urschmerz wegfällt und der Patient weniger bereit ist, sich z. B. einer neurotischen Überforderung bei seiner Arbeit zu beugen, mag dies den Eindruck geringer Spannkraft hervorrufen. Aber da endlich der enorme Kraftaufwand des Kampfes gegen den Urschmerz wegfällt, führt die Primärtherapie letztlich zu mehr gesunder und positiver Energie.

Hier zeigt sich das generelle Problem der Erfolgsbeurteilung einer Therapie. Wenn man nur darauf Wert legt, daß der Klient sich sozial ein- und anpaßt, wird man die Erfolge der Primärtherapie schlechter beurteilen, als wenn man den Hauptwert auf Selbstfindung und Selbstentfaltung legt.

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Die Primärtherapie ist ein sehr tiefgehendes Verfahren, mit großen Heilungschancen, aber auch großen Risiken. Janov macht es sich zwar zu einfach, wenn er alle Mißerfolge auf nicht bei ihm ausgebildete Therapeuten abschiebt. Die Primärtherapie hat ihre Schwächen, gerade in der originalen, Janovschen Form. Zurecht kritisiert Janov allerdings unqualifizierte Therapeuten, die alle Verantwortung auf die Patienten abwälzen oder sich mit dem Irrglauben beruhigen, eine Primärtherapie verlaufe von alleine schon richtig.

In jedem Fall hat Janov aber die Erfolge seiner Therapie weit übertrieben. Er weckte regelrechte Heilserwartungen. Zwar kann die gläubige Heilserwartung auch die Erfolgschance bessern, aber das gehört dann in den Bereich der — von Janov abgelehnten — Suggestion. Außerdem wurden so Enttäuschungen vorprogrammiert.

Hier muß man aber einschränken: Die Primärtherapie verspricht zwar und ermöglicht auch intensive Gefühlserfahrung und Selbstentwicklung. Aber letztlich bleibt ihr Anspruch — trotz aller Euphorie und Dramatik — doch nüchtern und einfach. Man bekommt eben ,nur' seine Gefühle, ,nur' sich selbst zurück, keine Transzendenz, keine Erleuchtung, kein kosmisches Bewußtsein, keine ,Gipfelerlebnisse' und auch keine Aussicht auf ein Leben nach dem Tod.

Das hat manche veranlaßt, sich von der Primärtherapie abzuwenden: Sie sind nicht bereit, die Hoffnung aufzugeben, daß es da noch mehr geben müßte und der Sinn des Lebens nicht einfach (wie Janov sagt) das Leben selbst ist. Lieber wechseln sie zu einer neuen Therapie, suchen weiter. Möglicherweise, weil sie dem tiefen Schmerz ausweichen, daß das Leben nicht vollkommen ist, daß es keine Erlösung gibt und sie auch niemand für ihre mißglückte Kindheit entschädigen wird.

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   5  Therapie gelungen, Patient gescheitert ? — oder:  Gibt es ein Leben nach der Primärtherapie? — Probleme mit der Alltagswelt 

 

Daß der eigentliche Primärprozeß (die Urschmerzverarbeitung) funktioniert, reicht nicht für einen Therapieerfolg, sondern der Patient muß auch mit seinem Alltagsleben zurechtkommen, während und nach der Therapie. Und da können mancherlei Probleme auftreten: einfach mit den ungewohnten, neuen Gefühlen, aber auch mit Kontakten, Beruf, Geld etc.

Papesch schreibt über seine Erfahrungen in einem Aufsatz mit dem provokanten Titel: "Gibt es ein Leben nach der Therapie?"

"Berichte über das schöne post-primäre Leben habe ich bislang nur von Therapeuten oder solchen Leuten, die sich in und an Therapiezentren häuslich eingerichtet haben, gehört oder gelesen.
Eine Menge Patienten, die ich kannte, sind nicht zurückgekommen in die Gesellschaft, sondern blieben auf der Insel oder haben sich eine noch weiter entfernte gesucht (Bhagwan).
Ich selbst habe der Sehnsucht nach Inselleben nur deshalb nicht nachgegeben, weil ich nicht mehr flüchten wollte, wie schon so oft, sondern standhalten, in meinem Beruf und an meinem Platz." (Papesch 1979,23)

Lange Zeit wurde dem Patienten in der Primärtherapie kaum Hilfe zur Bewältigung von Alltagsproblemen geboten. Denn Janov hatte Wert darauf gelegt, daß ihm nur eine optimale Chance zum Fühlen geboten wird, er sich sonst aber weitgehend selbst überlassen bleibt; konkrete Hilfen zur Integration des in der Therapie Erarbeiteten in das Alltagsleben und damit eine Unterstützung zur Alltags­bewältigung erschienen ihm nutzlos, ja schädlich, sie manipulierten den Patienten nur (Janov/Holden 1977, 448, 449).

Aber das bezieht sich — wie oft bei Janov — auf idealisierte Verhältnisse. In der Praxis wünschen und brauchen viele Patienten mehr als nur eine Möglichkeit zum Fühlen, nämlich Aussprache, Beratung, Anregung usw., und dies auch noch in der ersten Zeit nach der Therapie. Denn durch Primärtherapie fällt einem auch nicht alles Glück in den Schoß, die Welt wird nicht zu einem Rosengarten. Im Gegenteil sieht man manches Negative auf einmal schärfer.

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Reinhold Papesch (1980, 41-44) fordert sogar eine regelrechte 'Primär-Pädagogik' als Ergänzung der Primärtherapie. Papesch geht davon aus, daß gerade der primärtherapeutische Prozeß selbst — indem er den Patienten ein Stück weit wieder zum Kind werden läßt — die Alltagsbewältigung zum besonderen Problem macht.

Er hält es deshalb für notwendig, dem Patienten — einem Kind vergleichbar — ausreichend Schutz und Anleitung zu gewähren, damit dieser neu lernen kann, sein Alltagsleben zu meistern, und zwar befriedigender und konstruktiver als bisher.

Diese Wünsche sind zwar berechtigt, aber die wenigsten Therapeuten sind zeitlich, aber auch emotional in der Lage, soviel zu "geben". Aber immerhin haben integrative Primär­therapeuten Beratung für das Alltagsleben in ihr Programm aufgenommen. — Und seit einiger Zeit — man höre und staune — bietet auch das Primal-Institut die früher verpönte Lebensberatung an. Anscheinend hat man hier von den "Pseudotherapeuten" gelernt.

 

Abschließend wollen wir die wichtigsten, typischen Probleme mit dem Alltagsleben während und nach einer Primärtherapie und mögliche Lösungen ansprechen:

1. Fühlen und Nicht-Fühlen

Leider zeigen sich Primärgefühle oft nicht in den Sitzungen, dafür gerade dann, wenn man sie nicht gebrauchen kann. Besonders unangenehm kann das in der Öffentlichkeit sein (obwohl es doch seltener vorkommt als befürchtet). Dann sollte man möglichst ruhig weiteratmen und sich ablenken. Als Tip wird von Primärtherapeuten genannt, einen aufsteigenden Schrei in ein Niesen oder Husten umzuwandeln. Zu Hause kann man notfalls in ein Kissen schreien; besser ist eine schallgedämpfte Primalbox (wenn man keinen eigenen Keller hat).

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2. Innenleben und Außenleben

Für eine kurze Zeit kann es notwendig sein, sich mal ganz auf sein Innenleben, die Gefühle der Kindheit einzustellen. Aber um wirklich zurechtzukommen, ist beides wichtig: nach innen gehen, aber auch sein Leben nach außen fortsetzen, Kontakte pflegen, auch neue eingehen, etwas unternehmen. Übrigens werden so auch am ehesten Gefühle stimuliert, während eine Isolierung dem gesamten Leben wie der Therapie schadet.

3. Schmerz und Freude

In der Primärtherapie erlebt man vor allem Schmerz, so funktioniert diese Therapie nun einmal, da leidvolle Erfahrungen wiederbelebt werden. Als Ausgleich sollte man möglichst gut mit sich umgehen, sich etwas gönnen. Viele Primärpatienten sind zu schmerzfixiert (die Therapie kann zu einer subtilen Form der Selbstbestrafung werden). Um im Alltag Erfolg zu haben, muß man sich aber auch für positive Gefühle öffnen.

4. Vergangenheit und Gegenwart

Nicht jeder Schmerz, den man erleidet, läßt sich eindeutig auf vergangene Traumata zurückführen und so auflösen. Wenn die Gegenwart schmerzliche Erfahrungen bringt (z.B. eine Trennung), so muß dieser Schmerz als gegenwärtiger durchlebt werden; aber man muß sich auch — mit der betreffenden Person z.B. — real auseinandersetzen, nicht nur in der Vorstellung während einer Sitzung. Ziel bleibt immer, sein Leben möglichst schmerzarm zu gestalten. Es ist unsinnig, in einer quälenden Beziehung zu bleiben und nur ständig diese Gefühle zu bearbeiten.

5. Aufrechterhalten und Verändern In der Primärtherapie sollte man (wie es auch schon seit langem in der Analyse empfohlen wird) mit radikalen Änderungen seines Lebens zurückhaltend sein, nicht vorschnell eine Beziehung beenden, eine Stelle aufgeben. Manches sieht nach dem ersten Gefühlssturm wieder anders aus. Andererseits braucht man den Mut, (nach der Therapie) notfalls gravierende Veränderungen vorzunehmen, sonst kommt man nicht weiter.

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6. Anpassen oder Aussteigen

Das "post-primäre" Leben kann leichter sein, bringt aber — in einer neurotischen Gesellschaft — auch neue Probleme. Hier muß man sich entscheiden: Ist man in etwa bereit, sich an neurotische Normen anzupassen, oder will man mit Gleichgesinnten, in einer Primär­gemeinschaft (Primal community) leben? In Deutschland gab es einmal das "Primärdorf Ziegelhütte", das sich aber nicht gehalten hat. Die meisten Primärleute (Primal people) bleiben doch in der Gesellschaft.

7. Ich und die Anderen

Manchmal wird Primärleuten vorgeworfen, sie seien egoistisch, dächten nur noch an sich selbst, orientierten sich nur an ihren Gefühlen. In der Tat kann so etwas auftreten und birgt die Gefahr, in eine Isolation zu führen. Sicher ist es richtig, nicht mehr ungerechtfertigten, neurotischen Ansprüchen anderer zu gehorchen, aber ohne eine gewisse Rücksicht wird man scheitern. Allerdings ist ein wirklich fühlender Mensch an sich nicht rücksichtslos.

8. Primaln und Gefühlsmeditation

Wenn man in der Therapie fortgeschritten ist, braucht man nicht mehr in jedes alte Gefühl hineinzugehen. Man kennt diese Gefühle, hat sie bis zur Tiefe ausgelotet, drängt sie nicht weg, sondern läßt sie einfach vorbeiziehen. Manche können auch in einer Art "inneren Primals" das Gefühl still in sich ablaufen lassen, anstatt es rauszulassen — eine Art Gefühlsmeditation. Wenn man immer wieder in dasselbe Gefühl ("Lieblingsgefühl") geht, kann das zur "Gefühlsmasche" und damit letztlich zur Abwehr werden, z. B. gegen die Bewältigung gegenwärtiger Probleme.

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6  Ist die Primärtherapie wissenschaftlich? Pro und Contra  

 

Die ursprüngliche Darstellung der Primärtherapie im Buch "Der Urschrei" war in ihrer übertreibenden und polemischen Art nicht gerade wissenschaftlich, wenn auch schon damals die Primärtheorie selbst einen wissenschaftlich-rationalen Kern besaß. Janov war aber zu dieser Zeit im Grunde anti-wissenschaftlich eingestellt. Er sah kaum die Notwendigkeit noch die Möglichkeit, die Primärtherapie wissenschaftlich zu begründen, da sie seiner Auffassung nach nur über das eigene Erleben erfaßbar und verifizierbar sei.

Inzwischen hat Janov seine Position um nahezu 180 Grad gedreht. Jetzt betont er den wissenschaftlichen Charakter der Primärtherapie:

"Es gibt zwei Faktoren, die die Primärtherapie zu einer echten Wissenschaft machen. Der erste ist ihre Wiederholbarkeit — der entscheidende Prüfstein jedes wissenschaftlichen Konzepts. Primärtherapeutische Methoden sind in der Hand jedes fähigen Primärtherapeuten, der Urerlebnisse hervorrufen kann, wiederholbar und führen zu dauerhafter Heilung ... Der zweite Faktor ist die Vorhersagbarkeit. Was zählt, sind exakte Vorhersagen — Vorhersagen über Verhalten und Heilung ... Vorhersagbarkeit ist der Eckpfeiler jeder Wissenschaft, und nur in Kenntnis der Gesetzmäßigkeiten der Neurosenbildung können wir Vorhersagen treffen."
  (Janov 1976, 22)

In der Tat ist das wissenschaftliche Niveau der Primärtherapie — im Vergleich zu anderen Psychotherapiemethoden — heute relativ hoch, wenn das auch von Kritikern bestritten wird. Zum einen hat Janov seine psychologische Neurosen­theorie durch eine biologisch-medizinische Theorie über Physiologie und Neurophysiologie der Neurose ergänzt. Er hat damit gewissermaßen eine geistes­wissen­schaftliche und natur­wissenschaftliche Fassung seiner Theorie vorgelegt, was die wenigsten anderen Psycho­therapien anzubieten haben.

Und er hat seine Theorie durch — entsprechende psychologische und physiologisch-neurophysiologische — Untersuchungen empirisch abgesichert und statistisch ausgewertet.

Auch durch andere Wissenschaften erfährt die Primärtherapie Bestätigung: durch die Erkenntnisse des Arztes Leboyer über die "sanfte Geburt" (bzw. über Geburtstraumata), durch ethnologische Untersuchungen wie die von Jean Liedloff, durch die Streß-Theorie, durch neurologische Forschungen über Schmerzschleusung und Endorphine u.v.m.

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Janovs wissenschaftlicher Ansatz beschreibt nicht nur Neurosen (und Psychosen) generell, sondern analysiert verschiedenste Störungen wie Depressionen, sexuelle Perversionen, Suizid u.a., auf die wir nicht im einzelnen eingehen konnten. Aber Janovs Aussagen reichen weit über die Psychotherapie hinaus, umfassen Gebiete der allgemeinen Psychologie, wie Gefühle, Denken, Verhalten, Schlaf, Träume, Kommunikation, pränatale Entwicklung, Drogen ... Doch die Primärtherapie macht auch wichtige Aussagen über Medizin (besonders Neurologie: Gehirnfunktionen, EEG usw.), Biologie (z. B. Schmerz und Evolution), Soziologie, Politologie, Pädagogik und Kulturwissenschaften.  

Primärtherapie ist eine ganzheitliche Theorie, deren Kerngedanken lauten: Durch Traumatisierungen (schon vor der Geburt) erleidet der Mensch (in fast allen Kulturen) ein Übermaß an Urschmerz, das er verdrängen muß. Obwohl unbewußt, bleibt dieser Schmerz nicht wirkungslos. Er äußert sich in Gefühlen, Gedanken und Verhalten, in Körper und Gehirn; beim Einzelnen wie in der Gesellschaft, in Politik, Wirtschaft, Kultur, Religion, Erziehung — überall. (Orban, 1980, sieht sogar den Disco-Tanz als Ausdruck von Geburtsgefühlen.) Heilung und Befreiung kann nur gefunden werden, wenn die Abwehr abgebaut und der Urschmerz — in Primals — wiedererlebt wird.

Man kann das als ein neues "Paradigma" bezeichnen, eine revolutionäre wissenschaftliche Theorie. Zwar sind nicht alle Aussagen Janovs neu, aber die Konzentration auf den Urschmerz (schon in pränataler Zeit), die "Entdeckung" und Herausstellung des Primals und die Forderung nach einer "fühlenden Gesellschaft" sind schon revolutionär (vgl. hierzu Gurza 1976, 193-213). Zimmer (1986) meint allerdings, daß die gesamte Tiefenpsychologie, einschließlich Primärtherapie ein überholtes Paradigma sei, das durch Lern- und Verhaltenstheorie ersetzt werden müßte. Umgekehrt werfen New-Age-Vertreter Janov vor, er habe die Wende zum neuen, spirituellen Paradigma verpaßt.

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Janovs "Lehre" ist allerdings in Gefahr, zur Ideologie zu werden, zum dogmatischen System. Er immunisiert seine Theorie zu sehr gegen Kritik, läßt keine In-Frage-Stellung zu. Für eine erfahrungs­wissenschaftliche Theorie muß aber — nach dem Wissenschaftstheoretiker Popper — gelten, daß sie an der Erfahrung scheitern kann. D.h.: Wenn man Beobachtungen macht, die der Theorie widersprechen, muß man sie wenigstens z.T. — als widerlegt ansehen, anstatt sie durch immer wieder neue Zusatzhypothesen zu "flicken".

Janov war aber lange blind für seine eigenen Fehler und Irrtümer. Und das Gefährliche: Seine Äußerungen und seine Schreib­weise wirkten so beeindruckend, so suggestiv, daß Patienten dazu neigten, ihm alles zu glauben, und auch nicht zweifelten, wenn der Therapieerfolg auf sich warten ließ. Inzwischen hat Janov aber dazugelernt und — wenn auch meistens stillschweigend — die Theorie und besonders die Praxis in vielen Punkten korrigiert.

Die zunehmende Verwissenschaftlichung der Primärtherapie hat die Nachfrage nach ihr aber wohl eher gebremst. Zwar spielen in der Therapiepraxis weiter die Gefühle die Hauptrolle, aber in Janovs Büchern liest man heute fast mehr über Gehirnprozesse als über Feelings. Vielleicht hat er damit manchen Therapeuten aus dem wissenschaftlichen Lager hinzugewonnen, jedoch dafür das Gros seiner eher antiwissen­schaftlichen Anhänger verprellt.

 

7.7  Janovs Welt- und Menschenbild   — Fortschritt oder Rückschritt ?  

Ebenso wie die Primärtherapie hat das — damit verbundene — Menschenbild Janovs Aufmerksamkeit erregt, Zustimmung, aber noch mehr Kritik gefunden. Zunächst sieht Janov den Menschen als Einheit von Körper, Psyche und Geist. Zwar ist für Janov Gefühl, Feeling, "das Wesentliche der menschlichen Natur" (Janov 1974, 79), aber ein vollständiges Gefühl hat für ihn auch geistige Komponenten und vor allem eine physische Basis, fußt also auf Prozessen in Körper und Gehirn. Insofern — entgegen seinem Image als Emotionalist und Irrationalist — ist Janov Materialist. Seelisches und Geistiges jenseits des Körperlichen gibt es für ihn nicht.

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Das hat ihm verschiedentlich Kritik eingebracht:

Ähnlich wurde angeführt von Revenstorf (1983, 177-178):

"Janov ist vor allem deswegen kritisiert worden, weil er das kindliche Bewußtsein als das wahre Bewußtsein verherrlicht (Brown 1979). Der postprimäre Mensch reagiert wie ein Kind: er nimmt seine Gefühlsregungen unmittelbar wahr, er kennt ihre Bedeutung und verleiht ihnen Ausdruck. Seine primären Bedürfnisse stehen im Vordergrund — wenn auch nicht zwanghaft."

Indem Janov das Selbst des Kindes als fertig darstellt, werden alle Prozesse der Sozialisation und Erziehung im Grunde überflüssig. Es folgt daraus aber auch, daß Kultur und Zivilisation nicht zum primären Wesen des Menschen gehören. Denn dessen primäre Bedürfnisse richten sich nur auf Selbstsein, Fühlen, Nahrung, Wärme u.a. sowie Liebe oder — genereller — Kontakt.

Janov ignoriert weitgehend, was Soziologie, Anthropologie etc. über den Menschen ausgesagt haben: Daß der Mensch nämlich als "physiologische Frühgeburt" und infolge seiner "Instinktarmut" auf eine zweite, "soziale Geburt" angewiesen ist, daß er erst durch die Sozialisation lernen muß, sich in seiner Gesellschaft und Kultur, aber auch überhaupt im Leben zurechtzufinden. Und wenn Janov wohl auch zu Recht manche "soziologistische" Übertreibung korrigiert, argumentiert er doch zu einseitig individualistisch.

Das kindliche, reale Selbst ist aber nach Janov nicht nur fertig, sondern auch harmonisch und friedlich. Es beherbergt keine naturgegebenen Ängste, Aggressionen o.a., die in Schach gehalten werden müßten — alles "Negative" entsteht erst durch Traumatisierung (die wohlgemerkt schon vor der Geburt einsetzen kann, so daß auch das Neugeborene bereits neurotisch ist).

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Damit wendet sich Janov zum einen gegen biologische Vorstellungen von einem Aggressionstrieb des Menschen. Er kritisiert zum anderen Freuds Modell, wonach eine starke Abwehr nötig ist, um angeborene Triebe, Konflikte, Urängste etc. zu kontrollieren.

Es fragt sich, ob Janov nicht ein verklärtes Menschenbild zeichnet. Ob der Mensch nicht doch in gewissem Ausmaß von Natur her Probleme und Konflikte in sich trägt. Arthur Koestler meinte z.B., die verschiedenen Gehirnsysteme des Menschen harmonierten nicht miteinander und verurteilten ihn bereits von daher zu einem "Irrläufer der Evolution". Andere sehen in einem konflikthaften Charakter des Menschen gerade die Ursache und Chance für Entwicklung und Reifung.

Volz-Ohlemann (1983, 50) schreibt hierzu zusammenfassend:

Bei Janovs Verständnis von der Natur des Menschen stellen sich für den natürlichen Menschen keine der grundlegenden anthropologischen Probleme, wie sie etwa mit den folgenden Stichworten angedeutet werden können ...: Angewiesenheit des einzelnen Menschen auf Menschwerdung durch Sozialisation; Ungerichtetheit, Plastizität und Ambivalenz menschlicher (An-)Triebe; Not, Frustration und Schmerz als Motoren menschlicher Entwicklung und Fehlentwicklung; Problematik der Persönlichkeits- und Identitätsentwicklung; Notwendigkeit der Versöhnung von Konflikten zwischen Dimensionen des Menschen (Körper/Psyche, Geist-/Triebwesen, Individual-/Gesellschafts­wesen) und Spannungen im Prozeß der Menschwerdung (Reifen/Lernen, Natur-/Kulturwesen).

Nach Janov ist aber die Sozialisation nicht nur überflüssig, sondern oft schädlich. Denn da der Mensch von Natur aus real und "gut" sein soll, ist es die Gesellschaft, die ihn krank und aggressiv macht. Dabei werden die schädlichen Einflüsse der Gesellschaft vor allem durch die Familie, insbesondere die Eltern, auf das Kind übertragen, in fast allen Kulturen.

Es wird allerdings nicht ganz deutlich, inwieweit Janov alles Kulturelle als (nur) neurotisch bzw. neurotisierend abwertet: Wissenschaft, Religion, Kunst, Sport, etc. In früheren Schriften schien das so. Heute hat sich Janov auch hier zurückgenommen. So hält er z.B. eine "reale" Kunst durchaus für möglich und wünschenswert.

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Andererseits teilt Janov den Kulturpessimismus von Freud. Und in seinen Schriften klingt auch der "edle Wilde" von Rousseau an, wenn er auf Kulturen wie z.B. die der Tobriand-Insulaner verweist. Allerdings fordert Janov kein simples "Zurück zur Natur", dennoch, seine Sicht von der Harmonie in der Natur ignoriert den natürlichen Kampf ums Überleben, das Fressen oder Gefressenwerden.

Die Primärtheorie vertritt eine schmerzorientierte Anthropologie, d.h.: Der Urschmerz ist der Angelpunkt des Menschseins, in biologischer, psychologischer und kultureller Hinsicht. Das menschliche Leben (sogar das Leben überhaupt) ist darauf gerichtet, Urschmerz zu überwinden. Auch die Evolution zum Menschen muß unter diesem Aspekt gesehen werden (vgl. z.B. Janov 1981, 319ff).

Dabei sieht Janov den Menschen zunächst einmal als weitgehend hilflos gegenüber dem Urschmerz. Für Embryo, Säugling und Kleinkind gilt das ohnehin, aber im Grunde auch für den Erwachsenen — auch er entkommt dem Urschmerz nicht, obwohl er sich besser wehren kann.

Von daher vertritt Janov die Theorie, daß der Mensch vor allem Opfer ist. Er wendet sich damit gegen Therapien, die dem Menschen in übertriebener Weise die Selbstverantwortung für sein Leiden aufhalsen und behaupten, jeder mache sich selbst krank und könne gesund und glücklich sein, wenn er nur wolle (vgl. Bohnke 1985). Janov überbetont aber wohl das Opfer-Sein, er sieht den Menschen durch seine traumatischen Prägungen als fast völlig determiniert. Dennoch ist seine pointierte Position wichtig in einer Zeit, wo der kranke Mensch häufig in irrationaler Weise für sein Leiden angeklagt wird.

Für Janov gibt es im Grunde nur einen Weg heraus aus dem Elend des Einzelnen und der Gesellschaft, das Wiedererleben des Urschmerzes. Nach ihm führen eben nicht viele verschiedene Wege zur Heilung, sondern nur der der Primärtherapie. Und diese ist ein Leidensweg. — Man muß gleichsam durch die Hölle gehen, um dann befreit, ja erlöst zu werden. Hier klingen bei Janov typische religiöse Motive an: Erst muß gelitten (wenn auch nicht bereut) werden, erst nach dieser Reinigung kommt die Heilung, das Heil, der neue Mensch. Dieser neue Mensch, "Primal man", soll psychisch er selbst sein, geistig wach, körperlich gesund, sozial in Harmonie mit Mitmenschen und Umwelt.

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Eine Gesellschaft von "Primärmenschen" wäre weitgehend frei von Kämpfen und Verbrechen, und in einer "Primär­welt" gäbe es keine Kriege mehr. Dabei wären diese fühlenden Menschen keineswegs irrational, denn nach Janov führt gerade das Fühlen zu echter Rationalität, während ungefühlte Schmerzen Denkverzerrungen bewirken.

Von daher fordert Janov eine Primär-Revolution. Die seiner Ansicht nach in erster Linie eine Revolution des Fühlens und des Bewußtseins sein muß. Denn er betont immer wieder, daß die schönsten Vorsätze allein kaum nützen, weil ein Neurotiker notgedrungen seinen Urschmerz ausagiert, solange er ihn nicht im Primaln aufgearbeitet hat.

Am wichtigsten ist seiner Ansicht nach eine andere Erziehung — "Das befreite Kind" (Janov 1974 a) als Ziel. Dabei hat diese neue Erziehung schon im Mutterleib zu beginnen und eine "sanfte Geburt" einzuschließen. Aber auch hier gilt: Kinderfreundliche Vorsätze reichen nicht, solange die Eltern selbst noch neurotisch belastet sind.

Generell fordert Janov eine fühlende, menschlichere Welt, in der man mit anderen mitfühlt, aber auch mit sich selbst "mitleiden" darf, ohne daß das als sentimentales "Selbstmitleid" gilt. Aber drückt Janovs Wunsch nach einer Primärrevolution nicht — auch — eine unrealistische Suche nach Erlösung aus, nach einer heilen (Primär-)Welt? Und liegt nicht ein neurotischer Perfektionismus in dem Streben nach dem vollkommenen Menschen? Oder hat sogar die Primärtherapie selbst etwas von dem neurotischen Kampf, den Janov beschreibt? Vielleicht versucht man, ein primärer "Supermensch" zu werden, um so doch noch — symbolisch — die vermißte elterliche Liebe zu erkämpfen. Außerdem: Ist das Ziel der Überwindung des Schmerzes nicht irgendwie auch noch Abwehr? Man will den Schmerz nicht annehmen, sondern loswerden — wenn auch gerade, indem man ihn fühlt. So wäre das Primaln in paradoxer Weise selbst auch ein Abwehren. — Aber es ist für den Menschen natürlich und legitim, seinen Schmerz überwinden zu wollen. Und das Primaln macht es möglich.

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Ausblick

 

In den 20er Jahren — und nochmals in den 50er und 60er Jahren — gehörte es in den besseren Kreisen dazu, sich in seiner Psycho­analyse auf die Couch zu legen. Ende der 70er Jahre war es dann die Primärtherapie, die bestimmte gesellschaftliche Kreise favorisierten.

Sicherlich hat die Primärtherapie Elemente einer Modetherapie. Die Zeiten, wo es chic war, gerade mal "auf Urschrei zu machen", bis es wieder etwas Neues gibt, sind allerdings vorbei. Glücklicherweise, muß man sagen. Denn ähnlich wie bei der Psychoanalyse besteht nach dem Modeboom jetzt die Chance, daß man der Primärtherapie unvoreingenommen gegenübertritt, sie weder euphorisch hochjubelt, noch sie diskreditiert oder verteufelt.

So muß bezweifelt werden, daß eine primärtherapeutische Revolution die Welt verändern wird — genausowenig wie das die Psychoanalyse getan hat. Dafür erfordert die Primärtherapie, wenn sie seriös durchgeführt wird, zu viel unbedingte Bereitschaft zur schmerzhaften Selbsterforschung, und nicht zuletzt auch mehr Aufwand an Zeit und Geld, als die meisten Menschen aufbringen können und wollen.

Mit Sicherheit aber wird die Primärtherapie weiterbestehen. Denn sie hat eine gute Substanz.

Zwar hat Janov nicht etwas völlig Neues entdeckt — und auch ganz und gar nicht völlig allein. Aber es ist sein Verdienst, die Bedeutung des Urschmerzes und seine Auflösung im Primal in dieser Weise heraus­gestellt zu haben. Er hat als erster das Fühlen des Schmerzes zum Kernpunkt einer Therapie gemacht, dies systematisch beschrieben und mehr und mehr wissenschaftlich untermauert, wobei besonders die Integration von Aussagen über die Psyche mit Aussagen über Körper und Gehirn beeindrucken.

Darüber hinaus hat Janov ein umfassendes und ganzheitliches Modell des Menschen entwickelt. Ein Modell, das sicher seine Schwächen und blinden Stellen besitzt, das andererseits aber doch Wesentliches und Neues über den Menschen aussagt: Der Mensch wird schon im Mutterleib von Verletzungen und Urschmerz geprägt, die sein ganzes Leben bestimmen können. Und zwar nicht nur das des einzelnen Menschen, sondern das von Gruppen, Gesellschaften, ja der ganzen Menschheit.

Und auch überzeugte Janov-Gegner müssen ihm wenigstens das zugestehen: Janov ist ein Anwalt der leidenden Menschen und der Kinder — also der Schwachen. Er fordert, ihnen zu helfen, den Urschmerz zu überwinden, und noch dringender, Kinder vor dem unvorstellbaren Urschmerz zu bewahren. Insgesamt ist er ein Anwalt des Menschlichen, der sich wünscht, daß Menschen so sein dürfen, wie sie wirklich sind, ihre Gefühle fühlen und ohne Unterdrückung leben dürfen.

Die Primärtherapie ist nicht mehr so einfach, kompromißlos und radikal wie früher. Es gilt nicht mehr das Motto: <Du mußt nur fühlen, dann geht alles wie von selbst.> Insofern hat die Primärtherapie bestimmt an Faszination und Anziehungskraft eingebüßt. Sie ist dafür eine realistischere, differenziertere und auch bessere Therapie geworden. Und sie besitzt nach wie vor genügend Originalität, um nicht in dem Brei der integrativen Therapiemethoden unterzugehen.

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 E n d e 

 

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