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3  Wendepunkte der Geschichte    Bookchin-1990

 Der Aufstieg der Krieger 66     Die Entstehung der Stadt 71     Der Nationalstaat und der Kapitalismus 77 

 


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Ich habe versucht aufzuzeigen, wie weit wir zu gehen haben und wie tief wir in die alltäglichsten Aspekte unseres Lebens einsteigen müssen, um die Wurzeln unserer Vorstellung von Naturbeherrschung freizulegen.

In diesem Zusammenhang habe ich betont, wie sehr die Herrschaft des Menschen über den Menschen der Vorstellung von der Naturbeherrschung, ja sogar der Entstehung von Klassen und Staaten vorausgeht. Ich habe gefragt — und auch versucht, darauf eine Antwort zu geben — warum und wie Hierarchien entstanden, und wie sie sich, zunehmend differenziert, zu anfänglich vorübergehenden und später fest verankerten Status­gruppen und schließlich zu Klassen und Staaten entwickelten.

Mein Ziel war es, diese Trends aus ihrer eigenen inneren Logik darzulegen und ihre Entwicklungsnuancen zu untersuchen. Der Leser wurde dabei ständig daran erinnert, daß die Menschheit und ihre sozialen Ursprünge, ebenso ein Produkt der natürlichen Evolution sind wie andere Säugetiere und deren Gemeinschaften; daß menschliche Wesen sogar eine bewußte Kreativität innerhalb des evolutionären Fortschritts der Natur einsetzen und diesen dadurch vorantreiben können, anstatt ihn zu behindern oder umzukehren.

Ob die Menschheit eine so geartete Rolle einnehmen wird, hängt von der Art der sich herausbildenden Gesellschaft ab und von den Sensibilitäten, die sie kultiviert. Es ist jetzt wichtig, diejenigen Wendepunkte in der Geschichte zu untersuchen, von wo ab die Menschen ihren Weg entweder zu einer rationalen, ökolog­ischen Gesellschaft oder zu einer irrationalen, antiökologischen einschlagen können.

   Der Aufstieg der Krieger  

Vielleicht der früheste Richtungswechsel, den die Gesellschaft - zum späteren Schaden der Menschheit und der Natur - vollzog, war das hierarch­ische Anwachsen des Bereichs der männlichen Öffentlichkeit, insbe­sond­ere das Aufkommen männlicher Gerontokratien, Kriegerverbände, aristokratischer Eliten und des Staatswesens.

Diese hochkomplexen Entwicklungen auf den Begriff "Patriarchat" zu reduzieren, wie viele Autoren zu tun geneigt sind, ist ebenso naiv wie simplistisch. "Männer" — ein generisches Wort, das so vage ist wie das Wort "Menschheit" und das die Unterdrückung von Männern durch Männer genau so ignoriert wie die von Frauen durch Männer — haben die Gesellschaft nicht einfach "übernommen". Genauso wenig hat die männliche öffentliche Gesellschaft einfach die häusliche Welt der Frau durch Invasion patriarchaler indo-europäischer und semitischer Hirtenvölker zerstört, so entscheidend diese Invasionen für die Unterwerfung vieler früher Ackerbau betreibenden Gesellschaften auch war.

Wenn bestimmte Öko-Feministinnen, Mystiker, christliche oder heidnische Eiferer sich auf diese "Übernahme"- und "Invasions"-Theorien stürzen, so stellen sie damit nur ein weiteres ungelöstes Mysterium auf: wie haben dramatische Veränderungen, wie die Entstehung des Patriarchats, in der Hirten­gesellschaft, aus der die Invasionen erfolgten, stattgefunden? Es gibt Beweise dafür, daß die männliche Öffentlichkeit mit ihrem Schwergewicht auf Außenbeziehungen und Kriegsführung nur langsam an Einfluß gewann und daß einige Hirtenvölker, ungeachtet der Führung durch kriegerische Kämpfer, in wichtigen Fragen wie der Abstammung und Vererbung von Eigentum Frauen den Vorrang einräumten.

In vielen Fällen entwickelte sich die männliche Öffentlichkeit langsam und nahm wahrscheinlich durch das An­wachsen benachbarter Populationen an Bedeutung zu. Männer wurden tatsächlich zum Schutz der Gemein­schaft als Ganzer — einschließlich der Frauen — vor anderen marodierenden Männern gebraucht. Kriegsführung ist sogar möglicherweise unter scheinbar "friedlichen" und matrizentristischen, ackerbau­betreibenden Gemein­schaft­en entstanden, wenn diese versuchten, rückständige Jäger- und Sammlervölker aus den Wäldern zu vertreiben, um diese später in Ackerland zu verwandeln.

Wir sollten hier ganz klar feststellen: so matrizentristisch oder friedlich frühe ackerbaubereibende Gemein­schaften auch gewesen sein mögen, in den Augen der durch sie vertriebenen Jäger waren sie sehr wohl kriegerisch; denn diese Jägervölker waren keineswegs darauf eingestellt, ihre freie Lebensweise aufzugeben und sich ebenfalls dem Nahrungs­mittelanbau zu widmen. Die Überlieferungen der großen indianischen Erzähler, die Worte von Wovoka, des Messias der Paiute-Indianer in der Geistertanz-Bewegung des ausgehenden 19. Jahrhunderts, über die Landwirtschaft lassen noch diese Mentalität erkennen: "Soll ich ein Messer in die Brust meiner Mutter, der Erde, stoßen?"

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Aber es kann kaum bezweifelt werden, daß der langsame Übergang von der Herrschaft der Ältesten zu der des ältesten Mannes oder Patriarchen, vom Einfluß animistischer Schamanen zu götterverehrenden Priester­schaften, und das Aufkommen von Kriegerverbänden, die schließlich in allmächtigen Monarchen kulminierten — daß all dies für einen entscheidenden Wendepunkt in der Geschichte steht, hin zu Herrschaft, Klassen und der Entstehung des Staates. Immerhin hätte die Möglichkeit bestanden, daß matrizentristische Gemeinschaften von Dorfbewohnern einen Entwicklungspfad zu einer völlig anders gearteten Menschheit eingeschlagen hätten. 

Auf der Grundlage von Gartenbau, einfachen Werkzeugen, Nießbrauch, Existenzminimum, Komplementarität und sogenannten weiblichen Werten wie Versorgen und Nähren (die ihnen schließlich in der Sozialisation ihrer Kinder bis in die heutige Zeit geblieben sind) hätte die Gesellschaft einen relativ sanften Weg in der Geschichte nehmen können. Die Fürsorge, die Mütter normalerweise auf ihre Kinder verwenden, hätte sich in einen allgemeinen Sinn für das Wohlergehen der Mitmenschen wandeln können. Bei begrenzten materiellen Ansprüchen hätte der technische Fortschritt ganz allmählich höhere soziale Strukturen ermöglicht, und das kulturelle Leben hätte sich sensibel entfalten können.

Ob nun vermeidbar oder nicht, die Tatsache bleibt, daß dieser frühgeschichtliche Scheideweg zu einer patriarchalischen, priester­lichen, monarchistischen und staatlichen Entwicklung anstelle einer matrizentristischen und nichthierarchischen geführt hat. Kriegerische Werte wie Kampf, Klassen- und Staatsherrschaft sollten die Infrastruktur aller "zivilisierten" Entwicklung bilden — in Asien nicht weniger als in Europa und in weiten Teilen der Neuen Welt, wie Mexiko oder den Anden, nicht weniger als in der Alten Welt.

Die nostalgischen Versuche vieler Menschen aus der ökologischen oder feministischen Bewegung, zu einer scheinbar ungetrübten neolithischen Dorfwelt zurückzukehren, sind angesichts der schreckenerregenden Resultate der "Zivilisation" verständlich. Aber ihre Vorstellungen von dieser fernen Welt wie auch ihr wachsender Haß gegen die "Zivilisation" als solche geben doch zu erheblichen Zweifeln Anlaß.

Es ist gewiß unwahrscheinlich, daß die einfachen Jäger- und Sammler­gemeinschaften für die ebenso einfachen Ackerbau betreibenden Gemeinschaften mehr Sympathie aufbrachten als ein Wovoka, ob sie nun an dieselbe Muttergöttin glaubten oder nicht. Genau so unwahrscheinlich ist es, daß mit wachsender Bevölkerung die Ackerbau betreibenden Gesellschaften die sanften Gefühle beibehalten hätten, die von den heutigen atavistischen Feministinnen so gefeiert werden.


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Patrizentristische Hirtenvölker und über die Seewege eingefallene Invasoren mögen eine Entwicklung beschleunigt haben, die vielleicht etwas friedlicher, aber sonst kaum anders verlaufen wäre. Wenn die "Zivilisation" in der "Ursünde" gezeugt wurde, dann bestand die "Sünde" oder das Übel wohl darin, daß Ackerbauern gegen Jäger standen (wobei vielleicht beide matrizentristisch und animistisch gewesen sind) und viel später auch Hirten gegen Ackerbauern.

Jedenfalls stand in der Stammes- wie auch der Dorfgesellschaft — ob sie sich nun aus Jägern oder Bauern zusammensetzte — nicht alles zum besten. Zunächst besitzen Stammes- und Dorfgesellschaften einen notorisch engen Horizont. Eine gemeinsame Abstammung, sei sie nun fiktiv oder real, führt zum Ausschluß von Fremden, außer vielleicht, wenn Rituale der Gastfreundschaft zelebriert werden. Obwohl das Gesetz der Exogamie und die Gebote des Handels dazu führen, Allianzen zwischen "Mitgliedern" und "Gästen" eines Stammes und einer Dorfgemeinschaft zu schließen, kann ein "Gast" dennoch kurzerhand von einem "Mitglied" getötet werden. Ein Recht auf Vergeltung für Diebstahl, Überfall und Mord hat ausschließlich das "Mitglied" und seine oder ihre Verwandten, nicht aber eine Autorität, die außerhalb der allgemeinen Verwandtschaftsgruppe existiert.

Stammes- und Dorfgesellschaften sind also weitgehend geschlossene Gesellschaften — verschlossen für Außenstehende, es sei denn, diese werden wegen ihrer besonderen handwerklichen Fähigkeiten gebraucht, zur Bevölkerungsvermehrung nach Kriegen oder tödlichen Epidemien, oder einfach durch Heirat. Sie sind aber nicht nur Außenstehenden, sondern auch kulturellen und technischen Innovationen gegenüber verschlossene Gesellschaften. Während sich viele kulturelle Merkmale langsam von einer Stammes- oder Dorfgemeinschaft zur nächsten verbreiten können, neigen solche Gemeinschaften in ihren Ansichten bezüglich grundsätzlicher Neuerungen zu einem strengen Konservatismus. 

Im Guten oder Schlechten schlagen traditionelle Lebensweisen im Laufe der Zeit tiefe Wurzeln. Neuen Techniken gegenüber gibt es eine Abneigung, wenn sie nicht in der eigenen Umgebung entwickelt worden sind. Verständlich, bedenkt man die zerrüttenden sozialen Auswirkungen, die sie auf altehrwürdige Bräuche und Institutionen haben könnten. Fatal ist, daß dieser Konservatismus eine Stammes- oder Dorfgemeinschaft der Eroberung, ja der Ausrottung durch andere, technisch überlegene Gruppen fast wehrlos ausliefert.


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Ein zweites unangenehmes Merkmal von Stammes- und Dorfgesellschaften sind ihre kulturellen Grenzen. Von diesen Gesellschaften ist kein komplexes Schriftsystem zu erwarten, weshalb auch von vielen Anthropologen der Begriff "schriftlos" benutzt wird. Der heutzutage unter wohlhabenden Mittelschichts­angehörigen (ironischerweise durch schriftliche Veröffentlichungen) so modern gewordene Irrationalismus, Mystizismus und Primitivismus hält die Unfähigkeit schriftloser Menschen, eine Geschichte und Kultur zu vermitteln oder durch Piktogramme zu kommunizieren, für einen Segen. Daß das Fehlen einer alphabetischen Schrift tatsächlich nicht nur den kulturellen Horizont einschränkte, sondern der Entstehung von Hierarchien förderlich war, wird dabei leicht übersehen. Die durch Auswendiglernen oder Erfahrung gewonnene Kenntnis der Überlieferungen der Vorfahren, Rituale und Überlebenstechniken wurde zum Vorrecht der Ältesten und von diesen strategisch zur Manipulation der Jugend genutzt.

Gerontokratie, die für mich die früheste Form von Hierarchie darstellt, wurde möglich, weil die Jungen die Alten wegen ihres Wissens konsultieren mußten. Keine Schriften oder Bücher ersetzten das Wissen, das allein in den Hirnen der Alten festgehalten war. Die Ältesten nutzten — mit sichtbarer Wirkung — ihr Wissensmonopol, um die früheste Form von Herrschaft in der Vorgeschichte zu etablieren. Das Patriarchat selbst schuldet einen guten Teil seiner Macht dem Wissen, über das der männliche Älteste eines Clans dank der Erfahrungen seines Alters gebot. Schreiben hätte sicherlich die Demokratisierung sozialer Erfahrung und Kultur vereinfacht — eine Tatsache, die den herrschenden Eliten und speziell der Priesterschaft bestens bekannt war, weshalb diese auch das Lesenlernen streng reglementierten und die Schreibkunst auf "Gelehrte" oder Geistliche beschränkten.

Heutzutage ist eine umfangreiche Literatur erschienen, die den Primitivismus mystifiziert. Es ist wichtig, denkende Menschen daran zu erinnern, daß die Menschheit nicht in eine Hobbes'sche Welt des Krieges "alle gegen alle" hineingeboren wurde; daß die zwei Geschlechter einmal kulturell und ökonomisch in einem komplementären Verhältnis zueinander lebten; daß die Disakkumulation, die Schenkung, das Existenzminimum und die substantielle Gleichheit die grundsätzlichen Normen der frühen organischen Gesellschaften bildeten; daß die Menschen in einer harmonischen Beziehung mit der Natur lebten, weil sie nämlich unter Bedingungen einer inneren sozialen Harmonie der Gemeinschaft lebten. Wir können jedoch nicht übersehen, daß diese unschuldige Welt sowohl durch interne Hierarchisierung als auch durch Invasoren, die sie einer Kriegerelite unterwarfen, schwer gefährdet war, wodurch die Menschen an einer vollständigen Verwirklichung ihres Potentials gehindert wurden.


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Die Vorstellung einer allumfassenden Humanitas, die Menschen aus unterschiedlichen ethnischen oder sogar stammesmäßigen Zusammenhängen in einem gemeinsamen Projekt vereint, der Errichtung einer allen zum Wohle dienenden und vollständig kooperativen Gesellschaft, hat damals noch nicht existiert. Zwar bildeten sich im Laufe der Zeit Stammesbünde heraus, häufig zur Schlichtung blutiger interner Auseinandersetzungen oder auch zu expansionistischen Zielen, um "andere" Menschen von ihrem Land zu vertreiben. Der Irokesenbund ist vielleicht eines der berühmtesten Beispiele einer auf lebendigen demokratischen Traditionen beruhenden Kooperation verschiedener Stämme. Es war allerdings ein Bund, der ausschließlich an seinen eigenen Interessen ausgerichtet war. Entsprechend handelte er sich auch den erbitterten Haß anderer indianischer Völker, wie der Huronen und der Illinois ein, deren Land er überfiel und deren Gemeinschaften er verwüstete.

 

  Die Entstehung der Stadt 

Nach dem geschichtlichen Wechsel von einer matrizentristischen zu einer patrizentristischen kriegerischen Entwicklung ist der nächste entscheidende Wendepunkt, den wir in der Geschichte vorfinden, die Entstehung und Entwicklung der Stadt. Sie sollte eine völlig neue soziale Arena bilden — eine territoriale Arena, in welcher der Wohnsitz und die wirtschaftlichen Interessen des Einzelnen allmählich seine allein aus der blutmäßigen Abstammung abgeleiteten Bindungen ersetzten.

Die Radikalität dieses Wechsels und sein Einfluß auf die Geschichte sind heute nur noch schwer nachvollzieh­bar. Urbanität ist so sehr ein Bestandteil des modernen sozialen Lebens, daß sie einfach als selbstverständlich betrachtet wird. Außerdem wird immer betont, wie sehr die Stadt die kulturelle Entwicklung beschleunigte (Literatur, Kunst, Religion, Philosophie und Wissenschaft) und wie stark sie die ökonomische Entwicklung (Technologie, Klassen und die Arbeitsteilung zwischen Handwerk und Landwirtschaft) vorantrieb; man übersieht dabei die Bedeutung der neuartigen Möglichkeiten, die sich für das Zusammenleben der Menschen ergaben.


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Soweit wir dies beurteilen können, war es vielleicht das erste Mal, daß Menschen ohne Rücksicht auf ihre Vorfahren und Blutsbeziehungen miteinander in Kontakt treten konnten. Der Gedanke, daß die Menschen ungeachtet ihrer Herkunft aus verschiedenen Stämmen oder Dörfern grundsätzlich gleich sind, begann die ethnischen Abgrenzungen aufzulösen. In den Städten wurden die biologischen Gegebenheiten des Familienstammbaumes und des Zufalls der Geburt mehr und mehr durch die sozialen Gegebenheiten des Wohnortes und der ökonomischen Interessen ersetzt. Menschen wurden nicht einfach in soziale Verhältnisse hineingeboren; vielmehr konnten sie ihre sozialen Bedingungen mehr oder weniger auswählen und sogar verändern. Soziale Institutionen und die Entwicklung einer übergreifenden Menschengemeinschaft rückten in den Vordergrund und drängten die Volksgemeinschaft in den Hintergrund des gesellschaftlichen Denkens. Verwandtschaft wurde immer mehr zu einer privaten Familienangelegenheit, und die verblassenden clan-artigen Beziehungen schrumpften von dem weitverzeigten System der Clan-<Vettern> auf den Bereich der erweiterten Familie.

Am bedeutendsten an dieser, durch die Stadtentstandenen, neuen sozialen Ordnung ist die Tatsache, daß der Fremde oder "Gast" jetzt einen sicheren Platz in einer großen Gemeinschaft anderer Menschen finden konnte. Anfänglich bot dieser neue Platz dem "Gast" damit noch keine Gleichheit. Obgleich beispielsweise das perikleische Athen ausdrücklich Fremden gestattete, in seinen Mauern zu wohnen, gestand es diesen nur selten die Bürgerschaft und das Recht zu, sich vor Gericht selbst, statt durch einen Athener Bürger, zu vertreten. Die frühen Städte gaben aber dem Fremden zunehmenden Schutz gegen Übergriffe durch die "Einheimischen". In vielen neu gegründeten Städten wurde ein Kompromiß zwischen stammesmäßigen, auf Blutsbanden sich gründenden Werten und solchen sozialen Wertvorstellungen gefällt, die sich allein aus der Ansässigkeit ableiteten. Dabei erlangten die "Gäste" grundlegende Rechte, die ihnen die Stammes­gesellschaft kaum jemals gewährte, während die Bürgerschaft dem "Einheimischen" vorbehalten blieb und ihm ein erweitertes Spektrum an Bürgerrechten zugestand.

Über die Gastfreundschaft hinaus bot die Stadt dem "Gast" also ein de facto oder de jure existierendes Recht — allerdings in der Form eines vom Monarchen gewährten Schutzes, in späteren Jahren durch einen schriftlich festgelegten Gesetzescodex. Zumindest wurden beide, der "Gast" und der "Einheimische", als menschliche Wesen mit einem gemeinsamen


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Rechtsstatus anerkannt und nicht nur als Individuen, deren Rechte und Bedürfnisse sich gegenseitig ausschlossen. Mit der Entstehung und Entwicklung der Stadt entfaltete sich im Keim die Vorstellung, daß alle Völker in einem bestimmten Sinne ein Volk seien, und erreichte eine neue historische Universalität.

Ich will damit nicht den Eindruck erwecken, als sei dieser gewaltige Schritt — die Entwicklung der Idee von einer gemeinsamen Humanitas — über Nacht getan worden; außerdem wird bald klar, daß er von einigen ziemlich zweifelhaften Veränderungen der Conditio humana begleitet wurde. Selbst die liberalsten Städte, wie die griechischen Poleis und insbesondere das demokratische Athen, verliehen in der perikleischen Zeit an die ansässigen Fremden keine Bürgerrechte mehr. Noch ein Jahrhundert zuvor hatte Solon allen Auswärtigen, die eine für Athen wichtige Fertigkeit besaßen, ohne Bedenken die Bürgerschaft gewährt. Perikles, der demokratischste der athenischen Führer, beendete bedauerlicherweise Solons Liberalität und machte aus der Bürgerschaft ein Privileg für Männer nachweislich athenischer Abstammung.

Auch stammesmäßige Institutionen und Glaubensvorstellungen waren in den frühen Städten noch verbreitet. Sie hielten sich in Form archaischer religiöser Vorstellungen: so als Vergöttlichung der Vorfahren, denen Stammeshäuptlinge folgten, die allmählich zu göttlichen Monarchen emporstiegen; als patriarchale Autorität im häuslichen Leben; und als feudale Aristokratien, die aus den Dorfgesellschaften der späten Jungsteinzeit und der Bronzezeit überliefert waren. Andererseits wurde in Athen und Rom die entscheidungsbefugte Stammes- und Dorfversammlung nicht nur erhalten, sondern sogar aufgewertet und, zumindest im perikleischen Athen, mit der obersten Autorität ausgestattet.

Die Stadt lebte in einem Spannungsverhältnis zu diesen Glaubensvorstellungen und Institutionen und versuchte beständig, traditionelle Religionen in bürgerliche umzuwandeln, die die Loyalität zur Stadt förderten. Die Macht des Adels wurde stetig untergraben und die Befehlsgewalt des Patriarchen über das Leben seiner Söhne wiederholt in Frage gestellt, um die jungen Männer in den Dienst der öffentlichen Körperschaften, wie etwa der Bürokratie und der Armee, stellen zu können.

Dieses Spannungsfeld ist nie ganz verschwunden. Vielmehr ließ es über mehr als 3000 Jahre ein Drama bürgerlicher Politik ablaufen, das sich immer wieder in gewalttätigen Konflikten äußerte, etwa in den Versuchen mittelalterlicher Städte, den anmaßenden örtlichen Adel und Klerus zu unterwerfen.


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 Die Stadt versuchte Rationalität, unparteiische Gerechtigkeit, eine kosmopolitische Kultur und eine größere Individualität in eine Welt zu bringen, die von Mystizismus, willkürlicher Macht, Kirchturmspolitik und der Unterwerfung des Individuums unter das Gebot aristokratischer und religiöser Eliten durchsetzt war.

Zumindest juristisch erlangten die Städte die bürgerliche Reife erst, als Kaiser Caracalla im dritten Jahrhundert n.Chr. alle freien Männer des Römischen Reiches zu Bürgern Roms erklärte. Caracallas Motive mögen zu Recht mit Skepsis betrachtet werden: er war offenkundig daran interessiert, das Steuerpotential des Imperiums zu vergrößern, damit die höheren Kosten gedeckt werden konnten. Aber selbst als juristische Geste rief dies ein weltliches Moment hervor, demzufolge alle menschlichen Wesen, selbst die Sklaven, einer einzigen Art angehörten — daß alle Männer und Frauen gleich waren, ungeachtet ihres ethnischen Hintergrundes, Reichtums, Berufs oder Stellung. Die Vorstellung einer riesigen menschlichen Weltgemeinde fand eine Anerkennung, die in der Vergangenheit, außer in der Philosophie und in bestimmten Religionen — im Judentum nicht weniger als im Christentum — unbekannt gewesen war.

Caracallas Verordnung hat sicherlich nicht die engstirnigen Barrieren weggeräumt, die immer noch die unterschiedlichen ethnischen Gruppen, Städte und Dörfer voneinander trennten. Auf dem flachen Land, dieseits und jenseits der Grenzen des Imperiums, waren diese Trennlinien so stark wie seit Jahrtausenden. Aber diese Verordnung, die später durch die christliche Vision einer geeinten Welt unter der Herrschaft eines einzigen Schöpfer-Gottes und mit dem Anspruch auf einen individuellen freien Willen erweitert wurde, brachte ein neues Maß menschlicher Zusammengehörigkeit hervor, die nur mit der Stadt und ihren zunehmend kosmopolitischen, rationalistischen und individualistischen Wertvorstellungen entstehen konnte. Es ist kein Zufall, daß Augustins berühmtes Traktat zur Verteidigung des Christentums den Titel "De civitate Dei" trug (im Deutschen allerdings als "Gottesstaat" bekannt - A. d. Üb.) und daß die christlichen Glaubensväter ebenso sehnsüchtig nach Jerusalem blickten wie die Juden.

Die durch die Stadt eingeleitete, weitreichende Auflösung sozialer Bindungen vollzog sich nicht ohne den Verlust vieler bedeutender und wichtiger Merkmale des Stammes- und frühen Dorflebens. Das gemeinschaftliche Eigentum an Land und sogenannten Naturschätzen mußte dem Privateigentum weichen. Klassen — jene Kategorie, die sich auf das Eigentum und Verfügungsrecht an diesen "Ressourcen" gründete — kristallisierten sich als ökonomische Hierarchie aus den eher traditionellen Statussystemen heraus.


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 So befanden sich die Sklaven in Gegnerschaft zu den Herren; die Plebejer zu den Patriziern; Leibeigene sahen sich den Lehnsherrn gegenüber, und später die Proletarier den Kapitalisten.

Auch die älteren Hierarchien, die sich um Statusgruppen wie Gerontokratien, Patriarchate, Häuptlingstümer und schließlich auch Bürokratien strukturierten, lösten sich noch nicht auf. Da sie vor allem Status verliehen, konnten sie den verborgenen Unterbau für besser sichtbare, stürmische Klassenbeziehungen bilden. Statusgruppen wurden mit solcher Selbstverständlichkeit als "naturgegeben" hingenommen, daß die Jungen, die Frauen, die Söhne und das gemeine Volk unreflektiert zu Komplizen ihrer eigenen Beherrschung durch die Eliten wurden. Hierarchie pflanzte sich regelrecht in das menschliche Unterbewußtsein, während die Klassen, deren Legitimität wegen der ins Auge springenden Ausbeutung eher infragegestellt werden konnte, in den Vordergrund der Bühne rückten, auf der eine tief gespaltene Menschheit ihre Kämpfe austrug.

Von dieser negativen Seite aus betrachtet, konsolidierte die Stadt damit die Privatisierung von Eigentum in der Form von Klassenstrukturen und quasi-staatlichen oder voll entwickelten staatlichen Institutionen. Aus dem Spannungsfeld zwischen den Errungenschaften, welche die Städte mit sich brachten, und dem Verlust bestimmter seit Urzeiten hochgehaltener Werte, wie Nießbrauch, Komplementarität und Existenzminimum, erwuchs der menschlichen Entwicklungsgeschichte jenes schwierige Problem, das mit Recht als "soziale Frage" bezeichnet werden könnte. Dieser unter den radikalen Theoretikern einst so populäre Begriff bezog sich auf die Tatsache, daß die "Zivilisation", trotz ihrer vielen folgenreichen Errungenschaften, niemals völlig rational und frei von Ausbeutung war. Ich möchte diesen Begriff hier etwas weiter fassen und ihm eine stärker ethische Bedeutung verleihen, indem ich sage, daß die immensen Fortschritte der Menschheit unter der "Zivilisation" immer an dem "Übel" der Hierarchie gekrankt haben.

"Übel" ist nicht gerade ein Begriff, den Marx zu benutzen pflegte, als er die Kritik am Kapitalismus in eine "objektive" Wissenschaft, bar aller moralischen Nebenklänge, zu fassen suchte. Es spricht andererseits für Michail Bakunin, daß er dem "Übel" einen festen Platz in seinem Denken einräumte und demgemäß aufzuzeigen versuchte, daß viele soziale Veränderungen, so "notwendig" oder unvermeidbar sie zu ihrer Zeit auch gewesen sein mögen, sich als "Übel" im allgemeinen Drama der Geschichte erwiesen.


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In Föderalismus, Sozialismus und Anti-theologismus bemerkt Bakunin:

"Und ich zögere nicht zu sagen, daß der Staat zwar ein Übel, aber ein historisch notwendiges Übel ist. Seine Existenz war in der Vergangenheit ebenso notwendig wie seine totale Auslöschung in der näheren oder ferneren Zukunft, genau so notwendig, wie primitive Bestialität und theologische Spinnereien für die Vergangenheit notwendig waren."

 

Lassen wir mal Bakunins Hinweis auf eine "primitive Bestialität" als ein Vorurteil beiseite, das vor mehr als hundert Jahren verständlich war, so berührt doch seine Erkenntnis, daß sich die Menschheit ebenso sehr durch das Medium "Übel" wie durch "Tugend" entwickelte, die subtile Dialektik von "Zivilisation". Das biblische Gebot verfluchte die Menschheit nicht ohne Grund; es gibt diese uralte Erkenntnis, daß die Menschheit bei ihrem Aufstieg aus der Tierheit bestimmte Übel kaum vermeiden konnte. Als die Menschen ihre Ältesten — oder auch ihre Priester — mit Herrschaftsrechten ausstatteten, hatten sie nicht im Sinn, eine Hierarchie zu etablieren.

Die Fähigkeit, auch noch die letzten Schlußfolgerungen aus bestimmten Prämissen zu ziehen, ist für einen letztlich weitgehend unbewußten Primaten, dessen rationale Fähigkeiten eher potentiell als tatsächlich vorhanden sind, nicht so einfach. In diesem Sinne waren schriftlose Menschen nicht besser für die Bewältigung der Entwicklung ihrer sozialen Realität ausgestattet als diejenigen, die die schlimmsten Aspekte der "Zivilisation" mit sich herumtragen. Für uns Heutige stellt sich die "soziale Frage" genau in dem Sinne, daß wir uns mit halbgeöffneten Augen in das Licht der Freiheit emporgearbeitet haben, belastet mit dunklen Atavismen, uralten Hierarchien und tiefsitzenden Vorurteilen, in die wir noch immer zurückfallen können, wenn die Gegenaufklärung des Mystizismus und Antirationalismus unserer Tage anhält, und die noch immer drohen, uns in den Ruin zu treiben. Uns ist ein sprichwörtlich zweischneidiges Messer in die Hand gegeben, das in beide Richtungen gebraucht werden kann - zu unserer Befreiung oder unserem Untergang. Die "Zivilisation" hat diesem Messer die Schärfe einer Rasierklinge verliehen, aber sie hat uns keine bessere Anleitung dazu geliefert, wie ein so gefährliches Instrument zu handhaben sei, als die Fähigkeiten, die uns unser Bewußtsein verleiht.


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  Der Nationalstaat und der Kapitalismus         ^^^^

Der dritte Wendepunkt, dem wir historisch begegnen, ist die Entstehung des Nationalstaates und des Kapitalismus. Diese beiden — Nationalstaat und Kapitalismus — sind nicht notwendigerweise miteinander verknüpft. Aber der Kapitalismus entwickelte sich mit dem Aufkommen des Nationalstaates so schnell und erfolgreich, daß beide oft als gekoppelte Erscheinungen angesehen werden.

In Wirklichkeit ist die Bildung von Nationen bis auf das zwölfte Jahrhundert zurückzuverfolgen, als Heinrich II. von England und Philipp Augustus von Frankreich die monarchistische Macht zu zentralisieren versuchten und sich Gebiete aneigneten, die schließlich die jeweilige Nation bilden sollten. Die Nation sollte nach und nach jegliche lokale Macht verschlingen und schließlich die kleinlichen Rivalitäten unter den Adligen und den Städten unterdrücken. Die imperialen Dynastien der antiken Welt hatten zwar riesige Staaten hervorgebracht, diese waren aber nur von begrenzter Dauer. Aus völlig unterschiedlichen ethnischen Gruppen zusammengeschustert, lebten diese Imperien in einem prekären Gleichgewicht mit archaischen Dorfgemeinschaften, die sich kulturell und technologisch seit dem Neolithikum kaum geändert hatten.

Die wesentliche Funktion dieser Dorfgesellschaft war, den Monarchen Abgaben und Frondienste zu leisten. Darüber hinaus wurden sie normalerweise in Ruhe gelassen. Das örtliche Leben war deshalb zwar zurückgezogen, aber intensiv. Beträchtliche Flächen gemeinschaftlich genutzten Landes existierte um diese Dörfer, das für alle zum freien Gebrauch zugänglich war. Es gibt Hinweise darauf, daß selbst "privat" bestelltes Land regelmäßig unter den Familien, je nach den wechselnden Bedürfnissen, neu aufgeteilt wurde. Eine Einmischung von oben war oft nur minimal. Die größte Gefährdung dieser stabilen Dorfgesellschaft kam von einfallenden Armeen und sich bekriegendem Adel. Ansonsten waren sie normalerweise sich selbst überlassen, wenn sie nicht gerade von Aristokraten und Steuereintreibern geplündert wurden.

Die Rechtsprechung unterlag in dieser Art von Gesellschaft oft der Willkür. Die Klagen des griechischen Landwirts Hesiod über unfaire, selbstgerechte örtliche Grundherren sind Widerhall eines zeitlosen Mißstandes, über den wir in den uns zur Verfügung stehenden Geschichtsbüchern nur wenig lesen. Die großen Gesetzbücher, die von Hammurabi, dem absoluten Herrscher Babylons, erlassen wurden, bildeten in der vorrömischen Welt die Ausnahme. In der Regel machten habsüchtige Adlige sich "Gesetze" zu ihrem eigenen Nutzen. Der Bauer mag beim Adel für sich und seine Gemeinschaft Schutz vor plündernden Eindringlingen gesucht haben, aber selten Gerechtigkeit.


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 Die Imperien waren zu groß, um für eine einheitliche Verwaltung oder gar Rechtsprechung sorgen zu können. Das Römische Reich war eine der wichtigsten Ausnahmen von dieser Regel, hauptsächlich weil es statt eines riesigen dünnbesiedelten Binnenreiches eine küstenreiche und stark urbanisierte Einheit bildete.

Die europäischen Nationen wurden im Gegensatz dazu aus Gebieten geformt, die die Geschichte nach und nach in regierbare Territorien umformte. Das Straßennetz war natürlich erbärmlich, das Kommunikationssystem primitiv. Aber als starke Könige wie Heinrich II von England oder Philipp Augustus von Frankreich auftraten, drang mit den Bürokraten des Königs auch die königliche Rechtsprechung in einst abgelegene Gebiete vor und wirkte sich stärker auf das tägliche Leben der Menschen aus. Es steht außer Frage, daß die "Rechtsprechung des Königs" bei den einfachen Menschen willkommen war und daß seine Beamten eine Pufferstellung zwischen dem hochfahrenden Adel und dem eingeschüchterten Volk einnahmen. Die frühe Entwicklung des Nationalstaates war tatsächlich von Verheißung und Erleichterung geprägt.

Die Königsmacht verfolgte aber im wesentlichen auch nur ihre eigenen Interessen und wurde daher im Lauf der Zeit genau so repressiv wie der Provinzadel, den sie ersetzte. Niemals war sie bloß eine moralische Instanz zur Behebung der Beschwerden des Volkes. Ebensowenig war sie ein bequemes Instrument zur Förderung der aufkommenden Bourgeoisie. Die Könige aus dem Hause Stuart, die England in die Revolution von 1640 katapultierten, betrachteten ihre Nationen als persönliches Erbe, das sowohl durch den mächtigen Adel als auch durch eine reiche Bourgeoisie bedroht war.

Die Vorstellung, daß der Nationalstaat durch die Bourgeoisie "gebildet" worden sei, ist ein Mythos, der inzwischen überholt sein sollte. Zunächst ist der Begriff "Bourgeois" im späten Mittelalter keineswegs mit dem "Industriellen" oder industriellen Kapitalisten, wie wir ihn heute kennen, vergleichbar. Mit Ausnahme einiger reicher Bankhäuser und Handelskapitalisten, die im Fernhandel tätig waren, setzte sich die entstehende Bourgeoisie im allgemeinen aus Handwerksmeistern innerhalb eines streng abgeschlossenen Zunftwesens zusammen. Selten nur wurden hier Proletarier im heutigen Sinne ausgebeutet.

Zwar führte unterschiedlicher Reichtum schließlich dazu, daß einige Handwerksmeister die Lehrlinge von den Zünften ausschlössen, diese somit zu privilegierten Organisationen für sie und die eigenen Söhne wurden.


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Das war aber nicht die Regel. Fast überall in Europa legten die Zünfte die Preise fest, bestimmten Qualität und Quantität der herzustellenden Waren und waren für Lehrlinge offen, die die Möglichkeit besaßen, selbst Meister ihres Handwerks zu werden. Dieses System, das vorsichtig das Wachstum kontrollierte, kann wohl kaum als kapitalistisch bezeichnet werden. Die Arbeit wurde im wesentlichen in kleinen Werkstätten manuell verrichtet, wo der Meister Seite an Seite mit dem Lehrling arbeitete und für die Bedürfnisse eines sehr begrenzten und stark personalisierten Marktes produzierte.

Als das Mittelalter sich neigte, war die Latifundienwirtschaft mit ihrem ausgeprägten hierarchischen System und der leibeigenen Landbevölkerung in Auflösung begriffen, auch wenn sie noch keineswegs vollständig verschwand. Das Erscheinen relativ unabhängiger Bauern ist zu vermerken, die entweder als eigenständige Landbesitzer oder als Pächter eines abwesenden Adels arbeiteten. Betrachtet man sich die europäische Landschaft zwischen dem fünfzehnten und achtzehnten Jahrhundert, findet man eine sehr gemischte Wirtschaft vor. Gemeinsam mit Leibeigenen, Pächtern und Gutsbesitzern gab es wohlhabende und bescheidene Handwerker, die an der Seite einiger Kapitalisten existieren konnten, welche sich nicht industriell, sondern überwiegend im Handel betätigten.

Europa war also das Zentrum einer sehr gemischten, jedoch noch nicht kapitalistischen Wirtschaft, und seine Technologie beruhte immer noch, trotz der Fortschritte während des Mittelalters, auf Handwerk und nicht auf Industrie. Selbst eine Massenproduktion, wie sie in dem riesigen System des venezianischen Arsenals (das dreitausend Arbeiter zusammenfaßte) organisiert war, beschäftigte Kunsthandwerker, die alle auf sehr traditionelle Weise in kleinen Werkstätten oder Nischen arbeiteten.

Man muß diese Wesenszüge einer Welt, die der industriellen Revolution direkt vorausging, hervorheben, denn sie bestimmten zu einem wesentlichen Teil die Optionen, die Europa offenstanden. Bevor das Zeitalter der Stuarts in England, der Bourbonen in Frankreich und der Habsburger in Spanien einsetzte, genossen die europäischen Städte ein außergewöhnliches Maß an Autonomie. Insbesondere italienische und deutsche Städte, aber nicht nur sie, bildeten starke eigenständige Staaten, deren politisches System von anfänglich einfachen Demokratien bis zu Oligarchien in späteren Zeiten reichten. Sie gründeten auch Städtebünde zum Kampf gegen Provinzherrscher, fremde Invasoren und absolute Monarchen. Das bürgerliche Leben blühte in ihnen nicht nur ökonomisch, sondern auch kulturell über Jahrhunderte.


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Die Bürger waren in erster Linie ihrer Stadt und erst in zweiter Linie ihrem Provinzfürsten oder ihrer gerade erst entstehenden Nation verpflichtet.

Der Machtzuwachs der Nationalstaaten vom sechzehnten Jahrhunden an war allerdings nicht nur ein Ordnungsfaktor in der Kontrolle eines widerspenstigen Adels, sondern wurde auch zu einer Quelle von Konflikten. Die Versuche der Herrscher, die Städte der damaligen Zeit unter höfische Souveränität zu stellen, führten zu einer Serie aufstandsähnlicher Angriffe auf Repräsentanten der Krone. Königliche Dokumente wurden zerstört, Bürokraten angegriffen und deren Büros verwüstet Obgleich die Person des Monarchen traditionellen Respekt als Staatsoberhaupt genoß, wurden Erlasse häufig ignoriert und Beamte fast gelyncht. In einer Reihe von Kämpfen gegen die wachsende Macht des jungen Ludwig XIV gelangte die Fronde, ein Bündnis des französischen Adels mit Pariser Bürgern, fast an ihr Ziel, den Absolutismus zu beseitigen und den jungen König aus Paris zu vertreiben, bis schließlich die Monarchie ihre Macht zurückerobern konnte.

Hinter diesen Aufständen in vielen Teilen Europas finden wir einen wachsenden Widerstand gegen Eingriffe des zentralisierten Nationalstaates in die Vorrechte der Städte. Diese städtischen Erhebungen erreichten im frühen sechzehnten Jahrhunden ihren Höhepunkt, als sich die kastilischen Städte in dem Versuch, eine An Städtebund zu gründen, gegen König Karl II. von Spanien erhoben. Der mehr als ein Jahr andauernde Kampf endete nach einer Reihe zunächst erfolgreicher Schlachten mit der Niederlage der kastilischen Städte, was den ökonomischen und kulturellen Niedergang Spaniens für mehr als dreihundert Jahre besiegelte. Da sich die spanische Monarchie in der vordersten Front des höfischen Absolutismus während jenes Jahrhunderts befand und eine entscheidende Rolle innerhalb der europäischen Politik spielte, stellte der Aufstand der Städte — oder Comuneros, wie ihre Kämpfer genannt wurden — die Möglichkeit einer Alternative zu den Nationalstaaten für die Entwicklung des Kontinents dar: nämlich eine Konföderation von Städten und Gemeinden. Tatsächlich schwankte Europa eine Zeit lang zwischen diesen beiden Alternativen, und erst mit dem Ende des siebzehnten Jahrhunderts, erlangte der Nationalstaat das Übergewicht über den konföderativen Weg.

Damit starb der föderative Gedanke aber nicht aus. Er tauchte bei den Radikalen in der englischen Revolution auf, die von Cromwells Anhängern als "Schweizernde Anarchisten" verurteilt wurden. Und abermals tauchte diese Idee in den Föderationen auf, die radikale Bauern in Neuengland im Gefolge der amerikanischen Revolution zu gründen versuchten.


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Und dann wiederum in Frankreich in radikalen sektionalen Bewegungen — den Nachbarschafts­versamm­lungen in Paris und anderen französischen Städten, die während der Großen Revolution gegründet wurden — und schließlich innerhalb der Pariser Kommune 1871, die zu einer Kommune der Kommunen und zur Abschaffung des Nationalstaates aufrief.

 

In der Ära, die der Bildung der Nationalstaaten unmittelbar vorausging, sah sich Europa an einem historischen Scheideweg. Abhängig vom Schicksal der Comuneros und der sansculottes, die die Pariser sections von 1793 bevölkerten, hing die Zukunft des Nationalstaates völlig in der Schwebe. Hätte der Kontinent die Richtung urbaner Föderationen eingeschlagen, dann wäre die Zukunft sozialverträglicher verlaufen, haue vielleicht sogar eine stärker revolutionäre, demokratische und kooperative Form eingenommen als diejenige, die sie im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunden tatsächlich haben sollte.

Desgleichen ist unklar, ob eine industriell-kapitalistische Entwicklung, wie sie heute existiert, von der Geschichte vorherbestimmt war. Daß der Kapitalismus den technologischen Fortschritt in einer Weise beschleunigt hat, die historisch einmalig ist, muß im einzelnen nicht diskutiert werden. Aber ich werde noch einiges dazu sagen, was diese technologische Entwicklung der Menschheit und der Natur angetan hat — und was sie in einer wahrhaft ökologischen Gesellschaft leisten könnte. Aber so wenig wie der Nationalstaat, war auch der Kapitalismus weder eine unvermeidbare Notwendigkeit noch eine Vorbedingung für die Errichtung einer kooperativen und sozialistischen Demokratie.

Tatsächlich haben starke Kräfte seinen Aufstieg gehemmt. Als ein auf erbitterte Konkurrenz, auf die Austausch­produktion und die Akkumulation von Reichtum gegründetes Marktsystem standen der Kapitalismus und die kapitalistische Mentalität, mit ihrer Betonung des individuellen Egoismus, völlig quer zu tief verwurzelten Traditionen, Gebräuchen und selbst der gelebten Realität einer vorkapitalistischen Gesellschaft. Alle vorkapitalistischen Gesellschaften schätzten Kooperation höher als Konkurrenz, wie sehr dies auch mißachtet oder zur Mobilisierung kollektiver Arbeitsleistung im Dienste von Eliten und Monarchen mißbraucht worden sein mag. Jedenfalls war Konkurrenz als Lebensform — als "gesunder Wettstreit" im modernen bourgeoisen Sprach­gebrauch — einfach unvorstellbar. Auf Kampf gerichtetes männliches Verhalten war in der antiken und mittelalterlichen Zeit sicherlich nicht ungewöhnlich, aber es wurde meist in der einen oder anderen Form als Dienst am Gemeinwohl praktiziert — nicht aber zur Selbstbereicherung.


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In der vorkapitalistischen Welt, in der das Prinzip der Selbstversorgung im Vordergrund stand, war das Marktsystem im wesentlichen eine Randerscheinung. Dort, wo der Markt eine gewisse Bedeutung erlangte, wie beispielsweise im Mittelalter, war er sorgfältig durch die Zünfte und die christlichen Gebote gegen Zinsen und überhöhte Profite reguliert. Kapitalismus hat es sicherlich immer gegeben - wie Marx beobachtete, selbst "in den Nischen der antiken Welt", und man kann auch noch das Mittelalter hinzufügen - aber er konnte nie zu einem beherrschenden Faktor der Gesellschaft werden. Die frühe Bourgeoisie hatte tatsächlich keine übermäßigen kapitalistischen Gelüste; ihre Ziele waren im tiefsten Grund durch die Aristokratie geformt, so daß der Kapitalist der Antike oder des Mittelalters seine Profite in Land investierte und wie ein Landadliger zu leben suchte.

Auch Wachstum wurde, als ernsthafte Verletzung religiöser und sozialer Tabus, mit Vorbehalt betrachtet. Das Ideal der "Grenze", der Glaube der klassischen Griechen an das "goldene Mittelmaß", hat niemals gänzlich seine Wirkung auf die vorkapitalistische Welt verloren. Von den Anfängen des Stammeslebens bis in die historische Zeit verstand man unter Tugend stets die nachdrückliche Verpflichtung des Individuums auf das Wohlergehen der Gemeinschaft, und Prestige wurde durch die Veräußerung von Werten in Form von Geschenken erworben und nicht durch deren Akkumulation.

Es verwundert daher nicht, daß der kapitalistische Markt und der kapitalistische Geist, der endloses Wachstum, Akkumulation, Wettbewerb und nochmal Wachstum und Akkumulation zur Erlangung von mehr Wettbewerbsvorteilen fordert, in der vorkapital­istischen Gesellschaft auf endlose Schwierigkeiten stieß. Die ersten Kapitalisten der Antike wuchsen kaum über den Status eines Funktionärs des jeweiligen Herrschers hinaus, welcher Händler zur Beschaffung seltener und exotischer Waren von weit her brauchte. Ihre Gewinne waren festgelegt und und ihre gesellschaftlichen Ambitionen eingeschränkt.

Die römischen Kaiser gaben der frühen Bourgeoisie zwar einen größeren Spielraum, plünderten sie aber recht ungeniert durch das Steuersystem und gelegentliche Enteignungen wieder aus. Die mittelalterliche Welt in Europa gab der Bourgeoisie eine wesentlich freiere Hand, besonders in England, Flandern und Norditalien. Aber selbst in der individualistischen christlichen Welt stießen Kapitalisten auf ein fest gegründetes Zunftwesen, das den Markt genau bestimmte. Darüber hinaus waren sie gewöhnlich von den aristokratischen Vorstellungen eines gehobenen Lebens fasziniert, die den bourgeoisen Tugenden der Sparsamkeit und materiellen Akkumulation entgegenwirkten.


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Im größten Teil Europas wurde die Bourgeoisie verächtlich als Unterklasse betrachtet — mit ihrer dämonischen Leidenschaft für Reichtum, als Emporkömmlinge in ihren Ambitionen, es dem Adel gleichzutun, kulturell beunruhigend in ihrem Streben nach Wachstum und bedrohlich in ihrer Faszination für technologische Innovation. Ihre Überlegenheit im Italien und Flandern der Renaissance war im höchsten Maße instabil. Die ausgabe­freudigen Condottieri, wie beispielsweise die Medici, die die Kontrolle über die wichtigsten norditalienischen Städte ausübten, verpraßten ihre Handelsprofite in verschwenderischen Palästen, öffentlichen Monumenten und der Kriegsführung. Die Verlagerung von Handelswegen, wie etwa der Wechsel vom Mittelmeerraum zum Atlantik als Folge der türkischen Eroberung von Konstantinopel (1453), verwies die italienischen Stadtstaaten auf einen zweitrangigen Platz in Europa. Es war der historische Durchbruch des Kapitalismus in England, der der Wirtschaft dieses Landes nationale und schließlich weltweite Überlegenheit verschaffte.

Auch dieser Durchbruch war kein unvermeidliches historisches Ereignis, so wenig, wie die Art, in der er erfolgte, durch über­menschliche Mächte vorherbestimmt war. Der englische Staat und seine Wirtschaft waren vielleicht die am wenigsten gefestigten in ganz Europa. Die Monarchie erreichte niemals den Absolutismus eines Ludwig XIV. von Frankreich. England war auch keine klar definierbare Nation; es kam niemals mit seinen keltischen Nachbarn in Schottland, Wales und schon gar nicht in Irland zurecht, trotz endloser Versuche, sie der angelsächsischen Gesellschaft einzuverleiben. Ebensowenig war der Feudalismus im Reich verankert, auch wenn das Denken der heutigen Engländer dauernd um Statusfragen kreist. In einer derart durchlässigen Gesellschaft mit einer so instabilen Geschichte fanden die Händler, und später die industriell orientierten Kapitalisten, für ihre Entwicklung ein größeres Maß an Freiheit vor als sonst irgendwo.

Der englische Adel seinerseits war weitgehend eine nouveau élite, die von den Tudors eingesetzt worden war, nachdem der traditionelle normannische Adel sich in den blutigen Rosenkriegen des fünfzehnten Jahrhunderts praktisch selbst vernichtet hatte. Der Adel, der oft aus ärmlichen Verhältnissen stammte, war nicht abgeneigt, im Handel etwas zu verdienen. Um ein beträchtliches Vermögen durch den Verkauf von Wolle an die flämische Textilindustrie zu erzielen, wurde gemeinschaftlich genutztes Bauernland beschlagnahmt und in Weideland für Schafe umgewandelt


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Die Ausweitung des kapitalistischen Heimarbeitsprozesses, in dem sogenannte "Faktoren" den Familien Wolle in ihre Hütten lieferten, gesponnenes Garn wiederum zu den Webern und von dort zu den Färbern brachten, führte schließlich dazu, alle Heimarbeiter in "Faktoreien" zusammenzufassen, wo sie unter harten, ausbeuterischen und streng disziplinierten Bedingungen zu arbeiten gezwungen waren.

Auf diese Art unterlief die neue industrielle Bourgeoisie die traditionellen Zunftbeschränkungen in den Städten und brachte eine wachsende Klasse besitzloser Proletarier in ihren Dienst. Alle Arbeiter konnten jetzt im freien Wettbewerb, auf einem scheinbar "freien" Arbeitsmarkt gegeneinander ausgespielt werden, um somit die Löhne zu senken und immense Profitraten in dem neuen Fabriksystem, das sich überall in der Nähe der großen englischen Städte entwickelte, zu ermöglichen.

In der sogenannten Glorreichen Revolution von 1688 — nicht zu verwechseln mit der stürmischen Revolution der 40er Jahre jenes Jahrhunderts — fanden der habsüchtige englische Adel und seine bourgeoisen Gegenspieler zu einem politischen Kompromiß. Der Aristokratie erlaubte man, die Staatsgeschäfte zu führen, die Monarchie wurde zu einem Symbol klassenübergreifender Einheit reduziert, und der Bourgeoisie wurde freie Hand in der Wirtschaft gegeben. Ungeachtet einiger Streitigkeiten innerhalb der unterschiedlichen herrschenden Eliten genoß die englische Kapitalistenklasse das fast uneingeschränkte Recht, England auszuplündern und ihre Operationen nach Übersee auszudehnen, um Indien, große Teile Afrikas und kommerziell strategische Stützpunkte in Asien zu besetzen.

Marktwirtschaft hat es schon vor dem Kapitalismus gegeben. Beide haben sogar mit gemeinschaftlichen Ökonomien koexistiert. Es gab Perioden während des Mittelalters, die von einem faszinierenden Gleichgewicht zwischen Stadt und Land, Handwerk und Landwirtschaft, Bürgern und Bauern, technischem Fortschritt und kultureller Selbstbeschränkung geprägt waren. Diese Welt wurde von romantischen Schriftstellern im 19. Jahrhundert und von dem russischen Anarchisten Peter Kropotkin idealisiert, der ein besonderes Gespür für die verschiedenen Alternativen zum Kapitalismus entwickelte, die eine kooperative Gesellschaft und Mentalität im Lauf der Geschichte immer wieder bot.

Der Aufschwung des Kapitalismus im 18. Jahrhundert und seine globale Ausweitung im 19. Jahrhundert veränderten diese Vorstellungen radikal.


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Zum ersten Mal wurde Konkurrenz als "gesund" betrachtet; Handel als "frei", Akkumulation als Beweis für "Sparsamkeit" und Egoismus als Ausdruck eines Eigeninteresses, das wie eine "verborgene Hand" im Dienste des allgemeinen Wohlergehens arbeitet. Derartige Auffassungen von "Gesundheit", "Freiheit", "Sparsamkeit" und dem "allgemeinen Wohlergehen" förderten eine schrankenlose Expansion und die mutwillige Plünderung - nicht nur der Natur, sondern auch menschlicher Wesen. Die Proletarierklasse in England hat während der industriellen Revolution nicht weniger gelitten als die riesigen Büffelherden, die in der amerikanischen Prärie ausgerottet wurden. Die menschlichen Werte und Gemeinschaften wurden nicht weniger entstellt als die Ökosysteme der Pflanzen und Tiere, die in den Urwäldern Afrikas und Südamerikas vernichtet wurden. Wer nur von der Plünderung der Natur durch die "Menschheit" spricht, der verhöhnt die ungezügelte Plünderung des Menschen durch den Menschen, wie sie in den quälenden Romanen von Charles Dickens und Emile Zola beschrieben werden. Der Kapitalismus spaltete die Spezies Mensch ebenso scharf und brutal, wie er eine Trennung zwischen Gesellschaft und Natur vollzog.

Das Konkurrenzprinzip hat nicht nur die Kapitalisten in den Kampf gegeneinander um die Märkte gehetzt, sondern alle Ebenen der Gesellschaft durchdrungen. Käufer und Verkäufer werden gegeneinander ausgespielt, Bedürfnis gegen Habgier und Individuum gegen Individuum gesetzt, bis in die elementarsten Bereiche menschlicher Begegnungen hinein. Selbst Arbeiter begegnen einander auf dem freien Markt sozusagen mit einem Knurren, und jeder sucht aus Überlebenswillen den anderen zu übervorteilen. Kein Moralisieren und kein Predigen kann die Tatsache ändern, daß Rivalität bereits auf den allerelementarsten Ebenen der Gesellschaft ein bourgeoises Lebensgesetz ist, das im wahrsten Sinne des Wortes über "Leben" entscheidet. Akkumulation - um den Konkurrenten zu fällen, aufzukaufen oder auf andere Weise in Verlegenheit zu bringen - ist eine Existenz­bedingung innerhalb einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung.

Daß auch die Natur ein Opfer dieser konkurrierenden, akkumulierenden und unaufhörlich expandierenden gesellschaftlichen Raserei ist, sollte eigentlich klar sein, gäbe es nicht starke Tendenzen, diesen gesellschaftlichen Trend auf Technik und Industrie an sich zurückzuführen. Zwar ist unbestritten, daß die moderne Technik wirtschaftliche Elementarfaktoren verstärkt, insbesondere Wachstum als ein Lebensgesetz in einer Konkurrenzwirtschaft, oder die Verdinglichung von Menschheit und Natur. Aber Technik und Industrie an sich verwandeln noch nicht jedes Ökosystem, jede biologische Art, jedes Stück Land, jeden Flußlauf, ja selbst die Ozeane und die Luft in bloße natürliche Ressourcen.


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Nicht sie sind es, die allem, was im Konkurrenzkampf um Wachstum und Überleben ausgebeutet werden kann, Marktwert und Preisschild anheften.8) In der kapitalistischen Marktwirtschaft von "Grenzen des Wachstums" zu sprechen, ist so sinnlos, wie einer Kriegergesellschaft von einem begrenzten Krieg zu erzählen. Die fromme Moral, die heutzutage bei wohlmeinenden Umweltaktivisten ihren Ausdruck findet, ist ebenso naiv, wie sie bei multinationalen Konzernen manipulativ ist. Den Kapitalismus kann man so wenig dazu "überreden", sein Wachstum zu begrenzen, wie einen Menschen dazu, das Atmen einzustellen. Alle Versuche, den Kapitalismus zu "ökologisieren", ihn "grün" zu machen, sind aufgrund der eigentlichen Natur dieses Systems, nämlich als ein System endlosen Wachstums, zum Scheitern verurteilt.

Überhaupt stehen die wesentlichsten Gebote der Ökologie, das Bemühen um ein Gleichgewicht, um eine harmonische Entwicklung zu größerer Vielfalt und letztlich um die Evolution einer erweiterten Subjektivität und Bewußtwerdung in radikalem Widerspruch zu einer Wirtschaftsordnung, welche zum einen die Gesellschaft, die Natur und das Individuum homogenisiert und zum anderen mit einer so barbarischen Wildheit die Menschen gegen Menschen und Menschheit gegen Natur hetzt, daß am Ende der Planet zugrundegehen muß.

 

Generationenlang haben radikale Theoretiker sich zu den "inneren Grenzen" des kapitalistischen Systems und zu seinen "internen" ökonomischen Funktionsmechanismen geäußert, die schließlich zu seiner Selbst­vernichtung führen würden. Marx erntete den Beifall zahlloser Autoren für seine Darstellung der Möglichkeit, daß der Kapitalismus zerstört und durch den Sozialismus abgelöst wird, weil er in eine chronische Krise aus fallenden Profitraten, ökonomischer Stagnation und Klassenkämpfen mit einem stetig verelendenden Proletariat eintreten wird.

Angesichts gewaltiger geo-chemischer Umschichtungen, die riesige Löcher in die Ozonschicht der Erde gerissen haben und durch den "Treibhauseffekt" die Temperatur unseres Planeten erhöhen, sind die Grenzen heute eindeutig ökologischer Natur. Was auch immer das Schicksal des Kapitalismus als System sein mag, das ökonomisch gesehen "interne Grenzen" hat — die externen Grenzen sind mit Bestimmtheit ökologische.

Der Kapitalismus verkörpert wahrlich hundertprozentig Bakunins Begriff vom "Übel", und zwar ohne den rechtfertigenden Zusatz, er sei "gesellschaftlich notwendig". Jenseits des kapitalistischen Systems wird es keine weiteren "Wendepunkte der Geschichte" mehr geben.

Der Kapitalismus ist das Ende der Fahnenstange einer langen gesellschaftlichen Entwicklung, in der das Übel das Gute und die Irrationalität das Rationale überwuchert hat. Der Kapitalismus konstituiert tatsächlich das absolute Negativum für die Gesellschaft und die Natur. Diese Gesellschafts­ordnung läßt sich weder verbessern noch reformieren, noch durch eine ökologische Vorsilbe, wie beispielsweise "Öko-Kapitalismus", erträglich machen, solange sonst alles beim Alten bleibt.

Wir haben nur die Wahl, ihn zu zerstören; denn er verkörpert nun einmal sämtliche sozialen Krankheits­erscheinungen, die jemals die "Zivilisation" befallen und ihre großartigen Errungenschaften vergiftet haben — von der Männer­herrschaft über die Ausbeutung der Klassen und die allgemeine Raffgier bis hin zu Militarismus und zur Hypertrophie des Staates, und am Ende zu Wachstum um des Wachstums willen.

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Anmerkung zu Kapitel 3

8)  Das Wort Kapitalismus durch Begriffe wie "Industriegesellschaft" zu ersetzen, kann deshalb in die Irre führen. Ein "industrieller" Kapitalismus ging im Grunde der industriellen Revolution voraus. In Venedigs berühmten Arsenal arbeitete eine große Anzahl Menschen mit traditionellen Werkzeugen, und in Englands frühen Fabriken wurde die Arbeit mit einfachen Werkzeugen und Verfahren geleistet. Was diese Fabriken ausmachte, war die Intensivierung des Arbeitsprozesses und nicht die Einführung durchschlagender technischer Innovationen. Diese kamen später. 

Von einer "industriellen Gesellschaft" zu sprechen, ohne eindeutigen Bezug zu den neuen sozialen Beziehungen, die durch den Kapitalismus entstanden sind, - also Lohn, Arbeit und ein besitzloses Proletariat - ist gleichbedeutend damit, der Technik mystische Kräfte und einen Grad an Autonomie anzudichten, die sie in Wirklichkeit nicht besitzt. 

Es führt auch zu der völlig irreführenden Vorstellung, daß die Gesellschaft mit einer "grünen", "ökologischen" oder "moralischen" Marktwirtschaft, aber unter Beibehaltung von Lohnarbeit, Austausch, Konkurrenz und dergleichen, leben könne. 

Der sprachliche Mißbrauch wirft der Technik — die in vielem sozial und ökologisch sehr nützlich sein kann — etwas vor, was in Wirklichkeit an die Adresse gänzlich anderer gesellschaftlicher Verhältnisse gerichtet werden muß, an die kapitalistischen eben. 

Mit einer derartigen Wortwahl läßt sich vielleicht mehr "Einfluß" auf eine ahnungslose Öffentlichkeit gewinnen, aber um den Preis ihrer völligen Desinformation.

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Bookchin-1990