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Liebe Leserin, lieber Leser,

 

in meinem ersten Buch »Weinen in der Dunkelheit« wollte ich aufzeigen, wie schwer es Kinder und Jugend­liche haben, wenn sie in Heimen aufwachsen müssen. Denn nicht sie sind schuld daran, sondern die Umstände, die dazu führen.

Ich bin damit auf heftige Reaktionen gestoßen. Während einige Erzieherinnen mehr Dankbarkeit erwarteten, mußte ich von anderen hören, daß damals wenigstens noch Zucht und Ordnung herrschten. Ich wurde beschimpft und bedroht. 

Aber viele, viele Menschen haben mir in Briefen, mit Anrufen und bei Gesprächen ihre Anteilnahme und Sympathie bekundet. Ich habe Menschen aller Alters- und Berufs­gruppen getroffen, die ähnliches erlebt haben und noch heute unter ihrer Heimvergangenheit leiden.

Sie haben mir Mut gemacht, weiterzuschreiben. Ich möchte mich deshalb bei all denen bedanken, die dazu beigetragen haben, daß ich »Draußen« fertigstellen konnte. Dieses Buch zeigt anhand meiner Erfahrungen, stellvertretend für viele, wie schwer es ist, allein - mit Kind - in die ungeschützte Wirklichkeit entlassen zu werden, und was geschieht, wenn die staatliche »Fürsorge« plötzlich endet.

Auf Wunsch der Betroffenen wurden die Namen in diesem Buch geändert.

Berlin, August 1992,
Ursula Burkowski 

 


Frage und Antwort

9

Wann nimmt man einer Mutter das Kind weg? Wenn sie es mißhandelt oder vernachlässigt zum Beispiel; für das Jugendamt gibt es viele Gründe. Ich habe von alledem nichts getan. Meine Schuld liegt nur darin, daß ich nach dem Gesetz noch keine Mutter sein darf. Ich bin noch nicht 18 Jahre alt und bin nicht mündig. Die Natur hat da wohl einen Fehler gemacht, als sie die Menschen nicht wie im Gesetz vorgesehen erst mit der Volljährigkeit auch zeugungs- und empfängnisbereit machte. Jetzt ist mein Kind weg. Nicht weit von mir, nein, darauf haben die Behörden geachtet, aber trotzdem für mich unerreichbar: in einem Kinderheim, in dem ich zuvor 14 Jahre lebte.

 

  Rückkehr ins Heim  

Ich wische meine Tränen in das Taschentuch und schaue durch die blitzsauberen Autoscheiben. Draußen laufen die Menschen wie aufgezogenes Spielzeug gleichgültig, stumpf blickend aneinander vorbei.
   Ich denke an mein Kind: Ob es schläft oder schreit?
   Niemand wird es tröstend auf den Arm nehmen. Zwölf Wochen ist mein Sohn erst, nur einmal habe ich ihn richtig lächeln gesehen. Viel zu schnell ist das halbe Jahr im Mütterheim vergangen. Danach hat das Jugendamt die Entscheidung getroffen — wie immer
nur zu meinem Besten: Das Kind kommt ins Kinderheim und ich zurück ins Jugendwohnheim. Wenn man keine Eltern hat, ist das einfach die beste Lösung.


Meine Mutter floh 1953 nach West-Berlin, ohne uns Kinder mitzunehmen. Sie hat sich nie mehr gemeldet. Ich kenne sie nicht. Fast 16 Jahre lebe ich deshalb in Heimen. Soll mein Kind dasselbe lieblose Leben fortsetzen? Meine Traurigkeit, der Schmerz über die Trennung von meinem Sohn, schlagen in Wut und Haß um. Eines Tages werde ich meine Mutter finden, dann schreie ich ihr die Jahre ohne Liebe ins Gesicht.

Das Auto fährt durch den häßlichsten Stadtteil von Berlin. Schöneweide! Allein der Name dieses Ortes ist ein einziger Hohn, Ständig liegt dreckig-gelblicher Nebel über den Häusern und senkt sich bis auf die Straßen herab. Schöneweide besteht fast nur aus alten Mietskasernen und Fabriken, die mit ihren unzähligen Schornsteinen den Dreck Tag und Nacht in die Luft schleudern.

Sofort bildet sich auf unserer Windschutzscheibe eine feine graue Staubschicht. Fluchend sagt der Chauffeur darüber ein paar unverständliche Worte zu der Erzieherin neben sich.

Sie lächelt ihn höflich von der Seite an. Ich denke: Nur weil uns der Bezirksbürgermeister mit seinem Dienstwagen aus dem Mütterheim abholen läßt, kriecht sie dem Fahrer fast auf den Schoß.

Plötzlich dreht sie sich nach hinten zu mir um und fragt: »Hast du dich beruhigt?« Ihre Frage ist mir lästig. Ich drehe meinen Kopf demonstrativ zur Seite und antworte nicht.

10


Nachdem wir den Baumschulenweg hinter uns gelassen haben, biegt das Auto von der Hauptstraße ab und fährt in den Plänterwald.

»Wohin fahren wir denn nun?« frage ich entsetzt und habe Angst, in ein neues Jugendwohnheim zu kommen.

Betont freundlich sagt sie: »Keine Angst, wir wohnen hier draußen in einem ehemaligen Restaurant. Die Renovierung des Jugendwohnheims dauert länger als wir dachten.«

Als ich in das Mütterheim mußte, haben alle Mädchen die Koffer gepackt, weil das Heim saniert werden sollte. Das ist neun Monate her, und nun ist es noch nicht fertig.

Vor einer hochgewachsenen Hecke, die den Blick zum Hauseingang versperrt, hält das Auto. Mit nicht ernstgemeinten Floskeln bedankt sich die Erzieherin. Sie fordert mich auf: »Komm schon, einige Mädchen wirst du ja kennen!«

Ich hole tief Luft, umklammere fest den Griff meines Koffers. Bei dem Gedanken, daß mich gleich alle anstarren, wird mir mulmig. Ein halbes Jahr Abwesenheit kann einen zur Fremden werden lassen. Eine alte oder neue Freundin zu finden, ist dann nicht einfach. Ich hoffe auf dem kurzen Weg ins Haus, ein bekanntes Gesicht zu sehen.

Gleich am Eingang schlägt mir ein jauchiger Geruch aus den Toiletten entgegen. Die Türen zu den Räumen sind weit geöffnet, mein Blick fällt in ein dreckiges Loch mit zwei Klos und Handwaschbecken. Fragend sehe ich die Erzieherin an, sie schüttelt den Kopf. »Hier gibt es kein Bad.« Und wie zu ihrer Entschuld­igung fügt sie hinzu: »Es ist ja nur vorübergehend!«

11


Sie führt mich in einen großen Saal, den ehemaligen Gastraum. Der Anblick erschreckt mich: Dreißig Doppelstockbetten stehen so dicht nebeneinander, daß kein Stuhl oder Schrank in die schmalen Zwischenräume paßt. Jeder freie Platz wird zum Aufhängen für die Sachen genutzt, unter den Betten hegen die Koffer mit den persönlichen Dingen. Der Gestank von abgestandener Luft verschlägt mir den Atem.

Der ganze Raum gleicht einem Massenquartier aus einem Gefangenenlager; sowas kenne ich nur aus Filmen.

»Hier kann man doch nicht leben!« sage ich zu der Erzieherin. »Alle können, auch du!« antwortet sie. Ihre Stimme duldet keinen Widerspruch. Wir gehen durch die Reihen. Schweigend weist sie mir ein Bett in der oberen Etage zu.

»Das hält man ja nicht aus«, sage ich mehr zu mir. Sie erwidert: »Da wird dir wohl nichts anderes übrig bleiben.«

Auf einigen Betten liegen Mädchen, neugierig verfolgen sie das Gespräch. Als ich das erste schadenfrohe Grinsen sehe, lasse ich meine Einwände und mühe mich, den Koffer unter das Bett zu schieben. Das ist nicht einfach, da schon zwei staubige Klamottenkisten den Platz beanspruchen. Ich weiß nicht, warum gerade diese Bewegung eine so große Traurigkeit in mir auslöst. Vielleicht, weil sie etwas Endgültiges hat.

Schnell steige ich auf das Bett, drücke mein Gesicht ins Kissen. Ich kann meine Tränen nicht halten und weine, wie in der letzten Nacht, bevor ich das Kinderheim verließ. Diesmal, weil ich jetzt an mein Kind denken muß.

12


Meine Brust beginnt zu schmerzen, ich muß abpumpen, aber wo? Verzweifelt springe ich vom Bett und renne in den Toilettenraum. Ich setze mich auf den heruntergeklappten Deckel eines Klos, mache die Brust frei und pumpe ab. Die Milch gieße ich in das Toilettenbecken. Jedesmal wenn ich den Holzdeckel hochhebe, ist der Gestank kaum zu ertragen. Ich denke an die strengen hygienischen Vorschriften im Krankenhaus. Dort mußte ich erst meine Hände und die Brust desinfizieren, bevor ich abpumpen durfte. Hier sitze ich auf einem stinkenden Klosett!

Plötzlich öffnet sich die Tür, und Dora, ein Mädchen aus meinem alten Kinderheim, steht lachend vor mir.

»Toll, daß du wieder hier bist!« Sie strahlt mich übers ganze Gesicht an. Das Leuchten ihrer graugrünen Augen bestätigt ihre ehrliche Freude. »Tut das nicht weh?« Dabei zeigt sie auf die Pumpe.

»Nein«, sage ich, »es gibt andere Schmerzen, die sitzen viel tiefer!«

Obwohl mir gleich wieder die Tränen kommen, erkläre ich ihr die Funktion der Pumpe. Nun will sie alles über die Entbindung wissen. Sie ahnt nicht, wie froh ich bin, über mein Kind zu reden. Das Klo hat plötzlich nichts Abschreckendes mehr. Weder der Geruch noch die Dunkelheit drängen uns, hier schnell wieder zu verschwinden. Dieser kleine, enge Raum bekommt etwas Beruhigendes und Vertrautes zugleich. Meine Gedanken gehen zurück in das Kinderheim.

»Dora, weißt du noch, in der Schule haben wir uns in den Pausen auch immer in den Toiletten getroffen.«

»Klar!« lächelt sie. »Wir wußten genau, daß die Jungs und Lehrer sich nicht hineintrauten. Da konnte man herrlich ungestört tratschen.«

13


Mit Verwunderung stellen wir beide fest, daß die Toiletten in der Schule einen Anziehungspunkt besaßen, aber wir finden keine Erklärung dafür.

Dora ist klein und kräftig von Wuchs. Ihre dunkelblonde Mähne hängt ihr wirr um den Kopf, dagegen hilft kaum ein Kamm. Ihr breiter Mund mit den vollen Lippen läßt beim Lachen große weiße Zähne blinken. Schön ist sie nicht, aber sehr fröhlich und klug. Schon in der Schule war sie Klassenbeste und für die EOS (EOS = Erweiterte Oberschule mit Abitur) vorgeschlagen. Das Lernen fiel ihr leicht, sie machte daraus keinen Staatsakt wie viele andere, sondern versuchte, jedem zu helfen oder ließ einen einfach abschreiben. Sie hat noch neun Brüder, und bei ihrer Geburt starb die Mutter. Seitdem lebt sie im Heim. Wir gehen in den Schlafraum, und sie zeigt mir, wo ihr Bett steht.

Ich sage: »Warte mal, ich hole schnell die ersten Fotos von meinem Kind«, und laufe zu meinem Koffer. Gerade als ich mich bücke, um ihn hervorzuziehen, bekomme ich plötzlich einen Stoß in den Rücken: »He«, schreit mich eine an, »was suchst du unter meinem Bett, willst du etwa klauen?«

Augenblicklich lasse ich den Koffer los, drehe mich wütend herum und schreie wie eine Irre. Meine ganze aufgestaute Wut, meine Verzweiflung, mein Kummer und mein Haß explodieren gleichzeitig.

Eingeschüchtert weicht sie vor mir zurück, sie stammelt: »Entschuldige, so war es nicht gemeint. Ich wußte doch nicht, daß du eine Neue bist!«

»Eine Neue«, ich lache verächtlich, »ich war schon hier, da konntest du noch nicht mal >Mama< sagen!«

Mama — vielleicht hat sie wirklich noch nie »Mama« sagen dürfen. »Tut mir leid.« Ich nehme die Fotos, mache den Koffer wieder zu und sehe sie weinen. Ich fühle kein Mitleid, gleichgültig gehe ich an ihr vorbei.

14


Bald ist ein höllischer Krach im ganzen Raum. Radiomusik, Lachen, zänkisches Geschrei um einen Pullover, Zigarettenqualm und Stimmengewirr.

»Wie hält man nur diesen Krach aus?« frage ich Dora.

»Daran gewöhnst du dich wieder, morgen früh wirst du erst merken, was wirklich nervt.«

In der Nacht schlafe ich schlecht, ständig wache ich von den vielen verschiedenen Schnarchgeräuschen auf. Angestrengt sehe ich in die Dunkelheit, bis meine Augen einen hellen Punkt finden, der sich als ein Stück Mond hinter dem Oberfenster vorbeischiebt. Trotz der vielen Menschen im Zimmer fühle ich mich einsam und verloren. Und in diesem Augenblick denke ich zum ersten Mal in meinem Leben an Gott.

Leise flüstere ich vor mich hin: »Lieber Gott, wenn es dich wirklich gibt, hilf mir, daß ich mein Kind wiederbekomme!«

Obwohl ich in der Schule lernte, daß es keinen Gott gibt, werde ich auf einmal ganz ruhig und fühle mich auf seltsame Weise erleichtert. Mit den Gedanken daran, daß bald Mittwoch ist und ich mein Kind besuchen kann, schlafe ich fest und traumlos ein.

Lautes Rufen und Weckerläuten schreckt mich aus dem Schlaf. Das helle Licht der Deckenbeleuchtung blendet furchtbar. Schnell ziehe ich die Decke wieder über meinen Kopf und sehe auf die Armbanduhr. Vier Uhr und dreißig Minuten lese ich an den Leuchtziffern ab. Nun begreife ich Doras Worte von gestern abend. Bis ich um halb sieben aufstehen muß, ist an Schlaf nicht mehr zu denken.

15


Völlig übermüdet betrete ich um acht die Berufsschulklasse, wo mich mein Klassenlehrer anspricht.

»Guten Tag, Frau Burkowski«, sagt er, und die Schüler kichern verhalten.

Mir gefällt es gar nicht, mit »Frau« angesprochen zu werden; ich fühle mich als Schülerin wie alle anderen. Nach der ersten Stunde ist von der anfänglichen Scheu mir gegenüber nichts mehr zu merken. Schon nach kurzer Zeit verhalten sich alle, als sei ich nie fort gewesen. Jetzt freue ich mich, in meiner alten Klasse zu sein. Herr Reinhard, mein Klassenlehrer, bittet mich, nach der Stunde zu warten. »Frau Burkowski, ich möchte mit Ihnen über die Prüfungen sprechen.«

Das klingt so geschwollen, ich bitte ihn: »Lassen Sie doch das alberne >Frau<, ich komme mir dabei so alt und anders als die anderen Schüler vor.«

Lächelnd antwortet er: »Ist mir auch lieber.«

Obwohl er kein schöner Mann ist — wenig Haare, eine Hakennase und immer ernst — mag ich ihn. Seinem Gesicht sieht man sofort Unsicherheit an, wenn ein Schüler über die Lehrer witzelt. Aber er war der einzige von den Erwachsenen, der mir seine Hilfe anbot, als er von meiner Schwangerschaft hörte. Leider vertraute ich keinem Pädagogen und lehnte sein Angebot damals mit einer dummen Antwort ab.

In der Mathestunde geht Herr Reinhard durch die Bankreihen. Während er in die Hefte schaut, gibt er leise hilfreiche Tips. Bei mir angekommen, bleibt er stehen. »Strengen Sie sich an, Sie sind nicht dümmer als die anderen!«

»Ich kapiere die Aufgaben aber nicht.« Mit großer Geduld versucht er, mir die Rechenwege zu erklären. Es ist sinnlos.

»Probieren Sie es noch mal!« fordert er mich freundlich auf. Er geht zum nächsten Schüler. Ich denke an mein Kind.

16-17

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