Einleitung
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»Mama, was ist das für ein Geräusch?« Es ist ein später Nachmittag im Sommer 2017. Wir radeln auf dem Uferradweg den Bodensee entlang. Drei Tage sind wir schon unterwegs, wir haben Enten gesehen, Kraniche, Gänse, Bussarde. Jetzt zirpt eine Heuschrecke. Und mein Sohn fragt, was das ist.
Ich brauche einen Moment, bis ich die Frage verstehe. Bis ich kapiere, dass er das Geräusch nicht kennt. Offenbar noch nie gehört hat.
Mein Sohn ist nicht im 84. Stock eines Hochhauses in Manhattan aufgewachsen. Er ist auch nicht Konrad aus der Konservenbüchse, das erschreckend ordentliche Kind aus dem gleichnamigen Kinderbuch. Im Gegenteil. Er wohnt in einem Haus mit verwildertem Garten. Seine Großeltern leben auf dem Land und ziehen mit ihm durch die Felder. Seine Kitagruppe wandert jede Woche einen ganzen Tag lang mit einem Biologen durch den Wald und erkundet die Tierwelt. Mein Sohn kann Seeadler von Fischadlern unterscheiden und kennt Kreuzspinnen, Libellen, Eichelhäher und Rotkehlchen. Er ist vier, fast fünf Jahre alt. Aber er hat gerade zum ersten Mal in seinem Leben eine Heuschrecke gehört.
In diesem Moment verstehe ich, was Insektensterben bedeutet.
Natürlich hatte ich davon in der Zeitung gelesen. Ich hatte sogar Interviews für den WDR darüber geführt. Ich hatte gelesen, dass die vom Bundesamt für Naturschutz erstellten Roten Listen der gefährdeten Tier- und Pflanzenarten immer länger werden. Ich kannte also die Fakten. Trotzdem brauchte ich eine Radtour am Bodensee und ein erstauntes Kindergesicht — Mama, was ist das für ein Geräusch? —, um zu verstehen, dass hier etwas völlig aus dem Ruder läuft. Dass etwas sehr Unheimliches geschieht.
Offenbar brauchen wir solche Momente, um das ganze Ausmaß der Gefahr zu begreifen. Jahrzehntelang warnten Ökologen, Biologinnen und Naturschützer vor dem großen Artensterben. Jeder, der gelegentlich eine Zeitung aufschlägt, hat davon gehört. Dass da etwas verloren geht. Dass wir etwas tun müssten. Doch so richtig gekümmert hat das jahrzehntelang nur die Fachleute. Die Insekten und viele andere Arten starben leise und unbemerkt.
1992, also vor mehr als zweieinhalb Jahrzehnten, hatten die Vereinten Nationen zur großen Umwelt- und Entwicklungskonferenz nach Rio de Janeiro eingeladen. Auf dieser bahnbrechenden Konferenz einigten sich über 150 Staaten darauf, dass die Biodiversität unbedingt geschützt werden müsse und nur eine nachhaltige Entwicklung die Menschheit retten könne. Doch auf den Nachfolgekonferenzen konnten sie sich nicht auf rechtsverbindliche Ziele einigen. So wurden trotz zahlreicher Strategien und Aktionspläne auf allen politischen Ebenen und trotz einzelner Erfolge wie beim Kranich die Roten Listen der bedrohten Tier- und Pflanzenarten immer länger.
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Erst die Langzeitstudie der Krefelder Entomologen hat das Insektensterben zum Thema gemacht. Medien aus der ganzen Welt haben darüber berichtet. Mehr als 75 Prozent Verluste in den letzten dreißig Jahren, berichteten die Forscher, und zwar nicht nur seltene Arten, Spezialisten mit besonderen Ansprüchen — das kannte man ja schon —, sondern Verluste bei so ziemlich allen Arten. Die Insekten verschwinden.
Die Nachricht war deshalb so verstörend, weil viele merkten, dass sich die Krefelder Forschungsergebnisse mit ihrer Alltagserfahrung deckten. Saubere Windschutzscheiben nach langen Autofahrten, das war doch früher anders? Und warum kann ich im Sommer abends lüften und das Licht anlassen, ohne dass es hinterher im Zimmer summt und brummt? Warum ist es im Garten so still geworden? Wann habe ich eigentlich den letzten Schmetterling gesehen? Wo sind sie alle hin, die Insekten?
Trotzdem hatten Journalisten noch Ende 2017 das Gefühl, sich rechtfertigen zu müssen, wenn sie zur besten Sendezeit über die bedrohte biologische Vielfalt reden wollten.
»Unser Thema heißt: Der stille Tod der Bienen — wer vergiftet unsere Natur? Falls Sie jetzt sagen, haben die keine anderen Sorgen? Was macht die GroKo, oder was macht Seehofer ohne das Ministerpräsidentenamt?«, so begann Frank Plasberg seine Sendung Hart-aber-Fair im Dezember 2017.(1) Das klingt wie: Was sind schon ein paar Millionen wilde Bienen gegen einen Horst Seehofer?
Der Moderator erläuterte ausführlich, warum das Insektensterben für uns wichtig ist: »Wenn die Bienen, wenn Insekten sterben, bedroht das das ganze Ökosystem und auch die Nahrungskette von uns Menschen.«
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Für Biologinnen, Ökologen und alle, die irgendwie mit Natur zu tun haben, ist das so selbstverständlich wie etwa die Tatsache, dass ein Fahrzeug ohne Motor und Treibstoff nicht fahren kann. Das würde kein Journalist seinem Publikum erklären. Aber was Insekten für unser Ökosystem und damit für uns bedeuten, offenbar schon. Insekten sind klein und unwichtig, so haben wir das wohl lange empfunden: Schmetterlinge sind schön, eigentlich schade, dass sie so selten geworden sind ... Und die Mücken? Die stechen, vielleicht gar nicht so schlimm, wenn es weniger davon gibt! Nur bei den Bienen gibt es wohl ein Problem mit der Bestäubung. Ob wir dann bald keine Äpfel mehr essen können? Das Leben rund um uns erstirbt — und viel zu lange hat uns das nicht besonders beunruhigt.
Aber warum haben wir so viel Zeit verloren? Warum hat es so lange gedauert, bis viele gemerkt haben, dass der Verlust der biologischen Vielfalt zusammen mit dem Klimawandel unsere Existenz gefährdet? Dass Insekten systemrelevant sind? Vielleicht liegt es daran, dass wir uns so weit von der Natur entfernt haben. Dass wir dem Leben da draußen nicht mehr begegnen. Nicht im Auto auf dem Weg ins Büro. Nicht auf dem asphaltierten Schulhof, nicht im Fitnessstudio und auch nicht beim Grillen im Garten zwischen Kirschlorbeer und Steingarten-Arrangement.
Vielleicht liegt es auch daran, dass wir schon so oft vor Umweltkatastrophen gewarnt wurden und dann alles — scheinbar — doch nur halb so schlimm war. Hatte nicht die amerikanische Ökologin Rachel Carson schon 1962 vor dem Stummen Frühling gewarnt? Ihr Buch über den flächendeckenden und skrupellosen Einsatz von Pestiziden in Amerika war damals ein Bestseller, es gilt als Katalysator der weltweiten Umweltbewegung, ebenso wie der Bericht des Club of Rome über die Grenzen des Wachstums, 1972.
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Aber noch singen ja die Vögel, werden viele bei der Lektüre gedacht haben, und die Wirtschaft wächst auch weiter. Es scheint, als könnte man angekündigte Katastrophen ruhig aussitzen. Irgendwer wird schon was dagegen tun.
Als ich zur Schule ging, beherrschten der Saure Regen und das Waldsterben die Umweltdebatte. Wir Kinder sahen Bilder von abgestorbenen Fichten in der Tagesschau und stellten uns vor, die Wälder rund um unser Dorf könnten bald auch so schaurig und tot aussehen. Auf einem Flur in unserer Schule hing plötzlich ein Zettel, auf dem stand: »Erst wenn der letzte Baum gerodet, der letzte Fluss vergiftet, der letzte Fisch gefangen ist, werdet ihr merken, dass man Geld nicht essen kann.«
Doch unsere Bäume überlebten. In den Zeitungen lasen wir von neuen Luftreinhalterichtlinien, von Rauchgasentschwefelungsanlagen und Katalysatoren. Nach der Wiedervereinigung wurden die Braunkohlekraftwerke der ehemaligen DDR geschlossen, und 2003 erklärte die erste grüne Bundeslandwirtschaftsministerin Renate Künast das Waldsterben für beendet. Natürlich gab es nach wie vor gefährliche Emissionen und geschädigte Wälder, doch das war bis zum Dürresommer 2017 nur ein Thema für Forstwissenschaftler und Ökologen — weit unter der Aufmerksamkeitsschwelle der Medien.
Mit dem Ozonloch war es ähnlich: Schon 1974 hatten zwei Forscher — die späteren Nobelpreisträger Mario Molina und Sherwood Rowland — vor Fluorchlorkohlenwasserstoffen in der Atmosphäre gewarnt. Doch erst als Anfang der Achtziger tatsächlich eine Ausdünnung der Ozonschicht über der Antarktis gemessen wurde, machte das Thema Schlagzeilen.
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Im Chemieunterricht zeichnete unser Lehrer komplizierte Gebilde mit Chlor- und Fluoratomen an die Tafel und erklärte uns, dass die gefährlichen Fluorchlorkohlenwasserstoffe als Treibgas und Kühlmittel verwendet werden. Wir staunten, dass chemische Verbindungen, die zu Hause in unseren Kühlschränken steckten, weit entfernt von uns — irgendwo über dem Himmel Australiens — große Löcher in die Atmosphäre rissen. Ich tadelte meine Mutter, als ich sah, wie sie sich Haarspray auf den Kopf sprühte: Ob ihr die Kinder in Australien egal seien, die bald nicht mehr draußen spielen könnten — wegen der gefährlichen Strahlung?
Aber bald waren wir beruhigt: 1987 wurden FCKW verboten. Die internationale Staatengemeinschaft hatte ein wirkungsvolles Abkommen zustande gebracht, und das Loch über der Antarktis wird seit einigen Jahren tatsächlich wieder kleiner.
Eine entschlossene Weltgemeinschaft hat vernünftige Beschlüsse gefasst und auch danach gehandelt: Sind es solche Erfahrungen, die uns lange so ruhig ließen, wenn wir davon hören, dass um uns herum die Insekten sterben?
Oder ist es das Gegenteil? Hat uns das Gefühl, andauernd von irgendetwas bedroht zu werden, abstumpfen lassen? Schließlich sind die meisten großen Umweltprobleme ja eben nicht schnell gelöst worden wie der Saure Regen und die Fluorchlorkohlenwasserstoffe. Klimawandel, Feinstaub in der Luft, Plastik im Meer, Nitrat im Grundwasser, multiresistente Keime im Krankenhaus und gefährliche langlebige Gifte aus den Chemiefabriken dieser Welt, die sich weltweit ausgebreitet haben, dazu das Revival der Atomwaffen:
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Auf dieser Liste der ungelösten globalen Umweltgefahren können ein paar tote Insekten eher harmlos wirken. Lässt uns die Mischung aus Dauerbedrohung und Ohnmachtsgefühl am Ende doch resignieren?
An jenem Nachmittag am Bodensee jedenfalls hat mich die Frage meines Sohnes aus dieser Lethargie aufgeweckt. In diesem Moment habe ich auch begriffen, was shifting baselines sind. Und wie gefährlich sie sind, wenn es darum geht, Veränderungen wahrzunehmen und darauf zu reagieren.
Der Meeresbiologe Daniel Pauly hat den Ausdruck 1995 geprägt. Jeder Fischereiwissenschaftler, schrieb er, nehme eine andere Bestandsgröße und eine andere Artenzusammensetzung als Ausgangspunkt für seine Forschung, nämlich jeweils die, die er zum Beginn seiner Laufbahn vorfindet. Weil die Fischbestände aber seit Jahrzehnten sinken, findet jede neue Forschergeneration viel kleinere und artenärmere Bestände vor. Doch genau diese geschrumpfte Tierwelt ist die neue baseline der Wissenschaft. Das Ergebnis, folgert Pauly, ist ganz offensichtlich eine Gewöhnung an das schleichende Verschwinden der Arten.
Im englischem Original klingt das noch gruseliger: the creeping disappearance of resource species.(1)
Diese neue Linie aber ist ein unangemessener Referenzpunkt, warnt Pauly eindringlich. Damit kann man weder die ökonomischen Kosten der Überfischung richtig berechnen noch Ziele für die Wiederherstellung eines Gewässers entwickeln. Pauly schlägt vor, historische Berichte von Fischern nicht einfach als Anekdoten abzutun. Die Wissenschaftler sollten sie vielmehr systematisch auswerten, um sich nicht durch die shifting baselines täuschen zu lassen.
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Der Historiker David Blackbourn hat das getan. In seinem Buch Die Eroberung der Natur. Eine Geschichte der deutschen Landschaft zitiert er Naturschützer des 19. Jahrhunderts und Schriftsteller wie Theodor Fontane und Wilhelm Raabe, die voller Wehmut beschrieben, wie die Vielfalt vor ihren Augen verloren ging.(3) Es war die Zeit, als deutsche Ingenieure die wilden Ströme Rhein und Oder begradigten und zu Wasserstraßen machten. Sie errichteten Talsperren und legten weite Sumpf gebiete trocken, um darin Dörfer und Felder anzulegen. Ganze Ökosysteme wurden vernichtet, Fische, Vögel und Insekten verloren ihre Lebensräume. Damals zog es Künstler in die Dörfer in den verschwindenden Mooren, nach Worpswede und Dachau. Sie dokumentierten in ihren Bildern eine im Verschwinden begriffene Landschaft. »Nie wurden verlorene Feuchtgebiete so wertgeschätzt, nie genossen sie eine solche Bekanntheit wie zum Zeitpunkt ihres Verschwindens«, schreibt Blackbourn, und es gibt mir einen Stich, als ich das lese, so sehr drängt sich der Vergleich auf: Nie wurde die Biene so wertgeschätzt, nie genoss sie eine solche Bekanntheit...
Obwohl Blackbourn den Begriff nicht verwendet, ist der ehemalige Harvard-Professor sich des Phänomens der shifting baseline sehr bewusst. Den Menschen damals schien es, als würde mit der Trockenlegung der Moore eine Wildnis zerstört, eine unberührte Natur. Doch auch die so ursprünglich wirkende Moorlandschaft war längst durch menschliche Tätigkeiten verändert worden. Was die Maler Ende des 19. Jahrhunderts festhielten, war nur eine Momentaufnahme einer im ständigen Wandel begriffenen Landschaft. »Pfarrer und Botaniker, die Tierarten zählten und über die zurückgehenden
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Zahlen klagten, machten ebenfalls Momentaufnahmen von einer einzelnen Phase eines längeren Übergangs«, erläutert der Historiker. Wir können lediglich sagen, schließt Blackbourn, »dass diese Nutzungen intensiver wurden. Sie waren auch zerstörerischer als frühere menschliche Eingriffe, wenngleich weniger zerstörerisch als das, was folgen sollte.«4
Ich erinnere mich, wie ich als Kind im Gras lag und das Krabbeln der Insekten beobachtete. Ich erinnere mich an viele Heuschrecken und an ein dauerndes Zirpen in unserem Garten. Wenn wir nicht schnell handeln, wird mein Sohn das nicht mehr erleben. Er ist zusammen mit den Kindern seiner Generation auf eine andere baseline heruntergerutscht. In eine Welt, in der Heuschrecken und Schmetterlinge kleine Sensationen sind.
Ich versuche mich in seine Naturerfahrung einzufühlen — Sommer: Gras, Löwenzahn und Amseln —, und das zeigt mir, wie falsch es ist zu denken, dass alles irgendwie gut gehen wird. Es ist eben nicht gut gegangen. Mein kleiner Sohn wächst in einer anderen, viel ärmeren Umwelt auf als ich vierzig Jahre zuvor. In einer Welt, in der Heuschrecken, Spatzen und Lerchen so selten sind wie für uns damals vielleicht Tagpfauen-äugen und Störche. Aber er wird nichts vermissen, er kennt es ja nicht anders. Genauso wenig wie wir Erwachsenen die verlorene Vielfalt vermissen, die unsere Vorfahren für so selbstverständlich gehalten haben, dass sie uns nichts darüber in die Chroniken und Kirchenbücher geschrieben haben.
Der Umweltaktivist und Filmemacher Ulrich Eichelmann hat mir einmal die Flüsse seiner Kindheit gezeigt, in der hügeligen Landschaft südlich von Paderborn, die mir sehr vertraut ist, weil ich ganz in der Nähe aufgewachsen bin.
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Wir sind auf einem Wanderweg an dem kleinen Flüsschen Sauer entlangspaziert, das sich in sanften Biegungen durch einen hellen Auenwald schlängelt. Licht und Schatten wechseln sich ab, das Wasser rauscht und gluckert, während es Kiesbänke umspült und halb versunkene Baumstämme überwindet. Eine Idylle, fand ich.
Doch Ulrich Eichelmann hat geschimpft. »Es ist nicht mehr schön hier«, hat er gesagt. »Es mag grün sein, aber die Landschaft um uns herum ist einfach nur eine grüne Monotonie-Auf den Feldern wachsen nur noch Mais und Weizen und Turbogräser, die vier bis fünf Mal im Jahr gemäht werden. Früher hat man die Golfplätze in England nicht öfter gemäht. Da ist kein Leben mehr drauf. Es ist grüner Asphalt.«
Ulrich Eichelmann ist hier in den sechziger und siebziger Jahren aufgewachsen, als der grüne Asphalt am südlichen Rand des Eggegebirges noch lebendiger war. Als Kind hat er Eisvögel, Wasseramseln, Turteltauben und Rebhühner beobachtet und beschlossen, sie zu schützen. Er studierte Landschaftsökologie und ging zum WWF nach Wien, um die Donau-Auen vor einem Wasserkraftwerk zu schützen, und hatte damit Erfolg. Später gründete er die Naturschutzorganisation RiverWatch und drehte einen Film über Umweltverbrechen im Namen des Klimaschutzes.5
Immer, wenn er zurück in sein Dorf kommt, kümmert er sich um die Flüsse seiner Kindheit. Zusammen mit dem Heimatverein Atteln, dem er als Inspirator gilt, ist es ihm gelungen, eine Staumauer abreißen zu lassen und dem aufgestauten Flüsschen Altenau das alte Flussbett mit allen Schlingen und Biegungen zurückzugeben.
Es hat mich sehr beeindruckt, wie die Leute aus Atteln, Bäcker, Bauern und Beamte, die Be-
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hörden so lange wachgerüttelt haben, bis die Abrissbagger angerollt sind und die Staumauer zerschlagen haben. Ein großartiger Erfolg für die Naturschützer in der konservativen katholischen Gegend, in der Aufruhr und Widerstand nicht als Tugenden gelten. Der Fluss ist gerettet. Doch die Agrarlandschaft um ihn herum?
»Die Kulisse stimmt für die Leute«, klagt Eichelmann. »Aber es ist gar nichts mehr da. Natürlich hören wir noch Vögel singen, aber das Konzert, was jeden Morgen erklingt, hat nur noch ganz wenige Instrumente. Wir haben längst verlernt, die Vogelstimmen zu erkennen. Es fällt uns gar nicht auf, wenn der Gartenrotschwanz verschwindet. Der Ortolan. Die Lerche, der Kiebitz, das Rebhuhn. Selbst die Turteltauben. Die sind alle weg.«
Das Sterben der Turteltauben muss leise gewesen sein. Diese hübschen kleinen Tauben mit den schwarzweißen Streifen am Hals sind viel zarter und zurückhaltender als die forschen Straßentauben, die sich Fußgängerzonen und Bahnhöfe als Revier erobert haben. Die Turteltauben halten lieber Abstand zu den Menschen, sie nisten in Hecken und wagen sich höchstens in Parks vor. »In den achtziger Jahren haben sie hier noch gelebt«, erzählt Eichelmann. »Aber weil sie so unauffällig sind, hat niemand ihr Verschwinden bemerkt.«
Inzwischen haben Forscher herausgefunden, warum es die Tauben nicht mehr gibt: Die Turteltauben füttern ihre Jungen mit dem Samen des Erdrauchs. »Eine ganz normale hübsche rot blühende Pflanze«, so nennt sie Eichelmann, Landwirte werden sie wohl zum Unkraut zählen. Seit den achtziger Jahren ist die Landbewirtschaftung immer intensiver geworden. Viele kleine Felder wurden zu größeren zusammengelegt, Feldränder
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wurden einfach mitgepflügt und Hecken gerodet. Und der chemische Pflanzenschutz wirkt, wie er soll: Er tötet alle Pflanzen außer der Feldfrucht, die der Landwirt gesät hat.
Deshalb ist der Erdrauch immer seltener geworden und schließlich verschwunden. Aus der »ganz normalen hübschen Pflanze« ist eine Seltenheit geworden. Spaziergänger mögen das schade finden, doch für die Turteltauben muss es eine Katastrophe gewesen sein.
Ich stelle mir vor, wie die Turteltauben nach ihrem langen Flug über die Sahara und das Mittelmeer ausgehungert in ihren Nistgebieten angekommen sind und nur wenig zu fressen gefunden haben. Wie sie vergeblich nach der Hecke gesucht haben, in der sie im letzten Jahr genistet hatten. Denn dort ist inzwischen eine Siedlung mit neuen Einfamilienhäusern gebaut worden. Oder ein Landwirt hat sie abgesägt, weil ihm wegen der Hecke die Flächenprämie gekürzt wurde. Ich stelle mir vor, wie die Turteltauben dann irgendwo einen neuen Nistplatz gefunden haben, aber keine Samen, um ihre Nestlinge zu füttern. Wie sie immer weiter und weiter fliegen mussten auf der Suche nach Körnern. Die Turteltauben kennen das Wort Ackerbegleitflora nicht, aber sie merken, dass etwas fehlt, was sie über Jahrhunderte gut ernährt hat: Erdrauch, Miere, Wegerich und Gänsefuß.6 Ich stelle mir vor, wie der Landwirt zufrieden von seinem großen Schlepper auf den Acker blickt und denkt: Wie gut der Weizen wächst! Oder wie eine junge Familie stolz ihr neues Haus in der Neubausiedlung bezieht und einen unkrautfreien Rollrasen im Garten ausbreiten lässt, damit die Kinder an der frischen Luft spielen können. Vielleicht ist genau an diesem nasskalten Tag der letzte Nestling der Turteltauben verhungert.
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»Unsere Landschaft ist monoton geworden«, sagt Ulrich Eichelmann, »aber wir haben verlernt, das zu sehen.« Seine Definition der shifting baseline geht weiter als die von Pauly. »Auch die Älteren, die noch den Vergleich haben, vergessen mit der Zeit, wie es früher war«, sagt Eichelmann. »Du gewöhnst dich so dermaßen daran, dass du denkst, das war doch immer schon so.« Es startet nicht nur jede Generation an ihrer eigenen neuen baseline, sondern diese baseline sinkt im Laufe der Jahre offensichtlich noch weiter, zumindest bei Laien, die sich nicht auf gesicherte Zahlen stützen können.
Würden wir unsere Aufmerksamkeit heute noch so sehr auf die Natur richten wie unsere bäuerlichen Vorfahren aus der Zeit vor den Massenmedien, wäre uns das Verschwinden von Erdrauch und Turteltaube wohl aufgefallen. Der Erdrauch war den Kräuterkundigen als Heilpflanze bekannt, gegen Ekzeme und Bauchkrämpfe. Und das zärtliche Schnäbeln und Kuscheln der Turteltauben kannten früher alle auf dem Land und auch den Werberuf der Täuberiche, turr turr turr. Von ihrem Gesang stammt der schöne Ausdruck: miteinander turteln.
Aber weg sind sie. Der Erdrauch und die Turteltauben. Die Eisvögel und die Rebhühner. Die Heuschrecken und die wilden Bienen. Warum verschwinden sie? Warum stirbt die Vielfalt um uns herum? Was bedeutet das Sterben der anderen für uns? Warum tun wir nichts dagegen?
Ich steckte mitten in der Lektüre über die Fressgewohnheiten der Turteltauben, als ich einen Anruf vom Team der Ocean Film Tour bekam: Ob ich eine Diskussion zum Filmstart der Tour 2018 in Hamburg moderieren könne?
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Sie hätten Sylvia Earle eingeladen, die berühmte Meeresforscherin. Und die habe tatsächlich zugesagt, obwohl sie schon 82 Jahre alt sei und noch immer unermüdlich damit beschäftigt, für neue Schutzgebiete in den Ozeanen dieser Welt zu werben. Dreihundert Tage im Jahr ist sie dafür unterwegs. Damit möglichst viele Leute die große alte Dame des Meeresschutzes kennenlernen und sich von ihrem Enthusiasmus für Haie und Korallenriffe mitreißen lassen, plante die Ocean Film Tour eine Podiumsdiskussion mit Sylvia und lauter Prominenten. Der Schauspieler Hannes Jaenicke hat zugesagt und Anton Hofreiter, der Fraktionsvorsitzende der Grünen. Über Hope Spots. Orte der Hoffnung für die Fische, die Meere und das Klima.
Ich staunte: Die Ocean Film Tour kannte ich als Filmfestival für Abenteurer, für Segler, Taucher und Extremsportler. Und die Veranstalter holen eine Wissenschaftlerin und lassen sie eine halbe Stunde lang auf Englisch über den Meeresschutz und Ökosysteme reden? Am Ende der Rede sagt Sylvia Earle: Wir wissen mehr als jemals zuvor in der Geschichte der Menschheit. Wir wissen, dass der Klimawandel die Korallenriffe sterben lässt. Dass die Meere wärmer und saurer werden und dass wir im Begriff sind, die weltweiten Fischbestände — unsere Nahrungsgrundlage — zu vernichten. Wir wissen das alles. Und deshalb können wir etwas dagegen tun! Jeder von uns kann etwas tun! Sylvia Earle, zierlich, elegant, gut aussehend, hebt ihre Hände und ballt sie zur Faust. Hunderte junge Leute im Publikum stehen auf und applaudieren. Ich bekomme eine Gänsehaut: Wenn das möglich ist, wenn wir uns für Sylvia Earle und ihre Botschaft begeistern können, dann muss es doch möglich sein zu handeln.
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Seit über sechzig Jahren erforscht Sylvia Earle das Leben im Meer, sie war 7000 Stunden unter Wasser und hat dokumentiert, wie Korallen erbleichen, wie Haie verschwinden, wie Fischbestände im Meer zusammenbrechen und wie Öl im Golf von Mexiko die wunderbare Unterwasserwelt erstickt. Von ihr habe ich gelernt, die Dimension dessen, was wir gerade auf der Welt anrichten, besser zu begreifen. Vor 220 bis 66 Millionen Jahren lebten die Dinosaurier. Ihre Zeit nennt man das Erdmittelalter, Trias, Jura, Kreide. Wer kleine Kinder hat, kennt das schöne, schaurige Gefühl, sich vorzustellen, wie lange das her ist. Unendlich lang. Die Dinosaurier lebten schon, bevor wir Menschen wurden. Zu ihrer Zeit gab es Korallenriffe und Haie. Sylvia Earle fragt: Warum haben wir in wenigen Jahrzehnten neunzig Prozent der Haie getötet, die so lange auf unserem kleinen Planeten überlebt haben? Und sie wiederholt, so eindringlich, dass niemand weghören kann: Wir wissen so viel, wir können so viel erforschen — wir dürfen nicht zulassen, dass das Leben in den Meeren untergeht.
Und an Land auch nicht, füge ich in Gedanken hinzu. Was für Haie gilt, trifft auch auf Heuschrecken zu. Und es geht ja eben nicht nur um Haie und Heuschrecken. In Ökosystemen hängt alles mit allem zusammen, in Nahrungsnetzen und Stoffkreisläufen. Deshalb sind weder Haie noch Heuschrecken einfach nur für sich selbst da. Deshalb können wir nicht einfach sagen, schade, wenn sie weg sind, aber sei's drum. Denn es geht immer um das ganze Leben und damit auch um unseres.
Zur Verdeutlichung: Wenn das Leben in den Meeren stirbt, bleibt uns die Luft weg. Denn etwa die Hälfte des Sauerstoffs in der Luft wird von winzigen Meeresalgen produziert. Jeder zweite Atemzug.(7)
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Als junges Mädchen hat Sylvia Earle die Flüsse an der Westküste Floridas erkundet. Sie erinnert sich an klares Wasser und viele verschiedene Fischarten. Heute sind die Flüsse ihrer Jugend zu Abwasserkanälen verbaut. Als junge Wissenschaftlerin erforschte sie die unendliche Artenvielfalt von Korallenriffen im Indischen Ozean. Als sie Jahrzehnte später an dieselben Stellen zurückkehrte, waren die Korallen gestorben und die Fische verschwunden. Sie spricht präzise und sachlich, Drama und Pathos sind nicht ihre Sache, und trotzdem spürt man ihren Schmerz über das große Sterben im Wasser. Aber sie hat dokumentiert, was vorher da war. Ihre Doktorarbeit hat sie über Algen im Golf von Mexiko geschrieben, 20.000 verschiedene Algen-Exemplare aus dieser Unterwasser-Recherche lagern heute im großen National Museum of Natural History in Washington. Es sind die Beweise der Vielfalt, ihr Trumpf gegen die sbifting baselines.
»Ich sehe, was andere nicht sehen«, sagt Sylvia Earle. »Der Ozean stirbt.« Der amerikanische Autor Ian Frazier hat ein sehr eindrucksvolles Porträt über Sylvia Earle geschrieben und über den professionellen Optimismus und Enthusiasmus, mit dem sie ihr Ziel verfolgt: mehr Meeresschutzgebiete, mehr Hope Spots. Doch dann stehen da diese Sätze: »Trotzdem ist da irgendwie dieses Gefühl, dass niemand zuhört. Sylvias meeresblaue Augen haben die gleiche sanfte Trauer, mit der weise und gütige Aliens in Filmen die törichten Erdlinge angucken.« - »Viele Leute, die ich liebe, haben keine Ahnung von der Not, in der wir stecken«, sagt Sylvia.
Warum auch immer es so lange gedauert hat, bis wir verstanden haben, dass ein Teil unseres Ökosystems einfach verschwindet:
2018 ist etwas in Bewegung geraten. 2018 haben die Medien jenseits der Fachpresse und Politiker jenseits des Umweltressorts das große Sterben als großes Thema aufgegriffen. Endlich wird darüber geschrieben und gesprochen, dass etwas zusammenbricht, auf das wir alle angewiesen sind. Und das Jahr 2019 hat mit dem Erfolg des bayerischen Volksbegehrens Artenvielfalt begonnen. Ein breites Bündnis hat Alarm geschlagen, und fast jeder fünfte Wahlberechtigte hat unterzeichnet. Mehr als 1,7 Millionen Menschen. Es ist das bisher erfolg-reichste Volksbegehren in Bayern, und es zeigt, dass sehr viele Menschen verstanden haben, dass es ums Ganze geht. Dass Reden nicht mehr reicht. Dass sich etwas ändern muss, und zwar schnell. Das ist neu. Und das ist unsere Chance, die biologische Vielfalt noch zu retten.
Denn gleichzeitig hat sich noch mehr verändert: Eine sechzehnjährige Schwedin ist weltberühmt geworden, weil sie wiederholt hat, sehr klar und sehr eindringlich, was Wissenschaftler seit Jahrzehnten sagen: Der Klimawandel wird unsere Lebensbedingungen so sehr verändern, dass wir alles tun müssen, um ihn abzumildern. Jugendliche auf der ganzen Welt sind Greta Thunberg gefolgt und gehen freitags zum Protestieren auf die Straße statt zur Schule. Sie nehmen den im März 2019 veröffentlichten UN-Bericht zum Klima ernst: Wenn schon jetzt Millionen Menschen von Extremwetter betroffen sind, mindestens zwei Millionen Menschen vor katastrophalen Klimabedingungen fliehen müssen und der Meeresspiegel innerhalb eines Jahres um 3,7 Millimeter gestiegen ist, können wir nicht länger warten.(8)
Wenige Tage vor der Europawahl kritisierte der YouTuber Rezo die Regierungsparteien heftig dafür, dass sie ihre Politik von den Erkenntnissen der Wissenschaft abkoppeln und ihre selbst gesteckten Ziele verfehlen. Rezo warnte eindringlich vor der menschengemachten Klimakrise und dem Verlust der Biodiversität. Auch wenn ich die Regierungsbilanz von CDU und SPD weniger drastisch kritisiert hätte als Rezo, war ich ihm doch sehr dankbar dafür, dass er das permanente Zieleverfehlen und die Dringlichkeit des Handelns zum Thema gemacht hat. Nach zehn Tagen war das Video mehr als 13 Millionen Mal geklickt worden. CDU und SPD verloren bei der Wahl, die Grünen verdoppelten beinahe ihre Stimmen, und spätestens jetzt ist klar: Regierungen, die Klima, Umwelt und Natur weiter gefährden und das nur rhetorisch verschleiern, werden sich nicht mehr lange halten können. - Das ist der Moment, den wir nutzen können. Für die Insekten. Für die Vielfalt. Und für uns.
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Tanja Busse (2019) Das Sterben der anderen - Einleitung