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Kapitel 1

Das Refugium der Heuschrecken

Warum die Landwirtschaft die Biodiversität jahrhundertelang gefördert hat und die Agrarindustrie sie jetzt gefährdet

 

 

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»Achtung, Blindgänger!« steht auf dem Schild am Waldrand. Will man zum letzten Rückzugsort des Kleinen Heidegrashüpfers auf der Huppenheide gelangen, muss man die Warnung ignorieren.

»Blindgänger?«, frage ich. »Macht nichts«, sagt Thomas Fartmann. Er ist Heuschreckenforscher, promoviert und habilitiert, und leitet die Abteilung für Biodiversität und Landschaftsökologie an der Universität Osnabrück. »Hier wurde nie scharf geschossen.« Ich zögere kurz und folge ihm. Weg vom Wanderweg. Über einen kleinen Wall auf Mountainbikespuren hinein in die Huppenheide. Einst Allmende. Heute Truppenübungsplatz.

Thomas Fartmann ist hier aufgewachsen, auf einem Bauernhof am Rande der Huppenheide, nicht weit von Münster entfernt, die so heißt, weil hier früher der Wiedehopf sang, der Heuschreckenfresser.

Hupp hupp, so ruft der Wiedehopf. Huppe ist das Münsterländer Wort für Wiedehopf. Willkommen also in der Huppenheide, in der seit fast sechzig Jahren kein Wiedehopf mehr gesungen hat. Es ist wie mit dem Turteln und der Turteltaube: In unserer Sprache, in unseren Ausdrücken und Flurbezeichnungen überleben die Tiere länger als in der Natur. Als Wörter bewahren wir die Vielfalt besser als draußen im echten Leben. Der Name Wiedehopf ist mir vertraut, aber vielleicht auch nur, weil er seinen Auftritt in der Vogelhochzeit hat, dem uralten Kinderlied. »Der Wiedehopf, der Wiedehopf, er bringt der Braut 'nen Blumentopf!« Aber wie sieht er aus?

Ich muss erst im Internet nach Fotos suchen, um ein Bild zu haben: Der Wiedehopf trägt eine Art Irokesenschnitt aus langen orange-bräunlichen Federn, weiß und schwarz abgesetzt. Seine Flügel schwarz und weiß gestreift wie ein Zebra. Was für ein hübsches Tier!

An diesem Stückchen Land — der Heide, die nur noch so heißt, aber keine mehr ist — will mir Thomas Fartmann zeigen, warum die Wiedehopfe verschwunden sind und die Heuschrecken mit ihnen. Und all die anderen Tiere, die unsere Landschaft geprägt haben, unsere Lieder und unsere Sprache.

Bis vor zweihundert Jahren war die Huppenheide Gemeinschaftsland. Jeder, der Tiere hatte, durfte sie dort weiden lassen. Thomas Fartmann hat alte Karten mitgebracht, die zeigen, wie groß diese gemeinschaftlich genutzten Allmendeflächen früher waren — viel größer als die einzelnen Höfe im privaten Besitz. Eine der Karten zeigt das »Kirchspiel Telgte« — den Ort, an dem Günter Grass die Barockdichter über Muttersprache und Vaterland diskutieren lässt, während um sie herum der Dreißigjährige Krieg wütet. Fartmanns Karte zeigt Telgte knapp

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zweihundert Jahre nach dieser Zeit. Es sind darauf Stadt-gärten eingezeichnet, größer als die Stadt selbst, und ein paar schmale Streifen: die Felder im Besitz der einzelnen Höfe. In einem weiten Bogen beinahe einmal um die Stadt herum liegen die großen Heideflächen.

Viele Jahrhunderte, vielleicht sogar Jahrtausende lang hatten die Hirten ihre kleinen Herden dorthin zum Weiden geführt. Auf diese Weise entstanden die offenen Heideflächen und die lichten Wälder. Denn auch dort — zwischen den Bäumen — ließen die Hirten ihr Vieh weiden und Bucheckern und Eicheln fressen. Man nennt sie Hude- oder Hutewälder oder auch Hutungen. Die alte Heimat der Heuschrecken und Wiedehopfe war also keine ursprüngliche Natur, sondern eine Kulturlandschaft, ein Ökosystem, das erst durch die Nutzung der Bauern und Hirten, durch ihre Agrar-Kultur, entstanden ist. »Hätten wir hier Naturlandschaft, wäre Mitteleuropa extrem langweilig«, flachst Fartmann. »Dann wäre hier nur Buchenwald. Wir könnten nichts sehen, es wäre dunkel, überall stünden Bäume.« Zu kalt und zu dunkel für Heuschrecken und Schmetterlinge.

Seit dem Ende der letzten Eiszeit, seit etwa 11700 Jahren, haben die Menschen die Landschaft Mitteleuropas geformt — und damit nicht nur Platz für ihre Bedürfnisse geschaffen, sondern auch Lebensraum für viele verschiedene Tier- und Pflanzenarten. »Ohne die Kulturtätigkeit des Menschen wären ganz viele Arten gar nicht da«, sagt der Ökologe. Die historischen Kulturlandschaften hatten eine höhere Biodiversität als die dichten Buchenwälder, die Mitteleuropa dominierten, bevor die Menschen begannen, Bäume zu roden und Felder anzulegen.

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Zwar haben auch die riesigen Weidetiere, die vor der letzten Eiszeit in Mitteleuropa lebten und inzwischen ausgestorben sind, offene Flächen in den Urwäldern geschaffen. Erst im Neolithikum, also in der Jungsteinzeit, zogen Ackerbauern und Viehzüchterinnen aus Vorderasien nach Mitteleuropa. Damals waren wir Menschen also eine invasive Spezies, die in fremde Ökosysteme eindrang. Diese frühen Migranten aus dem Osten schufen neue Biotope, indem sie Äcker und Gärten anlegten, ihr Vieh in den Wäldern weiden ließen und Pferche bauten. Und dabei verbreiteten sie neue Arten. Weizen, Gerste, Erbsen und Linsen und — versteckt im ungereinigten Saatgut — viele andere wilde Gräser und Kräuter. Auf diese Weise schufen die Bäuerinnen und Bauern die große Biodiversität Mitteleuropas, die uns heute so natürlich vorkommt. Mit ihrem Saatgut gelangten die winzigen anthrazitfarbenen Samenkörner des Klatschmohns zu uns. Über Jahrhunderte prägten seine feuerrot leuchtenden Blüten die Getreidefelder unserer Vorfahren — bis in die sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts. Wer heute rote Farbtupfer im Kornfeld eines Ökobauern entdeckt, fühlt sich an eine verloren gegangene Heimat erinnert, an unsere alte Kulturlandschaft, vielleicht sieht er Goethe oder Eichendorff in der Postkutsche vorbeirumpeln.

Dabei sind es Einwanderer aus dem Osten, die unser Bild von der urdeutschen Landschaft prägen — Klatschmohn, Echte Kamille, Ackerfrauenmantel, Storchschnabel, Taubnessel, Senf und sogar die Kleine Brennnessel. Später haben die Römer neue Pflanzen in den Norden gebracht, teils als Gemüse wie Kresse oder Portulak, teils unbeabsichtigt über ungereinigtes Saatgut, die hübsche Acker-Lichtnelke zum Beispiel.9

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»Der Mensch hat über Jahrtausende Artenvielfalt gefördert«, so fasst Thomas Fartmann diese Entwicklung zusammen. »Dass er das nicht mehr macht, ist ein junges Phänomen des Anthropozäns. Seit etwa siebzig Jahren überlagert der Mensch mit seiner Aktivität alle geologischen Prozesse.« Er sagt das sehr nüchtern, als schaue er von außen auf diese Entwicklung und auf die seltsame Spezies Mensch und ihren Ein-fluss auf die Ökosysteme: erst als Schöpfer von Vielfalt und Schönheit und dann als ihr Vernichter.

Fartmann zählt auf, welche Vögel damals in den Heiden des Münsterlands zusammen mit den Wiedehopfen lebten: Blauracken, Schwarzstirnwürger, Ziegenmelker, Alpenstrandläufer oder Goldregenpfeifer. »Die kennt heute keiner mehr«, konstatiert Fartmann trocken, und ich muss ihm zustimmen und erst im Netz nach Bildern suchen. Die Blauracke ist wunderschön, sie sieht aus, als käme sie direkt aus dem tropischen Regenwald. Ihr Gefieder ist so bunt und schillernd, dass es für einen Auftritt im Zeichentrickfilm Rio reichen würde. »Sie ist in Deutschland ausgestorben«, sagt Fartmann. »Und von den Goldregenpfeifern gibt es weniger als zehn Brutpaare.« Kein Wunder, denn beide brauchen genau wie der Wiedehopf offene Landschaften zum Wohnen und große Insekten zum Fressen.

Unter den Ökologen gilt das Ende der Gemeinschaftsflächen um 1830 als Beginn des ersten großen Vogelsterbens. Damals beschlossen viele Regierungen des Deutschen Bundes, ihre Ländereien neu aufzuteilen und das Gemeinschaftsland, die Marken, zu privatisieren. Viele Heiden wurden damals mit Fichten und Waldkiefern aufgeforstet. So wuchsen dunkle dichte Wälder, in denen weder Heuschrecken noch Wiedehopfe

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leben können. »Diese Markenteilung war der Startschuss für die Trennung von Wald und Weide«, sagt Fartmann. »Und damit ging ein ganz wichtiger Lebensraum für viele Vögel verloren. Um 1800 waren zwei Drittel von Niedersachsen Moor und Heide, heute sind es weniger als ein Prozent.«

Bestimmt habe ich das Wort Markenteilung im Geschichtsunterricht gehört, aber ich erfasse erst hier, in der Huppenheide, was es bedeutet hat. Die scharfe Linie, die überall in Deutschland Wälder von Feldern trennt, schien mir immer etwas Natürliches zu sein, der Anfang des Waldes eben. Dabei ist diese erste Baumreihe ein Lineal, das die Großgrundbesitzer während der Markenteilung in die Natur gelegt haben, um die Heidelandschaften mit ihren Büschen, Bäumen und Gräsern zu zerschneiden und anschließend aufzuräumen. Hier stehen die Bäume ordentlich in Reih und Glied wie einst preußische Soldaten- Und dort weidet das Vieh hinter schnurgeraden Zäunen. Diese neuen Grenzen haben die Landschaft sortiert und geordnet, in Weiden, Äcker und Forste, also Holzacker. Verloren gegangen ist dabei die bunte Vielfalt der Heiden, das ungeordnete Nebeneinander von kleinen und großen Büschen, von Lichtungen und Dickicht, von zarten Gräsern und Orchideen und großen alten Eichen, die Heimat unserer Biodiversität. Seit mir Thomas Fartmann erklärt hat, was die Markenteilung, das Ende der Gemeinschaftsflächen, für die Vielfalt bedeutet hat, blicke ich anders auf die Waldränder. Seitdem sehe ich, was fehlt.

1917 hat eine prominente Zeitzeugin beschrieben, wie sie diesen Niedergang empfindet: »Gestern las ich gerade über die Ursache des Schwindens der Singvögel in Deutschland: Es ist die zunehmende rationelle Forstkultur, Gartenkultur und der Ackerbau, die ihnen alle natürlichen Nist- und Nahrungsbedingungen: hohle Bäume, Ödland, Gestrüpp, welkes Laub auf dem Gartenboden — Schritt für Schritt vernichten.«

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Seit mehr als hundert Jahren ist also bekannt, welche Strukturen wir brauchen, um die biologische Vielfalt unserer Kulturlandschaften zu erhalten. Und seit mehr als hundert Jahren ist es nicht gelungen, dieses Wissen so wirkungsvoll anzuwenden, dass das große Sterben endlich gestoppt würde. Und seit mehr als hundert Jahren betrauern das die Naturfreunde. »Mir war es so sehr weh, als ich das las. Nicht um den Gesang für die Menschen ist es mir, sondern das Bild des stillen unaufhaltsamen Untergangs dieser wehrlosen kleinen Geschöpfe schmerzt mich so, daß ich weinen mußte«, schrieb Rosa Luxemburg im Mai 1917 in einem ihrer Briefe aus dem Gefängnis.10

Die Pazifistin und Sozialistin hatte an der Universität Zürich neben Philosophie auch Botanik und Zoologie studiert. Könnten Ornithologen von heute eine Zeitreise in das Jahr 1917 machen, wären sie vermutlich begeistert vom Singvogelreichtum dieser Zeit. Sie würden als Fülle empfinden, was Rosa Luxemburg und die zeitgenössischen Vogelkundler als Untergang beklagt haben. Shifting baselines eben.

Wie viele Vögel muss es in der Huppenheide vor der Markenteilung also gegeben haben! Wenn man die Naturbeschreibungen aus alten Romanen oder Zeitzeugnissen liest, stellt sich unwillkürlich eine Sehnsucht nach der Vielfalt und Schönheit und Fülle ein. Wie gerne würde ich für ein paar Stunden in der Zeit zurückreisen, um das zu erleben! Vielleicht sollten wir eine Sehnsucht danach entwickeln, um zu verstehen, was wir da eigentlich wiederbringen müssten.

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Das zweite große Vogelsterben begann in den Siebzigerjahren mit der Intensivierung der Landwirtschaft: Um effizienter wirtschaften zu können, wurden die Ackerflächen neu sortiert. Aus vielen kleinen zerstückelten Ackerflächen wurden wenige große, sodass die Landwirte nicht mehr von einem winzigen Acker zum nächsten fahren mussten, sondern ihre Flächen schneller bearbeiten konnten. Doch damit verschwanden Randstreifen, Hecken und Feldwege. Flurbereinigung nennt man das im Verwaltungsdeutsch, als müsste man das Durcheinander der kleinen Felder, Ackerstreifen und Feldwege wegputzen.

Damals wurden auch viele feuchte Wiesen trockengelegt. Die Landwirte zogen Entwässerungsgräben oder legten Drainagerohre und schufen so fruchtbare Äcker aus Böden, die früher so nass waren, dass ein Trecker darin versunken wäre. Doch die zahlreichen Insekten, Vögel und Pflanzen, die in diesen Sumpfwiesen gelebt hatten, verloren ihren Lebensraum. Und noch etwas kam in dieser Zeit dazu, was das Zusammenleben von Pflanzen, Tieren und Insekten für immer verändern sollte: chemischer Pflanzenschutz und künstlicher Mineraldünger.

Mehr Dünger auf den Feldern und mehr Tiere in den Ställen, die wiederum mehr Gülle produzieren — das führte dazu, dass immer mehr Stickstoff auf die Böden gelangte, auf denen früher Mangel herrschte. Zusätzlich fallen Ammoniak und andere Stickstoffverbindungen aus der Luft auf alle Flächen, sie machen etwa fünfzehn Kilogramm Stickstoff pro Jahr und Hektar aus. Deshalb setzen sich beinahe überall Brennnesseln, Löwenzahn und Brombeeren durch, die so viel Stickstoff brauchen, dass sie auf mageren Standorten keine Chance hätten.

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Die Vegetation wächst schneller und dichter, das Mikroklima wird feuchter und kühler, und das verdrängt wärmeliebende Insekten. Weil es kaum noch magere Böden gibt, gibt es eben kaum noch Pflanzen und Tiere, die dort gut gedeihen. Der bekannte Autor und Ökologe Josef Reichholf nennt den Stickstoff aus den Düngemittelsäcken und Güllefässern deshalb Erstickstoff für die Artenvielfalt.11 Im Ohmtal in Hessen haben Forscher untersucht, wie sich die Arten des Grünlands von 1950 bis 1990 verändert haben, also in der Zeit, als aus feuchten und mageren Wiesen und Weiden nährstoffreiche wurden. Die Pflanzen, die dabei als verschwunden gelistet sind, klingen für mich wie Fantasie-Pflanzen: Kümmel-Silge, Pfennigkraut, Wald-Engelwurz, Wasser-Greiskraut und Teufelsabbiss.12 Das ist kein Wunder, denn vermutlich gab es alle diese Pflanzen schon nicht mehr, als wir Kinder in den siebziger und achtziger Jahren über die Wiesen im Weserbergland gezogen sind, etwa hundert Kilometer nördlich. Denn auch hier hatten die Landwirte Drainagerohre durch die feuchten Weiden gezogen (oder besser: ziehen lassen, denn oft mussten Zwangsrekrutierte des Reichsarbeitsdienstes diese Schufterei übernehmen), und sie brachten Kunstdünger aus.13

Längst gefährdet diese zu große Düngemenge nicht nur die Artenvielfalt, sondern auch unser Grundwasser. An vielen Messstellen, vor allem in Regionen mit viel Gemüsebau und hoher Viehdichte, wird der Nitratgrenzwert überschritten. Die Europäische Union hat deshalb 2013 ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland eingeleitet. Erst vier Jahre später hat Deutschland seine Düngeverordnung

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verbessert, doch so lückenhaft, dass Agrarexperten wie Friedhelm Taube von der Kieler Christian-Albrechts-Universität warnten, dass die Verschärfung des Düngerechts nicht ausreiche, um die Nitratgrenzwerte künftig einhalten zu können. Auch die EU hielt die neue Regelung nicht für ausreichend, und deshalb musste Deutschland im Sommer 2019 die Verordnung gleich noch einmal verschärfen.14

Die 1970er-Jahre waren die Zeit der Modernisierung der Landwirtschaft: Die vielen kleinen Bauernhöfe, die ein paar Hühner, Schweine und Kühe hielten, Gemüsegärten und Streuobstwiesen kultivierten und viele verschiedene Feldfrüchte anbauten, verschwanden ebenso wie die Handwerker, all die Korbflechter, Weber, Schuhmacher, Schneider und Schmiede, die das Leben in den Dörfern über Jahrhunderte geprägt hatten. Und auch die Inhaberinnen der Tante-Emma-Läden. Übrig blieben wenige große Agrarbetriebe, die den Prinzipien der Industrie folgten: Intensivierung, Technisierung, Spezialisierung und Standardisierung. Was jetzt zählte, waren Ertrag und Effizienz. Wer nicht mithielt, konnte wirtschaftlich nicht bestehen.

Damit ist die große bunte Vielfalt der alten Höfe verloren gegangen, die den Bauernfamilien über die Jahrhunderte eine Lebensversicherung gewesen war. Sie waren — anders als die spezialisierten Betriebe heute — nicht von einem Erzeugnis abhängig und konnten schlechte Ernten einzelner Feldfrüchte besser kompensieren. Und genau diese Vielfalt der Kulturpflanzen und der unterschiedlichen Flächennutzungen bot auch vielen wilden Tieren und Pflanzen einen Lebensraum.

Thomas Fartmann hat eine Postkarte mit einem Bild aus dem Jahr 1892 mitgebracht, Tecklenburg im Frühling von Otto Modersohn:

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eine Wiese voller weißer und roter Blüten, dahinter, bunte Farbtupfer in unterschiedlichsten Grün- und Gelbtönen: die Felder. Rings um den Ort Büsche, Bäume und Hecken. Platz für Artenvielfalt. Die Intensivlandwirte von heute sehen Landschaftsbilder aus alten Zeiten mit anderen Augen: Schwärmereien über die schöne vielfältige Landschaft belächeln sie als Romantisierung des Mangels. Sie wissen, wie viel Schufterei damals mit der Landwirtschaft verbunden war — und wie niedrig die Erträge ihrer Vorfahren waren.

Mit der Technisierung der Landwirtschaft und der Globalisierung der Agrarmärkte ist es unrentabel geworden, so zu wirtschaften. Heute rechnet es sich für Ackerbauern, vor allem Weizen und Mais im Wechsel anzubauen.

Ausgerechnet die längst überfällige Abkehr von der Atomenergie und die Klimakrise haben diese enge Fruchtfolge befördert: Um die Energiewende zu beschleunigen, hat die Bundesregierung im Jahr 2000 beschlossen, Strom aus erneuerbaren Energien besser zu vergüten als Atom- oder Kohlestrom. Biogasanlagen zu bauen und sie mit Gülle und Mais zu füttern garantierte gute Einnahmen. Die Energiewirte verdienen damit viel mehr Geld als andere Landwirte, vor allem als Milchbauern, die ihre Kühe auf der Weide fressen lassen. Deshalb können sie höhere Pachtpreise zahlen und kommen leichter an neue Acker. Auf zweieinhalb Millionen Hektar Acker wurde in den letzten Jahren Mais angebaut — auf Flächen, die Ökologen als Agrarwüsten bezeichnen. »Der totale Tiefpunkt für den Naturschutz«, sagt Thomas Fartmann. Es ist ein gutes Beispiel für einen schlecht gelösten Zielkonflikt: Die Energiewende war Klimaschutz auf Kosten des Naturschutzes.

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Alle Entwicklungen der letzten Jahrzehnte — die Technisierung, die Intensivierung, die Spezialisierung — haben zu einer Homogenisierung der Landschaft« geführt. Es war der Anfang vom Ende der Heuschrecken.

Thomas Fartmann zählt auf, warum Insekten im intensiven Ackerbau kaum noch leben können: Vor allem wegen der Insektizide, die vor der Aussaat auf das Saatkorn aufgetragen werden. Sie wirken systemisch, das bedeutet, sie breiten sich beim Wachstum in der ganzen Pflanze aus, es gibt kein Entkommen: »Jedes Insekt, das in die Pflanze beißt, wird erwischt.«

Aber auch wegen der Herbizide, die Ackerbeikräuter bekämpfen, so dass auf den Getreidefeldern nur noch Getreide wächst und nichts anderes mehr —gut für den Landwirt, schlecht für die pflanzenfressenden Insekten. Außerdem wachsen die Getreidehalme heute so dicht, dass kein Licht mehr auf den Boden gelangt, und es deshalb in den Feldern zu kühl ist für die Insekten, die Wärme brauchen. Es ist paradox: Obwohl es wegen des Klimawandels immer wärmer wird, geht es ausgerechnet den wärmeliebenden Arten in Mitteleuropa immer schlechter. Die Dichte der Halme in den Getreidefeldern wiederum ist nur möglich, wenn das Getreide mit Fungiziden, also Pilzbekämpfungsmitteln, behandelt wird. Denn die Halme stehen so dicht beieinander, dass sie nicht gut trocknen und deshalb anfällig für Pilzbefall sind.

Aber auch im Grünland haben Heuschrecken heute keine Chance: Früher wuchsen auf den Weiden viele verschiedene Gräser und Kräuter. Heute säen die Landwirte Hochleistungsgräser, die wilden Pflanzen keine Chance lassen.

Die Standardmischungen enthalten Deutsches Weidelgras, Wiesenschwingel

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Tanja Busse (2019)  Das Sterben der anderen - Wie wir die biologische Vielfalt noch retten können