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Einleitung

Campbell-1973

 

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Wenn der Leser keine Pflanze ist, dann sucht er stets nach Lust; denn das tun alle Tiere. Ich schreibe dieses Buch unter anderem in der Absicht, die Belege für diese Behauptung gründlich zu untersuchen, und zwar sowohl aus der Sicht des Neurophysiologen als auch aus der des Verhaltensforschers. 

Dabei wird es sich als notwendig erweisen, einerseits eine ganze Reihe von Experimenten aus dem Gebiet der Hirnforschung zu erwähnen, die von mir und anderen Wissenschaftlern durchgeführt worden sind, und andererseits einen weiten Bereich ähnlicher Forschungen zu vernachlässigen, damit das Buch nicht unhandlich wird. Daß dieses Buch überhaupt geschrieben werden konnte, verdanke ich Hunderten von Wissenschaftlern, die im Laufe einiger Jahrzehnte in vielen tausend Stunden unser Wissen über das Gehirn und seine Leistungen nach und nach zusammentrugen.

Obwohl die meisten von ihnen in diesem Buch ungenannt bleiben, beruht die Geschichte der menschlichen geistigen Entwicklung auf ihrem Schaffen. Die Kursivsetzung soll andeuten, daß die meisten Menschen leider vorwiegend untermenschlich sind. Sehr viele von ihnen nehmen die Errungenschaften der Menschheit wie Schmarotzer in Anspruch — sie tragen Kleidung, bedienen sich einer gehobenen Ausdrucksweise, essen mit Messer und Gabel und schöpfen dennoch nicht die ungeheuren Möglichkeiten ihres Gehirns aus, sondern legen ein Verhalten an den Tag, das sich nur oberflächlich von dem der Affen unterscheidet.

Mein Plan ist, über Tatsachen zu berichten — z.B. über das Verhalten von Krokodilen, wenn man ihnen einen elektrischen Kuß gibt — und diese Tatsachen vernünftig zu interpretieren. Derartige Interpretationen haben zu der neuen Theorie des Verhaltens geführt, die in diesem Buch dargelegt wird, und natürlich können sie sich als falsch herausstellen. Man wird sie sicher im Lichte neuer Forschungen modifizieren müssen. 

Ich führe diese Interpretation an, weil schon viele Menschen großes Interesse daran gezeigt haben; sie wurden in etwa dreißig Vorträgen vor wissenschaftlich gebildeten Zuhörern vertreten, in Universitätskurse für Psychiater aufgenommen, in etwa hundert Zeitschriften und Zeitungen auf der ganzen Welt veröffentlicht, im Rundfunk und Fernsehen gesendet.

Ein weiterer Grund, dieses Buch geschrieben zu haben, liegt darin, daß ich und andere glauben, die hier diskutierten Gedanken können für den einzelnen von Nutzen sein. Es soll dem Laien ein besseres Verständnis der Vorgänge im Gehirn vermitteln und dessen fundamentale Verhaltensmechanismen aufdecken, damit die Menschen nicht mehr glauben, sie hätten etwas so Simples wie ein Fernsprechamt unter ihrer Schädeldecke. Neben der verwirrenden Vielfalt der eigentlichen Funktionsweisen des Gehirns spielt gleichzeitig das höchst einfache Prinzip der Suche nach Lust eine erhebliche Rolle; und daran kann man sich orientieren. Schon die Anerkennung dieses Prinzips sollte genügen, um wenigstens einige Änderungen in der Selbsteinschätzung vieler Menschen hervor­zurufen.

Denn die Art und Weise, wie wir Lusterlebnisse suchen, ist von tiefgreifender Bedeutung für das Problem: Wer und was sind wir?

Einige Arten der Suche nach Lust berauben uns vollständig der Menschlichkeit, ja, selbst jenes so hoch geschätzten, doch oft nur eingebildeten Besitzes von Individualität. Andere Arten der Lustsuche bezeugen unsere gehobene Stellung in der Hierarchie der tierischen Lebewesen, lassen die meisten unter uns aber dennoch als Roboter oder Automaten, als laufende Computer erscheinen, die von anderen Menschen programmiert werden. Und trotzdem, mit voller Einsicht in von uns beobachtete Verhaltensmechanismen und in bestimmte Verhältnisse der Hirnfunktion, zeichnet sich für jeden Menschen der Weg klar ab, wie er sowohl Mensch als auch Individuum, glücklich und zugleich vollendet sein kann.

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Der Weg mag deutlich vor uns liegen, doch ist er nicht einfach oder ohne Anstrengungen zu bewältigen. Der Suche nach Lust kann niemand von uns entgehen; ja, wir brauchen uns noch nicht einmal besonders anzustrengen, um Lust zu erfahren. Und deshalb bleiben so viele Menschen auf der Stufe der Eidechse stehen. 

Der erste Teil des Buches zeigt unbestreitbar auf — so hoffe ich jedenfalls —, daß unser Körper mit einer großen Anzahl von Sinnesorganen ausgestattet ist, deren einzige wichtige Aufgabe es ist, Lust hervorzurufen. 

Um Lust — verstanden im strengen, wissenschaftlichen Sinne — zu erzeugen, brauchen wir nur zu sehen, zu hören, zu berühren, zu schmecken oder uns zu bewegen. Kaum jemand hat dabei große Schwierigkeiten, ja, es fällt sogar sehr leicht, vor allem, wenn eine soziale Wertschätzung mit der Ausübung dieser Tätigkeit verbunden ist. Dabei führen die Menschen aber nur das aus, was ihnen von der Natur — wie auch den Fischen — mitgegeben wurde. Tagtäglich reagieren die Fische in meinem Laboratorium in ihrer einfachen, rechtschaffenen Art genauso wie Millionen von komplexbeladenen und heuchlerischen Menschen mit ihren Augen, Ohren, Geschmacksknospen, Muskeln und ihrer Haut. In diesem Sinne verwende ich den Ausdruck untermenschlich: als Suche nach Lust über die neuralen Mechanismen, die bei niederen Tieren die einzige Möglichkeit der Lusterfahrung darstellen. Es kann kaum bezweifelt werden, daß einer der bedeutendsten Gründe für den zurückgebliebenen sozialen Entwicklungsstand der Menschheit in eben dieser Leichtigkeit, Lust zu erreichen, besteht. Und dank dieser Tatsache bleibt das wilde Tier auf dem ihm zugewiesenen Platz.

Der Mensch, so hoffe ich im einzelnen nachzuweisen, verfügt nicht nur über die begrenzten Hirnmechanismen, die auch bei niederen Tieren zu finden sind, um Lust zu erzeugen. Niemand außer dem deutlich Anormalen braucht sich die Bezeichnung untermenschlich gefallen zu lassen. Denn ich lenke die Aufmerksamkeit auf die besonderen und einzigartigen Möglichkeiten, wie man sich als richtiger Mensch verhalten kann; und manche verhalten sich auch so. Dieses Verhalten von einigen wenigen Vertretern jeder Generation ist der einzige Grund dafür, daß sich das Menschengeschlecht so deutlich von den niederen Tieren unterscheidet.

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Es besteht sehr wenig Hoffnung, die Mängel unserer Gesellschaft rasch zu beseitigen, wenn nicht jeder einzelne seine eigenen Motive, seine Lebensweise und seine gesellschaftsorientierte Mitarbeit einer gründlichen Kritik unterzieht. 

Selbsterkenntnis ist, wenn sie offen und ehrlich geschieht, eines der stärksten Mittel, um Unlust hervorzurufen. Solange diese Selbsterkenntnis nicht als Mittel eingesetzt wird, die Lebensweise zu ändern, was an sich bereits lustvoll ist, kann sich niemand als »reif« betrachten, weder in geistiger und sozialer noch in neurophysiologischer Hinsicht.

Denn alles liegt am Gehirn, alles ist ein Teil Neurophysiologie. Ich hoffe aufzuzeigen, wie sinnlos es ist zu glauben, daß das menschliche Denken und Verhalten, die menschliche Persönlichkeit und menschliche Wertsysteme in irgendeiner Weise mit der Stellung der Gestirne, mit Teeblättern, Göttern oder Geistern in einem kausalen Zusammenhang stehen. Ich bin derselben Ansicht wie viele Neurophysiologen, Psychiater, Psychologen und Soziologen: daß nämlich jeder einzelne Aspekt des menschlichen Trachtens und Strebens fest in den materiellen Vorgängen des Gehirns verwurzelt ist. 

Alle mannigfaltigen Hinweise aus der Hirnforschung während der letzten Jahrzehnte führen zu dieser Schlußfolgerung. Wenn wir uns nicht dazu durchringen, unsere Vorstellungen über die Immaterialität der Psyche, unsern Irrtum mit der Seele aufzugeben, wenn wir nicht anerkennen, daß unsere Persönlichkeit, unsere Hoffnungen und Befürchtungen nur äußere Abbildungen von elektrischen Aktivitätsmustern in unserem Gehirn sind, dann werden wir höchstwahrscheinlich nie wirklich frei sein. Wir werden in der neuralen Sklaverei von Indoktrinationen gefesselt bleiben, Objekte für ausbeuterische Gehirnwäschen, Lust suchend auf Befehl anderer, während wir uns die ganze Zeit in hybrider Weise als frei betrachten. 

Der große Nutzen der Einsicht in die Tatsache der materiellen Grundlage des Gehirns besteht darin, daß nur dann der einzelne einzusehen vermag, daß jede Persönlichkeit, jede Hoffnung und Befürchtung, jede Neigung und Abneigung geändert werden kann.  

Und zwar auf eine äußerst praktische und relativ einfache, wenn auch zeitraubende Weise: indem die entsprechenden Methoden zur Änderung gerade der Hirnprozesse verwendet werden, anstatt sie tagein, tagaus von jenen mißbrauchen zu lassen, die ihr Leben lieber damit verbringen, ihrem verkrüppelten Geist über die Runden zu helfen.

Wir werden sehen, daß die Kenntnis der Hirnfunktion unter besonderer Berücksichtigung der Lustareale genügt, um verstehen zu können, weshalb einige Menschen homosexuell und Horoskope so in Mode sind, weshalb Fußball unproduktiv und die Kunst heiter ist. Den nur schwer zugänglichen Tiefen des Gehirns werden wir entlocken, was der Geist in Wirklichkeit ist, weshalb man Pornographie begehrt, weshalb man in der Badewanne singt und im Bett träumt, weshalb man ins Kino geht oder über den Himmel schreibt. Auf dem Niveau der Nervenzellen werden wir die Kräfte betrachten, die unsere Jugend in Rebellion und Gewalttätigkeit, zu Drogenmißbrauch und zum Pazifismus treiben. 

Wir werden auch die materiellen Grundlagen für Leidenschaft, Liebe und Sexualität untersuchen — wenn auch die letztere nur eine andere Bezeichnung für Adrenalin ist —, und wir werden erfahren, wie wichtig es ist, an der Mutterbrust gestillt worden zu sein, zu heiraten und eine Familie zu gründen.

Ab und zu werden wir durch die Entdeckung von Hirnregionen überrascht, die um Aufmerksamkeit für die Gleichberechtigung der Frau werben und trotzdem zugunsten von Nebensächlichkeiten, wie etwa Büstenhalter, nicht zu Worte kommen.

In einer Gesamtschau werden wir den langwierigen und langsamen Aufstieg des Individuums von dem affen-ähnlichen Zustand bei der Geburt bis zu einer Art menschlicher Reife überblicken und feststellen, daß so viele Menschen diese Reife nie erreichten. Vieles wird bedauernswert und traurig sein, manches wird möglicherweise Wut hervorrufen; am Ende aber haben wir den neuralen Entwurf einer neuen Schöpfung — der Psychogenese, die zu einer psychozivilisierten Gesellschaft führen wird oder, anders ausgedrückt: zu einer Gesellschaft, die aus wahren Menschen besteht.

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