Teil 2  und Schluss      Start    Literatur

5   Das Schicksal des Menschen 

Campbell-1973

 

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Einige der in diesem Buch erörterten Thesen haben vielleicht Ärgernis erregt, sei es, weil eine Lieblings­beschäftigung des Lesers als im wesentlichen unter­menschlich entlarvt worden ist, sei es, weil der Eindruck erweckt wurde, daß die dargelegte Theorie des Verhaltens eine kalte und mechanistische Betrachtung der menschlichen Belange darstellt.

Doch wenn man die weitreichenden Konsequenzen dieser neurophysiologischen Betrachtungsweise für das Verhalten des Menschen genauer ansieht, dann wird man den darin enthaltenen ungeheuren Zukunfts­optimismus entdecken. In diesem abschließenden Kapitel werde ich ein Ordnungsschema für Glaubens­haltungen und Denkprozesse skizzieren, das - so seltsam es auch klingen mag - den Menschen von seinen roboterhaften Zügen befreit und ihm unendliche Möglichkeiten der Individualität, Freiheit und Menschlichkeit eröffnet. 

Wenn meine Theorie wahr ist, so könnte das vielleicht der einzige Weg sein, das Schicksal des Menschen zu erfüllen.

Die eigentliche Entstehung tierischen Lebens ist uns unbekannt, doch wir können davon ausgehen, daß einzellige Tiere diesem ersten Anfang recht nahe kommen; und aus Untersuchungen an heute lebenden Protozoen wissen wir, daß sie alle einige Sinnesreize suchen und andere meiden. Ohne uns in dem philosoph­ischen Problem verlieren zu wollen, ob die Amöbe Lust »empfindet«, wenn sie eine Zuckerlösung gefunden hat, so können wir doch erkennen, daß uns nur unzureichende semantische Konventionen daran hindern, die Amöbe als Lustsucher und Unlustmeider zu bezeichnen.

Ebenso sollten wir uns darüber im klaren sein, daß alle Tiere diese beiden Merkmale aufweisen, was sowohl durch einfache Beobachtungen wie auch durch strenge wissen­schaftliche Untersuchungen nachgewiesen wurde. Das ist die einzige Möglichkeit, wirklich eindeutig zwischen Pflanzen und Tieren zu unterscheiden; wenn ein lebender Organismus nicht nach Lust sucht, dann ist er auch kein Tier. Ebenso ist die Ansicht, daß der Lust-Unlust-Mechanismus als die eine universelle treibende Kraft hinter der zunehmenden Komplexität der Tiere steht, die einzige Möglichkeit, die Evolution der Arten wirklich zu verstehen.

Wenn wir die ungeheure Beweisfülle anerkennen, die eindeutig auf eine kontinuierliche Entwicklung, wenn auch mit einigen Abwegen, von den Protozoen zum Menschen hinweist, und wenn wir ein für allemal die idealistische und überhebliche Meinung aufgeben, daß das Menschengeschlecht eine besondere Form der Schöpfung sei, dann können wir über die allzu einleuchtende Erklärung hinwegsehen, daß stets nur die lebenstüchtigsten Individuen und Arten überlebten.

Was »lebenstüchtig« oder »lebenstüchtiger« bedeuten soll, ist außerdem weitgehend Ansichtssache, und diese Auffassung hat sich vorwiegend an der rein physischen Bewältigung des Lebenskampfes als Gipfel der Lebenstüchtigkeit orientiert. Damit wird aber die Tatsache übersehen, daß es viel mehr Käfer und Käferarten als Affen und Affenarten gibt; ebenso wird übersehen, daß gerade die größten und stärksten Tiere — Wale, Elefanten, Nashörner — vom Aussterben bedroht sind; und der Untergang der Saurier wird auch nicht weiter beachtet. Wenn man das Tierreich als Ganzes betrachtet, kann man einfach nicht die Tatsache hinwegdiskutieren, daß schwache, kleine Lebewesen wie Schmetterlinge die Jahrmillionen ebensogut überstanden haben wie zähe, große Raubtiere. Ganz sicher besteht die treibende Kraft hinter der Artenentwicklung nicht in dem Drang, größer und stärker zu werden. Diese beiden Merkmale traten vielmehr als zufällige Veränderungen bei Tierformen auf, die relativ lebensuntüchtig waren.

Wenn wir die Evolutionsschritte mit Hilfe unserer Theorie der Lustsuche interpretieren, dann können wir verstehen, daß die körperlichen Veränderungen, die durch Zufallsmutationen und »crossing over« der Chromo­somen entstanden waren, der »natürlichen Selektion« unterlagen; das heißt, diese körperlichen Veränderungen blieben erhalten, falls sie die Fähigkeit des Tieres verbesserten, sich angenehme Sinnesempfindungen zu verschaffen und unangenehme zu vermeiden.

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Einige Tierformen wurden recht früh mit — im Hinblick auf ihre Lebensbedingungen — fast vollkommenen, wirkungsvollen körperlichen Mechanismen versehen. Die treibende Kraft ließ nach, und seitdem haben sich diese Tierformen nur recht wenig weiterentwickelt; sie sind klein und ziemlich schwach, dafür aber zahlreich und lebenstüchtig geblieben.

Bei anderen Tierformen bedeutete jedes neue Merkmal nur einen kleinen Schritt in Richtung Vollkommenheit, so daß die treibende Kraft der Lustsuche wirksam blieb. Immer mehr Merkmale kamen hinzu, und jedes davon nahm etwas Raum ein, so daß die Tiere größer und ihre Muskeln stärker wurden. Aber sie waren immer noch weniger lebenstüchtig als die kleineren Tiere, deren Mechanismen der Lusterzeugung sich bereits voll entwickelt hatten. Freilich sind ein größerer Körper und größere Stärke von Vorteil für das Überleben eines Tiers überhaupt oder beim Kampf mit Tierarten vergleichbarer Größe; doch Größe und Stärke allein bringen noch keine biologische Überlegenheit einer Gattung mit sich.

Wenn derartige Merkmale schon einmal zufällig vorhanden sind, dann werden sie natürlich auch bei der Lustsuche eingesetzt, doch darüber hinaus haben sie keine besondere Bedeutung — sie entsprechen nicht dem, was die Evolution erreichen will. Wenn das früher schon deutlich erkannt worden wäre, dann würde das Gerede vom Überleben des im Hinblick auf die Muskelstärke Lebenstüchtigsten vielleicht gar nicht erst aufgekommen sein, und wir hätten uns wenigstens einige der bösen Konsequenzen aus dem Glauben an die ewige Macht der Gewalt erspart. Mit der Anerkennung dieses Sachverhalts sollte die Menschheit die Lektion lernen, daß unsere durch die Technik vergrößerte Muskelkraft in Gestalt von Kanonen, Bomben und Raketen uns als Gattung keinen Schritt weiterbringt; wir werden dadurch nicht lebenstüchtiger als der Gorilla. Dasselbe gilt übrigens auch für den Sport.

Da jedes neue Merkmal, um bei der Lustsuche eingesetzt werden zu können, den besonderen Umweltbedingungen, denen die Tiere ausgesetzt werden, entsprechend mußte, entwickelten verschiedene Tierarten auch verschiedene Körperformen, so daß eine ungeheure Artenvielfalt entstand, und jede davon ist sozusagen »an die Umwelt angepaßt« oder, anders ausgedrückt, ist »so gebaut, um aus der Umgebung die größte Lust zu erhalten«.

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Diese Formulierung mag vielleicht nicht so elegant sein, enthält aber einen tieferen Sinn. Alle Tiere sind an ihre Umwelt angepaßt, einige sogar so optimal, daß sie sich nur in bestimmten Gebieten aufhalten und kaum Form­veränderungen unterliegen; andere sind nur teilweise angepaßt, so daß sie oft ihren Lebensraum wechseln und körperliche Veränderungen aufweisen. Diese Evolutionsschritte werden so lange fortgesetzt, bis die Tiere imstande sind, ihrer Umgebung ein Maximum an Lust zu entnehmen; denn dann werden keine neuen Merkmale mehr benötigt, und die Evolution hört auf.

Allein schon unter diesem Gesichtspunkt wird uns klar, daß der Mensch noch einen sehr langen Weg vor sich hat.

Die einzigartigen Mechanismen des Menschen für die Suche nach Lust sind bislang kaum ausgenutzt worden. Die meisten Menschen aktivieren ihre Lustareale immer noch vorwiegend mit sensorischer Hilfe, obwohl die Evolution ihnen ein viel effizienteres Werkzeug zur Verfügung gestellt hat, um der Umwelt Lust zu entnehmen. Obwohl sie die erforderliche Nervenausstattung besitzen, sind die meisten Menschen an die menschliche Umgebung nicht angepaßt. Ein Psychoneurologe hat geschrieben, daß »das Verhalten von Menschen im allgemeinen keineswegs intelligenter ist als das von Tieren unter denselben Voraussetzungen«, und ein Ethologe hat festgestellt, daß das an »jener geistigen Überheblichkeit (liege), die den Menschen daran hindert, sich selbst und sein Verhalten als Teil der Natur anzusehen und sich somit den Gesetzen des Universums zu unterwerfen«. Wie ist es dazu gekommen?

Zunächst müssen wir untersuchen, was für ein Organismus das Neugeborene ist und wodurch es später zu einem anderen Wesen wird. Ich werde Tatsachen erwähnen, die viele Leser abstoßen mögen. Doch einer der Wege, die zum wahren Menschsein führen, besteht in dem Bemühen, aus der Anerkennung der Wahrheit Lust zu schöpfen anstatt aus dem Glauben an schöne, aber falsche Vorstellungen. Man muß sich von Vorurteilen, seien sie nun idealistischer oder religiöser Art, zu seinem eigenen Wohle, zum Wohle unserer Kinder und zum Wohle unserer Mitmenschen befreien.

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Die einfache Tatsache, die von einer enormen Fülle an Beweisen gestützt wird, besteht darin, daß dem Neugeborenen der Geist, die Seele, die Persönlichkeit und jedes andere menschliche geistige Kennzeichen vollkommen fehlen. Ehe ich fortfahre und aufführe, was es denn überhaupt hat, möchte ich etwas Beweis­material zur Stützung dieser negativen Aussage zusammentragen. Einzelheiten dazu können Sie dem leicht verständlich geschriebenen und überaus wichtigen Buch <Gehirnschrittmacher> (1971) von Professor Jose Delgado entnehmen.

 wikipedia  José_Manuel_Rodríguez_Delgado  1915-2011 

Erst vor wenigen Jahren wurde von J. Altmann am Massachusetts Institute of Technology mit der eleganten Methode der radioaktiven Markierung nachgewiesen, daß die Großhirnrinde bei der Geburt mit nur etwa 10 bis 20 Prozent der normalen Ausstattung an Nervenzellen versehen ist; die restlichen 80 bis 90 Prozent werden während der Kindheit unter bestimmten Bedingungen gebildet. Andere Untersuchungen haben ergeben, daß die wenigen Nervenzellen in den Denkregionen des Neugeborenen nicht miteinander verbunden sind; erst später, wiederum unter bestimmten Bedingungen, kommen diese Zellen miteinander in Berührung, so daß sie Informationen aufnehmen und abgeben können.

Daß die ausgedehnten, gefalteten Großhirnwindungen beim Neugeborenen »leer« sind, wird auch durch die Beobachtung bestätigt, daß sich Säuglinge, denen die Großhirnrinde völlig fehlt, bis zum Alter von zwei Monaten von normalen Kindern praktisch nicht unterscheiden. Neben diesen und vielen anderen ähnlichen anatomischen Erkenntnissen liegen zahlreiche Beweise aus der Neurochemie und aus der Verhaltens­forschung vor, wie etwa der Nachweis, daß es den Kortexneuronen des Neugeborenen an lebenswichtigen Proteinen und an Ribonukleinsäure (RNS) fehlt, und daß sorgfältige Untersuchungen der Verhaltensreaktionen so geringe Wechselwirkungen zwischen Kind und Umwelt ergeben haben, daß die Forscher zu der Feststellung gelangten: »Es gibt kein geistiges Leben im neugeborenen Kind.«

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Was liebevolle Eltern oder Menschen mit religiöser Überzeugung auch immer glauben möchten: Die Wissen­schaftler, die ihr Leben mit der Erforschung neugeborener Kinder verbringen, und die Neurologen insgesamt können Professor Delgado nur zustimmen, wenn er sagt: »Wir müssen daraus schließen, daß bei der Geburt keine feststellbaren Zeichen einer geistigen Tätigkeit vorhanden sind und daß die Menschen ohne Geist geboren werden.«

Also hat der Mensch bei der Geburt und noch kurz danach nur wenig mehr »Betrieb« in seinem Schädel als ein Fisch. Weit davon entfernt, das zu bedauern, hoffe ich nachzuweisen, daß intelligente und rationale Menschen diesen Sachverhalt als solides Fundament nutzen müssen, auf das sich ein reiches und erfülltes menschliches Schicksal aufbauen läßt, sowohl für den einzelnen wie auch für die Menschheit als Ganzes.

Der Säugling besitzt einen funktionstüchtigen Sinnesapparat mit guten Verbindungen zu den recht hübsch entwickelten Lustarealen. In den ersten Tagen oder Wochen seines extrauterinen Lebens kann der Säugling sein Gehirn ausschließlich für die Aufnahme von sensorischen Nervenimpulsen einsetzen, die seine Lust- oder Unlustareale aktivieren. Der neugeborene Mensch ist so unzureichend entwickelt, daß er nicht einmal nach Lust suchen kann, sondern darauf angewiesen ist, daß man sie ihm »bringt«. Wie das geschieht, ist von allergrößter Bedeutung und kann von den »Lustlieferanten« total gesteuert werden.

Im Gehirn des Säuglings wachsen immer mehr Zellen heran, doch eine ausreichende Verbindung unter­einander erhalten sie nur unter bestimmten Bedingungen. Diese Bedingungen sind ganz einfach und meist auch vorhanden. Zunächst einmal müssen einige elementare physiologische Voraussetzungen erfüllt sein. Wenn sich das Gehirn eines Neugeborenen zu dem eines Menschen entwickeln soll, dann muß das Individuum den Satz an Genen besitzen, der diese Möglichkeit in sich birgt; doch die genetische Ausstattung allein ist noch nicht alles. Sie kann sogar als ziemlich unbedeutend betrachtet werden, denn trotz der unvorstellbaren Variabilität der menschlichen Gene entstehen nur relativ wenige verschiedenartige Gehirne.

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Ein Fehler im genetischen Grundmaterial dagegen kann von entscheidendem Einfluß auf die Gehirn­entwicklung sein. 

Zweitens muß das Gehirn des Neugeborenen mit Sauerstoff, Nährstoffen und dem Schilddrüsenhormon über die Blutbahn versorgt werden. Das Schilddrüsenhormon ist gleichsam der chemische »Anstoß« für die Proteinsynthese, die für die Ausbildung von interzellularen Verbindungen notwendig ist, wie Professor J. T. Eayrs von der Birmingham-Universität nachgewiesen hat. Das Fehlen dieses Hormons führt zu Kretinismus, einer Form von Idiotie. Doch selbst wenn alle diese Bedingungen optimal erfüllt sind, entwickelt sich das Gehirn des Neugeborenen noch immer nicht in vollem Ausmaß. Bis hierher konnten vielleicht auch die folgen, die der Ansicht sind, daß die Entwicklung der Hirnzellen, Nervenverbindungen, Hirnproteine und der Hirnfunktionen automatisch vonstatten geht und alles letztlich nur eine Frage der Zeit sei, selbst wenn bei der Geburt noch nichts davon vorhanden ist. Diese »schöne« Ansicht ist ebenfalls falsch. Alles deutet darauf hin, daß die Entwicklung des kindlichen Geistes keineswegs so »natürlich« verläuft wie die Fähigkeit zur körperlichen Bewegung. Der Geist muß erst gemacht werden.

Glücklicherweise ist das kein großes Problem. Die Anzahl der Rindenzellen und ihrer Querverbindungen kann beeinflußt werden, indem man den Säugling mehr oder weniger intensiv Sinnesreizen aussetzt. Die Hirnzellen der Seh- und Hörregionen können ihre richtigen chemischen Funktionen nicht erwerben, wenn das Kind keine visuellen und akustischen Stimulierungen erfährt. Künstliche Bewegungen und Drehungen des Körpers von Neugeborenen führen zu einer vierzigprozentigen Zunahme an RNS in den Neuronen, die für das Gleichgewicht zuständig sind, und durch eine nur acht Tage dauernde intensive sensorische Stimulierung werden das Gewicht, die Dicke und die Blutversorgung der Großhirnrinde sowie die Menge des Enzymgehalts nachweisbar erhöht, der für die Informationsübertragung von einer Nervenzelle auf die andere sehr wesentlich ist. Durch diese und viele weitere Hinweise wird schlüssig belegt, daß sich die wie auch immer gearteten Möglichkeiten, die im Gehirn des Neugeborenen angelegt sind, nur durch Anregung, durch Informationen aus der Außenwelt real entfalten können. Nur dann sind Anatomie und Chemie des Gehirns fähig, auf der Evolutionsskala vom Fisch hinweg in Richtung Mensch aufzusteigen.

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Doch selbst das ist noch nicht genug, um Geist entstehen zu lassen. So weit könnte die Entwicklung auch einfach dadurch vorangetrieben werden, daß man die Augen des Säuglings mit einer Lampe anstrahlt, irgend etwas in seine Ohren hineinruft und ihn hin und her schüttelt. Entstehen würde eine recht ordentliche Hirnstruktur, aber herzlich wenig an Hirnfunktionen. Delgado drückt es kurz und bündig aus, »daß das Gehirn allein nicht ausreicht, um geistige Phänomene hervorzurufen«. Wenn wir es anders formulieren und eine weiter unten erörterte Überlegung vorwegnehmen, dann können wir sagen, daß unterschiedliche geistige Phänomene nicht notwendigerweise unterschiedliche Hirnstrukturen voraussetzen. Damit wird natürlich unsere selbstbemitleidende Entschuldigung — »Ich habe nun einmal nicht das Gehirn, um dieses oder jenes leisten zu können« — gegenstandslos. Alles weist eindeutig darauf hin, daß jeder von uns mit praktisch dem gleichen Gehirn sein Leben beginnt. Was für geistige Phänomene später auftreten, hängt fast ausschließlich davon ab, was mit unserem Gehirn geschieht — immer vorausgesetzt natürlich, wir sind normal.

Der Säugling muß also in angemessenem Umfang sensorisch stimuliert werden, wenn sich sein Gehirn ordentlich entwickeln soll. Damit sich sein Geist überhaupt entwickeln kann, ganz zu schweigen von einer ordentlichen Entwicklung, müssen die sensorischen Reize eine Bedeutung haben. Wenn wir von unserer Theorie ausgehen, hat ein sensorischer Reiz dann und nur dann eine Bedeutung, wenn er die Lust- oder Unlustareale aktiviert. Wenn das Gehirn diese oder jene Information verarbeitet, bilden sich bevorzugte Bahnen heraus; und eines Tages werden bestimmte Sinnesreize Nervenimpulse entstehen lassen, die in bestimmte Richtungen und in bestimmte Hirnregionen ziehen, obwohl sie durchaus andere Wege zu anderen Zielen einschlagen könnten. Als einfache, wenn auch grobe Analogie sei das Weichenstellen herangezogen; wenn auf den zahllosen Gleisen Züge umherfahren, ohne daß ihre Richtung gesteuert wird, so ist dieser Eisenbahnbetrieb als »geistlos« zu bezeichnen.

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Erst wenn die Fahrt eines Zuges vom Bahnhof A zum Bahnhof B gesichert ist, indem die entsprechenden Weichen gestellt und damit alle anderen Gleise »ausgeschaltet« sind, können wir diese Einrichtung sinnvoll nutzen. Durch Strychnin werden die »Weichen« im menschlichen Gehirn in ihrer Funktion gestört, so daß die Nervenimpulse jede beliebige Nervenbahn benutzen können; die Folge ist ein zuckendes, sich in Krämpfen windendes, geistloses Individuum, das nicht einmal zu denken oder sich auch nur vernünftig zu bewegen imstande ist.

Nur die Gehirne, die bevorzugte Bahnen enthalten, können »Geist« zeigen. Und welcher Geist gezeigt wird, hängt vollständig von dem Netz der bevorzugten Bahnen ab, das seinerseits wieder davon abhängt, was mit dem Individuum geschehen ist. Die Bildung von bevorzugten Bahnen geht während des gesamten Lebens weiter, und unter entsprechenden Bedingungen können einige dieser Bahnen zugunsten neuer Bahnen »verschüttet« werden. Wir pflegen dann zu sagen, jemand sei »anderen Sinnes geworden«; in Wirklichkeit hat sich sein Geist dadurch geändert, daß in einem Teil der durch Erfahrung entstandenen Bahnen der Nervenimpulse im Gehirn eine Änderung eingetreten ist. Das kann durch eigene Bemühungen geschehen sein (und der Betreffende wird wohl stets behaupten, daß das der Fall sei), doch ist es weitaus wahrscheinlicher, daß diese Änderung durch Umwelteinflüsse hervorgerufen wurde. Also besteht der Geist aus »den Gedankenprozessen und Verhaltensweisen, die durch ein Netz von bevorzugten Bahnen im Gehirn zustande gebracht werden«. Wie entstehen derartige Bahnen?

Im Neugeborenen wird der Geist zunächst durch sensorische Manipulation der Lustareale — des primitiven Nervensystems — geformt. Unter normalen Umständen steht in der ersten Zeit eine redliche Absicht dahinter. Die Mutter führt den peripheren Rezeptoren des Säuglings gustatorische, olfaktorische, thermale und taktile Reize zu. Alle diese Reize führen zu einer Aktivierung seiner Lustareale; es sind folglich bedeutungsvolle Reize, denn wenn wir von einem bedeutungslosen Reiz sprechen, meinen wir damit nur, daß er weder die Lust- noch die Unlustareale aktiviert.

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Wenn wir uns erinnern, daß eine einfache weiße Lampe für Affen keineswegs bedeutungslos ist, so können wir ohne weiteres einsehen, daß selbst die einfachen Reize, denen der Säugling gewöhnlich ausgesetzt ist, nicht ohne Bedeutung sind. Einige Zeit lang reagiert der Säugling auf seine Mutter in der gleichen Weise wie Fische auf die Elektroden: Sie stellt eine Quelle primitiver sensorischer Lust dar, nicht mehr. Wie Professor Harlow bei Affensäuglingen nachgewiesen hat, ist sie völlig entbehrlich und kann durch eine Art Schneiderpuppe ersetzt werden, sofern diese sich warm anfühlt und taktile Stimulierung ermöglicht. Wenn die Affensäuglinge eine Zeitlang mit einer solchen Puppe leben, ziehen sie diese der wirklichen Mutter vor; läßt man die Mutter dann in den Käfig hinein, rennen sie zur Puppe und klammern sich an ihr fest, selbst wenn diese niemals Milch geliefert hat. Genau dasselbe geschieht gelegentlich beim Menschen, wenn die Mutter kurz nach der Geburt stirbt oder ihr Kind verläßt; und die meisten Mütter geben ihren Kindern Teilersatzobjekte wie Schnuller, Klappern und Plüschtiere. Wenn wir der Wahrheit ins Auge sehen wollen, dann müssen wir uns eingestehen, daß die »Gefühls«-Bindung zwischen dem Säugling und der Mutter keinesfalls stärker ist als zwischen meinem Krokodil und seinen Elektroden. Doch bleibt das glücklicherweise nicht so.

 

Die einfachen Sinnesempfindungen, die dem Säugling in den ersten Lebenstagen von der Mutter vermittelt werden, aktivieren seine Lustareale und ziehen über die klassischen sensorischen Bahnen auch in die Hirnrinde. Das Wachstum und die Entwicklung der höheren Regionen wird ebenfalls durch Sinnesreize gefördert. Es besteht also ein fortwährender Anreiz, bevorzugte Bahnen zwischen den Lustarealen und den Denkregionen einzurichten, die an geistigen Prozessen wie Aufmerksamkeit, Gedächtnis und Assoziation beteiligt sind. Wenn das Bild der Mutter auf die Netzhaut des Kindes fällt oder der Klang ihrer Stimme sein Trommelfell zum Schwingen bringt, dann aktivieren jedesmal Wärme, Nahrung oder Liebkosung seine Lustareale. Nervenimpulse ziehen dabei bestimmte Bahnen entlang und graben sie sozusagen immer tiefer ein.

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Feine Nervenverzweigungen bilden sich aus und berühren sich gegenseitig, und ein Informationsaustausch innerhalb der höheren Regionen kann beginnen; Gedächtnisspuren der Stimme und des Anblicks werden in den neugebildeten Proteinspeichern angelegt, und wenn nun Impulse in einer bestimmten Hirnregion eintreffen, dann werden neue Impulse sofort in eine andere Hirnregion geschickt. Jetzt werden durch Sinnesreize nicht mehr nur die Lustareale aktiviert, wie das etwa beim Fisch der Fall ist; eine Sinnesreizung hat eine sehr komplexe Ausbreitung von Nervenimpulsen entlang vieler Bahnen zur Folge, so daß elektrische Erregungswellen durch verschiedene Teile des Gehirns ziehen. Der Säugling kann jetzt die Quellen der Lust und Unlust wiedererkennen, und mit Hilfe seines inzwischen fortentwickelten Bewegungsapparates versucht er, sie zu erreichen bzw. zu vermeiden. Damit hat die Entstehung von Geist begonnen.

Doch er ist noch untermenschlich. Ein verbreiteter Gemeinplatz besagt, daß Tiere keinen Geist haben. Diese Ansicht beruht ebenso wie der Begriff der Seele auf einer Mischung aus Arroganz und versuchter Selbstbestätigung. Wie Konrad Lorenz mehrfach hervorgehoben hat, haben viele Menschen ein außerordentlich starkes Bedürfnis zu glauben, daß sie sich fundamental vom Tier unterscheiden. Es sind wahrscheinlich Millionen, die das Wort »Tier« in einem Sinne verwenden, der die Menschen dabei ausschließt, und so entstehen biologisch sinnlose Redensarten wie: »Ich kann ihn doch nicht wie ein Tier behandeln.« Diese Leute wollen sich wohl vormachen, daß ihr Verhalten das Ergebnis besonderer Denkprozesse sei (obwohl das, was sie tun, oft untermenschlich ist, wie wir festgestellt haben), und daß das Verhalten von »Tieren« das Ergebnis anderer, niederer, unqualifizierter Mechanismen ist. 

Wenn man den wesentlichen Unterschied zwischen menschlichem und untermenschlichem Verhalten kennt, dann kann man den niederen Lebewesen Denkprozesse nicht mehr absprechen. Das weite und fruchtbare Gebiet der Tierpsychologie würde wohl schwerlich existieren, wenn bei den beobachteten Tieren keine Denkprozesse aufträten. Wie denn sonst sollte es den Zirkus, Pferderennen und »des Menschen besten Freund«, den Schoßhund geben?

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Auf diesem Stand der Entwicklung des Geistes ähnelt der Säugling eher dem Haushund. Der Säugling ist noch völlig sensorisch orientiert und, im psychoanalytischen Sprachgebrauch, vom Es gesteuert, oder wie Professor J. Z. Young (vgl. S. 110) es ausdrückt: 

»Vollkommen selbstsüchtig und egozentrisch. Er kümmert sich nur um die Aspekte der Welt, die seinen Bedürfnissen dienen, und das sind meistens die Mimik und die Reaktionen von Männern und Frauen«.

Das Gehirn des Säuglings erwirbt sehr bald die Information, daß Belohnungsreize eher mit Personen als mit Gegenständen verknüpft sind. Folglich reagiert er auf die Anwesenheit von Personen stärker, und zwar vor allem dann, wenn er die Personen mit angenehmen Reizen besonders eng in Verbindung bringen kann, wie etwa seine Mutter oder andere Bezugspersonen. Diese Neigung, sich einer Hauptquelle untermenschlicher sensorischer Lust zuzuwenden, wird Liebe genannt. Das ist, so möchte man hoffen, doch wohl nicht die einzige Art der Liebe, aber wenn man die Gefühlsbindungen des Menschen offen und ehrlich betrachtet, so wird man nur selten eine finden, die frei ist von jeder sensorischen Lust. Man wird natürlich niemals eine Bindung entdecken, in der die Lustareale gar nicht aktiviert werden; selbst wenn die Selbstgerechten »ihre Feinde lieben«, so haben sie doch auch ihre Freude dabei. 

Am Anfang ist die Entwicklung des Gefühlslebens an die Gegenwart einer sensorischen Lustquelle gebunden und auf diese ausgerichtet. Affen, die außer dem lebensnotwendigen Futter keine weitere sensorische Lust erhalten, entwickeln wenige Gefühle und richten diese auf nichts und niemanden; etwas Ähnliches geschieht gewöhnlich bei Waisenheimkindern.

In der Entwicklung des Säuglings wird der Tag kommen, an dem in seinem Gehirn etwas vor sich geht, das sich von allem Bisherigen fundamental unterscheidet. Niemand würde wagen, den genauen Zeitpunkt anzugeben, wann das geschieht, und die meisten Wissenschaftler würden sogar betonen, daß es diesen genauen Zeitpunkt gar nicht gibt. Weitere Forschung ist dringend nötig, damit wir wenigstens innerhalb gewisser Grenzen wissen, wann unsere Kinder mit dem Menschsein beginnen, das heißt, wann die Lust am Denken beginnt.

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An diesem Tag also reagiert der Säugling zum erstenmal mit Wonne auf sensorische Reize, die als solche keinen eigentlichen Belohnungswert haben, die aber Vorstellungen und Gedanken, wenngleich natürlich nur sehr einfache wie etwa Zustimmung, und, was am wichtigsten ist, Lust in anderen Personen erwecken. Jetzt kann die lange und langsame Entwicklung eines menschlichen Geistes beginnen, die Ausbildung von bevorzugten Bahnen zur Erzeugung von Denk-Lust.

 

Ebenso wie der »sensorische Geist« (ausschließlich für sensorische Lust zuständige bevorzugte Bahnen) hängt auch der »menschliche Geist« im Hinblick auf Grad und Richtung der Entwicklung ganz und gar von Umwelteinflüssen ab. Als Folge von Belohnungen (Aktivierung der Lustareale) und Bestrafung (Aktivierung der Unlustareale), die zur Ausbildung von bevorzugten Bahnen führen, lernt das Kind, wie es zu denken und sich zu verhalten hat. Die Umwelt steuert die Hirnentwicklung des Säuglings. Erbanlagen sind gewiß von Bedeutung, und viele kennen wir noch nicht einmal; doch in welcher Weise sie sich real auswirken, hängt vom Einfluß der Umwelt auf das Gehirn ab. Untersuchungen an eineiigen Zwillingen haben ergeben, daß durch entsprechende Umweltbedingungen die Realisierung der Erbanlagen im Hinblick auf die geistige Entwicklung entweder gefördert oder teilweise oder vollständig unterdrückt werden kann. Diese Tatsache müssen wir in unserem Weltbild fest verankern: Die Erbanlagen eines Kindes können wir nicht ändern, für die Entwicklung seines Geistes jedoch sind wir voll und ganz verantwortlich.

Die Gehirnwäsche und die Manipulation des Geistes habe ich bereits erwähnt und vor allem darauf hingewiesen, auf welche Weise religiöse »Wahrheiten« in das Gehirn des Kindes und politische »Wahrheiten« in das des Jugendlichen eingepflanzt werden. Wir müssen einsehen, daß die Manipulation des Geistes unvermeidlich ist und während der ganzen Menschheitsgeschichte eine Rolle gespielt hat. Sie tritt in jeder Kirche, in jeder Schule, in jedem Kindergarten und in jeder Familie auf. Ohne Manipulation des Geistes kann kein Geist entstehen, denn Manipulation des Geistes bedeutet ja nichts anderes als Ausbildung von bevorzugten Bahnen.

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Die Meinung, der Geist des Kindes müsse sich völlig frei und ohne jede Beeinflussung entwickeln dürfen, beruht auf der falschen Schlußfolgerung, daß das Fehlen einer systematischen Manipulation gar keiner Manipulation gleichkommt. Die damit zusammenhängende Theorie, Kinder sollten sich »ihren eigenen Bedürfnissen entsprechend« entwickeln, ist biologisch ebenfalls sinnlos, denn das Kind hat keine »eigenen Bedürfnisse«, es sei denn das eine, den Aktivierungszustand seiner Lustareale zu erhalten.

Alle anderen »Bedürfnisse« sind ihm durch Erweiterung dieses primären Bedürfnisses irgendwie anerzogen worden; als ursprünglich oder als von Anfang an vorhanden kann man sie nur dann ansehen, wenn man die erdrückenden Beweise zugunsten einer »Ich glaube es eben «-Philosophie ablehnt. Für die Verfechter dieser Ansicht ist das Leben leichter, das Gehirn des Kindes jedoch wird wahllosen manipulierenden Einflüssen ausgesetzt, die sich aufgrund eines unerbittlichen biologischen Gesetzes dem Gehirn in Form von bevorzugten Bahnen notwendigerweise einprägen und dadurch Geist bilden. Von so einem wahllos manipulierten Individuum kann man nicht erwarten, daß sein Geist in eine irgendwie geordnete Gesellschaftsform paßt.

Bei rationaler Abwägung muß man die Tatsache anerkennen, daß im Gegensatz etwa zu ihrer durch Vererbung festgelegten körperlichen Ausstattung die Menschen ohne Seele, ohne Persönlichkeit und ohne Geist auf die Welt kommen, und daß die Eltern und die Gesellschaft vollständig dafür verantwortlich sind, welcher Geist und welche Persönlichkeit in dem Kind heranreifen. Statt am Gedanken von der Manipulation des Geistes herumzunörgeln, sollten wir ihn als Rettungsring zum Wohle unserer Kinder ergreifen und uns mit der Tatsache anfreunden, daß das Neugeborene mit einem leeren Kopf zu uns kommt und alle Möglichkeiten in sich birgt, ein geachteter, vollendeter Bürger zu werden. Unsere Aufgabe besteht nicht darin, die Manipulation des Geistes zu vermeiden, denn das ist unmöglich, sondern mit Bedacht zu überlegen, wie sie am besten durchzuführen ist. Zunächst muß man vor allem mit vielen tiefverwurzelten Vorurteilen aufräumen.

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Wie sollen Kinder erzogen werden, wie sollen Jugendliche geführt werden, wie sollen gesellschafts­feindliche Verhaltensweisen ausgerottet werden: Derart wichtige Probleme dürfen weder den laienhaften Ansichten der Eltern noch den magischen Lehren der Pfaffen, noch den verderblichen Interessen der Wirtschaft oder den Machtgelüsten der Politiker überlassen bleiben. Für ihre Lösung ist dasselbe rationale, sachliche, systematische Vorgehen erforderlich, wie bei der Bekämpfung körperlicher Krankheiten, beim Brückenbau und in der Raumfahrt.

 

Die meisten Menschen werden sich wohl kaum darüber unterhalten, was ein Aldehyd ist, denn das gehört in den Bereich der Chemie, oder was ein Allelomorph ist, denn das betrifft die Biologie, oder was ein Erg ist, denn das ist Gegenstand der Physik. Im großen und ganzen sieht man ein, daß eine intensive Fachausbildung erforderlich ist, um über derartige Angelegenheiten vernünftig reden zu können. Dennoch halten sich die meisten Menschen, die ihre Schulausbildung als Halbwüchsige beendeten und mit intellektuellen Problemen seitdem kaum noch in Berührung gekommen sind, im Hinblick auf Erziehungsfragen für sachkundig genug, um mit absoluter Sicherheit entscheiden zu können, was richtig und was falsch, was gut und was schlecht ist. Es kommt ihnen gar nicht in den Sinn, daß die Behandlung dieser Fragen eine ebenso systematische Fachausbildung erfordert wie Chemie, Biologie und Physik.

Wir können jetzt die hinter dieser intellektuellen Anmaßung stehende Neurophysiologie erkennen: Die Dinge werden als wahr und gut bezeichnet, die die eigenen Lustareale aktivieren; alles, was die Unlustareale aktiviert, wird falsch und schlecht genannt. Welche Vorstellungen, Gedanken und Ideen nun zur Aktivierung der Lustareale führen, ist ganz verschieden, denn das hängt ja von den vielfältigen Umwelteinflüssen ab, die sich auf das jeweilige individuelle Gehirn ausgewirkt haben. Die Ansicht eines Individuums von den »ewigen Wahrheiten« entsteht als Zufallsprodukt aus den Ansichten der Menschen, mit denen es zusammentrifft.

Solange der Mensch nicht nach der beschwerlichen und rein intellektuellen Lust durch systematische, analytische und unpersönliche Bewertung der beobachtbaren Wirklichkeit sucht, solange wird er seine Glaubensmeinungen unvermeidlich unter dem Gesichtspunkt auswählen, welche davon in der Vergangenheit mit Lust und Unlust verknüpft waren.

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Das verleitet ihn dazu, allein deshalb diese Meinungen für wahr zu halten, obwohl in Wirklichkeit viele von ihnen falsch und eine noch größere Anzahl logisch fragwürdig sind, das heißt, es liegen nicht genug Anhalts­punkte vor, um entscheiden zu können, ob sie richtig oder falsch sind.

Wenn Gut und Böse nicht im Zusammenhang mit ihren tatsächlichen, nachweisbaren und langfristigen Auswirkungen auf das Leben des Menschen definiert werden, sondern im Zusammenhang mit den Auswirkungen auf das Lustgefühl von einzelnen oder von Gruppen, dann kann niemand wissen, ob Erleichterungen der Ehescheidung, Empfängnisverhütungsmittel, Kommunismus, Legalisierung der Abtreibung, Drogengenuß, Faschismus, Geschlechtertrennung, Organtransplantationen, künstliche Befruchtung und dergleichen nun gut oder schlecht sind. Wer bei solchen Fragen Wissen und Gewißheit vortäuscht, zeigt nur seine Bigotterie, Arroganz und Irrationalität.

Die Gewißheit ist natürlich ein ganz anderes Entscheidungskriterium als die empiriefreundliche Einstellung, nach der aufgrund verschiedenartiger sachlich fundierter, rationaler Argumente die Empfehlung ausgesprochen wird, diese oder jene Methode auszuprobieren. Einer der Gründe, warum sich viele intelligente Menschen dem Marxismus zuwenden, ist seine gründliche, wissenschaftliche und eben sachlich fundierte Analyse der Gesellschaftsstruktur, die sich von der völlig ideologischen, emotionalen Rechtfertigung der Demokratie sehr deutlich unterscheidet.

Doch obwohl die Demokratie auf irrationalen, magischen Vorstellungen beruht, wie etwa auf dem Grundsatz, daß »alle Menschen das gleiche Recht haben zu ...X...«, wo doch in Wirklichkeit die Idee der Menschenrechte wissenschaftlich sinnlos und die Auswahl von ...X... willkürlich ist, so wird man dennoch einräumen müssen, daß die Demokratie einige Merkmale besitzt, die eines Tages Teil des idealen politischen Systems sein werden.

In unserer heutigen Zeit müssen alle Menschen die Tatsache klar erkennen, daß sie Versuchskaninchen bei den gewaltigen Experimenten der menschlichen Gesellschaft sind, daß sie aber auch gleichzeitig als Leiter dieser Experimente fungieren.

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Die Anerkennung dieser Wahrheit, verbunden mit der Einsicht, daß der Homo sapiens bislang noch nicht sehr zahlreich in Erscheinung getreten ist, daß aber die Entwicklung des Menschen immer noch weitergeht, könnte unsere intellektuelle Überheblichkeit etwas dämpfen und zu intellektueller Demut erziehen. Niemand kann gegenwärtig ohne persönliche Voreingenommenheit die optimale Form des Lebens beschreiben, doch durch Beobachtung der Tatsachen sind zwei nützliche Aussagen möglich. Es ist möglich festzustellen, daß im Hinblick sowohl auf die Erzeugung von langfristiger Lust wie auch auf die Reduzierung von langfristiger Unlust einige Formen besser sind, als andere. Und es ist möglich, Methoden zu nennen, die mit größter Wahrscheinlichkeit zur Entwicklung günstiger Formen des Lebens führen, die sich von unseren gegenwärtigen Bedingungen grundlegend unterscheiden.

 

Ich hoffe, mit rationalen, sachlichen Argumenten bereits deutlich gemacht zu haben, daß die fortdauernde Errichtung von »Wahrheiten« aufgrund irgendeiner religiösen Überzeugung nur zur Katastrophe führen kann, und daß genauso das Festhalten an emotionsgeladenen politischen Ansichten, egal welcher Provenienz, wahrscheinlich zur Vernichtung der Menschheit führen wird. Die überwiegende Mehrzahl der menschlichen Meinungen, in großen wie in kleinen Angelegenheiten, beruht ebenfalls auf einer primitiven Emotionalität, und eine derartige Gefühlsentwicklung geht auf die sensorische Aktivierung der Lustareale, auf untermenschliches Verhalten zurück. Das ist der biologische Sachverhalt, der hinter dem Angstschrei von Delgado steht, daß sich die meisten Menschen ja wie Tiere verhalten, und hinter der betrüblichen Aussage von Lorenz, daß »einige der elementaren Gefühlsreaktionen unserer Spezies denen der höheren Tiere verwandt und direkt vergleichbar sind«. Daraus lassen sich bestimmte Wahrheiten wissenschaftlich ableiten.

Der Fortschritt in Richtung auf ein erfülltes menschliches Schicksal wird dadurch aufgehalten, daß wir Beschäftigungen lieben, die nur zur Stimulierung der peripheren Rezeptoren führen. Solange solche Verhaltensweisen nicht in ihrer wirklichen Bedeutung als triviale, entspannungsfördernde und untermenschliche Bestrebungen erkannt und darum reduziert werden, solange wird unser weiteres Tun wenig nutzbringend sein.

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Doch selbst dann, und selbst wenn die Mehrzahl der Menschen den größten Teil ihrer Lust durch den Einsatz ihrer höheren Hirnregionen erhalten, stehen wir noch vor dem Problem, die angemessenste Art der Denk-Lust zu finden. Einige Lektionen aus der Vergangenheit können uns dabei helfen, und wir sollten inzwischen gemerkt haben, daß die einzige Möglichkeit, mehr zu erkennen, in der massiven Unterstützung wissenschaftlicher Bemühungen bei der Erforschung des einzelnen und der Gesellschaft besteht. Das wird eine langwierige und kostspielige Angelegenheit sein.

Als leuchtendes Beispiel könnten die Kirchen vorangehen, indem sie ihre gewaltigen Besitztümer verkaufen und das Geld für die sachlich fundierte Erforschung des menschlichen Glücks verwenden. Die Spitzen­fußballspieler, die mehr verdienen als der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, könnten vielleicht einige ihrer Anhänger dazu bringen, am geistigen Wohl der Gesellschaft mitzuarbeiten, anstatt tierischem Vergnügen Vorschub zu leisten. Die Kosten der Olympischen Spiele könnten einem halben Dutzend Forschungsgruppen die Arbeit für viele Jahre finanzieren. Noch wichtiger ist vielleicht, daß die Jugendlichen, die mit dem Gedanken spielen, Sportler, Pfarrer oder Schlagersänger zu werden, stets daran denken, daß ein Leben, gewidmet der sachlichen Erforschung des Menschen, ihnen eine Würde und Nützlichkeit verleiht, wie sonst kein Beruf.

Am fruchtbarsten und am ehesten zu realisieren wäre wohl, wenn sich jeder einzelne entschließen könnte, an einem Logik-Kursus teilzunehmen; dadurch würde die tatsächliche und nicht nur die eingebildete Fähigkeit zu rationalem Denken erworben, das eine gesunde Grundlage für die intellektuelle Lustsuche darstellt, und uns in die Lage versetzt, die neu entdeckten Sachverhalte richtig einzuordnen. Die universelle Anwendung des logischen Positivismus würde uns sehr weit vom Dschungel entfernen.

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Doch die meisten Menschen wachsen mit den bevorzugten Bahnen auf, die ihnen ihre Eltern, Priester oder Lehrer aufgezwungen haben. Diese manipulierten Bahnen ermöglichen die geistigen Phänomene, die man »vorgefaßte Meinungen« und »Vorurteile« nennt. Derartige Bahnen wurden so früh im Leben und so geschickt, angelegt, daß die meisten Menschen sich gar nicht bewußt sind, daß sie sie »gelernt« haben, wie sie sich ja auch ihres Laufenlernens nicht bewußt sind. Daß diese Bahnen tatsächlich durch Manipulation errichtet wurden, kann man mit Hypnose oder während einer Psychoanalyse leicht nachweisen, doch die meisten Menschen wollen nur ungern glauben, daß diese Bahnen, die ihren Geist und ihre Persönlichkeit ausmachen, überhaupt nicht von ihnen selbst stammen. Sie wollen nicht glauben, daß sie wie eine Maschine funktionieren.

Trotzdem ist der Mensch, dessen Verhalten auf manipulierten bevorzugten Bahnen beruht, nicht weniger eine Maschine als der Computer, der sich einem ihm eingegebenen Programm entsprechend verhält. Gleichartige Computer mit verschiedenen Programmen verhalten sich auch unterschiedlich; gleichartige Gehirne haben einen verschiedenen Geist, wenn sie verschiedenartige bevorzugte Bahnen aufweisen. Es liegen somit gewichtige Anhaltspunkte dafür vor, daß die Welt vorwiegend mit Robotern bevölkert ist. Es sollte also deutlich geworden sein, daß die wichtigste Form der Steuerung des Geistes, die für eine angemessene Erfüllung des Lebensrechts eines jeden Individuums erforderlich ist, in der Selbststeuerung besteht. Individualität, persönliche Freiheit und ein nicht-mechanisches Leben können wir nur dann erringen, wenn wir unsere bevorzugten Bahnen selbst bestimmen.

Hier muß man sich vor einem Irrtum hüten. Wir können zum Altruismus oder zur Grausamkeit manipuliert werden, wer wir auch immer sein und welches Bildungsniveau wir auch haben mögen, sofern wir nicht gelernt haben, eigenständig zu denken. Im Zusammenhang mit Altruismus haben die Experimente von Dr. David Rosenhan vom Swathmore College, Pennsylvania, aufgedeckt, wie leicht Kinder dazu gebracht werden können, für wohltätige Zwecke zu spenden, indem man es ihnen einige Minuten lang ohne moralisierende Worte oder Belehrungen nur vormacht. Die Kinder spielten ein Tischkegelspiel mit dem Versuchsleiter. Jeder geschickte Kugelwurf wurde mit zwei »Gutscheinen« belohnt, die in einem benachbarten Geschäft eingelöst werden konnten.

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Die Kinder waren in zwei Gruppen aufgeteilt. Wenn der Versuchsleiter mit den Kindern der einen Gruppe spielte, steckte er jedesmal, wenn er gewann, einen seiner zwei Gutscheine beiläufig und ohne Bemerkung in eine Büchse mit der Aufschrift »Sammlung für Waisenkinder«. Bei den Kindern aus der anderen Gruppe spendete der Versuchsleiter nichts. Die Sammelbüchse wurde niemals erwähnt, und der Versuchsleiter zeigte keinerlei Reaktion, ob nun ein Kind einen Gutschein spendete oder nicht. Nach einiger Zeit ging der Versuchsleiter hinaus und ließ die Kinder alleine spielen. Durch einen Spionspiegel konnte er sie aber unbemerkt beobachten, und es zeigte sich, daß keines der Kinder aus der zweiten Gruppe etwas in die Sammelbüchse steckte, während fast jedes zweite Kind aus der ersten Gruppe einen erheblichen Teil der Belohnungsgutscheine für die Waisenkinder hergab. Wie Dr. Rosenhan sagt, »haben altruistische modellhafte Verhaltensweisen selbst unter eingeschränkten Laboratoriumsbedingungen die Wirkung, den Altruismus bei Kindern zu fördern«.

 

Die meisten von uns nehmen sich solche Erkenntnisse zu Herzen, doch die Hirnprozesse sind nicht immer auf das Gute ausgerichtet. 

Die Untersuchung von S. Milgram, die 1968 im <Journal of Abnormal and Social Psychologe> veröffentlicht wurde, führte zu der Einsicht, daß jeder zufällig ausgewählte Mensch zu eindeutig grausamen Handlungen in der Lage ist, wenn man ihm nur sagt, daß diese Handlungen einer guten Sache dienen.

Schüler von Milgram, die sich als Versuchspersonen in einem Experiment ausgaben, wurden auf einen elektrischen Stuhl geschnallt, und die eigentlichen Versuchspersonen, die nicht wußten, was gespielt wurde, forderte man auf, einen Hebel zu drücken, sobald die Person auf dem elektrischen Stuhl bei einer sprachlichen Prüfung einen Fehler machte, um ihr so einen elektrischen Schock zu versetzen; die Stromspannung wurde jedesmal erhöht, um eine stärkere Schockwirkung zu erzielen. Obwohl die eigentlichen Versuchspersonen selbst einen Probeschock von 45 Volt erhalten hatten, verabreichten sie der Person im Stuhl Stromstöße bis zu 450 Volt, selbst wenn das festgeschnallte Opfer unter den vermeintlichen Schmerzen und Qualen deutlich sichtbar litt.

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Einige der Henkersknechte legten hie und da Einspruch ein, teilten dann aber wieder, wie sie glaubten, weitere Schocks aus, weil sie der Versuchsleiter dazu aufgefordert hatte — allerdings ohne irgendwelchen Druck auf sie auszuüben. Diese Möglichkeit der Steuerung des Geistes bis hin zur Grausamkeit ist im Laboratorium mehrfach bestätigt worden. Daraus erklärt sich vielleicht die Mühelosigkeit, mit der der Mensch zur Errichtung von Konzentrationslagern, zur Bombardierung ganzer Landstriche oder zu Folterungen verführt werden kann. Die Selbststeuerung des Geistes könnte das verhindern.

Soweit wir wissen, kann nur der Mensch seinen Geist steuern, denn nur der Mensch ist zur Selbst­beobachtung imstande. Nur der Mensch kann Nervenimpulse willkürlich aus einer Denkregion in eine andere leiten; das geschieht nämlich, wenn wir über ein bestimmtes Problem nachdenken, und wenn wir eine bestimmte Haltung diesem Problem gegenüber einnehmen. Weshalb das die meisten Menschen nicht tun, liegt teils daran, daß sie nicht wissen, wie man es macht, und teils daran, daß es mühselig und zeitraubend ist. Es zeigt sich aber, daß jede neue Generation immer mehr Menschen hervorbringt, die ihren Geist in eben diesem neurophysiologischen, nicht-überheblichen Sinne selbst gestalten können und es auch tun.

Doch wir brauchen nicht auf Zufallsmutationen zu warten, um Menschen mit dieser wertvollen Begabung hervorzubringen. Jeder gesunde, normale Mensch kann sich die Kenntnisse aneignen, die ihn in die Lage versetzen, für ihn wünschenswerte bevorzugte Bahnen in seinem Gehirn zu errichten, und viele davon werden gewiß mit denen zusammenfallen, die er bereits besitzt. Es ist eine Frage des logischen Denkvermögens, der Absage an die kritiklose Übernahme von »anerkannten« Lehrmeinungen, der sachlichen Abwägung des Verhältnisses zwischen den vorliegenden Glaubensmeinungen und den Tatsachen und der Ablehnung all dessen, was nicht mit diesen Tatsachen übereinstimmt.

Das bedeutet, daß viele Verhaltensweisen und Anschauungen, an die wir zur Zeit noch fest glauben, in den Bereich des »Ich weiß es nicht« verbannt werden müssen. Das allein genügt vielleicht schon, um nachdrückliche, aufrührerische und gewalttätigen Versuche scheitern zu lassen, ein auf Emotionen beruhendes System durch einen gleichermaßen untermenschlichen Glauben zu ersetzen.

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Dadurch werden die Eltern in die Lage versetzt, ihren Kindern nicht länger ein bequemes, aber inadäquates Wunschdenken einzutrichtern. Sie lassen sich dann vielleicht davon überzeugen, daß sie ihren Kindern zwar etwas gute Manieren, Anstand und die Achtung vor den Mitmenschen beibringen sollen, was für das heutige Leben eben erforderlich ist, daß sie aber gleichzeitig die Notwendigkeit des rationalen Denkens und der kritischen Analyse in den Vordergrund stellen müssen. Wissen heißt das angestrebte Ziel, nicht Glaube.

Die experimentelle Arbeit, die fest im Boden der Neurologie, Psychiatrie und Soziologie verankert ist, weist nachdrücklich auf die Tatsache hin, daß das »Denken«, sobald es rational und systematisch abzulaufen beginnt, wie ein »Umwelteinfluß« wirken kann. Das Denken kann auf materielle Weise zu einer Neuordnung, Errichtung und Umwandlung von bevorzugten Bahnen im Gehirn führen und dem Individuum so die Macht erteilen, seinen Geist mit Bedacht selbst zu gestalten. Wenn »Freiheit« einen realen und nicht nur einen imaginären Sinn haben soll, dann ist er eben darin zu sehen.

In den letzten Kapiteln des Buches von Professor Delgado werden diese neuartigen Gedanken ausführlich behandelt, und ich rate jedem, dies Buch zu lesen. Professor Delgado hat mir freundlicherweise gestattet, seine »Behauptungen zur Psychogenese« hier vollständig wiederzugeben:

1. Zur Zeit der Geburt existiert der Geist noch nicht.

2. Ohne sensorische Einwirkungen kann der Geist nicht erscheinen.

3. Persönlichkeit und individuelles Verhalten sind keine Eigenschaften des Gehirns, die sich automatisch durch Ausreifen der Nervenzellen entfalten. Es sind vielmehr erworbene Funktionen, die gelernt werden müssen. Deshalb hängen sie wesentlich von aufgenommenen sensorischen Reizen ab.

4. Sinn der Erziehung ist nicht das Enthüllen individueller Geistesfunktionen, sondern ihre Schöpfung, ihre Entfaltung.

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5. Symbole aus der Umwelt werden physikalisch so innerhalb des Gehirns eingegliedert wie molekulare Veränderungen in der Struktur der Nervenzellen.

6. Der Mensch wird nicht frei geboren, sondern ist Erbanlagen und Erziehung Untertan.

7. Persönliche Freiheit wird weder vererbt noch von der Natur geschenkt. Sie ist eine der höchsten zivilisatorischen Errungenschaften, die Bewußtsein, intellektuelle und gefühlsmäßige Schulung erfordert, um Alternativen, die die Umwelt bietet, zu verarbeiten sowie vernünftig und bewußt zwischen ihnen zu unterscheiden.

8. Erziehung sollte nicht autoritär sein, weil dadurch die geistige Beweglichkeit eingeengt und schöpferisches Tun behindert wird. Konformes Verhalten oder übermäßige Ablehnung und offener Widerstand sind die Folge. Erziehung sollte aber auch nicht antiautoritär sein, weil sich dann andere Automatismen entwickeln, die durch bestimmte rein zufällige Umwelteinflüsse zustande kommen.

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Diese Thesen eröffnen den Blick auf eine psychozivilisierte Gesellschaft. Eine der wichtigsten Aufgaben, denen sich jedes verantwortungsbewußte Individuum stellen muß, besteht darin, die untermenschliche Natur und soziale Wertlosigkeit von Verhaltensweisen einzusehen, die auf sensorische Lustsuche ausgerichtet sind; daraus folgt, daß sie in keinem nennenswerten Umfang mehr auftreten sollten, daß man aufhören sollte, deren kommerzielle Ausnutzung zu unterstützen, und daß man aufhören sollte, den Kindern beizubringen, Tapferkeit hätte irgendeinen menschlichen Wert.

Zweitens müssen wir die menschliche Fähigkeit zur Aktivierung der Lustareale, wie ich sie beschrieben habe, verstehen und einsehen, daß jeder normale Mensch die hirnphysiologischen Möglichkeiten besitzt, wertvolle menschliche Verhaltensweisen zu pflegen. Drittens müssen wir alle magischen Erklärungen des menschlichen Verhaltens, der menschlichen Verantwortlichkeit und der Alltagsphänomene vollständig ablehnen.

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Viertens müssen wir uns einer Lehre und Ausbildung in der menschlichen Verwendung des Geistes unterziehen, indem wir die Fähigkeit des rationalen Denkens und der vernünftigen Beurteilung von Tatsachen erwerben.

Fünftens müssen wir in uns und in anderen die Fähigkeit zur Selbststeuerung des Geistes entwickeln, so daß die intellektuelle Aktivierung unserer Lustareale eher auf dem Niveau der menschlichen Würde geschieht und nicht als Resultat eines Roboters.

Sechstens müssen wir jeden Ansatz und jede Forschungsarbeit auf den Gebieten der Hirnfunktion, der Steuerung des Geistes, des Verhaltens, der Erziehung, der Soziologie und in ähnlichen Bereichen mit allen Mitteln tatkräftig unterstützen, so daß der Mensch in die Lage versetzt wird, die relevanten Vorgänge im Reich des Geistes ebenso zuverlässig zu verfolgen wie die Spaziergänge der Astronauten auf dem Mond.

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Ich bin mir darüber im klaren, daß das leicht zu schreiben und einfach zu lesen ist, und daß es viel Zeit und Kraft erfordert, diese Überlegungen in die Tat umzusetzen. Doch schließlich stehen Zeit und Kraft jedem von uns zur Verfügung. Niemand kann sich mit unzureichenden Geisteskräften, mit intellektueller Armut entschuldigen. Im Krieg ist es kein großes Problem, Männer aus Werkstätten, Fabriken oder anderen wenig intellektuellen Tätigkeitsbereichen herauszuholen und sie rasch zu Navigatoren, Radartechnikern und anderen Arten von Geistesarbeiten zu machen.

Der Psychologe L. Hudson konnte mit einer Untersuchung nachweisen, daß Männer, die es in der Politik, in der Justiz oder in der Wissenschaft zu hohem Ansehen gebracht haben, keine besseren Schulnoten aufweisen als viele weniger erfolgreiche Zeitgenossen. 23 Prozent der Mitglieder der britischen Royal Society haben nur zweit- oder drittklassige Schulnoten, ebenso 43 Prozent der Träger von Doktorhüten. Es stellte sich heraus, daß 66 Prozent der britischen Regierungsmitglieder und 54 Prozent der Richter des Obersten Gerichtshofs lediglich durchschnittliche Zeugnisse vorzuweisen haben. Es kann also überhaupt kein Zweifel daran bestehen, daß es nicht von dem, was man gewöhnlich mit »Geisteskräften« meint, abhängt, ob jemand intellektuelle Aktivität zur Stimulierung seiner Lustareale entwickelt oder nicht.

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Von der überwiegenden Mehrzahl der Menschen, und das sind gewiß alle diejenigen, die ein »gewöhnliches« Leben führen, kann man annehmen, daß sie alle bei der Geburt mit denselben Möglichkeiten des menschlichen Gehirns angetreten sind.

Ihre gegenwärtige Situation erklärt sich aus den Erfahrungen in der Vergangenheit und aus dem Grad ihrer geistigen Trägheit. Doch ist jeder einzelne in der Lage, sein Gehirn und damit seinen Geist zu verändern — seine Meinungen, seine Glaubenshaltungen und seine Einstellungen: Das alles sind einfach die Auswirkungen der bevorzugten Nervenbahnen. In unserem eigenen Interesse sollten wir dem angenehmen und bequemen, aber doch völlig falschen Glauben den Rücken kehren, daß »der Mensch sich nicht ändern läßt«.

Jahrhundertelang ist die Welt von einer intellektuellen Elite manipuliert worden, selbst in jenen Bereichen, wo die unteren Klassen die Macht auszuüben scheinen. In Wirklichkeit haben die unteren Klassen oft einfach nur die Macht, den ideologischen Lehren der Denker, von denen sie beherrscht werden, zuzuhören und ihnen zu applaudieren, egal ob es sich dabei um Politiker oder um Abteilungsleiter handelt. Wenn Versuche, diese Situation zu ändern, von emotional bestimmten Gehirnen unternommen werden, dann kann keine anhaltende Besserung eintreten, sondern nur ein scheinbarer Wechsel zum Besseren, der nach kurzer Zeit schon wiederum als unlustbetont empfunden wird. Jeder einzelne muß darauf hinarbeiten, seine Denk-Lust an den Tatsachen und an der Vernunft zu orientieren, und sich bemühen, seinen Kindern oder Schülern die Errichtung eben solcher Nervenbahnen zu erleichtern.

Ein überwältigendes Hindernis für den sozialen Fortschritt ist die spielerische Mühelosigkeit, mit der die Lustareale aktiviert werden können. Sie ist ein sicheres und unfehlbares Anzeichen für Unter­mensch­lichkeit, sie sollte deshalb in unserem Leben von untergeordneter Bedeutung sein und keinesfalls die Triebfeder unseres Tuns.

Der Aufwand an Anstrengungen, mit dem wir den Erwerb der Fertigkeit betreiben, die Lustareale vorwiegend mit Hilfe der höheren Hirnregionen zu aktivieren, ist in etwa ein Maß für den zu erwartenden Erfolg auf einem beliebigen Tätigkeitsfeld. Die Bemühungen dienen aber auch als Mittel zur Einschätzung des Menschen.

Wenn wir vor allem durch beschwerliche intellektuelle Tätigkeiten unsere Lustareale aktivieren, dann können wir uns ehrlichen Herzens, sachlich und wissenschaftlich gerechtfertigt, sagen, daß wenigstens wir wahre Menschen sind. Vieles deutet darauf hin, daß immer mehr Menschen auf diese Weise vorgegangen sind, auch wenn sie vielleicht nicht genau wußten warum. Jetzt wissen sie es. Und sie wissen auch, daß die Gesetze der Biologie auf ihrer Seite stehen.

Wenn es auch Millionen sind, die weiterhin ihr Leben in einer sensorischen Geisteshaltung und losgelöst von der menschlichen Gemeinschaft, die sie ernährt, führen wollen, so wird doch jede Generation immer mehr wahre Menschen hervorbringen, und zwar nicht durch Zufall, sondern als Folge des Planes derer, die die Menschlichkeit einer psychozivilisierten Gesellschaft erkannt haben. Zu diesem Zweck haben sich ja schließlich unsere Lustareale entwickelt.

Im Hinblick auf die Beherrschung der Umwelt hat der Mensch seine technische Überlegenheit gegenüber dem Tier eindeutig bewiesen. Jetzt, wenn nicht schon früher, ist die Zeit reif, seine biologische Überlegen­heit unter Beweis zu stellen, indem er planmäßig bevorzugte Bahnen errichtet und damit seinen Geist beherrscht.

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Ende

 

 

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Campbell-1973