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Prolog: Der Mono-Mythos
1. Mythos und Traum
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Ob wir dem traumartigen Hokuspokus eines rotäugigen Hexendoktors vom Kongo mit überlegenem Wohlwollen zuhören oder uns mit kultivierter Geste dünnen Übersetzungen der mystischen Sonette des Laotse überlassen, ob es einer der gepanzerten Beweisgänge des Aquinaten ist, deren Schale wir hin und wieder einmal aufbrechen, oder ein bizarres Eskimomärchen, dessen Sinn uns jäh aufleuchtet: immer wird es ein und dieselbe, bei allem Wechsel merkwürdig konstante Geschichte sein, auf die wir treffen, und immer ist sie begleitet vom Bewußtsein eines Überschusses, dessen wir noch nicht habhaft geworden sind und der nie erschöpfend erkannt oder ausgesprochen werden wird.
So weit die bewohnte Welt reicht, zu allen Zeiten und unter den verschiedensten Umständen haben die Mythen der Menschheit geblüht und mit ihrem Leben inspiriert, was sonst noch aus den körperlichen und seelischen Tätigkeiten des Menschen hervorgegangen ist. Ohne Übertreibung läßt sich sagen, daß der Mythos der geheime Zufluß ist, durch den die unerschöpflichen Energien des Kosmos in die Erscheinungen der menschlichen Kultur einströmen. Religionen, Philosophien, Künste, primitive und zivilisierte Gesellschaftsformen, die Urentdeckungen der Wissenschaft und Technik, selbst die Träume, die den Schlaf erfüllen, all das gärt empor aus dem magischen Grundklang des Mythos.
Das Seltsame ist, daß das charakteristische Vermögen, tiefliegende schöpferische Zentren zu berühren und zu wecken, auch dem geringsten Kindermärchen eigen ist, nicht anders, als der Geruch des Ozeans in einem winzigen Tropfen oder das ganze Geheimnis des Lebens in einem Fliegenei enthalten ist. Denn die mythischen Symbole sind nicht gemacht und können weder bestellt, erfunden noch dauernd unterdrückt werden. Sie sind spontane Hervorbringungen der Psyche, und jedes trägt in sich, als unbeschädigten Keim, die Kraft seines Ursprungs.
Was ist das Geheimnis der zeitlosen Vision?
Von welchen Tiefen des Geistes leitet sie sich her?
Warum ist der Mythos allerorten sich gleich, mag auch sein Gewand wechseln?
Und was ist seine Lehre?
Heutzutage gibt es viele Wissenschaften, die zur Lösung des Rätsels beitragen. Es gibt Archäologen, die den Ruinen im Irak, in Honan, auf Kreta und Yucatan nachforschen, es gibt Ethnologen, die die Ostiaks am Ob oder die Boobies von Fernando Po befragen. Jüngst hat eine Generation von Orientalisten uns die heiligen Schriften des Ostens und die vorhebräischen Quellen unserer eigenen Heiligen Schrift eröffnet, während zugleich eine andere Gruppe von Gelehrten Forschungen vorangetrieben hat, die im vorigen Jahrhundert auf dem Gebiet der Völkerpsychologie aufgenommen worden waren, um dem psychologischen Ursprung von Sprache, Mythos, Religion, Kunstentwicklung und Moralsystemen auf den Grund zu kommen.
Am bemerkenswertesten von all dem sind jedoch die Aufschlüsse, welche die Psychopathologie geliefert hat. Die kühnen und wahrhaft epochemachenden Schriften der Psychoanalytiker sind für den, der den Mythen nachgeht, ganz unerläßlich, denn Freud, Jung und ihre Schüler haben, wie immer die detaillierte und manchmal widerspruchsvolle Deutung bestimmter Einzelfälle und Probleme zu beurteilen ist, zwingend dargetan, daß die Logik, die Helden und die Taten des Mythos im modernen Zeitalter noch lebendig fortbestehen. Eine wirksame gemeinschaftliche Mythologie fehlt, aber jeder von uns hat sein privates, unerkanntes, verkümmertes und doch insgeheim machtvolles Traumpantheon. Die letzte Inkarnation des Oedipus mag diesen Nachmittag an der Ecke der Fifth Avenue und der zweiundvierzigsten Straße stehen und auf das Verkehrslicht warten, das ihm den Übergang freigibt.
So berichtet ein junger Amerikaner von folgendem Traum:
»Ich träumte, daß ich dabei war, unser Dach mit neuen Schindeln zu versehen. Plötzlich hörte ich die Stimme meines Vaters von unten nach mir rufen. Ich drehte mich jäh um, um ihn besser zu hören, und dabei glitt mir der Hammer aus der Hand, rutschte das Dach hinab und verschwand über die Kante. Ich hörte ein schweres Plumpsen, wie von einem fallenden Körper.
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Furchtbar erschrocken, kletterte ich die Leiter zur Erde hinab. Da lag mein Vater tot am Boden, mit blutendem Kopf. Ich war verzweifelt und fing an, schluchzend nach meiner Mutter zu rufen. Sie kam aus dem Haus und nahm mich in ihre Arme. <Reg dich nicht auf, Junge, es war eben ein Unfall>, sagte sie. <Ich weiß, daß du dich um mich kümmern wirst, auch wenn er nicht mehr da ist.> Als sie mich küßte, wachte ich auf.
Ich bin das älteste Kind in unserer Familie und dreiundzwanzig Jahre alt. Seit einem Jahr bin ich von meiner Frau getrennt; irgendwie konnten wir nicht miteinander auskommen. Ich liebe meine beiden Eltern sehr und habe mit meinem Vater nie Schwierigkeiten gehabt, ausgenommen nur, daß er darauf bestand, daß ich zurückgehen und mit meiner Frau leben sollte. Aber ich konnte mit ihr nicht glücklich sein. Und ich werde es nie sein.«1)
Was der unglückliche Ehemann hier mit wahrhaft rührender Naivität berichtet, ist nichts anderes, als daß er, anstatt seine geistigen Energien der Liebe und den Problemen der Ehe zuzuwenden, in den geheimen Rückwendungen seiner Phantasie bei der nun lächerlich anachronistisch gewordenen Situation seiner ersten und einzigen emotionellen Erfahrung stehengeblieben ist, der des tragikomischen Dreiecks des Säuglingsstadiums, in dem der Sohn gegen den Vater ist, weil er die Liebe der Mutter will.
Die dauerhaftesten Anlagen der menschlichen Seele sind offenbar die, die sich von der Tatsache herleiten, daß wir von allen Tieren am längsten bei der Mutterbrust verweilen. Die Menschen werden zu früh geboren, sie sind noch nicht fertig und bereit, es mit der Welt aufzunehmen. So ist die Mutter ihr einziger Schutz vor einem Universum von Gefahren, und dieser Schutz bedeutet eine Verlängerung des Embryostadiums.2)
Deshalb bilden das hilflose Kind und die Mutter noch Monate nach der Geburtskatastrophe eine Doppeleinheit, nicht nur körperlich, sondern auch seelisch.3) Jede längere Abwesenheit der Mutter erzeugt im Kind eine Spannung, die zu aggressiven Impulsen führt, und ähnlich ist es, wenn sie ihm etwas verbieten muß.
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So ist das erste Objekt der Liebe identisch mit dem ersten Objekt des Hasses, und das erste Ideal, das auch allen späteren Vorstellungen von Segen, Wahrheit, Schönheit und Vollkommenheit noch unbewußt zugrunde liegt, ist das der Doppeleinheit von Madonna und Jesusknabe.4)
Der erste radikale Einbruch einer anderen Realitätsordnung in diese Fortsetzung des glücklichen Zustandes im Mutterschoß geht von dem unglückseligen Vater aus, der deshalb vor allem als Feind erfahren wird. Auf ihn wird die Aggressionsladung übertragen, die ursprünglich an der »schlechten«, der abwesenden Mutter haftete, während der Wunsch nach der »guten«, der gegenwärtigen, nährenden und schützenden Mutter bei dieser selbst, wenigstens im normalen Fall, verbleibt. Diese verhängnisvolle Verteilung der infantilen Todes- und Sexualtriebe bildet die Grundlage für den heutzutage allgemein bekannten Ödipuskomplex, von dem Freud vor fünfzig Jahren gezeigt hat, daß er die eigentliche Ursache ist, wenn im erwachsenen Leben das rationale Verhalten seelisch gestört ist. Bei Freud heißt es:
»König Ödipus, der seinen Vater Laios erschlagen und seine Mutter Jokaste geheiratet hat, ist nur die Wunscherfüllung unserer Kindheit. Aber, glücklicher als er, ist es uns seitdem, sofern wir nicht Psychoneurotiker geworden sind, gelungen, unsere sexuellen Regungen von unseren Müttern abzulösen, unsere Eifersucht gegen unsere Väter zu vergessen.«5)
Und an einer anderen Stelle: »Alle krankhaften Störungen des Geschlechtslebens sind mit gutem Rechte als Entwicklungshemmungen zu betrachten.«6)
Denn viele Menschen sahen auch in Träumen schon
Sich zugesellt der Mutter: Doch wer alles dies
Für nichtig achtet, trägt die Last des Lebens leicht.7)Die schwierige Lage der Frau eines Mannes, dessen Gefühle in der Erinnerung an die Säuglingssituation befangen bleiben, anstatt zu reifen, mag aus dem in seiner manifesten Gestalt unsinnigen Inhalt eines anderen modernen Traums ersichtlich werden, und dabei beginnen wir in der Tat zu spüren, daß wir, mit einer seltsamen Wendung, in den Bereich des archaischen Mythos eintreten.
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»Ich träumte«, schrieb eine Frau, die derartige Sorgen hatte,
»daß ein großes weißes Pferd mir überallhin nachfolgte. Ich fürchtete mich vor ihm und stieß es weg. Als ich mich umblickte, um zu sehen, ob es mir immer noch folgte, war es zu einem Mann geworden. Ich sagte ihm, er solle in einen Friseurladen gehen und seine Mähne abrasieren lassen, was er auch tat. Als er herauskam, sah er genau wie ein Mann aus, nur hatte er Pferdehufe und einen Pferdekopf, und folgte mir überallhin. Er näherte sich mir, und ich erwachte. Ich bin eine verheiratete Frau von fünfunddreißig Jahren und habe zwei Kinder. Ich bin jetzt seit vierzehn Jahren verheiratet und weiß, daß mein Mann mir treu ist.«8)
Das Unbewußte sendet alle möglichen Dünste, Fratzenwesen, Schrecken und beirrenden Bilder ins Bewußtsein, im Traum, am lichten Tag oder in den Geisteskrankheiten, denn der menschliche Bereich erstreckt sich unter dem Boden der vergleichsweise heimeligen kleinen Zuflucht, die wir unser Bewußtsein nennen, in ungekannte Schächte und Höhlen, wie Aladdin eine betrat. Dort sind nicht nur Juwelen, sondern auch böse Geister verborgen, nämlich die unbequemen und verdrängten seelischen Impulse, die wir, sei's aus Gedankenlosigkeit, sei's aus Furcht, von unserem Leben abgesperrt haben. Sie bleiben uns unbekannt, wenn nicht ein Zufall — ein Wort, der Geruch einer Landschaft, der Geschmack einer Schale Tee, ein Augenaufschlag — eine magische Quelle aufspringen läßt, die bedrohliche Boten ins Gehirn entsendet.
Bedrohlich sind sie deshalb, weil sie die Sekurität, in die wir uns und unsere Familie eingesponnen haben, ins Wanken bringen. Zugleich aber erstrahlen sie auch in verführerischer Faszination, weil sie Schlüssel bringen, die den Weg öffnen zu dem ersehnten und gefürchteten Abenteuer der Selbstentdeckung. Zerstörung der Welt, die wir uns erbaut haben und in der wir leben, und damit auch unseres Selbst; dann aber ein wunderbares Wiedererstehen in einem kühneren, reineren, weiteren und ganz menschlichen Leben — das ist die Lockung, das Versprechen und die Drohung dieser verstörenden Boten aus dem nächtigen Reich des Mythologischen in uns.
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Die Psychoanalyse, die zur Wissenschaft gewordene Traumdeutung, hat uns die Bewältigung dieser unwirklichen Bilder gelehrt. Zugleich hat sie einen Weg gefunden, der es ihnen erlaubt, ihr Werk zu tun. Man läßt die gefährlichen Entwicklungskrisen unter dem schützenden Auge eines Führers, der im Reich der Träume und in ihrer Sprache bewandert ist, zum Vorschein kommen. Der Arzt, der in unserer Welt das Mythische zu meistern hat und um all seine Schliche und Formeln weiß, übernimmt dann die Rolle und den Charakter des alten Mystagogen, des Seelenführers und des Medizinmannes der Waldheiligtümer, in denen bei den Primitiven Prüfung und Initiation sich abspielten.
Seine Funktion ist genau die des weisen Alten der Mythen und Märchen, dessen Worte dem Helden in den Prüfungen und Schrecken seiner unheimlichen Fahrt beistehen, der ihm erscheint und ihm das strahlende Zauberschwert zeigt, das den Terror des Drachens brechen wird, ihm von der wartenden Braut erzählt und dem mit Schätzen angefüllten Schloß, ihm heilenden Balsam in die gefährlichen Wunden gießt und schließlich den Sieger in das gewöhnliche Leben entläßt, immer die Fahrt in die lockende Nacht begleitend.
Abb. 1. Silene und Mänaden
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Wenn wir uns nun, von dieser Vorstellung geleitet, den zahlreichen, fremdartigen Riten zuwenden, die von den primitiven Stämmen und den alten Hochkulturen berichtet werden, so zeigt es sich, daß deren Zweck und tatsächliche Wirkung die ist, den Menschen über jene schwierigen Lebensschwellen hinwegzuhelfen, bei deren Passieren eine Strukturänderung nicht nur des bewußten, sondern auch des unbewußten Lebens zu vollziehen ist. Die Übergangsriten — die Zeremonien bei der Geburt, Namensgebung, Pubertät, Hochzeit, Bestattung —, die im Leben der primitiven Gruppen eine so wichtige Rolle spielen, zeichnen sich aus durch förmliche und meist sehr harte Trennungsexerzitien, die den Geist mit der Wurzel von den Attitüden, Bindungen und Lebensgewohnheiten des beendeten Stadiums losreißen.9)
Ihnen folgt eine kürzere oder längere Spanne der Zurückgezogenheit, ausgefüllt mit Riten, die den Kandidaten in den Formen und Gefühlen einüben sollen, die seiner neuen Rolle angemessen sind, so daß er, wenn schließlich die Zeit zur Rückkehr ins profane Leben herangereift ist, so gut wie neugeboren in dieses eintritt.10)
Erstaunlich ist die Tatsache, daß viele jener rituellen Prüfungen und Bilder denen entsprechen, die sich automatisch im Traum einstellen, wenn der analysierte Patient sich von seinen infantilen Fixierungen zu lösen und in die Zukunft einzutreten beginnt. Bei den australischen Eingeborenen bildet die Beschneidung einen wesentlichen Bestandteil der Initiationsriten, die den Jüngling in der Pubertät von der Mutter losreißen und in die Geheimnisse des Männerbundes aufnehmen.
»Wenn ein Jüngling vom Stamm der Murngin beschnitten werden soll, wird ihm von seinem Vater und von den alten Männern gesagt: <Die Große Vaterschlange riecht deine Vorhaut und verlangt sie.> Die Knaben halten das für buchstäblich wahr und bekommen große Angst. Meist flüchten sie sich zu ihrer Mutter oder zu deren Mutter oder zu sonst einer bevorzugten weiblichen Verwandten, weil sie wissen, daß die Männer sich zusammengetan haben, sie zu ihrem Versammlungsplatz zu holen, wo die große Schlange brüllt. Die Frauen stimmen über die Knaben ein rituelles Geheul an, das die große Schlange davon abhalten soll, sie zu verschlingen.«11)
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Man vergleiche das Gegenstück im modernen Unbewußten: »So fand ich in einem Traum bei einem Patienten folgendes Bild: <Eine Schlange schießt aus einer feuchten Höhlung hervor und beißt den Träumer in die Genitalgegend.> Dieser Traum fand statt in dem Moment, wo sich der Patient von der Richtigkeit der Analyse überzeugte und anfing, sich aus dem Banne seines Mutterkomplexes zu befreien.«12)
Immer hatten Mythen und Riten vor allem die Funktion, die Symbole zu liefern, die den Menschen vorwärtstragen, und den anderen, ebenso konstanten Phantasiebildern entgegenzuwirken, die ihn an die Vergangenheit ketten wollen. Es ist durchaus möglich, daß die große Häufigkeit der Neurosen in unserer Kultur ihren Grund im Verfall jener mythologischen Instanzen hat, die dem Individuum wirksam den Rücken stärkten. Wir bleiben an den unbewältigten Fixierungen der Kindheit hängen und sträuben uns deshalb gegen die Verwandlungen, die das Heranwachsen notwendig macht.
In den Vereinigten Staaten hat diese Verkehrung sogar ihr Pathos gefunden: das Ziel ist nicht, alt zu werden, sondern jung zu bleiben, nicht der Mutter zu entwachsen, sondern sich an sie zu klammern.
So kommt es, daß Ehemänner, wenn sie sich bemühen, die Rechtsanwälte, Geschäftsleute und selbständigen Köpfe zu sein, als die ihre Eltern sie sehen wollten, nur die Altäre ihrer Jugend beweihräuchern, während ihre Frauen auch nach vierzehnjähriger Ehe, mit zwei wohlgeratenen Kindern, die schon heranwachsen, noch nach der Liebe suchen, die sie nur von Kentauren, Silenen, Satyrn und anderen lüsternen Inkubi aus der Rotte des Pan noch zu erwarten haben, sei es im Moment von Träumen wie den oben zitierten, sei es in unseren öffentlichen, vanillefarbenen Tempeln der Liebesgöttin, unter dem Make-up der jüngsten Leinwandhelden.
Der Psychoanalytiker muß kommen, um endlich wieder das erprobte Wissen in den alten, der Zukunft zugewandten Lehren der maskierten Schamanen und Hexendoktoren zu bestätigen, wobei sich herausstellt, wie etwa in jenem Traum vom Schlangenbiß, daß im Augenblick der Lösung die zeitlose Initiationssymbolik vom Patienten selber produziert wird.
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Offenbar enthalten die Initiationsbilder etwas der Seele so Notwendiges, daß sie in einer Welt, die sie nicht von außen, durch Mythos und Ritual, heranträgt, wieder von innen, durch den Traum, bemerkbar gemacht werden müssen, wenn nicht unsere Energien in einem banalen, längst überholten Spielzeugarsenal wie auf dem Meeresgrund versenkt bleiben sollen.
Sigmund Freud betont in seinen Schriften die Umstellungen und Konflikte der ersten Hälfte des menschlichen Lebenszyklus, die der Kindheit und Jugend, wenn unsere Sonne zum Zenith steigt. C. G. Jung dagegen hat mehr die Krisen der zweiten Hälfte betont, wenn die leuchtende Kugel, um fortzuschreiten, sich zu Niedergang und schließlich Verschwinden im nächtlichen Grabesschoß anschicken muß. Die normalen Symbole unserer Wünsche und Ängste kehren sich während dieses Nachmittags der Lebensgeschichte um. Nicht mehr Leben, sondern Tod ist die Forderung. Schwer aufzugeben ist dann nicht mehr der Schoß, sondern der Phallus, wenn nicht schon Lebensmüdigkeit das Herz ergriffen hat und der Tod mit dem Versprechen des Segens ruft, der früher die Lockung der Liebe war.
Wir gehen den vollen Kreis, indem wir vom Grab des Schoßes zum Schoß des Grabes kommen, durch eine vieldeutige und rätselhafte Einkehr in eine Welt fester Materie, die bald wieder von uns schmelzen soll wie der Stoff eines Traums. Und wenn wir zurücksehen auf das, was versprochen hatte, unser ureigenes, unbestimmbares und gefährliches Abenteuer zu werden, so finden wir schließlich eine Reihe fast standardisierter Verwandlungen, wie sie Männer und Frauen in jedem Winkel der Erde, in allen geschichtlichen Jahrhunderten, unter der dünnen Verkleidung aller besonderen Kulturen durchgemacht haben.
Erzählt wird etwa die Geschichte von dem großen Minos, König des kretischen Inselreichs zur Zeit seiner händlerischen Vorherrschaft: wie er den berühmten, kunstreichen Ingenieur Daedalus anstellte, ihm ein Labyrinth zu entwerfen und zu erbauen, um darin etwas verbergen zu können, das den Palast in Scham und zugleich Schrecken versetzte. Denn es lebte ein Ungeheuer dort, das geboren worden war von Pasiphae, der Königin. Es heißt, Minos sei mit wichtigen Kriegen zum Schutz der Handelswege beschäftigt gewesen und indessen sei Pasiphae von einem riesigen, schneeweißen, meergeborenen Stier verführt worden.
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Es war eigentlich nicht schlimmer als das, was Minos' eigene Mutter hatte geschehen lassen: Europa, von der man weiß, daß ein Stier sie nach Kreta trug. Der Stier war der Gott Zeus, und der Sohn dieser heiligen Verbindung war Minos selbst, den man jetzt überall respektierte, verehrte und dem man willig diente. Wie konnte da Pasiphae ahnen, daß die Frucht ihres eigenen Fehltritts ein Ungeheuer sein würde, dieser kleine Sohn mit menschlichem Rumpf, aber mit Stierkopf und Stierschwanz?
In der Öffentlichkeit wurde die Königin ob ihres Mißgeschicks verurteilt, aber der König konnte sich nicht ganz verhehlen, daß ein Teil der Schuld auf ihn fiel. Der fragliche Stier nämlich war lange vorher von dem Gott Poseidon geschickt worden, als Minos mit seinen Brüdern um den Thron kämpfte. Minos hatte sein göttliches Recht auf den Thron geltend gemacht und den Gott beschworen, als Zeichen einen Stier aus dem Meer zu senden; und besiegelt hatte er sein Gebet mit dem Gelübde, das Tier sofort zu opfern, als Symbol seiner Verehrung. Der Stier war erschienen, und Minos hatte den Thron eingenommen. Als er aber der Majestät des Tiers gewahr wurde, das gesandt worden war, und bedachte, welcher Vorteil es sein würde, ein solches Exemplar zu besitzen, entschloß er sich, einen Krämertausch zu wagen, im Glauben, der Gott würde sich hinters Licht führen lassen. So brachte er auf Poseidons Altar den schönsten weißen Stier aus seinem Besitz dar und nahm den anderen zu seiner Herde.
Das kretische Reich hatte geblüht unter der sinnreichen Rechtsprechung dieses berühmten Gesetzgebers und vorbildlichen Staatsmanns. Die Hauptstadt Knossos wurde zum luxuriösen und eleganten Zentrum der führenden Handelsmacht der zivilisierten Welt. Die kretischen Flotten liefen nach jeder Insel und jedem Hafen des Mittelmeers aus, und kretische Ware war in Babylonien und Ägypten geschätzt. Die kühnen kleinen Schiffe wagten sich sogar durch die Säulen des Herakles in den offenen Ozean, um, an der Küste entlangfahrend, das Gold Irlands und das Zinn Cornwalls zu holen13), und im Süden, nach Umschiffung von Senegal, das ferne Yorubaland und die Elfenbein-, Gold- und Sklavenmärkte aufzusuchen.14)
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Zu Hause aber war die Königin durch Poseidon mit hemmungsloser Leidenschaft für den Stier erfüllt worden, und von ihr getrieben, ließ sie sich von Daedalus, dem unvergleichlichen Baumeister ihres Mannes, eine hölzerne Kuh zimmern, die den Stier täuschen sollte. Da schlüpfte sie hinein, und der Stier ließ sich täuschen. Sie gebar ihr Ungeheuer, das bald schon zur Gefahr wurde. Und so wurde Daedalus wiederum, diesmal vom König, aufgeboten, um ein riesiges labyrinthisches Gefängnis mit vielen Sackgassen zu bauen, in dem das Ding zu verbergen wäre. So verschlungen geriet seine Erfindung, daß Daedalus selbst kaum zum Ausgang zurückfinden konnte. Darin wurde der Minotaurus untergebracht und mit lebenden Jünglingen und Jungfrauen gefüttert, die die unterworfenen Nationen des kretischen Herrschaftsbereichs als Tribut liefern mußten.15)
So lag der eigentliche Fehler nach der alten Legende nicht bei der Königin, sondern beim König, und weil er sich dessen bewußt war, konnte er sie nicht wirklich beschuldigen. Er hatte aus einer öffentlichen Angelegenheit privaten Nutzen geschlagen, während der ganze Sinn seiner Investitur als König eben der war, daß er sich nicht länger als Privatperson betrachten konnte. Die Rückgabe des Stiers an den Gott wäre das Symbol seiner unbedingten Unterwerfung unter die Notwendigkeiten seiner Rolle gewesen. Ihre Verweigerung bedeutete daher, daß er statt dessen sein Ich zum Götzen erhob, und aus dem König von Gottes Gnaden wurde der egoistische Tyrann Talos.
Geradeso wie die traditionellen rites de passage das Individuum lehrten, der Vergangenheit abzusterben und der Zukunft neu geboren zu werden, so entkleideten die Investitur-Riten ihn seines privaten Wesens und hüllten ihn in den Mantel seiner Berufung. Das war das Ideal, ob der Mann nun Handwerker war oder König. Durch die sakrilegische Verweigerung des Ritus aber schnitt das Individuum sich als besondere Einheit aus der größeren Einheit der ganzen Gruppe heraus, und so zersplitterte das Eine in die Vielen, die sich bekämpften, jeder auf sein Selbst bedacht, und nur durch Gewalt zu regieren waren.
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Die Figur des tyrannischen Ungeheuers ist allen Mythen, Sagen, Legenden und selbst Angstträumen der Welt geläufig, und im wesentlichen sind ihre Züge überall gleich. Der Tyrann ist der, der den Reichtum des Ganzen an sich rafft, der gierig auf Besitzrechte aus ist. Die Verheerung, die er anrichtet, ist nach den Mythen und Märchen absolut, soweit seine Macht reicht, handle es sich nun nur um seinen Haushalt, seine eigene gequälte Seele, die Menschen, die er durch Berührung, Freundschaft oder Hilfeleistung ansteckt, oder um eine ganze Kultur.
Das aufgeblähte Ich des Tyrannen ist Fluch für ihn selbst und die Welt, gleichgültig, wie seine Geschäfte zu gedeihen scheinen. Terrorisiert von sich selber, gehetzt von Furcht und immer auf dem Sprung, erwartete Aggressionen zurückzuschlagen, die doch nur Spiegelungen seiner eigenen unkontrollierbaren Raffsucht sind, ist der Gigant in seiner usurpierten Unabhängigkeit Sendbote des Weltunheils auch dann, wenn er glaubt, nur humane Absichten zu verfolgen. Wohin er auch seine Hand ausstreckt, schreit es auf, wenn nicht in den Straßen, dann, schlimmer noch, in jedem Herzen, und der Schrei gilt dem erlösenden Helden, dem Träger des leuchtenden Schwertes, dessen Hieb, Berührung oder Existenz das Land befreien soll.
Hier kann man nicht stehen nicht liegen nicht sitzen
Nicht einmal Schweigen ist in den Bergen
Nur trockner Donner unfruchtbarer ohne Regen
Nicht einmal Einsamkeit ist in den Bergen
Nur rote Gesichter verdrossene grinsen und drohen
Aus Türen von rissigen Lehmhäusern.16)Der Held ist der, der in Freiheit sich beugt. Worunter aber, das ist gerade die Rätselfrage, die wir heute uns zu stellen haben und die gelöst zu haben zu jeder Zeit und überall eben die historische Tat und das eigentliche Verdienst des Helden war. Wie Arnold J. Toynbee in seinem sechsbändigen Werk über die Gesetze, nach denen Zivilisationen entstehen und zerfallen17), entwickelt hat, kann Zerrissenheit in Seele und Gesellschaft weder durch restaurative noch durch utopistische Programme noch auch durch dickköpfig-realistische Arbeit, um die zerfallenen Elemente wieder zusammenzuschweißen, geheilt werden.
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Nur Geburt kann den Tod überwinden — Geburt freilich nicht nochmals der alten Verhältnisse, sondern eines Neuen. In der Seele so gut wie in der Gesellschaft kann nur eine unaufhörliche Kette von Wiedergeburten des unablässig wiederkehrenden Todes Herr werden. Denn ohne Wiedergeburt sind es die Siege selber, durch welche die Nemesis vollstreckt wird. Vernichtung kann gerade aus dem sich ergeben, was unsere eigentliche Kraft ausmacht. Gleicherweise zur Falle werden dann Frieden und Krieg, Wechsel und Beharrung. Wenn unser Tag gekommen ist für den Sieg des Todes, kehrt der Tod ein, und wir können nichts tun als uns kreuzigen lassen, um wieder aufzuerstehen, uns zerstückeln lassen, um wiedergeboren zu werden.
Theseus, der Held, der den Minotaurus erschlug, betrat Kreta von außen, als Symbol und Arm der aufsteigenden Zivilisation der Griechen. Sie war das Neue und Lebendige. Aber ebenso kann das Prinzip der Regeneration auch innerhalb der Mauern des Tyrannenreichs gesucht und gefunden werden. Toynbee gebraucht die Begriffe »Ablösung« und »Transfiguration«, um die Krise zu beschreiben, durch welche die höhere geistige Dimension erreicht wird, in der es möglich ist, das Werk der Schöpfung wiederaufzunehmen.
Der erste Schritt, Ablösung oder Abkehr, besteht in einer vorbehaltlosen Verschiebung des Interesses von der äußeren auf die innere Welt, vom Makrokosmos zum Mikrokosmos, in einem Rückzug aus den Verzweiflungen der Wüste draußen in den inneren Bereich ewigen Friedens. Aber dieser Bereich ist, wie wir aus der Psychoanalyse wissen, eben das infantile Unbewußte, der Bereich, in den wir im Schlaf eintauchen und den wir immer in uns tragen. Alle Ungeheuer und geheimen Helfer unserer Kindheit, deren ganze Magie, sind darin zu Hause und außerdem, was noch wichtiger ist, alle die Lebenskräfte, die wir nie zur Verwirklichung im erwachsenen Leben haben bringen können, jene anderen Teile unseres Selbst; denn diese goldene Saat stirbt nicht ab. Wenn nur ein Zipfel der verlorenen Totalität ans Licht des Tages gehoben werden könnte, würden wir eine wunderbare Ausweitung unserer Kräfte und frische Erneuerung des Lebens erfahren, und unsere innere Statur würde riesenhaft. Und wenn wir etwas heraufholen könnten, was nicht nur von uns selbst, sondern von unserer ganzen Generation oder
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