OLEG CHLEWNJUK

STALIN. EINE BIOGRAPHIE

 

Aus dem Englischen von Helmut Dierlamm

Deutsche Fachberatung: Prof. Dr. Jan Plamper

Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck

 

Die Rechte für die Abbildungen im Innenteil
liegen beim Russischen Staatsarchiv für sozio-politische
Geschichte (RGASPI) in Moskau.

 

In Erinnerung
an meine Frau Katja
1961-2013

INHALT       Inhalt.pdf.Pantheon 

 

 Vorwort

21  Im Zentrum der Macht

35  DER WEG ZUM REVOLUTIONÄR

69  Stützpfeiler der Diktatur

83  IN LENINS SCHATTEN

159  Eine Welt der Lektüre und Kontemplation

171  STALINS REVOLUTION

233  Angst im inneren Zirkel

245  TERROR UND DROHENDER KRIEG

303  Patient Nummer 1

317  STALIN IM KRIEG

395  Im Kreis der Familie

413  DER GENERALISSIMUS

487  Die Diktatur bricht zusammen

497  Die Beisetzung: Der Woschd, das System und das Volk

 

517 Dank   519 Anmerkungen    581 Register

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www.pantheon-verlag.de

 

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Vorwort

 

9-19

Seit mehr als zwei Jahrzehnten studiere ich diesen Mann, die Gründe für seine Taten und die Logik, die ihnen zugrunde liegt - Taten, die Millionen und Abermillionen von Menschenleben kosteten oder sie komplett zerstörten. Diese Arbeit ist zwar aufreibend und emotional belastend, doch ich habe sie selbst gewählt. Zudem verleihen die paradoxen Wendungen der jüngsten russischen Geschichte meinem Forschungs­gegenstand eine mehr als nur akademische Relevanz. Wir erleben eine Zeit, in der der Verstand vernebelt wird von Mythen eines »alternativen« Stalin, dessen effiziente Führung als nachahmens­wertes Vorbild gepriesen wird.

Die Literatur über Stalin und seine Ära ist unglaublich umfangreich. Selbst Stalinismusforscher geben offen zu, dass sie sie kaum mehr überblicken können. Es finden sich seriöse, sorgfältig recherchierte Forschungsarbeiten neben billigen Machwerken, die nach Belieben Anekdoten, Gerüchte und Lügengeschichten zusammenführen. Beide Lager, seriöse Historiker wie Schwadroneure, die meist Stalin-Apologeten sind, kommen kaum noch miteinander in Berührung und haben jeden Gedanken an eine Versöhnung längst aufgegeben.

Die wissenschaftlichen Stalinbiographien haben dieselben Stadien durchlaufen wie die Geschichtsschreibung über die sowjetische Periode insgesamt. Ich habe große Achtung vor einigen Klassikern, die geschrieben wurden, als die sowjetischen Archive noch völlig unzugänglich waren; zu den herausragenden Autoren zählen etwa Adam Ulam und Robert Tucker.1

 wikipedia.Ulam  (1922-2000)    DNB.Ulam (4)  Goog.Ulam  

Damals, in den Siebzigerjahren, glichen jene auf die Stalinära spezialisierten Historiker Experten für Alte Geschichte: Sie kannten die wenigen verfügbaren Dokumente und Memoiren in- und auswendig und konnten deren Zahl praktisch nicht vergrößern, weshalb sie die verfügbaren Quellen besonders sorgfältig studierten und aufmerksam interpretierten. All dies änderte sich radikal, als in den frühen Neunzigerjahren die Archive geöffnet wurden, und es dauerte einige Zeit, bis die Historiker angesichts der Informationsflut den Kopf wieder über Wasser hielten. Dass gestützt auf das nun zugängliche Material schließlich neue Werke erschienen, und zwar sowohl wissenschaftliche Stalinbiographien als auch andere Studien über die Figur Stalin und das politische System, beweist, dass die Historikerzunft allmählich mit jener Informationsflut zurechtkommt.2

Nach der Öffnung der Archive entstand ein neues Genre von Stalinbiographien, das man als archivgestützten Sensationsjournalismus bezeichnen könnte.

Dmitri Wolkogonow, ein ehemals loyales Mitglied der KPdSU, der zu einer treibenden Kraft der Perestroika werden sollte, war einer der Pioniere dieses Genres, ebenso wie der russische Theaterautor Edward Radsinski.3

Ein Merkmal ihrer Arbeiten ist die Verwendung eines breiten Quellenspektrums, das nicht nur Archivmaterial, sondern auch eine Vielzahl von Memoiren umfasst. Diese Autoren neigen dazu, persönliche Berichte »trockenen« Statistiken oder amtlichen Unterlagen vorzuziehen. Die extensive Verwendung von Memoiren, auch von Berichten aus dritter Hand, mag ihre Werke zwar um hübsche Anekdoten bereichern, doch manche der Quellen sind von fragwürdiger Authentizität. Außerdem kann die manchmal nur oberflächliche Sichtung von Original­dokumenten dazu führen, dass der historische Kontext zu kurz kommt. Dennoch: Der »Sensationsjournalismus« hat zweifellos das Stalinbild vieler Leser geprägt.

Eine Art dritten Weg beschritt der britische Schriftsteller Simon Sebag Montefiore.4 Er versuchte, die zuweilen trockene Archivforschung leserfreundlicher aufzubereiten, dabei jedoch die Exzesse des »Sensationsjournalismus« zu vermeiden.

Im heutigen Russland ist das Stalinbild in erster Linie durch pseudowissenschaftliche Rechtfertigungsschriften bestimmt. Eine kunterbunte Schar von Autoren trägt mit ganz unterschiedlichen Motiven dazu bei, dass der Stalinismus zu einem Mythos stilisiert wird.

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Bei den meisten dieser Autoren paart sich ein Mangel an elementarstem Wissen mit der Bereitschaft, kühne Behauptungen aufzustellen.

Typischerweise werden Zitate erfunden oder tatsächliche Quellen schamlos verdreht.

Die Wirkung dieses machtvollen ideologischen Angriffs auf den Verstand der Leser wird durch die Verhältnisse im heutigen Russland - grassierende Korruption, empörende soziale Ungleichheit - noch verstärkt. Wer die Gegenwart ablehnt, neigt oft dazu, die Vergangenheit zu idealisieren.

Stalins Apologeten versuchen heute nicht mehr wie einst, die Verbrechen seines Regimes zu leugnen; sie schreiben die Geschichte auf subtilere Art um. In ihrer Version der Ereignisse waren Regierungsbeamte unterer Ebenen, Führer der Geheimpolizei oder Sekretäre regionaler Parteikomitees, verantwortlich für die Massenrepression und verbargen ihr Handeln vor Stalin.

Der Zynismus einiger gipfelt gar in der Auffassung, der Terror sei berechtigt gewesen, da es sich bei den auf Stalins Befehl vernichteten Millionen Menschen tatsächlich um »Volksfeinde« gehandelt habe.

Viele russische Stalinisten von heute finden es bequem, sich auf Theorien zu stützen, die von einer Gruppe westlicher Historiker, den sogenannten Revisionisten, in den Achtzigerjahren entwickelt wurden: Der Terror sei spontan und von unten entstanden, Stalin habe nur wenig mit ihm zu tun gehabt, und er sei als politischer Führer viel »normaler« gewesen, als üblicherweise angenommen.

Es ist nicht meine Absicht, den Kollegen aus dem Westen vorzuwerfen, sie förderten die »Restalinisierung«. Sie sind ohne Zweifel genauso wenig schuld an den politischen Kämpfen im heutigen Russland wie Marx an der bolschewistischen Revolution. Dennoch sollten wir uns bewusst sein, dass unsere Worte ein bizarres Echo haben können.

Eine in der Politik und Öffentlichkeit Russlands weit verbreitete Apologetik ist der Gedanke eines »modernisierenden Stalinismus«. Die Vertreter dieser Ideologie erkennen zwar formell an, dass der Terror zahllose Opfer forderte und für den »Großen Sprung« von der Agrar- zur Industriegesellschaft ein hoher Preis bezahlt wurde, doch sie erklären den Stalinismus zur natürlichen Voraussetzung für die nötige Modernisierung der Sowjetunion und die Kriegsvorbereitung.

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Ihre Postulate lassen Vorurteile erkennen, die im Bewusstsein der russischen Gesellschaft tief verwurzelt sind: dass die Interessen des Staates absolute Priorität hätten, das Schicksal des Einzelnen bedeutungslos sei und der Lauf der Geschichte von Gesetzen höherer Ordnung bestimmt werde.

In diesem Paradigma ist Stalin Ausdruck einer objektiven historischen Notwendigkeit. Seine Methoden seien zwar bedauerlich, aber notwendig und effektiv gewesen, und außerdem sei es unvermeidlich, dass das Rad der Geschichte mit Blut befleckt sei.

Es wäre falsch zu bestreiten, dass die »langen Wellen« der russischen Geschichte den Bolschewismus und den Stalinismus möglich gemacht haben. Ein starker Staat mit autoritären Traditionen, wenig Privateigentum und schwachen zivilgesellschaftlichen Institutionen sowie die gewaltige Ausdehnung einer Kolonialmacht, die unter anderem den Aufbau des Archipel Gulag ermöglichte - all dies ebnete dem stalinistischen System den Weg.

Wer diese Faktoren jedoch zu einer Art »russischem Schicksal« überhöht, landet in einer Sackgasse, der Theorie des »unvermeidlichen Stalinismus«.

Die Anhänger dieser Theorie haben kaum Interesse an konkreten Fakten und ziehen es vor, stalinistische Interpretationen der russischen Geschichte wiederaufzubereiten, manchmal mit einer überraschenden Wendung, meistens jedoch nicht.

Sie vermeiden konsequent jede Frage nach dem Preis der Transformationsprozesse und militärischen Siege, nach alternativen Entwicklungspfaden und nach der Rolle des Diktators. Sie verschließen die Augen vor der Tatsache, dass sogar Stalin selbst zuweilen gezwungen war, seine Politik zu mäßigen, wenn sie eine allzu zerstörerische Krise verursacht hatte - eine Mäßigung, die beweist, dass sogar im Stalinismus verschiedene Wege der Industrialisierung möglich waren. Sie unternehmen nicht einmal den Versuch zu erklären, wie die von Stalin befohlene Hinrichtung von 700 000 Menschen allein in den Jahren 1937 und 1938 die »Modernisierung« gefördert haben soll.

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Insgesamt sieht die Theorie des »modernisierenden Stalinismus« davon ab, die Effizienz des stalinistischen Systems zu prüfen oder Stalins persönliche Rolle bei der Entwicklung der Sowjetunion von den Zwanziger- bis zu den frühen Fünfziger Jahren zu beurteilen.

Die Reduktion der Geschichte auf den historischen Imperativ ist die am wenigsten kreative Art, die Vergangenheit darzustellen. Doch die Geschichts­wissenschaft ist dazu verpflichtet, sich nicht mit einfachen Modellen und politischen Vermutungen zu begnügen, sondern sich mit konkreten Tatsachen auseinanderzusetzen. Wer mit Dokumenten arbeitet, kann gar nicht anders, als die komplizierten Wechselwirkungen zwischen strukturellen und persönlichen Faktoren, zwischen bedingten und zufälligen Ereignissen wahrzunehmen. In einer Diktatur haben die persönlichen Vorlieben, Vorurteile und Obsessionen des herrschenden Despoten naturgemäß ein viel größeres Gewicht als in anderen Herrschaftssystemen. Welches Medium könnte besser geeignet sein als die Biographie, um dieses komplexe Geflecht zu entwirren?

Die Biographie ist ein einzigartiges Genre der historischen Forschung, das allerdings stets Gefahr läuft, entweder den historischen Kontext allzu detailversessen zu fokussieren oder aufgebläht zu sein mit romanhaften Details menschlichen Verhaltens. Kontext ohne Seele oder Seele ohne Kontext, das sind die leidigsten Fallen, die der Biograph vermeiden muss.

Auch für mich war dies eine Herausforderung. Am Ende hatte ich begriffen, dass es schlichtweg unmöglich war, auch nur eine beiläufige Erwähnung aller wichtigen Episoden und Aspekte der Stalinära in diesem Buch zu vereinen. Ich war gezwungen, mich auf die bedeutendsten Phänomene und Tendenzen zu beschränken, also wählte ich die Ereignisse aus, die Stalin und seine Zeit sowie das nach ihm benannte System meiner Ansicht nach am besten charakterisieren. Dieses selektive Verfahren war umso notwendiger, als im Lauf der letzten zwanzig Jahre zahlreiche neue Quellen aufgetaucht sind.

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Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion können Historiker in den neu zugänglichen Archiven Originaldokumente aus erster Hand zurate ziehen und nicht mehr nur offizielle Publikationen, bei denen sie in der Vergangenheit schichtweise Verfälschungen abtragen mussten. So können heute die größtenteils zu seinen Lebzeiten veröffentlichten Werke und Reden Stalins mit den nicht redigierten Originalen verglichen werden. Zugriff besteht nun auch auf die zuvor nicht publizierten Reden Stalins.

Zu den wichtigsten Dokumenten gehören Papiere der Regierungsorgane, in denen Stalin selbst den Vorsitz führte, etwa die Protokolle und stenografischen Aufzeichnungen von Sitzungen des Politbüros und die Dekrete des Staatlichen Verteidigungskomitees während des Krieges. Diese Dokumente sind ungemein wichtig für das Verständnis von Stalins Leben und Persönlichkeit, nahmen sie doch einen erheblichen Teil seiner Zeit in Anspruch und waren Instrumente seiner Machtausübung. Viele Resolutionen zeigen Spuren seines Rotstifts.

Für sich betrachtet ergeben die unter Stalin erlassenen Verordnungen natürlich nur einen Teil des Gesamtbilds. Warum wurden sie beschlossen? Welche Logik und welche Motive lagen ihnen zugrunde? Sehr viel aufschlussreicher als jene Beschlüsse ist daher Stalins periodischer Schriftverkehr mit seinen Kollegen im Politbüro. Vor allem wenn Stalin auf Reisen war, erteilte er den in Moskau gebliebenen Sowjetführern schriftliche Anweisungen.

Der Briefverkehr war in den Zwanzigerjahren und der ersten Hälfte der Dreißigerjahre am intensivsten, als Russland noch nicht über einen verlässlichen Telefondienst verfügte - ein wunderbares Beispiel dafür, dass technische Rückständigkeit zuweilen der Freund des Historikers sein kann.

Nach dem Krieg wurde die Telekommunikation verlässlicher, und der unangreifbar auf dem Gipfelpunkt seiner Macht stehende Diktator schrieb seltener lange Briefe an seine Untergebenen, kurze Anweisungen genügten. Trotz ihrer fragmentarischen Natur sind Stalins Briefe wertvolle Dokumente und eine faszinierende Lektüre. Sie sind die authentischsten Äußerungen, die er der Nachwelt hinterlassen hat.5

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Wichtige Informationen lassen sich auch aus den Heften gewinnen, in denen die Besucher von Stalins Büro im Kreml registriert wurden.6 Sie enthalten jeweils den Namen des Besuchers sowie die Zeit seines Kommens und Gehens. Wenn man sie mit anderen Quellen, wie etwa Memoiren oder Protokollen von Politbürositzungen, vergleicht, erhält man bedeutende Hinweise auf die Begleitumstände bei der Verabschiedung diverser Beschlüsse. Genau wie der Schriftverkehr spiegeln aber auch die Besucherhefte nur einen - wenn auch wichtigen - Teil von Stalins Tätigkeit wider. Er arbeitete nämlich nicht nur in seinem Büro im Kreml, sondern gelegentlich auch im Hauptquartier des Zentralkomitees am Staraja-Platz, und er empfing nicht nur in seiner Kreml-Wohnung, sondern auch in seinen zahlreichen Datschen in der Umgebung von Moskau und im Süden der Sowjetunion Besucher.

Der Personenschutz der Sowjetführer zeichnete die Besuche in Stalins Kreml-Wohnung auf, allerdings hat die Forschung noch keinen Zugang zu diesem Archiv bekommen.7 Auf entsprechende Unterlagen für das Büro im Hauptquartier des Zentralkomitees oder die Datschen gibt es dagegen keinen Hinweis.

Es ist anzunehmen, dass Stalins Sekretariat und sein Personenschutz auch Buch führten über Stalins Ortswechsel und Berichte aufbewahrten, in denen die Leibwächter die Ereignisse während ihrer Schichten schilderten. Dieses Material besäße für Stalins Biographen enormen Wert, allerdings fehlt bis heute ein sicherer Beweis für seine Existenz.

Sowohl Stalins Schriftverkehr als auch die Besucherhefte seines Büros im Kreml sind in seinem persönlichen Archiv enthalten, das unter seiner direkten Aufsicht angelegt wurde, offenbar auch mit Blick auf die Geschichte: Viele Dokumente der Sammlung sind mit dem Vermerk »Mein Archiv« oder »Persönliches Archiv« versehen. Eine wichtige Ergänzung dazu ist eine Materialauswahl, die im Zentralen Parteiarchiv der KPdSU angelegt wurde. Sie enthält unter anderem Bücher aus Stalins Bibliothek, die er mit Randbemerkungen versah.

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Heute gehören beide Sammlungen zum Stalinbestand des RGASPI, des Russischen Staatsarchivs für soziopolitische Geschichte, dem Nachfolger des Zentralen Parteiarchivs, das den größten Teil seiner Bestände übernommen hat.8 Das RGASPI ist heute eine wesentliche Quelle des Wissens über Stalin und wird von Historikern extensiv genutzt.

Trotz seiner Bedeutung hat der Stalinbestand auch schwere Mängel, bietet er doch nur begrenzte Einsichten in Leben und Handeln des Diktators. In erster Linie fehlt ein Großteil der unzähligen Papiere, die täglich auf Stalins Schreibtisch landeten. Sie umfassten Tausende und Abertausende von Briefen, statistischen Erhebungen, diplomatischen Noten und Berichten sowie Memoranden aus den verschiedenen Bereichen der Staatssicherheit.

Ohne Zugang zu diesen Informationen kann sich die Geschichtswissenschaft kein vollständiges Bild davon machen, wie gut Stalin informiert war, was er über bestimmte Fragen wusste. So bleibt die Logik, die seine Handlungen bestimmte, zum Teil im Dunkeln. Die Dokumente, aus denen solche Einsichten zu gewinnen wären, sind nicht verloren. Sie liegen im Archiv des Präsidenten der Russischen Föderation, dem früheren Archiv des Politbüros, und sind in »thematischen« Ordnern abgelegt.9 Für die Arbeit an diesem Buch konnte ich nur einige von ihnen einsehen. Gegenwärtig lässt das Archiv des Präsidenten ein systematisches Studium des Materials zwar nicht zu, aber allein die Existenz der Ordner ist ein Grund zur Hoffnung. Wie die Geschichte Russlands vermuten lässt, werden die Archive früher oder später geöffnet.

Die verführerischste Quelle für den Biographen sind stets Tagebücher und Memoiren. Sie bieten ein lebendiges Bild von Menschen und Ereignissen, das sich aus den offiziellen Papieren in den Archiven kaum gewinnen lässt. Dank solcher Berichte aus erster Hand kann der Biograph sein Werk durch spannende Details ergänzen, doch der Historiker ist sich auch der Nachteile solcher Quellen bewusst. Selbst aufrichtige Memoirenschreiber sind nur selten unparteiisch, sie bringen oft Ereignisse und Daten durcheinander oder notieren schlicht die Unwahrheit.

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Soweit wir wissen, führte kein Mitglied aus Stalins Führungszirkel ein Tagebuch. Wir besitzen also keine so wertvolle und detailreiche Quelle, wie sie Hitlerbiographen in Gestalt der Tagebücher von Joseph Goebbels zur Verfügung steht. Bei den Memoiren sieht es nicht viel besser aus. Nur zwei Männer, die Stalin nahestanden, haben ausführliche Aufzeichnungen hinterlassen: Nikita Chruschtschow und Anastas Mikojan.10 Als Quelle sind diese Aufzeichnungen unersetzlich, und doch schwiegen sich beide Männer über wichtige Themen aus - etwa über ihre Beteiligung an der Massenrepression -, und es gab vieles, das sie schlicht und einfach nicht wussten.

In Stalins innerem Zirkel galt die strenge Regel, dass jeder nur Zugang zu den Informationen erhielt, die er zur effektiven Erfüllung seiner Aufgaben benötigte.

In Mikojans Fall wurden Teile seiner Memoiren außerdem durch seinen Sohn verdreht, der das Manuskript für die Publikation vorbereitete. Er fügte in den ursprünglich diktierten Text ohne die übliche Kennzeichnung eigene Zusätze und Korrekturen ein, die sich angeblich auf spätere Berichte seines Vaters stützten.11

Wir verfügen außerdem über Memoiren sowjetischer und ausländischer Amtsträger und anderer prominenter Persönlichkeiten, die mit Stalin in Kontakt standen. Der Austausch war allerdings in der Regel erheblich begrenzt und ist nur wenig aufschlussreich. Daneben wurden viele Erinnerungen, zum Beispiel von Marschällen der Roten Armee, in der Sowjetzeit publiziert und unterlagen damit der Zensur, auch der eigenen.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion meldeten sich viele Personen zu Wort, deren Weg sich mit Stalins gekreuzt hatte. Die neu gewonnene Freiheit brachte eine wahre Memoirenflut von Familienmitgliedern führender Politiker der Stalinära hervor.12

Diese von der russischen Historikerin Elena Subkowa treffend als »Kinderliteratur« bezeichneten Werke entstanden allerdings hauptsächlich aus dem dringenden Bedürfnis, sich zu rechtfertigen, und mit dem Blick aufs Geld.13

Viele Angehörige Stalins und seiner Genossen brauten Märchen und Lügengeschichten zusammen, in denen sich persönliche Eindrücke mit Fiktion mischten.

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Naive Äußerungen über die sowjetische Politik sollten beweisen, dass die Verfasser praktisch keine Ahnung davon hatten, was ihre Väter im Schilde führten. Informationen aus dritter Hand, Klatsch und Gerüchte sind reichlich enthalten. Der wichtigste Umstand jedoch, der entschieden am Wert dieser Memoiren zweifeln lässt, ist die Tatsache, dass Stalins Untergebene von strikter Geheimhaltung besessen waren. Sie lebten unter gnadenloser Überwachung durch die Geheimpolizei und in der ständigen Furcht, zu einem fatalen Versprecher provoziert zu werden. Es ist kaum vorstellbar, was sie dazu bewegt haben könnte, sich in ihren Familien offen zu äußern. Der Preis war zu hoch.

Ich verwende Memoiren nur sehr zurückhaltend, obwohl sie viele faszinierende, vom Leser sicher als interessant empfundene Beschreibungen und Anekdoten enthalten. Um die Berichte in den Memoiren einer Überprüfung zu unterziehen, habe ich sie mit anderem Material, insbesondere mit Archiv­dokumenten, verglichen. Erinnerungen, die dieser Prüfung weitgehend standhalten, schenkte ich mehr Glauben. Demgegenüber wertete ich eine Vielzahl von Irrtümern und offenkundigen Erfindungen als eindeutiges Zeichen der Unzuverlässigkeit, selbst wenn sich einige Behauptungen nicht durch andere Quellen widerlegen ließen. Bestimmte Memoiren landeten deshalb auf meiner persönlichen »schwarzen Liste«. Zwar verurteile ich niemanden, der sie zitiert, werde es aber selbst nie tun.

Trotz alledem ist ein Historiker wie ich, der versucht, eine Stalinbiographie zu schreiben, in einer relativ guten Position. Die große Menge archivarischer Dokumente und Materialien lässt sich für eine ausführliche, intensive und hoffentlich fruchtbare Auseinandersetzung nutzen. Erhebliche Lücken und die Unzugänglichkeit vieler Quellen sind frustrierende Hindernisse, doch ist es heute möglich, eine wirklich neue Biographie Stalins zu schreiben, weil uns das neu zugängliche Archivmaterial zwingt, unser Verständnis des Mannes und seiner Ära zu überprüfen.

Der bescheidene Umfang dieser Biographie zwingt mich, auf allzu erschöpfenden Detailreichtum zu verzichten. Belege und Anmerkungen sind auf ein Minimum beschränkt, weshalb die Priorität darauf liegt, Zitate, Zahlen und Fakten zuzuordnen. In den Anmerkungen sind längst nicht alle Werke meiner Kollegen enthalten, die eine Erwähnung verdient hätten - dafür möchte ich mich entschuldigen.

Mein Verhältnis zu dieser Art der Sparsamkeit ist ambivalent: Ich bedauere, dass ich viel Aufschlussreiches weglassen musste, aber ich freue mich für den Leser. Ich weiß, wie es sich anfühlt, stapelweise umfangreiche Wälzer vor sich zu haben, deren Lektüre man nie bewältigen wird.

Die Länge des Buchs hat mich aber auch zu einer innovativen Struktur veranlasst, die hoffentlich das Lesen erleichtert. Eine konventionelle chronologische Gliederung der Kapitel war nicht geeignet, um die zwei interdependenten Ebenen der Biographie Stalins - die Abfolge der Ereignisse in seinem Leben und die auffalligsten Merkmale seiner Persönlichkeit und seiner Diktatur - zu präsentieren. Diese Schwierigkeit führte zu der Idee zweier wechselnder Erzählebenen, einer Art textlichen Matroschkapuppe.

Die eine Ebene untersucht die Persönlichkeit Stalins und sein Regierungssystem vor dem Hintergrund seiner letzten Tage; die andere, eher konventionell chronologische, folgt den wichtigsten Stationen seiner Biographie der Reihe nach. Dadurch lässt sich das Buch auf zwei Arten lesen. Entweder der Leser vertraut meiner Gliederung und liest es von vorne bis hinten, oder er folgt zunächst der einen und dann der anderen Erzählebene. Ich habe mich darum bemüht, dass beide Vorgehensweisen gleich angenehm sind.

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Im Zentrum der Macht

 

DIE FRÜHEN MORGENSTUNDEN DES 1. MÄRZ 1953 IN DER NAHEN DATSCHA.

 

DAS LETZTE ABENDMAHL DER »FÜNF«.

 

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Am Samstag, dem 28. Februar 1953, lud Stalin vier seiner wichtigsten Mitarbeiter in den Kreml ein: Georgi Malenkow, Lawrenti Berija, Nikita Chruschtschow und Nikolai Bulganin.1 Seit sechs Monaten bildete er mit jenen vier Männern die sogenannte »regierende Gruppe« oder einfach »die Fünf«, und sie trafen sich regelmäßig in Stalins Haus. Alte Freunde des Diktators, Molotow, Mikojan und Woroschilow, waren in Ungnade gefallen; er wollte sie nicht mehr sehen.2

Eine ausgewählte Gruppe Unterstützer um sich zu scharen, die Stalin bei der Regierung des Landes als rechte Hand diente, war ein Schlüsselelement seines Modus Operandi. Er benannte jene Gruppen jeweils nach der Zahl ihrer Mitglieder: die Fünf (pjaterka), die Sechs (schesterka), die Sieben (semerka), die Acht (wosmerka), die Neun (dewjatka). Diese informellen Gruppen besaßen die höchste Autorität, während die offiziellen Partei- und Staatsstrukturen die alltäglichen Regierungsgeschäfte besorgten.

Die Aufteilung der Regierungsarbeit auf formelle und informelle Institutionen erlaubte es dem Diktator, die Fähigkeiten eines riesigen, allumfassenden bürokratischen Apparats zu nutzen und zugleich die wahren Hebel der Macht fest im Griff zu behalten. Er änderte häufig die Zusammensetzung der herrschenden Gruppe und unterstellte sie seiner permanenten persönlichen Kontrolle; seine Mitglieder mussten ihm jederzeit für Sitzungen und »freundschaftliche« Zusammenkünfte zur Verfügung stehen. Stalin hielt einen enormen Verwaltungsapparat aufrecht und konzentrierte gleichzeitig die absolute politische Macht bei sich, was Yoram Gorlizki den Begriff »neopatrimonialer Staat« prägen ließ.3

Die Herrschaft Stalins über seine wichtigsten Mitarbeiter und andere hochrangige Funktionäre basierte in erster Linie auf Furcht. Dank seiner absoluten Kontrolle über das Staatssicherheitssystem des Sowjetstaats konnte er zu jedem beliebigen Zeitpunkt jede beliebige Person festnehmen und umstandslos erschießen lassen - was er in unzähligen Fällen auch tat. Sein gesamtes politisches Unternehmen beruhte auf Terror.

Die wichtigsten Entscheidungen wurden stets im direkten, idealerweise persönlichen Gespräch mit dem Diktator getroffen. Um eigene und administrative Ziele zu erreichen, war dies der schnellste und effektivste Weg. Allerdings benötigte man Zugang zu einem der Machtzentren Stalins, die in den Augen zahlloser sowjetischer Funktionäre und Mitglieder der obersten Führung eine geradezu heilige Aura annahmen. Einige waren jedoch heiliger als andere: Es bestand zwischen ihnen eine unausgesprochene Hierarchie, bei manchen war der Eintritt mit einem höheren Status verknüpft. Stalin verbrachte einen beträchtlichen Teil seines Lebens in diesen Machtzentren; jedes stand für einen Aspekt seiner Persönlichkeit und seiner Diktatur.

Das primäre und offiziellste Machtzentrum war Stalins Büro im Kreml. In dem geräumigen, dunkel getäfelten Raum befanden sich Stalins Schreibtisch und ein langer Konferenztisch, außerdem eine Standuhr, mit der Stalin die Pünktlichkeit der einbestellten Besucher zu überwachen pflegte, und eine Totenmaske Lenins aus Gips, die in einer Glasvitrine auf einem Sockel stand. An den Wänden hingen Porträts von Lenin und Marx, denen sich während des Zweiten Weltkriegs russische Kriegshelden des vergangenen Zarenreichs, Suworow und Kutusow, hinzugesellten. Ansonsten änderte sich die Einrichtung in den vielen Jahren, die Stalin das Büro nutzte, kaum. Während des Krieges wurde im Luftschutzraum unter dem Kreml eine etwas kleinere, sonst jedoch beinah exakte Kopie des Büros eingerichtet, die gleichen Möbel, die gleichen Bilder und die gleichen Vorhänge - nur Fenster gab es keine.4

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Im Lauf von dreißig Jahren besuchten ungefähr 3000 Personen Stalins Büro.5 Seine engsten Mitarbeiter waren natürlich häufig zugegen, aber auch Kommissare bzw. Minister, Unternehmensführer, Wissenschaftler, Kulturschaffende, hohe Offiziere des Staats -Sicherheitsdienstes und des Militärs sowie Gäste aus dem Ausland. Das Büro im Kreml war das zugänglichste Machtzentrum Stalins.

Den Abend des 28. Februar 1953 verbrachten Bulganin, Berija, Malenkow und Chruschtschow, die Stalin in den Kreml bestellt hatte, nicht in seinem Büro, sondern er lud sie in das Filmtheater des Kreml ein, einen viel exklusiveren Ort. Das 7,5 mal 17 Meter große Theater bot zwanzig Sitze und war 1934 in einem ehemaligen Wintergarten des Zaren eingerichtet worden. Zuvor hatten die Sowjetführer Filme entweder im Gebäude der Hauptverwaltung der Film- und Fotoindustrie oder in einem kleinen Raum im Kreml angeschaut, der für die Vorführung von Stummfilmen benutzt wurde.6 Stalin sah sich gern mit seinen Genossen Filme an, und mit der Zeit wurden die Vorführungen obligatorisch. Dank Boris Schumjazki, dem Chef der sowjetischen Filmindustrie, sind wir relativ gut darüber informiert, wie sich diese in den Jahren 1934 bis 1936 abspielten.7 Seine detaillierten Aufzeichnungen bieten einen wertvollen Einblick in die Verhaltensregeln, die in Stalins innerem Zirkel galten, und in die Atmosphäre der Zusammenkünfte.

Schumjazki brachte die Filme und lauschte während der Vorführung den Kommentaren von Stalin und seinen Mitarbeitern und den Beschlüssen, die zuweilen gefasst wurden. Stalin saß inmitten seines Führungszirkels in der ersten Reihe. Die Filme und Wochenschauen wurden lebhaft diskutiert, sowohl während sie noch liefen als auch im Anschluss. Stalin hatte immer das erste Wort, er erteilte Anweisungen in Bezug auf den Inhalt bestimmter Filme und die sowjetische Filmindustrie sowie die Ideologie im Allgemeinen. In dem kleinen Filmtheater traf er Entscheidungen über alle möglichen Dinge, wie etwa Budgetprobleme, die Publikation politisch wegweisender Artikel in der Sowjetpresse oder Personalfragen.

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Gelegentlich wurden Filmemacher zur Vorführung ihrer Werke eingeladen - eine große Ehre. Stalin gratulierte ihnen zu ihrer Arbeit und gab »Unterweisungen« zu deren Verbesserung.

Aus Schumjazkis Berichten geht deutlich hervor, dass die Zusammenkünfte im Filmtheater des Kreml für die Sowjetführung nicht nur der Entspannung dienten. Sie waren informelle Sitzungen der höchsten Regierungsebene, auf denen ideologische und kulturpolitische Fragen entschieden wurden. Höchstwahrscheinlich sprachen Stalin und seine Mitarbeiter vor und nach den Vorführungen auch über andere Staatsangelegenheiten.

Schumjazkis Aufzeichnungen brechen Anfang 1937 plötzlich ab, was zweifellos mit der Intensivierung der Repression im Land zu tun hatte. Er selbst wurde Anfang 1938 verhaftet und kurz darauf erschossen. Die Filmvorführungen gingen weiter, aber wir wissen fast nichts über die späteren Sitzungen. Offenbar nahmen gegen Ende von Stalins Leben nur noch seine engsten Mitarbeiter daran teil. Das Treffen der Fünf am 28. Februar 1953 war die letzte Vorführung, der der Diktator selbst beiwohnte.

Nach dem Film bat Stalin, wie er es häufig tat, zum Essen in seine Datscha. Sie lag in der Nähe der Moskauer Vorstadt Wolynskoje nur wenige Autominuten vom Kreml entfernt, weshalb sie »nahe« (blischnjaja) Datscha genannt wurde. Gelegentlich lud Stalin auch in seine Häuser und Datschen in der weiteren Umgebung Moskaus oder in eine Datscha im Süden des Landes, wo er jedes Jahr lange Ferien machte. Doch die »nahe« Datscha in Kunzewo hatte er besonders ins Herz geschlossen, sie war ein wichtiges Epizentrum seines Lebens und seiner Herrschaft.

Das erste Haus auf dem Grundstück der nahen Datscha wurde 1933 gebaut. Der Umzug dorthin war mit großen Umbrüchen in Stalins persönlichem und politischem Leben verknüpft. Die schreckliche Hungersnot, die das Land in den frühen Dreißigerjahren infolge seiner Politik heimsuchte, fiel mit einer Familientragödie zusammen: Im November 1932 beging seine Frau Nadeschda Allilujewa Selbstmord.8 Danach fing an einem neuen Ort ein neues Leben an.

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Stalin überwachte persönlich die vielen Erweiterungen und Renovierungen der Datscha. Das riesige Haus, das dabei entstand, war eine seltsame Mischung aus Pomp und funktionaler Behördenarchitektur.9 Alle Räume glichen einander und brachten, wie es Stalins Tochter Swetlana ausdrückte, »seine Persönlichkeit nicht zum Ausdruck«.10

Das Obergeschoss, für das man einen Aufzug eingebaut hatte, wurde kaum benutzt. Stalins Lieblingsraum gegen Ende seines Lebens war das sogenannte »kleine Esszimmer« im Erdgeschoss. Dieses geräumige Zimmer war mit einem rechteckigen, drei Meter langen Tisch, Sofa, Schrank, Lehnstuhl sowie einem kleinen Telefontisch möbliert und hatte einen offenen Kamin.

Neben dem Kamin befand sich ein Jagdgewehr, an einem Haken an der Wand hing ein Fernglas, den Boden bedeckte ein großer Teppich. Vom Esszimmer aus erhielt man Zugang zu einer verglasten Veranda und einer Terrasse. Laut Swetlana schlief und arbeitete Stalin in diesem Raum. Auf dem großen Tisch stapelten sich zu jeder Zeit Bücher und Papiere. Wenn er keine Gesellschaft hatte, aß Stalin an einer Ecke des Tisches.

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Seine Medikamente bewahrte er in dem Schrank auf. Er saß gern am Kamin und ließ sich manchmal Schaschlik darin braten. Es war das Zimmer, in dem er gern seine Besucher empfing - und der Ort, an dem er den Schlaganfall erlitt, der seinem Leben ein Ende setzte.

Die Datscha war von fünfzig Morgen Land umgeben, Stalin leitete persönlich die Landschaftsgestaltung und den Ackerbau.

 wikipedia  Morgen (Einheit)  Viertelhektar, 2500 qm

Er entwarf ein Gewächshaus für den Anbau von Zitrusfrüchten, ließ einen Weinberg anlegen, baute seine eigenen Wassermelonen an und betrieb einen Fischteich. Manchmal ließ er einen Teil seiner Wassermelonenernte zum Verkauf an Moskauer Geschäfte schicken. Es gab auch Pferde, Kühe, Hühner, Enten und ein kleines Bienenhaus auf dem Grundstück.

Seine Leibwächter erzählten, Stalin widmete einen beträchtlichen Teil seiner Zeit der Landwirtschaft und ließ sich bis ins kleinste Detail auf dem Laufenden halten. Hunderte von Anweisungen, die er dem für das Landgut zuständigen Oberstleutnant P. W. Losgatschew erteilte, sind erhalten:

7. April 1950: a) Beginnen Sie am 10. Mai mit dem Pflanzen von Wassermelonen und Melonen in Hochbeeten, b) Schneiden Sie Mitte Juli die Ranken der Wassermelonen und Melonen

20. April: [...] Säumen Sie den Weg von der Küche zum Teich mit Tannen [...] Pflanzen Sie jeden halben Meter neben dem Haupthaus und zwischen den Apfelbäumen am Teich Richtung Gartenlaube Maispflanzen. Bauen Sie dort auch Bohnen an [...] Pflanzen Sie Auberginen, Mais und Tomaten am Rand des Gartens.

Wie Losgatschew berichtete, erhielt er fast täglich solche Anweisungen.11 Stalin war Herr eines kleinen Landgutes, das er am liebsten selbst leitete, ohne die Entscheidung über wichtige Angelegenheiten Untergebenen zu überlassen. Sein patriarchalischer Führungsstil glich seiner Herrschaft über die Sowjetunion - eines viel größeren »Gutes«.

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Er behielt die Übersicht über die Ressourcen und Reserven des Staates und bestimmte, wie sie eingesetzt wurden. Wichtige Informationen schrieb er in ein spezielles Notizbuch.12 Er vertiefte sich bis ins Detail in Filmdrehbücher, Baupläne und Entwürfe für militärisches Gerät. Sein Interesse an Landschaftsgestaltung ging weit über seine eigenen Anwesen hinaus und erstreckte sich auch auf die Straßen Moskaus: »Die Leute sagen, der Platz auf dem Arbat [...] sei noch nicht gepflastert (oder asphaltiert). Das ist eine Schande! [...] Machen Sie den Leuten Druck, damit sie den Platz fertigstellen.«13

Stalins Bedürfnis, sein Umfeld nach eigenem Ermessen zu gestalten, entsprang auch die Schaffung eines 155 Quadratmeter großen Saals, der für zahlreiche Zusammenkünfte in der nahen Datscha diente. In seinem Zentrum stand ein sieben Meter langer Tisch auf einem sechs mal zwölf Meter großen Teppich. (Der Teppich hatte zufällig die gleiche Fläche wie der durchschnittliche Wohnraum von sechzehn sowjetischen Stadtbewohnern im Jahr 1953: 4,5 Quadratmeter pro Person.) An den Wänden standen bequeme Sessel und Sofas. Manchmal arbeitete Stalin an dem Tisch, auf einem der Sofas oder Sessel. Gewöhnlich jedoch wurde der Saal nur für gesellige und festliche Ereignisse genutzt.

Mehrere Teilnehmer dieser regelmäßig stattfindenden Zusammenkünfte haben Berichte über ihren Ablauf hinterlassen. Das Essen wurde nicht von Bediensteten serviert, sondern einfach auf den Tisch gestellt. Die Gäste nahmen, was sie wollten, und suchten sich mit ihrem Teller einen freien Platz. Das Essen dauerte viele Stunden und endete lange nach Mitternacht, manchmal erst im Morgengrauen. Die ausgedehnten Mahlzeiten boten Gelegenheit, diverse Staatsangelegenheiten zu diskutieren und zu entscheiden. Stalin nutzte sie außerdem, um seine Mitarbeiter genau zu beobachten und Informationen über sie zu sammeln. Nicht zuletzt dienten sie Stalin der Unterhaltung und linderten sein Gefühl der Einsamkeit. Oder wie Chruschtschow es formulierte: »Er fühlte sich schrecklich allein und wusste nicht, was er mit sich anfangen sollte.«14

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An dem großen Tisch wurde viel getrunken. Stalin selbst trank mit zunehmendem Alter immer weniger Hochprozentiges, doch er spornte die anderen an, es zu übertreiben, und beobachtete dann ihr Verhalten. Er hatte verschiedene Methoden, damit seine Gäste mehr tranken, als sie vielleicht wollten.

Trinksprüche folgten rasch aufeinander, und bei jedem musste man sein Glas leeren. »Wer nicht mittrank, wenn ein Trinkspruch ausgebracht wurde, musste >zur Strafe< ein weiteres Glas trinken oder vielleicht sogar mehrere.«15

Der jugoslawische Politiker und Schriftsteller Milovan Djilas erinnerte sich später an ein Trinkspiel, das er im Januar 1948 in Stalins Datscha erlebt hatte:

»Alle rieten, wie viele Grad unter null es draußen hatte, und tranken dann zur Strafe [..,] ein Glas für jedes Grad, das sie falsch geraten hatten [...] Ich weiß noch, dass Berija um drei Grad falschlag und behauptete, er habe absichtlich so falsch geraten, um mehr Wodka zu bekommen.«16

 wikipedia  Milovan_Dilas  1911-1995

Der Alkohol wirkte enthemmend. »Die Atmosphäre bei diesen Essen war zwanglos, und Witze, viele davon obszön, wurden mit rauem Gelächter begrüßt.«17 Aber es gab auch »kultiviertere« Unterhaltung. Mitunter wurden revolutionäre Volkslieder gesungen, wobei sich Stalin, wie Andrei Schdanows Frau sich erinnerte, mit seinem weichen Tenor beteiligte.18

Schdanow unterhielt seine Genossen mit schmutzigen Liedchen.19 »Solche Lieder konnte man nur bei Stalin singen«, erinnerte sich Chruschtschow. »Man konnte sie unmöglich anderswo wiederholen.«20 Eine Zeit lang stand ein Klavier im Saal. Einige erinnerten sich, dass Schdanow daran saß, doch es ist nicht eindeutig überliefert, was er spielte und wie gut er darin war. Nach seinem Tod im Jahr 1948 ließ Stalin das Klavier in ein benachbartes Zimmer bringen. In der Regel kam die Musik von einer Musiktruhe, einer Kombination von Radio und Plattenspieler, auf der Stalin russische Volkslieder und klassische Musik abspielte. Manchmal hörte er allein oder mit seinen Gästen Werke aus seiner eindrucksvollen Sammlung von etwa 2700 Platten. Gelegentlich wurde auch getanzt. Laut Chruschtschow galt Mikojan als der beste Tänzer. Alle taten ihr Bestes, selbst Stalin »bewegte die Füße und breitete die Arme aus«.21

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Nicht getanzt wurde vermutlich in jenen frühen Morgenstunden des 1. März 1953; das Beisammensein Stalins engster Mitarbeiter verlief ruhig. »Wir gingen recht oft in Stalins Haus, fast jeden Abend«, erinnerte sich Chruschtschow. Die nächtlichen Gelage mit dem alten und unausgeglichenen Stalin waren für seine Gäste nicht einfach. Oder um es mit Chruschtschows Worten zu sagen: »Wir sollten in den Ämtern, für die wir gewählt waren, unsere Aufgaben erfüllen und außerdem wie Figuren in einem Theaterstück an Stalins Abendessen teilnehmen und ihn unterhalten. Es war eine schwierige und qualvolle Zeit für uns.«22 Doch Stalins Genossen dachten nicht im Traum daran, sich zu beschweren, sondern nahmen die Essenspflichten als Bedingung für die Mitgliedschaft im Führungszirkel klaglos auf sich.

Wie üblich endete das Treffen am 1. März kurz vor Morgengrauen, laut Chruschtschow um fünf oder sechs Uhr. Die Männer verabschiedeten sich gut gelaunt. Chruschtschow erklärte, »Stalin [war] ein bisschen beschwipst und offenbar allen sehr wohlgesinnt.« Er begleitete seine Gäste hinaus in die Diele, »scherzte eine Menge und wedelte mit den Händen, und er stupste mich, wenn ich mich recht erinnere, mit dem Finger in den Bauch und nannte mich Mikita. Wenn er guter Laune war, benutzte er immer die ukrainische Form meines Namens: Mikita [...] Auch wir waren guter Laune, als wir gingen, denn es war nichts Unerfreuliches passiert, und nicht alle diese Essen endeten so gut.«23

Es gibt keinen Grund, an Chruschtschows Bericht zu zweifeln. Zwar schreibt Dimitri Wolkogonow, Stalin sei gereizt gewesen und habe seinen Gästen gedroht, doch er belegt seine Behauptung nicht.24

Stalin drohte seinen Untergebenen nicht nur, sondern war auch durchaus imstande, sie mit Liebenswürdigkeit zu umgarnen. Fast zwanzig Jahre lang machte er nicht nur von der Peitsche, sondern auch von Zuckerbrot (oder, wie es im Russischen heißt, von Knute und Ingwerplätzchen) Gebrauch, und das nicht nur, um seine engsten Mitarbeiter, sondern auch die vielen Millionen Sowjetbürger und später das gesamte »sozialistische Lager« im Griff zu halten.

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Im Lauf seines 74-jährigen Lebens kämpfte sich der sowjetische Diktator durch eine stürmische historische Landschaft und wurde nicht nur in Russland, sondern in der ganzen Welt zu einem wichtigen Protagonisten.

In der Geschichtswissenschaft besteht weitgehende Einigkeit darüber, welche historischen Vorläufer und Lehren Stalin prägten, so zum Beispiel der traditionelle russische Autoritarismus und Imperialismus, die europäischen revolutionären Traditionen und der leninistische Bolschewismus.25

Die Existenz dieser Einflüsse tut natürlich seinem wichtigen persönlichen Beitrag zur Entstehung eines spezifisch sowjetischen totalitären Systems und der dazugehörigen Ideologie keinen Abbruch. Ideologische Lehren und Vorurteile hatten häufig entscheidenden Einfluss auf sein Leben und seine Taten, doch er rezipierte sie keineswegs passiv, sondern passte sie den Interessen seiner Diktatur und der von ihm beherrschten erstarkenden Supermacht an.

Seine Persönlichkeit spielte bei seinem politischen Kurs ebenfalls eine erhebliche Rolle. Er war grausam und mitleidlos veranlagt. Von allen verfügbaren Methoden zur Lösung politischer, sozialer und wirtschaftlicher Konflikte bevorzugte er den Terror, und er sah keinen Grund, sich dabei zu mäßigen. Wie andere Diktatoren auch war er starrköpfig und unflexibel. Zugeständnisse und Kompromisse sah er als Bedrohung der Unantastbarkeit seiner Macht an. Er rang sich nur dann zu begrenzten und halbherzigen Reformen durch, wenn sozioökonomische Krisen einen Höhepunkt erreichten und die Stabilität des Systems gefährdeten. Sein theoretischer Dogmatismus war die Wurzel der Gewalt, die für sein System bestimmend war.

Untermauert war sein Weltbild von einem extremen Antikapitalismus. Seine Ablehnung des kapitalistischen Systems war so kompromisslos, dass er sogar die begrenzten Zugeständnisse ablehnte, die Lenin bei der Einführung der Neuen Ökonomischen Politik (NÖP) machte.

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Nur widerstrebend ließ er im Rahmen des Sowjetsystems einige wenige kapitalistische Hilfsmittel wie Geld, begrenzte Marktbeziehungen und Privatbesitz zu. Erst als in den Hungerjahren 1932 und 1933 Millionen den Tod gefunden hatten, erlaubte er, dass die Bauern außerhalb der Genossenschaften und Staatsbetriebe produzieren und verkaufen konnten.

Gegen Ende seines Lebens jedoch glaubte er, er könne diese Konzessionen, die ihm eine harte Realität abgerungen hatte, bald wieder rückgängig machen und rechnete damit, dass sich die sozialistische Volkswirtschaft in ein kraftstrotzendes Unternehmen ohne Geld verwandeln würde, in dem die Menschen arbeiten würden, wie vom Staat angeordnet, und dafür die Naturalien erhielten, die sie auf Beschluss des Staates benötigten.

In Stalins Weltbild war der Staat, den die Bolschewiki schufen, ein Absolutum. Alles, was existierte, war ihm vollständig und bedingungslos untergeordnet, verkörpert wurde der Staat in erster Linie von der Partei und ihrem Führer. Persönliche Interessen wurden nur anerkannt, wenn sie dem Staat dienten, und der Staat hatte das uneingeschränkte Recht, jedes Opfer von seinen Bürgern zu verlangen, auch ihr Leben.

Der Staat war in seinen Maßnahmen keinerlei Beschränkungen unterworfen, da er die ultimative Wahrheit des historischen Prozesses verkörperte.

Jede Maßnahme des Regimes konnte mit der Bedeutung seiner Mission gerechtfertigt werden. Fehler und Verbrechen des Staates gab es nicht, nur die historische Notwendigkeit und das historisch Unvermeidliche oder, in manchen Fällen, das wachsende Leid, bedingt durch den Aufbau einer neuen Gesellschaft.

Das wichtigste Mittel, um die Unterwerfung vor dem Staat zu erzwingen und jede individuelle und soziale Regung zu unterdrücken, war für Stalin der sogenannte »Klassenkampf« gegen ausländische und innere »Feinde«. In diesem Kampf war er der führende Theoretiker und ein skrupelloser Taktiker. Durch den erfolgreichen Vormarsch des Sozialismus konnte sich, wie er versicherte, der Klassenkampf nur verschärfen. Dieser Gedanke war der Grundstein seiner Diktatur.

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Obendrein war die Theorie des Klassenkampfes als Methode zur Interpretation der Wirklichkeit auch noch ein mächtiges Propagandainstrument. Das Ausbleiben politischer und wirtschaftlicher Erfolge, militärische Fehlschläge und die Leiden des einfachen Volkes konnten allesamt auf das hinterlistige Wirken von »Feinden« zurückgeführt werden.

Als Methode der staatlichen Repression bewirkte der Klassenkampf, dass der Terror so umfassend und brutal wie ein richtiger Krieg wurde. Der sowjetische Diktator konnte sich rühmen, einen der mächtigsten und gnadenlosesten Terrorapparate in der Geschichte aufgebaut und geleitet zu haben.

Stalin hatte kein Problem damit, die marxistische und die bolschewistisch-leninistische Lehre mit dem Imperialismus einer Großmacht zu vereinbaren. Im November 1937 erklärte er seinen Mitarbeitern:

»Die russischen Zaren haben viel Schlimmes getan. Sie plünderten das Volk aus und versklavten es. Sie führten Kriege und stahlen Land im Interesse der Großgrundbesitzer. Aber sie vollbrachten eine gute Tat: Sie schufen einen riesigen Staat, der sich bis nach Kamtschatka erstreckt. Wir haben diesen Staat geerbt. Und zum ersten Mal haben wir, die Bolschewiki, diesen Staat als einen einzigen unteilbaren Staat zusammengebracht [...] zum Wohl der Arbeiter.«26

Seine offenen Worte sind besonders aufschlussreich, da sie bei einem Festessen anlässlich des 20. Jahrestags der bolschewistischen Oktoberrevolution, dem wichtigsten revolutionären Feiertag des Landes, gesprochen wurden. Stalin war dank der Vergrößerung seines Reichs ein würdiger Erbe der russischen Zaren; nur die ideologische Fassade war eine andere.

Auf einem Berliner Bahnhof am Vorabend der Potsdamer Konferenz im Jahr 1945 stellte Averell Harriman, US-Botschafter in der Sowjetunion, Stalin die Frage, was für ein Gefühl es sei, als Sieger in der Hauptstadt eines besiegten Feindes anzukommen. Stalin antwortete: »Zar Alexander schaffte es den ganzen Weg bis Paris.«27 Dennoch könnte man die Ansicht vertreten, dass Stalin die Zaren noch übertraf.

Während seiner Herrschaft dehnte das sowjetische Imperium seine Einflusssphäre auf riesige Landstriche Europas und Asiens aus und wurde zu einer von zwei Supermächten.

Blickte Stalin auf diese Triumphe zurück, nachdem er sich in den frühen Morgenstunden des 1. März 1953 von seinen Gästen verabschiedet hatte? Oder ließ er seine Gedanken noch weiter in die Vergangenheit zurückschweifen, zu seiner Kindheit, seiner Jugend, der Revolution? Wie bei seinen revolutionären Genossen war auch sein Leben klar in zwei Teile gegliedert: die Zeit vor und die nach der Revolution. Die ersten 38 Jahre seines Lebens lagen vor der Revolution, und 20 Jahre davon hatte er aktiv auf sie hingearbeitet

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DER WEG ZUM REVOLUTIONÄR

 

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Schenkt man seiner offiziellen sowjetischen Biographie Glauben, kam Stalin 1879 auf die Welt. Tatsächlich jedoch wurde Iosseb Dschugaschwili, so sein Geburtsname, ein Jahr früher geboren. Stalin wusste natürlich, wann und wo er geboren worden war, in der kleinen georgischen Stadt Gori, in einem abgelegenen Winkel des riesigen Russischen Reichs.

In einem Kirchenbuch der Stadt, das sich in seinem persönlichen Archiv befand, ist das richtige Geburtsdatum eingetragen: 6. Dezember 1878. Dieses Datum findet sich auch in anderen Dokumenten, etwa in seinem Abschlusszeugnis von der kirchlichen Schule in Gori oder in einem 1920 ausgefüllten Formular. Doch im Verlauf der Zwanzigerjahre tauchte auf einmal 1879 als Geburtsjahr in den Papieren auf, die von Stalins verschiedenen Mitarbeitern zusammengetragen wurden, und fortan wurde es auch in allen Enzyklopädien und sonstigen Dokumenten genannt.

Nachdem Stalin seine Macht konsolidiert hatte, gab man eine große Feier anlässlich seines 50. Geburtstags - am 21. Dezember 1929. Aber nicht nur in Bezug auf das Jahr, auch was den Tag seiner Geburt betraf, herrschte Verwirrung: Nach dem alten julianischen Kalender wurde der 9. statt 6. Dezember angegeben, eine Ungenauigkeit, die den Historikern jedoch erst 1990 auffiel.1 Der Grund für die falschen Angaben ist bisher unbekannt. Eines ist jedoch klar: Stalin beschloss in den Zwanzigerjahren, ein Jahr jünger zu werden. Und so geschah es.

Um Stalins Eltern ranken sich zahlreiche Legenden. Sensationshungrige Zeitgenossen haben wahlweise verkündet, Iosseb (der später Jossif bzw. Josef wurde, als er vorwiegend Russisch sprach) sei der uneheliche Sohn eines wohlhabenden Kaufmanns, eines Fabrikbesitzers, eines Fürsten oder sogar Zar Alexanders III., den Iossebs Mutter bei einem Besuch in Tiflis bedient habe. Die

vorhandenen Quellen lassen freilich eine prosaischere Herkunft vermuten. losseb Dschugaschwili entstammte einer bescheidenen georgischen Familie. Seine Mutter Ketewan oder Keke (russ. Jeka-terina) Geladse wurde 1855 als Tochter von Leibeigenen geboren. Im Jahr 1864, nach Abschaffung der Leibeigenschaft, zog ihre Familie nach Gori, wo sie als Achtzehnjährige mit dem Schuster Bes-sarion oder Besso (russ. Wissarion) Dschugaschwili verheiratet wurde. Ihre ersten zwei Kinder starben im Säuglingsalter, losseb, genannt Sosso, war das dritte.2

Wir wissen nur wenig über Stalins Kindheit und Jugend, unsere wichtigste Quelle sind Memoiren, die geschrieben wurden, als er bereits auf dem Höhepunkt seiner Macht stand. Selbst ein unkritischer Leser wird erkennen, dass sie von den ersten Lebensjahren eines späteren Diktators berichten und nicht von denen losseb Dschugaschwilis - was die für Memoiren ohnehin typische Tendenz verstärkt, Aspekte zu übertreiben oder gar vollständig auszuklammern. Je nach Situation und politischen Ansichten des Verfassers werden entweder Iossebs Tugenden und Führungsqualitäten oder seine angeborene Grausamkeit und psychischen Störungen betont. Wie jedoch Ronald Grigor Suny festgestellt hat, sind Versuche, die Charakterzüge des späteren Diktators schon in dem Kind losseb Dschugaschwili zu finden, äußerst fragwürdig.

Es wird allgemein angenommen, losseb habe eine schwierige Kindheit gehabt. Misshandlungen und Schläge seines trunksüchtigen Vaters und materielle Armut sollen den Jungen bitter, rücksichtslos und rachsüchtig gemacht haben.

Zahlreiche Hinweise sprechen jedoch dafür, dass Stalin eher in normalen Verhältnissen aufwuchs. Aus mehreren Berichten geht hervor, dass sein Vater nicht nur ein guter Schuster war, sondern auch Georgisch lesen und mehrere Sprachen einschließlich Russisch sprechen konnte. Stalins Mutter hatte etwas Hausunterricht erhalten und konnte Georgisch lesen und schreiben. In Zeiten, in denen in der Kaukasusregion viele Menschen Analphabeten waren, hatte die Familie damit einen Vorteil gegenüber anderen.

In den ersten Jahren von Iossebs Leben war Bessarion offenbar recht erfolgreich, und die Familie war gut versorgt.3

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Erst als sich der Vater zu einem schweren Trinker entwickelte und schließlich Frau und Kind verließ, ruhte die Verantwortung für Iossebs Erziehung allein auf den Schultern der Mutter. Ketewan war eine charakterstarke und fleißige Frau. Sie ging zunächst Gelegenheitsarbeiten nach und schaffte es dann, den Beruf der Damenschneiderin zu lernen. Sosso musste als Einzelkind im Gegensatz zu vielen seiner Kameraden nicht arbeiten und konnte deshalb zur Schule gehen. In einem Brief aus dem Jahr 1950, in dem ein Freund aus seiner Kindheit den Diktator um ein Treffen bat, schreibt dieser: »Als Du 1894 mit der kirchlichen Schule in Gori fertig warst, machte ich meinen Abschluss an der Stadtschule von Gori. Du wurdest am Priesterseminar in Tiflis angenommen, ich aber konnte nicht weiterstudieren, weil mein Vater acht Kinder hatte, deshalb waren wir arm und halfen ihm.«4 Iossebs Mutter träumte davon, dass ihr Sohn sozial aufsteigen und Priester werden würde. Sie arbeitete hart, damit ihr Traum in Erfüllung ging, und tat, was sie konnte, um Iosseb eine gute Ausbildung zu ermöglichen. Das passt kaum zu der Vorstellung, Stalin habe eine trostlose, von Armut geprägte Kindheit gehabt.

Gewiss gab es Streit in der Familie, und wenn Bessarion betrunken war, saßen seine Fäuste locker. Sosso wurde offenbar von beiden Elternteilen geschlagen. Aber wie Suny zu Recht anmerkt, reichen unsere Informationen nicht aus, um zu beurteilen, ob die Gewalt in seiner Familie das für den damaligen Ort und zu jener Zeit »normale« Maß überschritt oder welchen Einfluss die Schläge auf Sossos Entwicklung hatten.5

Es gibt jedenfalls keinen Grund anzunehmen, Stalins Kindheit und Jugend seien untypisch für das Umfeld gewesen, aus dem er kam, die Welt der einfachen, aber nicht mittellosen Handwerker und Ladenbesitzer in einer kleinen Stadt an der Peripherie des Imperiums. In dieser Welt herrschten zwar raue Sitten, doch war man eng miteinander verbunden und half sich von Nachbar zu Nachbar.

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Phasen relativen Wohlstands wechselten mit harten Zeiten ab. Kinder wurden manchmal streng und grausam, aber zuweilen auch mit Liebe und Nachsicht behandelt. Bei Sosso Dschugaschwili waren Gut und Böse, die Härte seines Vaters und die grenzenlose Liebe seiner Mutter relativ ausgewogen. Die Familie bekam finanzielle Schwierigkeiten, als Sosso schon die Schule besuchte, doch der Geldmangel hielt sich dank der Hilfe von Freunden und Verwandten in Grenzen. An der kirchlichen Schule und später am Priesterseminar in Tiflis erhielt Iosseb staatliche Unterstützung und profitierte von der Großzügigkeit wohlgesinnter Mäzene. Mutter und Sohn waren trotz ihrer bescheidenen Mittel in ihrer kleinen Gemeinde voll akzeptiert.

Viele Jahre später erklärte Stalin in einem Interview: »Meine Eltern waren ungebildet, aber sie haben mich überhaupt nicht schlecht behandelt.«6 Natürlich ist es möglich, dass er log oder unangenehme Kindheitserinnerungen verdrängte. Es gibt kaum Hinweise darauf, was er für seinen früh verstorbenen Vater empfand, aber alles deutet daraufhin, dass er seine Mutter wirklich liebte. Seine Briefe an die alte Dame enthalten Zeilen wie:

»Hallo liebe Mama! Wie kommst Du zurecht, wie fühlst Du Dich? Ich habe schon lange keine Briefe mehr von Dir bekommen, Du musst böse auf mich sein, aber was kann ich tun? Ich bin wirklich sehr beschäftigt«, und: »Ich grüße Dich, liebe Mutter! Ich schicke Dir einen Schal, eine Jacke und Medikamente. Zeige die Medikamente Deinem Doktor, bevor Du sie nimmst, weil ein Doktor die Dosis bestimmen muss.«7

Keke blieb trotz des kometenhaften Aufstiegs ihres Sohnes in Georgien, wo sie als geachtete Frau einen angenehmen Lebensabend verbrachte. Stalin war nicht auf ihrer Beerdigung im Jahr 1937, aber in jenem Jahr, auf dem Höhepunkt des Großen Terrors, verließ er Moskau auch sonst kein einziges Mal. Die Widmung, die er in Georgisch und Russisch für den Kranz auf ihrem Grab schrieb, lautete: »Meiner teuren und geliebten Mutter von ihrem Sohn Iosseb Dschugaschwili (von Stalin).«8

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Stalin schuldete seiner Mutter großen Dank. Sie arbeitete hart, um ihn zu versorgen und ihm eine Ausbildung zu ermöglichen. Außerdem pflegte sie ihn während seiner zahlreichen Krankheiten - auch als er die Pocken bekam, deren Narben in seinem Gesicht für den Rest seines Lebens zu sehen sein sollten. Ein Unfall in Kindertagen führte dazu, dass die Gelenke seines linken Arms, vermutlich aufgrund unzureichender medizinischer Behandlung, verkümmerten und er ihn nicht mehr richtig gebrauchen konnte.

Eine weitere körperliche Anomalie war genetisch bedingt: Zwei Zehen seines linken Fußes waren zusammengewachsen. Diese Beeinträchtigungen blieben bei seinen Mitschülern wohl kaum unbemerkt - und Jungen können grausam sein. Dennoch war Iosseb kein Außenseiter. Er war gleichberechtigt unter seinen Kameraden und nahm an all ihren Spielen teil. Überall geschätzt wurde er aufgrund seines ausgezeichneten Gedächtnisses.

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