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1   DER MENSCH IN DER WELT VON HEUTE     Chorafas-1974

 

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Intellekt

Der Mensch wird zeit seines Lebens mit Problemen konfrontiert, die ihm die Natur und er selbst sich stellt. Er will Leistungen vollbringen, rasch vorankommen, fliegen wie ein Vogel, Nahrung für viele schaffen, große und komplexe Städte bauen. Für diese Ziele setzt er alle möglichen Mittel ein, in erster Linie seine geistigen Kräfte. Er forscht, studiert und findet Lösungen. Doch zugleich schafft er damit neue Probleme, die noch komplizierter und von größerer Tragweite sind als die ursprünglichen.

Die genetischen Entwicklungen, die die vergangenen drei Jahrhunderte für den Menschen gebraucht haben, sind bedeutungslos im Vergleich zu den von ihm selbst geschaffenen Techniken des Kulturfortschritts. Jeder biologische Schritt nach vorn brauchte fast hunderttausend Jahre, aber der Mensch hat die Spanne für eine evolutive Änderung auf einen Zeitraum zwischen einem Jahrhundert und einem Jahrzehnt verkürzt.

Eine lange Liste von Attributen, die nur der menschlichen Spezies zu eigen sind, hat diesen Schrumpfungsprozeß ermöglicht: Gedächtnis, Fähigkeit zum Rechnen, Spezialisierung, Naturwissenschaften, Religion, Musik, Geisteswissenschaften, Sprache, begriffliches Denken, die Möglichkeit schriftlicher Fixierung, aber auch Sorge und Unzufriedenheit.

Hinzufügen lassen sich der Wille, die Elemente herauszufordern, die Übermittlung von Wissen, die Entwicklung von Werkzeugen und Maschinen, der Gebrauch der Gliedmaßen als Werkzeuge und eine nicht auf Perioden beschränkte Fruchtbarkeit. Vom evolutiven Standpunkt ist das erstaunlichste Charakteristikum des Menschen sein Gedächtnis mit den davon abgeleiteten Eigenschaften: Lernfähigkeit (Gedächtnis und Rechenvermögen), Fähigkeit zu Schlußfolgerungen (Lernen und Wahrscheinlichkeit) und abstraktes Denken mit der daraus folgenden Konkretisierung von Gedanken. Der Intellekt ist das Agens, das den körperlichen und kulturellen Fortbestand des Menschen sichert.

Die Entwicklung von Maschinen - ein klassisches Beispiel der Konkretisierung menschlichen Denkens zur Befriedigung bestimmter materieller Bedürfnisse - hat einen erstaunlichen Aspekt: Ihre Erfindung wurde nicht durch die Natur selbst gefördert, als Teil des Gesamtprozesses der Evolution, sondern durch das menschliche Gehirn, ein Instrument der Natur. In den vergangenen 200 Jahren hat die Maschine die Gesellschaft mehr beeinflußt als die Natur. Die Welt, die der Mensch geformt hat, formt auch ihn.

Der Hauptunterschied zwischen der Umwelt des Menschen und der Umgebung anderer Spezies liegt im Tempo der Veränderungen, die Wissenschaft und Technologie in die Beziehungen des Menschen zu seiner physischen und sozialen Sphäre eingeführt haben. Sie haben eine Kettenreaktion von Regelkreisen in Gang gesetzt, die sich auf die physische Sphäre - den Standort des Menschen als Teil einer organischen Gesamtheit - wie auf den gesellschaftlichen Bereich - die zwischenmenschlichen Beziehungen - auswirken.

Wirkungsvolle Veränderungen erfordern Voraussicht und Disziplin, Eigenschaften, die nicht immer leicht zu erwerben sind, wie man an der Geschwindigkeit und Richtung sehen kann, mit denen sich vom Menschen geschaffene Systeme entwickeln. Die biologische Evolution, das Ergebnis zufälliger Mutationen, die durch natürliche Selektion Bestand erlangen, geht langsam, aber stetig vor sich. Die psychologische und soziale Evolution des Menschen verläuft dagegen rasch und sprunghaft.

Die Geschichte zeigt, daß der Mensch in seiner Entwicklung von einer Krise in die andere getaumelt ist. Große Reiche sind zerfallen, bedeutende Religionen verschwunden, Zivilisationen wurden vernichtet, das Denken unterdrückt. Ganze Kulturen sind zugrunde gegangen, Völker wurden grausam dezimiert, Siedlungsräume zerstört. Eine Dominanzphase der psychischen Evolution nach der andern erreichte ihren Gipfel, zerfiel und wurde umgeformt oder abgelöst, damit die Aufwärtsentwicklung des Menschen ihren Fortgang nehmen konnte. Der Motor des Fortschritts waren und sind immer neue Ideen, neues Wissen und dessen Anwendung.

Leben

Der erste, noch ganz formlose lebende Organismus, aus dem schließlich der Mensch hervorging, war eine mikroskopisch kleine Zelle. Auf dem Wege der Evolution entwickelte sich dieser Organismus zu einer Doppelschicht undifferenzierter Zellen, einem Embryo mit Auswüchsen zur Nahrungs- und Sauerstoffaufnahme. Im weiteren Verlauf legte sich dieser Organismus Kiemenspalten, einen Schwanz, eine schützende Hülle und ein Eingeweidesystem zu. Er baute sein Nervensystem aus, entwickelte ein kleines Hirn, stieß die Hülle ab, bekam wie ein Affe einen dichten Haarpelz, der sich später wieder zurückentwickelte. Der Organismus kräftigte sein Gehirn und wurde zu einem Lebewesen, das lernte, Gegenstände zu unterscheiden, aufrecht zu stehen, zu sprechen und zu gehen. Dies ist in kurzen Worten die Transformation von Körper und geistigen Anlagen, deren Ziel der Organismus Mensch war: der Jäger, der Bauer, der Denker, der Wissenschaftler, der Arbeiter, der eine Fertigkeit erlernen muß, wenn er überleben will.

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Das Leben ist ein Umwandlungsprozeß, der seinerseits wieder durch die Evolution transformiert wird. Das Wort dient dazu, die Eigenschaften und Aktivitäten lebender Materie, wie sie an Tieren und Pflanzen zu beobachten sind, zu beschreiben. Das Phänomen Leben beruht auf komplexen chemischen Zusammenhängen, bei denen Nukleinsäuren eine wesentliche Rolle spielen. Im halbflüssigen Protoplasma, dem wichtigsten Wirkstoff des Lebens, sind zahlreiche organische Substanzen vertreten, von Enzymen bis zu Kohlenhydraten.
Beim Menschen als lebendem Organismus handelt es sich um eine Struktur, die von bestimmten Molekularsequenzen (Kohlen-, Wasser-, Sauer-, Stickstoff und Phosphor) gebildet wird. Im Kern der Ausgangszelle sowie im Nukleus jeder erwachsenen Zelle befindet sich ein zusammengerolltes Stück DNS, das aus fünf Milliarden paarweise angeordneter Nukleotide besteht. In diesem »Informationsträger« sind Millionen unterschiedlicher Proteine vorprogrammiert. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit regeln diese Informationsspeicher, an welchen Stellen und zu welchem Zeitpunkt einige Tausend Proteine produziert werden: die Sehnen und Enzyme, Anti-Körper, Hormone und alles, woraus sich der Körper zusammensetzt.
Marxisten und Christen, schreibt Jacques Monod, werfen den Biologen vor, sie führten die Entstehung des Lebens auf einen Zufall zurück und ließen kein universales Entwicklungsgesetz gelten.
Monod, dessen Theorie (»Zufall und Notwendigkeit«) auf seinen molekularbiologischen Forschungen basiert, sieht das Leben und den Menschen als Gewinn in der gigantischen Lotterie der Natur. Das Entstehen der plötzlichen, unvorhersehbaren und mikroskopisch kleinen Mutationen, die im makroskopischen Bereich der Organe neue Erscheinungsformen hervorbringen, sei zufallsbedingt. Wenn diese Mutationen zu einer tauglichen Struktur führen, bleibt sie notwendig erhalten und vervielfacht sich nach einem vorprogrammierten genetischen Code. Da der chemische Mechanismus in der gesamten Schöpfung derselbe ist, bestimmt das System die Genetik des Menschen ebensogut wie die von Bakterien. Biologische Mechanismen sind nach Monod konservativ, und die Evolution entwickelt sich nicht aus dem normalen Ablauf, sondern aus Zufällen: Mutationen. »Das Universum ging nicht mit dem Leben schwanger, die Biosphäre nicht mit dem Menschen.«

Evolution

Die Evolution, sagt Julian Huxley, ist eine Einbahnstraße - ein kontinuierlicher, einheitlicher, nicht umkehrbarer Prozeß, der sich selbst verwandelt und im Verlauf seiner Transformationen vielfältige und neuartige Entwicklungen hervorbringt.

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 Der Gesamtprozeß der Evolution setzt sich aus drei Phasen zusammen: der anorganischen oder kosmologischen, der organischen oder biologischen und der menschlichen oder psychometabolischen und soziologischen. Sie unterscheiden sich radikal in ihrem Umfang, zeitlich wie räumlich, in den Modalitäten, mit denen die jeweiligen Transformationen vor sich gehen, im Tempo der Veränderungen, dem Vorhandensein oder Nichtvorhandensein von Zielen, den Resultaten, die sie hervorbringen, sowie im Organisationsniveau, das sie erreichen.

In der Physiologie versteht man unter Metabolismus die Gesamtheit der physikalischen und chemischen (Stoffwechsel-)Vorgänge im Organismus. Auf dem Weg des Metabolismus wird Protoplasma erzeugt und wieder zerstört, wobei Energie frei wird. »Psychometabolismus«, ein neuer Terminus, überträgt die Vorstellung des biologischen Metabolismus auf die noetischen, kulturellen und psychologischen Lebensbereiche des Menschen.
Die Evolution auf unserem Planeten als Teil des kosmischen Gesamtprozesses geht seit vermutlich fünf Milliarden Jahren vor sich. Die Entwicklung des Lebens begann in der Halbzeit dieser gewaltigen Periode durch strukturelle Fehler, die erhalten blieben und sich vermehrten (Mutation). Fehler in der molekularen Reproduktion, Mutationen, sind unvermeidlich; eines der Wunder der Evolution besteht gerade darin, daß sie so selten sind. Der Mensch ist wie alle lebenden Organismen ein Produkt dieses physiologischen Evolutionsprozesses, der letzte dominante Typ, der dabei entstand.

Ein lebender Organismus kehrt nach einer leichten Beschädigung oder Fehlentwicklung per Erholung oder Regeneration zu seinem ursprünglichen Zustand zurück. Wie diese Rückkehr zu einem beständigen Zustand bewirkt wird, ist unwesentlich; was zählt, ist, daß lebende Ensembles sich nachweislich an das allgemeine physikalische Prinzip halten und daß eine derartige Stabilität den Prozeß der natürlichen Auslese möglich macht. Stabilität ist das Ergebnis eines selektiven Prozesses; sie ist nicht physikalischer Natur, sondern rein biologischer und geht auf die natürliche Auslese selbst zurück.

Die natürliche Selektion arbeitet mit Veränderungen, die von Mängeln ausgelöst werden. Mutation heißt, daß die Grundeigenschaft lebender Substanz, die sich unverändert reproduzieren muß, einen Defekt aufweist. Ohne einen solchen könnte es keine Veränderung und damit keine Verbesserung irgendwelcher Art geben. Und ohne die Fähigkeit zur Rückgewinnung der Stabilität, indem ein neues Gleichgewicht gefunden wird, könnte man überhaupt nicht von einem evolutiven Prozeß sprechen.

So wandelt biologische Stabilität den Zustand des Zufälligen in eine scheinbar zielgerichtete Entwicklung um. Defekte lösen den Prozeß der Veränderung aus, als ob sie eine mögliche Vervollkommnung zum Ziel hätten. Mutationen bringen im Laufe der Zeit Verbesserungen im lebenden Mechanismus hervor, die wegen ihres äußerst geringen Wahrscheinlichkeitsgrades sonst nicht möglich gewesen wären. Oft führt dieser Prozeß in Sackgassen, aus denen es nur einen Ausweg gibt: den Durchbruch einer von vielen Möglichkeiten.

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Psychometabolismus

Der Mensch ist erst vor kurzem aus der biologischen in die psychologische Phase seiner Evolution eingetreten, aus der dem Irdischen verhafteten Biosphäre in die Freiheit der Noosphäre, wie Teilhard de Chardin es nennt. In der selbstgeschaffenen Welt, in der er lebt, ist der Mensch mit zwei Metabolismen ausgestattet, zwei Systemen, die es ihm ermöglichen, das Rohmaterial der Natur in dienstbare Elemente zu verwandeln: dem physiologischen und dem psychologischen. Von den beiden ist der zweite wichtiger. Der Psychometabolismus befähigt den Menschen, komplexe Sachverhalte als ein Ganzes zu erfassen, und spiegelt das menschliche Streben nach Erfüllung wider.

Wir stehen heute erst am Anfang dieser neuen Entwicklung. Der gegenwärtige Stand der menschlichen Evolution läßt sich mit dem Augenblick in der Erdgeschichte vergleichen, als - vor drei- oder vierhundert Millionen Jahren - unsere amphibischen Vorfahren die Welt des Wassers verließen. Das neu entdeckte Reich der Luft gab ihnen direkten Zugang zum Sauerstoff, den sie zum Atmen brauchten, brachte aber auch körperliche Gefährdung; zwar blieben sie in ihrem frühen Lebensstadium noch dem Wasser verhaftet, doch konnten sie sich im ausgewachsenen Zustand auf dem festen Land bewegen.

So wie die Amphibien Luft brauchten, um am Leben zu bleiben, so braucht der Intellekt des psychometabolischen Menschen Probleme. Ein Mensch ohne Probleme verkümmert, und das gleiche gilt für die Gesellschaft: Probleme fordern die Fähigkeiten beider heraus. Ein Problem ist eine Sache, die Unsicherheit birgt und nach einer Lösung verlangt.

Die Fähigkeit des Menschen, Probleme zu lösen, hat sich aus der Beherrschung schwieriger Situationen entwickelt und wurde erhalten und verstärkt durch positive und negative Einwirkungen (Belohnung und Strafen). Diese stützenden Einwirkungen gehen von der gesellschaftlichen Umwelt des Menschen aus; ihr Sinn besteht darin, durch Reaktionen der Anpassung Spannungen zu reduzieren. Wie die Entdeckungen aus der menschlichen Vorgeschichte zur Genüge beweist, war es keineswegs so, daß der Homo sapiens sich mit seiner Sprache, seinem Intellekt und seinen Werkzeugen über Nacht entwik-kelte; er entstand in einer Zickzackentwicklung, einmal progredierend, einmal regredierend.

Während ein beträchtlicher Teil menschlichen Verhaltens, wie etwa das ^ymbolverhalten, auch anderen tierischen Sozietäten eigen ist, gibt die psy-

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chometabolische Entwicklung dem Menschen eine Sonderstellung. Nicht mehr gestützt und gesteuert von einem Instinkt-Rahmen, versucht er, sein bewußtes Denken als Organ psychischer und sozialer Antriebe zu benutzen, das ihn durch das Labyrinth seiner Existenz lenken soll. Dabei war ihm bisher nur ein bescheidener Erfolg vergönnt. Es ist wichtig, daß wir diesen Prozeß in seiner Wirkung auf die Gesellschaft im ganzen untersuchen, daraus Lehren ziehen und uns bewußt machen, daß gewisse Grenzen eingehalten werden müssen. Wenn wir die Kontrolle über unser Wirtschaftssystem aus der Hand geben, erschöpfen sich unsere Reserven. Wenn wir die Erdbevölkerung nicht in Grenzen halten, zerstören wir unseren Lebensraum und unsere Kultur. Unser wachsender Wissensvorrat kann noch immer keinen Hinweis geben, wie die psychosoziale Organisation umzugestalten wäre und wie wir diese schwierige Lage meistern könnten.

Warum der Mensch Probleme löst

Gedichte und Mythen, Götter und wissenschaftliche Theorien, kulturelle und soziale Gegebenheiten, Rechtssatzungen und moralische Grundsätze, der Wunsch, schöpferisch tätig zu sein, und das Streben nach Erfüllung - in all diesem findet der Psychometabolismus seinen Ausdruck. Der Psychometabo-lismus bringt Qualität in eine Welt des Quantitativen: Durch psychologischen und sozialen Druck befähigt er den Menschen, seine Gedanken und Aktionen zu ordnen, und veranlaßt ihn, nach einer Aufgabe zu streben.

Die Aufgabe, in der der Mensch das Größte leistet, ist das Lösen von Problemen. Bezogen auf die, welche die Natur bietet, sind die Problemlösungen, die der Mensch mit Hilfe seiner Geschicklichkeit, Begabung, Intelligenz und Werkzeuge findet, manchmal konvergent, öfter aber divergent, was Struktur und Verwendungszweck betrifft. Zum Zwecke der Fortbewegung auf festem Boden hat der Mensch das Rad erfunden, das es in der Natur nicht gibt, wie die Art zeigt, in der Tiere sich fortbewegen: Die beiden Lösungen sind divergent. Die Lösungen für die Fortbewegung in der Luft sind teilweise konvergent; gemeinsam ist ihnen der Gebrauch von Flügeln. Aber es besteht auch eine Divergenz: Ein Hubschrauber oder ein Düsenflugzeug bewegt sich auf eine ganz andere Weise fort als Vögel oder sonstige fliegende Tiere*.

Das Beispiel läßt sich noch weiterführen. Die Häuser und Städte, die der Mensch baut, sind durchzogen mit Röhren für den Transport von Wasser, Abfällen, Gas oder Wärme; dazu kommen noch die Leitungssysteme, die der

* Dagegen ist die Steuerung einer Düsenmaschine in der Luft analog zu der, mit der Kopffüßer sich durchs Wasser bewegen. Hier handelt es sich mithin um eine Konvergenz.

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Kommunikation dienen, zum Beispiel das Telephonnetz. Dies ist ein Fall von Konvergenz, da die Natur das gleiche Bauprinzip bei Tieren anwendet. Andererseits hat nach unserem heutigen Wissensstand die Natur kein komplexes psychometabolisches System wie der Mensch entwickelt, das mit seinen Folgen als divergent zu betrachten wäre.

Es gibt keinen Grund für die Annahme, daß der Mensch den Prozeß der Konvergenz-Divergenz gründlich erforscht hätte. Eine eingehende Beobachtung der Fledermäuse beispielsweise hätte zur Entdeckung der Phänomene Radar und Sonar führen müssen. Das Gegenteil war der Fall: Wir gingen die Probleme, die uns gestellt wurden, als isolierte Phänomene an. Wir hätten uns durch Beobachtungen Erfindungen sparen können. Statt dessen lassen wir die Beobachtung erst zu ihrem Recht kommen, wenn der Schritt der Erfindung getan ist. Ein anderes Beispiel in dieser Beziehung bietet der Computer. Die Physiker und Elektronikingenieure, die Materialstudien durchführen, Stromkreise und Computer entwerfen, könnten durch eine Erforschung des Gehirns mit Sicherheit neue Aufschlüsse und Ideen gewinnen. Doch nur wenige Wissenschaftler holen sich bei der Natur Anregung, wenn sie technische Lösungen suchen, welche die Erinnerungs- und rechnerischen Fähigkeiten des Menschen unterstützen sollen.

Am schlechtesten ist es um das Gebiet der Soziologie bestellt. Nur allmählich erkennen wir, daß wir noch weit davon entfernt sind, die Struktur der Gesellschaften der wir leben, erforscht zu haben. Wir haben unsere wissenschaftlichen Anstrengungen mehr und mehr auf die Erkundung des Weltraums konzentriert und die Beschäftigung mit dem »Innenraum« vernachlässigt. Wir haben das Reich des Geistes und die psychometabolischen Prozesse, die sich darin abspielen, sträflich verkümmern lassen. Dabei stehen gerade hier die größten Entdeckungen bevor, warten in diesem Bereich die weitesten und fruchtbarsten Gebiete darauf, daß der Mensch sie in Besitz nimmt. Alle Zweige der Wissenschaft und Bildung, von der Biologie zur Sozialanthropologie, von der Physik bis zur Ästhetik, können sich an diesem gewaltigen neuen Forschungsunternehmen beteiligen.

Die Erkundung des menschlichen Gehirns wird ungleich gefahrvoller sein als die Erforschung der Mondoberfläche, der Antarktis oder der Tiefsee, aber sie wird auch größere Früchte tragen. Allerdings besteht auch die Gefahr, daß dabei Menschen umkommen, Verstümmelungen erleiden, daß es zu Psychosen und zu Revolten derer kommt, welche die inneren Geheimnisse des Gehirns unangetastet lassen wollen. Daher ist es notwendig, mit aller Sorgfalt neue ethische Maßstäbe zu schaffen, die den Menschen leiten.

Da die Probleme immer zahlreicher werden, vergrößern sich die Aussichten, Lösungen zu finden, wenn der Mensch im Team arbeitet, dessen Mitglieder ihre Kenntnisse und Ansichten innerhalb der Gruppe konzentrieren. Aber dabei darf der einzelne nicht vergessen werden.

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Das entfaltete, gebildete, harmonische menschliche Individuum ist im streng wissenschaftlichen Sinn das höchste Phänomen, das wir überhaupt kennen. Und dieses Individuum sollte sich nicht als ein bedeutungsloses Glied im gesellschaftlichen Mechanismus, als hilflose Beute übermächtiger, unpersönlicher Gewalten fühlen. Der Mensch muß die Chance erhalten, seine Eigenpersönlichkeit weiter zu entwickeln, seine Möglichkeiten zu erkennen, mit anderen Individuen in fruchtbare Wechselbeziehungen zu treten - ein Stück von sich selbst zu entdecken.

Jedes von Menschen geschaffene System, ob des Denkens, des Ausdrucks -Kunst, Sprache unter anderem - oder des sozialen Verhaltens, ist geprägt von einem gewissen Maß an Geschlossenheit wie Uneinheitlichkeit, an Vielfalt und Uniformität, an Kargheit wie Reichtum. Kulturelle Vielfalt wird dort möglich, wo geistige Freiheit gewährt wird. Wenn aber die Gesellschaft rasche und handfeste Ergebnisse erwartet, ist Uniformität die einzige mögliche Antwort. Denker von ausgeprägter Originalität erreichen ihr Höchstes, wenn sie für sich allein arbeiten, aber um Wirkung zu erzielen, brauchen sie die Gesellschaft. Die Beobachtung bisher unbekannter Fakten, die Erweiterung der Vorstellungswelt und das Experimentieren mit Ideen verlangen ein Gehirn und zugleich einen gesellschaftlichen Hintergrund. In dem Konflikt, der daraus entsteht, daß der Mensch zugleich Individualität und Teil eines Ganzen ist, besteht die ganze Problematik der Freiheit.

Freiheit

Eng ausgelegt, bedeutet das Wort Freiheit, sich frei bewegen zu können, weder eingesperrt noch physisch eingeschränkt zu sein. Doch diese Definition beinhaltet einen Widerspruch: Da wir innerhalb eines sozialen Rahmens leben und tätig sind, gilt, daß wir, je mehr wir unsere Eigenständigkeit, was Arbeit, Denken, Sprache und Handeln betrifft, hervorheben, um so stärker Arbeit, Denken und Handeln anderer Menschen beeinflussen (wenn auch nicht unbedingt steuern). Freiheit in einem umfassenden Sinn betrifft sowohl den einzelnen als auch die Gemeinschaft. Im Goldenen Zeitalter der athenischen Demokratie beschnitt Perikles die Zahl der Wähler. Das Freiheitsrecht des Wählens wurde mehreren Kategorien von Einwohnern genommen, so auch denjenigen, die bei andern im Dienst standen. Als Begründung wurde angegeben, daß sie, durch ihr Beschäftigungsverhältnis abhängig, nicht Herren ihrer selbst seien. Dieser freie Akt des gewählten Oberhaupts eines Stadtstaates, ein so grundlegendes Gesetz zu erlassen, beeinflußte und beschränkte die Freiheit einer großen Wählerschicht.

Freiheit bedeutet Unabhängigkeit und Loslösung, Freilassung und Emanzipierung, aber auch Anarchie und Auflösung. Zwischen diesen Begriffen muß ein Gleichgewicht gefunden werden. Zwischen dem einzelnen und der

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Gemeinschaft, zwischen dem menschlichen Psychometabolismus und dem sozialen Leben, das ihn hervorruft, zwischen Verantwortung und Autorität, Autonomie und Unterwerfung muß es eine Grenzlinie geben, die oft situationsbedingt und von mehr als einem einzigen Faktor abhängig ist.

Der Widerspruch, von dem eben die Rede war, ist viel schärfer, als gemeinhin erkannt wird. Die biologische Ordnung entwickelt sich mittels eines Anpassungsprozesses auf einer evolutiven Zeitskala. Die psychologische Ordnung bildet sich im Maßstab eines Menschenlebens heraus, durch einen Lernprozeß, der in fast jeder Hinsicht andere Wege geht als die biologische Evolution. Die Verwirrung über die jeweilige Rolle der Einschaft (Individualität) und der Gemeinschaft, über ihre Verbindung und Gegensätzlichkeit, ist die Folge der allgemeinen Übung, zur Beschreibung konkreter psychologischer Entwicklung abstrakte Begriffe heranzuziehen. Einschaft drückt den Wunsch eines Menschen aus, als Individuum zu handeln, nicht nur als Glied einer Gruppe. Gemeinschaft ist das Miteinander einer Gruppe, geeint durch Zielsetzung und Konditionierung, die der Freiheit des Individuums Grenzen setzen.

Das Kriterium der Selektion ist nichts anderes als das Überleben; dies gilt für Populationen und Arten, nicht für Individuen. Was ist das Kriterium der Freiheit? Im biologischen Überlebensprozeß zählt das Individuum nicht, kann ungescheut abgeschrieben werden. Dies ist, innerhalb bestimmter Grenzen, der Hintergrund der Gemeinschaft. Das Lernen aber wird von Individuen vollzogen, innerhalb einer, ihrer eigenen Lebensspanne; es beruht auf Einschaft. Begreifen lernen, was man will und was man erreichen kann, ist die radikalste, die anspruchsvollste und die schöpferischste Lebenskunst. Treffend drückt dies die Anekdote von einem griechischen Philosophen aus, der von den Göttern dreierlei erbat: die Macht zu verändern, was er verändern könne, die Geduld hinzunehmen, was er nicht zu ändern vermöge, und die Weisheit, die fähig mache, das eine vom andern zu unterscheiden.

Der Prozeß des Denkens

Als Neugeborener besitzt der Mensch fast keinerlei sinnliches Unterschei-dungs-, geschweige denn Begriffsvermögen und kann deshalb Informationen nur unterbewußt aufnehmen. Dieses Bild verändert sich mit der Entwicklung des Denkens. In der kulturellen und anthropologischen Evolution des Menschen haben die Gedanken eine Funktion, die gewissermaßen analog zu der der Gene in der biologischen Entwicklung ist. Die Formung des Neugeborenen zu einem Wesen, das bereit ist zu glauben, was man ihm sagt, umfaßt viele Phasen. Dieser Prozeß scheint häufig zu dem Resultat zu führen, daß Menschen zuviel glauben, mit zuviel Überzeugung, und entsprechend reagieren.

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In der Wirklichkeit selbst, die wir um uns herum beobachten, spielt das Denken zumeist nur eine geringe Rolle, wohl aber die entscheidende, wenn es darum geht, sich eine Meinung über sie zu bilden. Dem Denken geht die Beobachtung voraus; erst in dem Augenblick, in dem wir einen Sinneseindruck verzeichnen, können wir ihn mit einem Inhalt verknüpfen.

Das Denken ist ein so fundamentaler Akt, daß Descartes treffend sagen konnte: »Ich denke, also bin ich.« Pascal antwortete Descartes mit der Feststellung: »Ich gehe, also bin ich«, aber dabei hatte er sicher nicht dieselbe Art von »Sein« im Sinn. Gehen, sich fortbewegen, kann jedem intelligenzlosen Tier ein Gefühl des Seins geben - wirkliches Denken ist eine Eigenschaft, die, soweit bekannt, nur der Mensch besitzt. Denken schafft Begriffe, Klärungen, Ideen und den ganzen Prozeß, der zu Entscheidungen führt: zur Wahl zwischen verschiedenen Möglichkeiten.

Der Vorgang der Gedankenbildung beginnt auf der Ebene der Vorstellung, aber diese stellt nur einen sehr kleinen Teil des Prozesses dar. Sie ist nichts Fertiges, Abgeschlossenes, das für sich steht; sie ist nur einer der ersten Schritte in der Kommunikation mit der äußeren Welt. Vorstellung erfordert Beobachtung, das »Fenster«, das sie braucht, um wirken zu können. Dafür gibt es Parallelen innerhalb des menschlichen Geistes: Was die Beobachtung für die Vorstellung ist, ist die Intuition für das Denken. Deshalb stellen Beobachtung wie Intuition die Vorposten des menschlichen Wissens dar. In der Auswertung der Daten beginnt erst dann die richtige Arbeit, wenn sie ihre Sammelarbeit geleistet haben. Ein Objekt oder Faktum muß demjenigen, der es beobachtet oder festgestellt hat, solange unverständlich bleiben, bis er es -durch Interpretation oder Assoziation - in Verbindung bringen kann mit Informationen, die in seinem Gedächtnis gespeichert sind (wovon in Kapitel über den »Knowledgman«, Seite 258, ausführlich die Rede sein wird).

Das geistige Bild eines Objekts oder Faktums entsteht nach Beobachtung und Assoziierung (im Fall äußerer Stimuli) oder nach Intuition und Reflexion (im Fall innerer Reize). Deshalb ist Denken, selbst der einfachsten Art, notwendig, um das geistige Bild zu klären, das ein Gegenstand, eine Erinnerung oder ein Sachverhalt geschaffen hat. Nötigenfalls ermöglicht es die Einsicht, die ersten Reflexionen zu korrigieren, und Voraussicht dient dem Geist dazu, Künftiges zu antizipieren und zu bewerten. Die Präzision, mit der Erkenntnis wie Voraussicht arbeiten, beruht auf der Fähigkeit, das Gehirn für begriffliches Denken einzusetzen: Der Mensch, der sich durch die Schulung seines Geistes eine große Zahl individualisierter Begriffe erworben hat, hat anderen die größere Erfahrung voraus.

Ein Mensch, dem Beobachtung, Intuition und assoziatives Verknüpfen mit Begriffen und im Gedächtnis gespeicherten Vorstellungen von Objekten und Fakten unmöglich wären, könnte keine Erkenntnis erlangen. Die Verarbeitung eines geistigen Bildes erfordert ein geschultes Denkvermögen, aber zu dessen Schulung bedarf es wiederum einer großen Zahl solcher Registrierungen: ein Circulus vitiosus oder ein Zyklus, der sich selbst beschleunigt. Den Ausschlag gibt, wenn die Voraussetzungen gleich sind, die Schulung.

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Die Stabilität des inneren Milieus

Noch mehr als die Wissenschaft hat die Technik die menschliche Kultur höchst ungünstig beeinflußt. Sie hat ein System geschaffen, das zu unstabil ist, um den Erwartungen auf einen unaufhörlichen »Fortschritt« und damit den Hoffnungen gerecht zu werden, die unserer Gesellschaft am meisten bedeuten. Diese Instabilität hat auch eine übermäßige Steuerung notwendig gemacht. Steuerung diktiert die Richtung, beherrscht, befiehlt, zügelt, schränkt ein. Beseitigen oder vorbeugen, regulieren, Grenzen setzen, Verbote aufstellen - all dies sind im Grunde Steuerungshandlungen. Mit der Zunahme der Bevölkerung erwiesen sich die alten Lenkungsmethoden als unwirksam, worauf man neue entwickelte, jedoch ohne die Grundelemente und ihre Auswirkungen auf die Freiheit des Individuums zu untersuchen.

Die ausgeprägteste, in ihrer Wirkung am tiefsten reichende Form der Lenkung ist die Steuerung des Denkens, praktiziert entweder durch direkte Suggestion (Religion, Propaganda, Gebet, Autosuggestion) oder durch den Mythos der Emanzipation. Der Rationalismus des achtzehnten Jahrhunderts definierte im geschichtlichen Rückblick die »condition humaine«, die Befindlichkeit des Menschen, als eine dreifache Sklaverei und verhieß demgemäß eine dreifache Emanzipation. Die Menschen seien versklavt durch materiellen Mangel, durch politische Bevormundung und durch religiösen Aberglauben. Handel und Technik würden sie vom ersten dieser Übel befreien, demokratische Einrichtungen vom zweiten und die Wissenschaft vom dritten. Der freie Mensch, so meinte man hoffnungsvoll, bedürfe keiner anderen Steuerung als der durch die Vernunft.

Seit mehr als einem Jahrhundert geht nun diese Emanzipation vonstatten -und schafft ihre eigenen Probleme. Auf jedem der drei Gebiete haben die Befreier des Menschen und der Menschheit die alte Ordnung aufgelöst, aber keine befriedigende neue an deren Stelle gesetzt. In den vergangenen zwanzig Jahren brachten neue Produktionskräfte unerträgliche Mißstände: Verwendung der Rohstoffe, Verschmutzung der Umwelt und eine Bevölkerungszunahme, mit der selbst die gesteigerte Produktivität nicht mehr Schritt halten kann.

Mit Drogen hat man versucht, Herrschaft zu sichern; die Amerikaner der Pionierzeit setzten den Alkohol ein, um den Widerstandswillen der Indianerstämme zu brechen; orientalische Despoten förderten den Gebrauch von Opium, um gewaltige Bevölkerungsmassen botmäßig zu machen.

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Die Versklavung des Menschen ist keineswegs beseitigt, sie bedient sich alter wie neuer Mittel: Geld, Gewalt und des Mythos von mehr Freiheit.

Menschliche Reaktionen treten als Folge des psychometabolischen Prozesses zutage, der selbst nicht gleichmäßig abläuft: Er verläuft in einer Folge dominanter Organisationstypen. Der sorgfältige Beobachter fragt sich, ob die Tatsache, daß die Physik sich vor der Biologie entfaltete, nicht - vereinfacht gesagt - unserer Orientierung auf eine materialistische Existenz entspricht. Daß das Bewußtsein der noetischen Kräfte des Menschen noch sehr jung ist, könnte durch ein Paradox erklärt werden: Das Gehirn ist das Instrument, das das Denken besorgt, aber wir können über das Gehirn nur denken mit physikalischen Begriffen, denn diese sind in unserem Denken wohlgeordnet.

Die Instrumente des Psychometabolismus sind die Ideen. Das System gedanklicher Vorstellung in der menschlichen Frühgeschichte beruhte zum großen Teil auf Magie, Mythos und Zauberei. Dieses Erbe ist zwar noch nicht ganz verschwunden, aber es wurde doch die Tür zu analytischer Untersuchung aufgestoßen, auch dies dank der Wissenschaft. Philosophen, Historiker, Naturwissenschaftler und Techniker schufen die Welt der Ideen; zur Beobachtung und Forschung in ihrer jeweiligen Disziplin benötigten sie Instrumente, die die natürliche Selektion nicht zur Verfügung gestellt hatte.

Sie brauchten Ideen, um weiterzukommen, und Ideen, um Alternativen zu formulieren und zu prüfen - kurz, Ideen, wie sich Probleme lösen lassen. Nur der Mensch hat Probleme, nicht die Natur; sie kennt nicht einmal den Begriff.

  Verantwortlichkeit 

Der Übergang von der Agrar- zur Industriewirtschaft war einer der entscheidenden Schritte in der Entwicklung des Menschen, ebenso bedeutsam wie der Abschied vom Glauben an Magie und Zauberei und die Hinwendung zu wissenschaftlichen Methoden.

Die Begriffe des Problems und des Fortschritts sind nur deswegen ins allgemeine Bewußtsein eingegangen, weil der Mensch erkannte, daß das Schaffen von Problemen und ihre anschließende Lösung sein Los verbesserten.
Schon bald wurde die kulturelle Erfüllung zum Hauptzweck in der menschlichen Existenz, und dies rückte ins Licht, daß innerhalb der menschlichen Beziehungen Verantwortlichkeit notwendig ist. Eine menschliche Gesellschaft, die sich von Magie, Aberglauben und Animismus gelöst hat, kann nur funktionieren, wenn der einzelne glaubt, daß er frei und für sein Handeln verantwortlich ist; und die Gesellschaft muß von ihm Rechenschaft verlangen.

Im Innersten sind wir zweifellos überzeugt, daß wir uns frei entscheiden können; aber diese Überzeugung sagt uns auch, daß es Grenzen gibt und daß der Mensch zur Verantwortung gezogen wird, das heißt, sich Bestrafung ausgesetzt sieht, nicht in der nächsten, sondern in dieser Welt.

Das menschliche Gehirn ist ein Organ der Anpassung, welches das Verhalten durch Rückkopplung von Informationen aus der Umgebung reguliert. Die Freiheit, zwischen mehreren Möglichkeiten des Handelns zu wählen, ist nur möglich als bewußte Ergänzung der Anpassung an die Umwelt; die Grenzen der Entscheidungsfreiheit, die Wahlmöglichkeiten, bestimmen die Verantwortlichkeit des Menschen.

Wir haben uns das bisher nicht genügend klargemacht. Physik und Chemie, Naturgeschichte und Geologie, Biologie und Anthropologie, Mechanik und Elektronik, Raumfahrt und Astronomie, auf diesen Gebieten hat die Menschheit die größten Eroberungen gemacht - nicht aber in der Psychologie und Soziologie.

Die Folge davon ist, daß der immer höher wachsende Berg unseres Faktenwissens auf Gebieten wie Physik, Elektronik, der thermonuklearen Zerstörungsgewalt, der Umweltverschmutzung und der Bevölkerungsexplosion bei weitem unsere Kenntnisse vom menschlichen Verhalten übertrifft. Einerseits vermehren die erstgenannten Daten unsere Sorge um die Zukunft, andererseits gibt uns der kärgliche Wissensstand auf dem zweiten Gebiet bis jetzt noch nicht die Mittel an die Hand, diese Ängste abzubauen.

Irgendwo auf dem kurvenreichen Weg der menschlichen Entwicklung haben wir das Gefühl unseres eigenen Seins verloren. Und nun müssen wir aufbrechen zu einem langen Erkundungszug durch die ältesten, archaischsten Anschauungen der Menschheit, nicht um sie wieder in unser Alltagsleben aufzunehmen, sondern um den verlorenen Faden der psychometabolischen Evolution unserer Art wiederzufinden. Dieser Faden ist ein ums andere Mal zerschnitten worden, immer wieder verlorengegangen und neu aufgenommen worden, zum letztenmal in den zwei Jahrhunderten, in denen die Philosophie der griechischen Antike in ihrer Blüte stand. Die langen Jahrhunderte eines geistigen Mittelalters, die danach folgten, führten zu einer immer stärker werdenden, immer rascheren Vereinsamung. Von ein paar Ausnahmen abgesehen, fühlt sich der Mensch in der modernen Welt verloren.

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