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  Nachwort    Chorafas-1974

 

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Das Mangel-Syndrom

Nichts dokumentiert die Notwendigkeit der Zukunftsbewältigung besser als die Einsicht, daß wir uns einer zunehmenden Verknappung vieler wichtiger Rohstoffgüter gegenübersehen. Seit einiger Zeit schon ist die Bedeutung der Energieversorgung der Öffentlichkeit bewußt geworden, zugleich aber wird offenbar, daß neben der Energie auch andere Hilfsquellen zur Mangelware werden. Der Verbrauch sämtlicher wichtiger Rohstoffe, auf welche die moderne Industriegesellschaft angewiesen ist, steigt mit atemberaubender Geschwindigkeit. Und während die Industriestaaten ihre eigenen Vorräte erschöpft haben, versuchen sie in zunehmendem Maß ihren Bedarf aus Ländern zu decken, die ihrem Kreis nicht angehören.

Angesichts dessen, daß der Weltverbrauch ständig anwächst, muß man davon ausgehen, daß die internationale Konkurrenz um viele wichtige Rohstoffe zusehends schärfer wird und daß dieser Wettbewerb die Preise in die Höhe treibt. Exzessive Preissteigerungen und Mangelerscheinungen bei Forstwirtschaftsprodukten - Bau-, Brennholz und Papier - haben ihre Ursache darin, daß die Waldflächen auf der ganzen Erde schrumpfen. Die Knapp­heit an Naturfasern, namentlich Wolle und Baumwolle, sorgt für den Anstieg der Textil- und Bekleidungspreise. Bisher bot sich der bequeme Ausweg, das zu knappe Angebot an Naturfasern durch die verstärkte Produktion künstlicher Fasern auszugleichen. Aber auch diese Lösung wird zunehmend gefährdet, vor allem durch die steigenden Preise für Öl, das einen wichtigen Grundstoff für die Herstellung synthetischer Fasern darstellt.

Die alarmierende Aufwärtsbewegung der Nahrungsmittelpreise im Jahr 1973 geht zum Teil auf einen langfristigen Trend zurück, der zu großer Besorgnis Anlaß gibt. Der Nahrungsmittelbedarf der Welt, durch Bevölkerungs­wachstum und steigenden Wohlstand gesteigert, nimmt allmählich ein Ausmaß an, mit dem die Kapazität von Landwirtschaft und Fischfang nicht mehr Schritt zu halten vermag. Diese Situation wird noch verschärft durch die Verknappung der Energieträger. Die Energie bildet den wichtigsten Kostenfaktor bei der Produktion chemischer Düngemittel, Erdgas ist dabei ein weiterer Grundstoff. Die ertragsintensive Landwirtschaft Westeuropas, Japans und der Vereinigten Staaten ist auf eine hohe Energiezufuhr angewiesen.

Seit Oktober 1973 sind die Mangelerscheinungen in der Ölversorgung voll ins Licht getreten. Doch über diese aktuelle Situation hinaus: was soll längerfristig geschehen? Können Europa und die Vereinigten Staaten es sich leisten, bis zum Ende des Jahrzehnts von der unvorhersehbaren politischen Entwicklung im Nahen Osten abhängig zu bleiben? Wir haben keine andere Wahl, als alternative Energiequellen zu entwickeln oder zu erschließen. Dies erfordert die Bereitstellung von Mitteln für Sofortprogramme zur Kohleverflüssigung und -Vergasung - und nicht etwa zur Forcierung von Kernenergie-Projekten, wie man sie in den meisten Staaten erwägt, denn dies würde die Gefahr heraufbeschwören, daß die Umwelt verseucht würde, mit katastrophalen langfristigen Folgen.

Während des Zweiten Weltkriegs gelang es deutschen Forschern und Technikern, durch Kohlehydrierung ausreichend Treibstoff für die gigantische Kriegsmaschine des Dritten Reichs bereitzustellen. Heute ist die Bundesrepublik außerstande, genügend Öl und Benzin für friedliche Zwecke selbst zu produzieren. Irgendwo ist das System zusammengebrochen; die deutsche politische Führung ließ es zu, daß die Bundesrepublik in gefährlichem Maß von den Lieferungen aus dem politischen Krisenherd Naher Osten abhängig wurde. Die Gefahrensignale waren schon lange zu sehen -aber sie wurden ignoriert. Das Argument, die Kohle sei zu teuer, ist nicht stichhaltig; nirgends waren jahrelang die Löhne höher als in den Vereinigten Staaten, trotzdem aber ist, dank weitgehender Automation (und des Tagebaus), amerikanische Kohle samt Einfuhrzoll und Frachtkosten in Europa billiger als europäische.

Es besteht kein Zweifel, daß die Kohle in der näheren Zukunft die Energiequelle darstellt. In den USA beispielsweise bestehen neunzig Prozent der heute bekannten Energiereserven aus Kohlevorkommen, zugleich aber decken sie nur ein Fünftel des Energieverbrauchs des Landes. Man hat sich zu einseitig und zu unbedenklich auf Lieferungen aus dem Nahen Osten verlassen und dadurch den Arabern zu der Möglichkeit verholfen, eine Industrie­nation gegen die andere auszuspielen, in der Hoffnung, so jegliche konzentrierte Vergeltungsaktion auszuschließen. Westeuropa sollte zu klug sein, um sich von den Arabern erpressen zu lassen.

Die forcierte Entwicklung eigener Hilfsquellen wird vermutlich die Abhängigkeit von ausländischen nicht völlig beseitigen, sie aber doch entscheidend vermindern. Europa besitzt kein Kupfer, doch es verfügt über gleich­wertige Ersatzstoffe. Außerdem müssen sich die Industriestaaten gegenüber den Rohstofflieferanten zusammenschließen und ihnen geschlossen gegenübertreten. Im Kampf gegen Monopole brauchen wir ein Gegengewicht. Dazu gehört auch eine gesteigerte Solidarität zwischen den rohstoffverbrauchenden Ländern, damit sie nicht, jedes auf sich gestellt, den Monopolisten hilflos ausgeliefert sind wie die Niederlande 1973.

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Ein unerwarteter Segen

Auf längere Sicht könnte die Rohstoffverknappung sich sogar als ein Segen für Europa erweisen. Westeuropa hat endlich begriffen, daß es zusammenstehen muß, eine Erkenntnis, zu der ihm die »Schockbehandlung« verholfen hat, von der der französische Soziologe Raymond Aron spricht. Aron schreibt: »Das Risiko einer solchen Behandlung liegt darin, daß sie entweder heilt oder tötet, und das stellt sich erst heraus, wenn man die Kur hinter sich hat.«

Die politischen Führer Europas blicken zu Recht voll Mißtrauen auf das Zusammenspiel der Supermächte im Nahen Osten. Ihre Einstellung gegenüber dem mächtigen Amerika hat sich in dramatischer Weise verändert: Sie sehen in einer Entspannung zwischen Moskau und Washington den Ausdruck der Existenz zweier Staaten, die kraft ihrer übermächtigen Stellung über andere hinwegbestimmen können. Allerdings gelingt es Europa noch immer nicht, dieses passive Mißtrauen in aktives, phantasievolles und praktisches Handeln umzusetzen.

Neben der Sicherung der wirtschaftlichen Unabhängigkeit besteht die wichtigste Aufgabe einer europäischen Führung darin, unseren Lebensstil auf die Einsparung von Energie auszurichten. Dies wird einschneidende Änderungen auf zahlreichen Gebieten mit sich bringen, vor allem auf denen der Architektur, des Heizungs- und Kraftfahrzeugbaues und der Massenverkehrsmittel. Der Prestigekonsum wie amerikanische Kaminfeuer, bei denen im Sommer eine Klimaanlage die Hitze absaugt, und ähnliche pathologische Erscheinungen müssen endgültig beseitigt werden. Auf die fetten Jahre der Verschwendung folgen nun die mageren der rigorosen Einschränkung.

Nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich in den industriellen Nationen, angeführt von den Vereinigten Staaten, eine Architektur entwickelt, die ein Unmaß an Energie verschlingt. Ihre Merkmale sind überhelle, ständige Beleuchtung, geschlossene Heiz- und Kühlsysteme und die Verwendung energieintensiver Baustoffe wie beispielsweise Aluminium. Symbol dieser gigantischen Vergeudungswirtschaft ist das World Trade Center in New York, dessen Energiebedarf den einer Stadt von 100.000 Einwohnern erreichen soll. Nicht nur müßte Architektur dieser Art künftig strikt verboten werden, man sollte derartige Bauwerke - gleichgültig, wie teuer ihr Bau kam und ob sie erst gestern errichtet wurden - kurzerhand abreißen, genauso wie die französische Regierung die neuen »abbatoirs de la villette«, die insgesamt mehr als 200 Millionen Franc verschlungen hatten, wieder niederreißen lassen mußte.

Unsere ganze Lebenseinstellung, wie sie Strategie und Struktur der vergangenen dreißig Jahre bestimmte, muß sich grundlegend ändern. Seit 1945 mißt man den Fortschritt an der Substituierung menschlicher Arbeitskraft durch maschinelle Kapazität - unter Einschluß des Computers -; wir ersetzen menschliche durch nichtmenschliche Energie.

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Besonders verschwenderisch auf diesem Gebiet zeigte sich die Industrie, die vierzig Prozent der in den nachindustriellen Staaten erzeugten und konsumierten Energie verbraucht. Wir stehen nun vor der Frage, ob eine immer mehr Energie verzehrende Produktion unser Ziel sein kann. Die Antwort ist ein klares NEIN. Wir müssen noch heute eine Ethik der Sparsamkeit in der Energieverwendung in Angriff nehmen - nicht nur für die nächste Zeit, nicht nur vorübergehend, sondern auf lange Sicht; nicht nur im häuslichen Konsum, sondern vor allem dort, wo der Energieverbrauch am stärksten zu Buche schlägt: in der Industrie, in der Bauwirtschaft und im Verkehrswesen.

Die Sozialstruktur der westlichen Hemisphäre, die wirtschaftlichen Maßstäbe und der Wohlfahrtsstaat stehen vor einer einschneidenden Veränderung. Die Energiekrise dürfte dramatische und dauerhafte Auswirkungen auf unsere Denkgewohnheiten und Verhaltensweisen haben. Der Soziologe Amitai Etzioni von der Columbia University vertritt die Ansicht, eine länger anhaltende Verknappungssituation werde die egalitären Tendenzen in unserer Gesellschaft umkehren und wieder eine stärkere Privilegierung mit sich bringen. »In Zukunft wird alles auf das Geld ankommen«, meint er. »Nur Leute mit Geld werden reisen und sich Lebensgenüsse leisten können« - wie auch die »Lebensgenüsse« in den kommenden lahren aussehen mögen. Der ärmere Teil der Gesellschaft aber wird schließlich einen unverhältnismäßig hohen Anteil der Bürde zu tragen haben.

Der Soziologe S. M. Miller von der Boston University glaubt, daß die Rationierung von Verbrauchsgütern wie Öl und Gas auch eine Rationierung der Lebenschancen mit sich bringen werde. »Wir werden eine Existenz mit mehr Planung führen müssen. Heute schon leiden wir an einer Einbuße in der freien Verfügung über Zeit und Raum. Diese Veränderungen werden der Gesellschaft viel Spontaneität und Lebensfreude nehmen. Und sie werden den westlichen Glauben dämpfen, daß alles jederzeit möglich und machbar sei. Doch der Mangel kann auch bewirken, daß man seine Freunde wiederentdeckt. Man wird das Auto, manche Betätigung und, wenn die Brennstoff­knappheit wirklich schlimm wird, vielleicht sogar das Haus mit anderen teilen müssen. Vielleicht werden die Menschen in einem gewissen Sinn sich selber wiederentdecken, weil es schwieriger sein wird davonzulaufen.«

Man kann dieser großen Veränderung echt positive Seiten abgewinnen. Die Sozialarbeiterin Sylvia Lavietes aus Manhattan sagte: »Zuerst war ich von der Energiekrise wirklich deprimiert, jetzt aber find' ich das alles großartig. Als Kind dachte ich mir manchmal, wie es wohl gewesen wäre, wenn man um 1850 herum gelebt hätte. Damals konnte man doch noch viel mehr über sein eigenes Leben bestimmen. Unsere Gesellschaft leidet an einer geistigen und körperlichen Verkümmerung. Diese Krise könnte wirklich etwas Gutes haben.«

Wir müssen unser Leben prüfen, wir müssen es, da es unteilbar ist, in seiner Gesamtheit neu definieren. So, wie es heute aussieht, wissen wir nicht mehr, was wahre Muße ist, weil wir das Gefühl für echte schöpferische Arbeit verloren haben. Wir haben eine künstliche Freizeitwelt geschaffen: Disneylands, Altengettos, monotone Erholungsgebiete. Diese Einrichtungen wurden notwendig, weil unsere Städte nicht die unterhaltenden Elemente zu bieten vermochten, um die Flucht aufs Land zu. bremsen. Nun, da unser künstliches System an seine Grenzen stößt, begreifen wir, daß wir nicht in der Flucht, im Eskapismus, unser Heil suchen sollten, sondern in einer Versöhnung der Faktoren Mensch, Arbeit und Muße. So könnte das wahre Bild der Zukunft aussehen, das sich schaffen läßt, wenn die Menschen wirklich reif werden.

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Ende

 

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Chorafas-1974