5 - Der Erdboden von Illinois
Commoner-1971
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Wenn man eine Stadt zu nennen hätte, die in allem, was die Umweltverschmutzung angeht, den genauen Gegenpol zu Los Angeles darstellt, dann würde man leicht auf Decatur in Illinois kommen, eine ruhige Stadt mit 100.000 Einwohnern, ungefähr 200 Kilometer von der nächsten Großstadt, St. Louis, entfernt und mitten im flachen Ackerland von Illinois gelegen. Ortsansässige Industrie gibt es kaum; keiner der wenigen vorhandenen Betriebe ist als Quelle wirklich ernster Verschmutzungen zu bezeichnen. Man könnte meinen, dies sei ein ziemlich ungeeigneter Ort, um Anzeichen einer Umweltkrise zu finden.
Und dennoch sieht sich Decatur heute einem Umweltproblem gegenüber, dessen potentielle Bedrohung der menschlichen Gesundheit und dessen Bedeutung für die Vereinigten Staaten und die ganze Welt ebenso groß sind wie die der verschmutzten Luft von Los Angeles.
Bis vor einigen Jahren gab es in Decatur tatsächlich keinerlei Anzeichen irgendwelcher Umweltprobleme; dann kam im örtlichen Gesundheitsamt eine Wasserprobe an, die einem routinemäßigen Test auf ihren Nitratgehalt unterzogen werden sollte. Derlei Untersuchungen führte das Amt hauptsächlich als eine Art Service für die umliegenden Farmen durch. Seit Jahren wußte man nämlich, daß die Brunnen auf den Bauernhöfen im Mittleren Westen häufig mehr Nitrat enthielten, als es den Richtlinien der Gesundheitsbehörden entsprach.50.
Nitrat selbst scheint für den menschlichen Körper allerdings verhältnismäßig unschädlich zu sein. Bestimmte Darmbakterien, die im kindlichen Organismus oft eine regere Tätigkeit entfalten als im Körper von Erwachsenen, können diesen Stoff jedoch zu Nitrit umwandeln. Und Nitrit ist giftig, denn es verbindet sich mit Hämoglobin, dem roten Farbstoff des Blutes, wandelt es in Methämoglobin um und verhindert damit den Sauerstofftransport durch das Blut. Ein Kind, das von dieser Störung betroffen ist, schwebt in Lebensgefahr; es verfärbt sich blau und droht zu ersticken. Seit einige Ärzte in Missouri das Problem erkannt hatten, wandten ihm die Gesundheitsämter große Aufmerksamkeit zu und wiesen die Farmer eindringlich darauf hin, andere Wasserquellen zu benutzen, wenn ihre Brunnen einen höheren Nitratgehalt als 45 ppm aufwiesen. Es handelt sich dabei übrigens um ein weltweites Problem; aus Frankreich, Deutschland, der Tschechoslowakei und Israel wurde über Fälle von kindlicher Methämoglobinämie berichtet.
Das Gesundheitsamt stellte nun fest, daß der Nitratgehalt der fraglichen Probe um einiges über der Grenze von 45 ppm lag, was aber nicht weiter überraschte, da nitratverseuchte Brunnen in der Gegend nicht gerade selten sind. Der Absender der Probe teilte der Behörde nun allerdings mit, daß er sie keinem Brunnen, sondern dem städtischen Wasserversorgungssystem entnommen hätte.
Die Stadt bezieht ihr Wasser aus dem Decatursee, einem Stausee des Sangamon River, und die schnell angesetzten Tests sollten zeigen, daß sowohl der See als auch der Fluß einen Nitratgehalt von mehr als 45 ppm aufwiesen. Das war im Frühjahr. Im Sommer waren die Werte erheblich gesunken, aber nur, um im Winter erneut anzusteigen und im folgenden Frühjahr wieder den Gefahrenpunkt zu erreichen. Seitdem wiederholt sich der Zyklus ständig, und die Stadt steht vor einem ernsten und noch immer ungelösten Problem für die Volksgesundheit.
All dies erfuhr ich aufgrund einiger Telefonanrufe von Dr. Leo Michl vom Gesundheitsamt. Ich hielt damals gerade ein Seminar über Umweltfragen, darunter auch die Nitratverseuchung der Flüsse im Mittleren Westen. Da die Studenten sich heutzutage recht intensiv mit der Bedeutung der Wissenschaft für die Belange der Öffentlichkeit befassen, war es vielleicht nicht allzu verwunderlich, daß einer meiner Studenten, der zufällig aus Illinois stammte, die Lokalzeitung von Decatur über die Ergebnisse der Wasseranalysen informierte. Nachdem seine Angaben vom Gesundheitsamt bestätigt worden waren, veröffentlichte die Zeitung die beiden brisanten Nachrichten, daß die Wasserreservoire der Stadt in den zurückliegenden Frühlingsmonaten mit Nitrat verseucht worden seien und daß der Dünger, der auf dem angrenzenden Ackerland verwendet worden war, als mögliche Quelle der Verunreinigung in Betracht gezogen werden müsse.
Der Zeitungsbericht versetzte die Leute in helle Aufregung. Wie in vielen anderen Teilen der Welt, so hat sich auch in Decatur ein übermäßiger Gebrauch von anorganischen Stickstoffdüngern zur Hauptstütze der landwirtschaftlichen Güter entwickelt.
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Seit 1945 sind die Kosten, die der amerikanische Landwirt für Land, Arbeitskräfte, Maschinen und Treibstoff aufbringen muß, im Verhältnis zum Barwert seiner Ernten enorm angestiegen. Andererseits sind die relativen Kosten für Düngemittel erheblich gesunken. Den höchsten Gewinn bringen dem Bauern also diejenigen Dollars ein, die er für Stickstoffdünger investiert. Wenn er aufgrund volksgesundheitlicher Erwägungen gezwungen würde, den Gebrauch dieser Düngemittel einzuschränken, könnte das unter Umständen seinen Ruin bedeuten.
Wie unmittelbar die Bauern in Illinois von diesem Dilemma betroffen sind, kann man nur richtig einschätzen, wenn man die Bodenbeschaffenheit in diesem Landstrich kennt. Illinois ist die große Maiszone der Vereinigten Staaten; Maispflanzen, die den Bodenstickstoff gierig aufsaugen, stellen den Hauptteil der angebauten Getreidearten dar. Der aufgrund der natürlichen Fruchtbarkeit des Bodens vorhandene Stickstoff nahm jedoch kontinuierlich ab, seitdem man das Land zu bebauen anfing.
Erinnern wir uns, daß in der Natur Stickstoff von den Pflanzenwurzeln vorwiegend in Form von Nitrat aufgenommen wird, das aus dem im Humus — einer äußerst komplexen, schwarzbraunen organischen Substanz — enthaltenen Stickstoff nach und nach freigesetzt wird. Dies geschieht durch die Bodenbakterien, die den organischen Stickstoff des Humus in anorganisches Nitrat umwandeln. Unter natürlichen Bedingungen wird der relativ große Stickstoffvorrat ständig aus den organischen Überresten abgestorbener Pflanzen und den Ausscheidungen der Tiere ergänzt. Außerdem gewinnen bestimmte Bodenbakterien Stickstoff aus der Luft und wandeln ihn zu organischem Bodenstickstoff um. Wird der Getreideanbau nun intensivst betrieben, das Getreide vollkommen abgeerntet und verkauft, nicht aber an Tiere verfüttert — wie es auf den meisten Farmen von Illinois der Fall ist —, dann muß der natürliche Stickstoffvorrat des Humus notwendigerweise immer mehr schrumpfen.
Setzt man dem Boden nun künstlichen anorganischen Stickstoff zu, dann können wieder höhere Erträge erzielt werden. In Illinois ist die Gesamtmenge des als Düngemittel eingesetzten anorganischen Stickstoffs von weniger als 10.000 im Jahr 1945 auf etwa 600.000 Tonnen im Jahr 1966 gestiegen.51.
Dementsprechend erhöhten sich auch die Hektarerträge.
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Von 1945 bis 1948, als noch sehr wenig Stickstoffdünger verwendet wurde, betrug der Durchschnittsertrag pro Hektar ungefähr 3,2 Tonnen; 1958, als etwa 100.000 Tonnen Stickstoff auf die Felder kamen, betrug der Durchschnittsertrag ca. 4,4 Tonnen pro Hektar. Das bedeutete einen Mehrertrag von 1,2 Tonnen bei einer Zunahme der Düngermenge um etwa 100.000 Tonnen jährlich.
1965 wurden 400.000 Tonnen Stickstoffdünger gebraucht, um einen Hektarertrag von durchschnittlich 5,7 Tonnen zu erzielen — eine Zunahme der Düngermenge um 300.000 Tonnen, um weitere 1,2 Tonnen einzubringen. Hier gilt also offensichtlich das Gesetz vom abnehmenden Bodenertrag; je intensiver die Bebauung, desto größer die Menge an Stickstoffdünger, die nötig ist, um dieselbe Ertragssteigerung zu erzielen.
Diese Zahlen sind der eigentliche Haken an dem ganzen Umweltproblem, mit dem es Decatur zu tun hat. Die Bauern des Ortes erklären, wenn sie nur ungefähr 5 Tonnen pro Hektar ernten könnten, wären ihre Unkosten gerade gedeckt. Um einen Gewinn herauszuwirtschaften, muß der Ertrag über diese Menge hinaus gesteigert werden, was unter den gegenwärtigen Bedingungen aber nur dadurch möglich ist, daß man Stickstoffdünger in solchen Mengen einsetzt, die von den Pflanzen nur höchst ineffektiv ausgewertet werden.
Die Bauern selbst brauchen sich wegen dieser Ineffektivität keine Sorgen zu machen, denn der Dünger ist, wie gesagt, sehr billig. Aber wenn pro Hektar eben nur ein kläglicher Rest jener Unmengen an Düngemitteln ausgenutzt wird, dann bedeutet das, daß der größte Teil irgendwo anders bleibt. Was mit diesem »verlorenen« Stickstoff passiert, kann man recht deutlich den Berichten der Wasseraufsichtsbehörde des Staates Illinois52 entnehmen, die für den Zeitraum von 1950 bis 1965 — in dem sich der Verbrauch von Stickstoffdüngern verfünffachte — einen außerordentlichen Anstieg des Nitratgehalts einer ganzen Reihe von Flüssen, in die das Wasser der Güter von Illinois abfließt, verzeichnen. Man hatte also allen Grund zu der Annahme, daß die intensive Düngung mit künstlichem Stickstoff als Hauptursache für den gefährlich hohen Nitratgehalt der städtischen Wasserreservoire anzusehen sei.
Diese Möglichkeit brachte die Bevölkerung von Decatur in eine schwierige Lage. Es gab keinen Zweifel daran, daß ihre Wasservorräte einem permanenten Risiko ausgesetzt waren, welches es unbedingt zu beseitigen galt; aber wenn man die Gefahr dadurch bannte, daß die Verwendung von Stickstoffdünger auf den umliegenden Feldern eingeschränkt würde, dann hätten nicht nur die Bauern, sondern auch Decatur selbst erhebliche finanzielle Einbußen hinzunehmen, da die Stadt wirtschaftlich weitgehend von den Ländereien abhängig ist.
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Der Streit, der nun in Decatur ausbrach, war nicht ganz neu. Die Kontroverse hatte ihren Anfang bereits genommen, als ich auf einer Jahrestagung der <American Association for the Advancement of Science> (AAAS, Amerikanische Vereinigung für den Fortschritt der Wissenschaft) eine Untersuchung über die Beziehung zwischen dem Einsatz von Düngemitteln und dem Nitratgehalt der Flüsse des Mittleren Westens vorlegte. Zwei Wochen nach diesem Symposium war den Bodenexperten von neun größeren Universitäten ein Schreiben des Vizepräsidenten des National Plant Food Institute (des Wirtschaftsverbands der amerikanischen Düngemittelhersteller) zugegangen, das auf eine jeweils beigelegte Kopie meines AAAS-Manuskripts hinwies und betonte, es sei dringend notwendig, meine Ausführungen zu widerlegen.
Diese Haltung von Seiten eines Verbands, der den Verkauf von Düngemitteln fördern will, ist verständlich, da seine Mitglieder — die in den Vereinigten Staaten eine Zwei-Milliarden-Dollar-Branche repräsentieren — ja wohl ein starkes Interesse daran haben dürften, daß immer mehr Dünger eingesetzt wird.
Aber auch für Wissenschaftler ist »Objektivität« ein schwer zu verwirklichendes und vielleicht sogar illusionäres Ziel. Schließlich sind wir ja nicht nur Wissenschaftler, sondern wohl immer auch menschliche Wesen. Wie jedes andere Individuum, so entwickeln auch wir ein persönliches Wertsystem, welches unter anderem unser Verhältnis zu bestimmten Bereichen der Gesellschaft und unser unabdingbares Interesse an der Bedeutung und dem Wert unserer eigenen Arbeit widerspiegelt. So lege ich beispielsweise, da mich die Vernichtung der Umwelt außerordentlich beschäftigt, größeren Wert auf eine vorbehaltlose öffentliche Diskussion der betreffenden Probleme als auf ein ruhiges Gewissen oder ein gutes Einkommen der Düngemittelhersteller oder der Landwirte. Die Position, die hier eingenommen wird, kann mit wissenschaftlichen Argumenten weder verteidigt noch widerlegt werden.
Jeder Mensch besitzt solche persönlichen Wertbegriffe, und bei einem Wissenschaftler spielen sie eine wichtige Rolle sowohl für die Wahl seines Forschungsgegenstands wie für die Interpretation seiner Forschungsergebnisse.
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Der Grund dafür, daß die Wissenschaft den wohlverdienten Ruf genießt, die Wahrheit über die Natur ans Licht zu bringen, liegt nicht in der »Objektivität« derer, die sie ausüben, sondern in der Tatsache, daß sie an einer Verhaltensregel festhalten, die seit langem im Bereich der Wissenschaft gültig ist: offene Diskussion und Publikation.
Was immer er an persönlichen Zielen, Werten und Vorurteilen besitzen mag, spricht und schreibt ein Wissenschaftler offen über die von ihm gefundenen Tatsachen, seine Interpretationen und Schlußfolgerungen, dann hat er der Wahrheit einen Dienst erwiesen. Denn in der Wissenschaft gelangt man nicht so sehr dadurch zur Wahrheit, daß man Fehler oder persönliche Vorteile vermeidet, als vielmehr dadurch, daß man sie in der Öffentlichkeit aufdeckt, wo sie korrigiert werden können.
Es kann daher nicht überraschen, wenn außer den Funktionären des Verbands der Düngemittelhersteller auch einzelne Universitätsprofessoren bis zu einem gewissen Grad über die Beobachtungen verärgert wären, die in bezug auf die Gefährdung des Wassers durch Stickstoffdünger gemacht worden sind. Die Bauern, die jetzt noch soviel Stickstoffdünger verwenden, tun dies nämlich auf den Rat von Agrarwissenschaftlern hin — von Wissenschaftlern also, die ihre ganze Arbeit mit voller Überzeugung dem Ziel gewidmet haben, die Ernteerträge der Bauern zu steigern und ihre wirtschaftliche Situation zu verbessern. Der enorme wirtschaftliche Wert, den der Stickstoffdünger für den amerikanischen Landwirt darstellt, ist in der Tat ein Zeichen der Anerkennung für die hingebungsvolle Arbeit und die Fähigkeiten der Agrarwissenschaftler. Was die Situation so prekär macht, sind ja nicht etwa die landwirtschaftlichen Folgeerscheinungen, die eine intensive Stickstoffdüngung an den Bodenerträgen hervorruft, sondern die ökologischen Folgeerscheinungen, die sie in den Wasserreservoiren verursacht. Und noch bis vor ganz kurzer Zeit (das heißt eigentlich bis zu der Kontroverse über Düngemittel, Schädlingsbekämpfungsmittel und andere in der Landwirtschaft eingesetzte Chemikalien) lag dieser größere Zusammenhang außerhalb des Gesichtskreises der Agrarwissenschaft.
Nun kennt die Wissenschaft außer der öffentlichen Diskussion noch einen anderen Weg, auf dem sie der Wahrheit näherkommen kann — durch Erhebung von mehr Daten. Dementsprechend entschlossen wir uns am Forschungszentrum für die Biologie natürlicher Systeme an der Washington-Universität, die Situation in Decatur eingehender zu untersuchen.
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Ausgezeichnete Informationen über den schwankenden Nitratgehalt des Sangamon River standen bereits in den Unterlagen des Staatlichen Wasseraufsichtsamts von Illinois zur Verfügung; außerdem gab es statistisches Material über den Düngemittelverbrauch. Aber trotz der Parallelität der beiden Kurven konnten die von uns daraus gezogenen Schlußfolgerungen bestritten werden, da wir zunächst keine Auskunft darüber geben konnten, wie der Stickstoffdünger denn nun tatsächlich vom Feld in den Fluß gelangte. Es mußte irgendeine Methode gefunden werden, die es erlaubte, zwischen dem Nitrat, das aus dem Kunstdünger stammte, und dem Nitrat, das über die Zersetzung des Humus oder anderer organischer Substanzen in das Wasser gelangt war, zu unterscheiden.
In diesem Zusammenhang fiel mir eine Beobachtung ein, die ich ungefähr zwanzig Jahre vorher in meinem Labor gemacht hatte, als wir ein schweres, radioaktivitätsfreies Stickstoffisotop verwendeten, um die Virussynthese in Pflanzen zu verfolgen. Das Stickstoffatom kommt in der Natur in zwei Formen vor, die chemisch identisch sind, sich aber in ihrem Atomgewicht voneinander unterscheiden. Die eine Form, Stickstoff-14 (Gewicht: 14 Atomeinheiten), macht ungefähr 99,6 Prozent der Gesamtmenge an natürlichem Stickstoff aus; in der anderen Form, als Stickstoff-15 (Gewicht: 15 Atomeinheiten), liegt der Rest von annähernd 0,4 Prozent der Gesamtmenge vor. Das Mengenverhältnis dieser beiden Formen kann mit Hilfe eines elektronischen Geräts, des sogenannten Massenspektrometers, erstaunlich genau bestimmt werden.
Die Messungen, die wir mit dem Massenspektrometer vornahmen, sollten sehr schnell zeigen, daß die in Illinois verwendeten Kunstdünger alle nahezu dasselbe Isotopenverhältnis aufwiesen wie die Luft (als natürliche Folge der Tatsache, daß Luftstickstoff zu ihrer Herstellung benutzt worden war), während der im Erdboden, in der Jauche und in den Abwässern vorhandene Stickstoff erheblich mit Stickstoff-15 angereichert war. Das bedeutete, daß die Bestimmung des Isotopenverhältnisses im Nitrat aus dem Sangamon River oder aus den Entwässerungsanlagen Aufschluß darüber geben konnte, ob das Nitrat aus Düngemitteln oder aus den im Erdboden, in der Jauche oder in den Abwässern enthaltenen organischen Substanzen stammte.
Wir entschlossen uns, solche Messungen vorzunehmen53.
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Es war ein glücklicher Umstand, daß ein Kollege vom Universitäts-Zentrum, Dr. John Goers, in Illinois aufgewachsen war und einige Leute aus der Gegend sehr gut kannte. Er gewann die Mitarbeit einer Gruppe von Landwirten in der Nähe der Stadt Cerro Gordo, deren Farmen im Einzugsgebiet des Sangamon lagen. Das ganze Land in diesem Gebiet wird durch ein System von Tonröhren künstlich entwässert, die jeweils ungefähr einen Meter tief unter der Erdoberfläche liegen. Dr. Goers wanderte nun mit seinen Farmerfreunden über die Felder, lokalisierte die Abflußöffnungen verschiedener Entwässerungsröhren und traf Absprache, daß von Zeit zu Zeit das dort heraustretende Wasser eingesammelt würde. Diese Proben wurden dann ins Labor gebracht, wo wir ihren Nitratgehalt und das Verhältnis ihrer Stickstoffisotope bestimmten.
Es ergab sich, daß die Abflußrohre mit hohem Nitratgehalt des Wassers wenig Stickstoff-15 enthielten und umgekehrt. Folglich konnte die Quelle, die für den hohen Nitratgehalt in den Bodenentwässerungsanlagen verantwortlich war, selbst nur geringe Mengen an Stickstoff-15 aufweisen. Die einzig mögliche Stickstoff quelle mit dieser Eigenschaft ist künstlicher Stickstoffdünger. Weitere Untersuchungen bestätigten diese Schlußfolgerung und bewiesen außerdem, daß mindestens 60 Prozent des Nitrats im Decatursee von Düngemitteln herrührten, die auf den umliegenden Feldern verwendet worden waren. Es besteht heute also kein Zweifel mehr daran, daß das Nitratproblem des Decatursees durch den intensiven Gebrauch künstlicher Stickstoffdünger auf dem angrenzenden Ackerland verursacht wird.
Einer meiner Kollegen an der Universität, Dr. Daniel H. Kohl, ist ein Fachmann und ein besonders begabter Forscher auf dem Gebiet der elektronischen Prozesse, die die Antriebskraft der Sonnenenergie an jene chemischen Prozesse koppelt, die sich als Endergebnis der Photosynthese einstellen. Dr. Kohl befaßt sich aber nicht nur mit Elektronen, sondern ist gleichermaßen an der Umweltkrise und ihren Folgen für das Wohlbefinden der Menschen interessiert. Bei dieser Motivation war es nicht überraschend, daß er uns gegenüber zum Ausdruck brachte, wie gerne er an der Isotopenanalyse mitarbeiten würde, mit deren Hilfe wir den Verbleib des Düngerstickstoffs in Illinois klären wollten. Dr. Kohl sollte dann auch ein Großteil des Erfolges unserer Studie zu verdanken sein — und zwar nicht nur, was die Laboruntersuchungen anging, sondern auch, was jenen anderen, nicht weniger wichtigen Bereich betraf: den menschlichen Kontakt mit den Farmern von Illinois, die — nachdem sie einmal über die möglichen Auswirkun-
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gen unserer Arbeit auf ihren eigenen Lebensunterhalt aufgeklärt worden waren — uns mit großem Verständnis die wertvollsten Informationen und Materialien zugänglich machten.
Es war nun ebenso beunruhigend wie erhellend, daß Dr. Kohl die Entscheidung, an unserem Forschungsprojekt mitzuarbeiten, gegen den heftigen Widerstand der meisten Kollegen seiner Abteilung durchsetzen mußte, die der Überzeugung waren, eine solche Arbeit sei als eine unannehmbare Verletzung ihres Prinzips anzusehen, sich nur der »reinen« Wissenschaft zu widmen.
Inzwischen sind die Wogen des Streits freilich immer mehr abgeebbt — seit nämlich nicht nur den Gesundheitsbeamten von Decatur, sondern auch den Landwirten und Agrarwissenschaftlern und schließlich auch den »reinen« Biologen klar geworden ist, daß das Düngemittelproblem überaus ernst zu nehmen und von weitreichender wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Bedeutung ist. Dieser Wandel der Anschauungen wurde besonders deutlich, als wir die Resultate unserer Isotopenmessungen im Herbst 1970 in der Oberschule von Cerro Gordo auf einem ziemlich ungewöhnlichen wissenschaftlichen Seminar mit ortsansässigen Landwirten, Beamten der lokalen Gesundheitsbehörde und Agronomen der Universität von Illinois vortrugen. Wir verlasen unsere Ergebnisse, erklärten, wie sie unserer Auffassung nach zu interpretieren seien und daß man daraus wohl nur den Schluß ziehen könne, daß der hohe Nitratgehalt in den Wasserreservoiren von Decatur in erster Linie auf die intensive Düngung der umliegenden Felder mit künstlichem Stickstoff zurückzuführen sei.
Die anschließende Diskussion dauerte bis tief in die Nacht. Nach einem lebhaften Gedankenaustausch mit den Agrarwissenschaftlern herrschte allgemeine Übereinstimmung darüber, daß unsere Zahlen von Bedeutung seien. Einer der Wissenschaftler berichtete, daß verschiedene landwirtschaftliche Berater die Bauern bereits darauf hinwiesen, sie müßten sich mit der Möglichkeit vertraut machen, nur noch sehr viel weniger Stickstoffdünger einsetzen zu dürfen. Ein paar Monate später wurde derselbe Agrarwissenschaftler in den Kontrollausschuß für Umweltverschmutzung des Staates Illinois berufen, wo er Maßnahmen einleiten sollte, die in der amerikanischen Landwirtschaft beispiellos waren: staatliche Vorschriften zur Einschränkung des Düngemittelverbrauchs.
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Am erfreulichsten aber war für uns die Reaktion der Farmer. Ihre eigenen, überaus bemerkenswerten Naturkenntnisse ließen sie nützliche Vorschläge für die Weiterentwicklung unseres Forschungsprojekts machen. Tatsächlich haben uns seitdem mehrere Farmer ihr Land zur Verfügung gestellt, damit wir die Auswirkungen verminderter Düngermengen auf den Stickstoffgehalt des Drainagewassers experimentell nachprüfen können. Der wichtigste Aspekt unserer Diskussion in der Schule von Cerro Gordo war aber wohl die Tatsache, daß die Bauern — die ja eigentlich am meisten zu verlieren hatten — sich über die Gefährdung der Wasserversorgung von Decatur ebenso besorgt zeigten wie die Beamten der Gesundheitsbehörde. Sie machten deutlich, daß sie bereit wären, auf jede Anregung einzugehen, die zur Lösung des Konflikts zwischen dem Bedarf der Stadt an sauberem Wasser und ihrem eigenen Bedarf, sich einen angemessenen Lebensunterhalt zu verdienen, beitragen könne.
Seither geht unsere Arbeit sehr viel zügiger vonstatten. Wir haben ein Team von Biologen, Chemikern, Geologen, Bodenexperten, Biochemikern, Anthropologen und Wirtschaftswissenschaftlern zusammengestellt, in dem die ganze Breite der in Frage kommenden Probleme bearbeitet werden kann. So untersuchen wir beispielsweise einerseits die Häufigkeit von Methämoglobinämie in dieser Gegend, um die Kosten der durch erhöhte Nitratgehalte hervorgerufenen Gesundheitsschäden festzustellen. Andererseits haben wir mit detaillierten Studien begonnen, um die Folgen zu klären, die jede Einschränkung des Düngemittelverbrauchs für den Landwirt mit sich bringt.
Andere Wissenschaftler beschäftigen sich mit ganz ähnlichen Fragen. Erst vor kurzem hat einer von ihnen, Dr. Abraham Gelperin von der Universität von Illinois, das Ergebnis einer Untersuchung vorgelegt, in der er die Todesfälle von Kindern in verschiedenen Landkreisen Illinois' einander gegenüberstellt54. Er berichtete, daß die Sterblichkeitsziffer für weibliche (nicht jedoch für männliche) Babys, die in Monaten mit erhöhtem Nitratgehalt des Wassers geboren worden waren (im April, Mai und Juni), in fünf Landkreisen 5,5 auf 1000 Neugeborene betrug, verglichen mit einer Sterblichkeitsziffer von 2,5 auf 1000 Neugeborene in den Monaten mit niedrigerem Nitratgehalt (August, September und Oktober). Dr. Gelperin schloß daraus, daß ein hoher Nitratgehalt, wie er in diesen Landkreisen vorgelegen hatte, die Sterblichkeitsziffer weiblicher Neugeborener ansteigen lassen kann.
Dies ist vielleicht die erste wissenschaftlich exakte Bestimmung jenes Preises, den der übermäßige Gebrauch von Stickstoffdüngern an menschlicher Gesundheit fordert.
Die Erkenntnisse, die wir anhand der Maisfelder von Decatur gewinnen konnten, sind übertragbar. Man nimmt an, daß der intensive Gebrauch von Stickstoffdüngern in Mittelkalifornien zu einem steilen Anstieg des Nitratgehalts in Wasserreservoiren geführt hat, aus denen zahlreiche Landstriche mit Wasser versorgt werden. Dasselbe Problem ist in Israel und in Deutschland aufgetaucht. Es ist das unerwartete Resultat eines wichtigen technologischen Fortschritts, dessen Eingriff in das ökologische System wir freilich nur so lange ignorieren konnten, als wir uns nicht bewußt waren, daß er nicht nur der Landwirtschaft nützt, sondern auch der menschlichen Gesundheit schadet.
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