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Die CDU auf dem Weg in den Sozialismus

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mit Erwähnung CDU-DDR

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Die stalinistische Geschichtsschreibung dient meist agitatorischen Zwecken. Deshalb reduziert sie die historische Realität auf leicht begreifliche Schemata: auf Etappen, Phasen oder Epochen. So wird Geschichte quasi numeriert und handhabbar gemacht, um sie als Waffe zu verwenden. 

Diesem Vorbild folgten auch die Historikerideologen der DDR-CDU, wenn sie den Weg der Union ins Blockflötendasein beschrieben. Sie registrierten drei innerparteiliche Auseinandersetzungen, an deren Ende die Unionsfreunde zuverlässige Bündnispartner der <Partei der Arbeiterklasse> waren.1)

Am Anfang der ostdeutschen Nachkriegsgeschichte stehen der Hunger und ein Befehl: der Befehl Nr. 2 der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) vom 10. Juni 1945, der die Tätigkeit politischer Parteien und Gewerkschaften zuläßt. Drei Tage später schon meldet sich die KPD in ihrem Zentralorgan »Deutsche Volkszeitung« zu Wort mit einem Aufruf »Schaffendes Volk in Stadt und Land! Männer und Frauen! Deutsche Jugend!«2) 

Die Kommunisten sprechen nicht von Revolution, aber von freier Unternehmerinitiative auf Grundlage des Privateigentums. Sie weisen die Vorstellung zurück, man könne Deutschland das Sowjetsystem aufzwingen, und fordern, die demokratischen Rechte und Freiheiten des Volkes herzustellen. Sie gehen als größte Gruppe des Widerstands aus der Nazizeit hervor, was sie später nicht daran hindern wird, die Legende ihres allzeit organisierten und zentral geleiteten Kampfes gegen die Hitlerdiktatur in die Welt zu setzen. Ihre moralische Autorität ist enorm, ihr engster Bündnispartner steht als Siegermacht im Land — ihre Aussichten sind glänzend. Als im April 1946 die Vereinigung mit der SPD gelingt, ist die SED die stärkste der Parteien im deutschen Osten.

Gegen die Kommunisten ist in diesen ersten Wochen nach der bedingungslosen Kapitulation der Naziwehrmacht schlecht Politik zu machen. Aber das will zunächst kaum einer. Das Elend der Nachkriegszeit erzwingt das Zusammenwirken der politischen Kräfte — das ist der alles überragende Gedanke in allen politischen Lagern.

Erst später werden die bürgerlichen Parteien erkennen, auf was sie sich eingelassen haben.

In ihrem Gründungsaufruf vom 26. Juni 1945 schreiben die Väter der CDU ganz im Stil des Nachkriegspathos:

»Deutsches Volk! In der schwersten Katastrophe, die je über ein Land gekommen ist, ruft die Partei Christlich-Demokratische Union Deutschlands aus heißer Liebe zum deutschen Volk die christlichen, demokratischen und sozialen Kräfte zur Sammlung, zur Mitarbeit und zum Aufbau einer neuen Heimat.«

Die Christdemokraten fordern, eine unabhängige Justiz ins Leben zu rufen, Religions-, Kunst- und Wissen­schafts­freiheit, das Recht der Eltern auf die Erziehung ihrer Kinder und daß alles Trennende beiseite gestellt werde. Ihre wirtschaftspolitischen Ziele schildern sie wie folgt:

»Das unermeßliche Elend in unserem Volke zwingt uns, den Aufbau unseres Wirtschaftslebens, die Sicherung von Arbeit und Nahrung, Kleidung und Wohnung ohne jede Rücksicht auf persönliche Interessen und wirtschaftliche Theorien in straffer Planung durchzuführen. Das Notprogramm für Brot, Obdach und Arbeit geht allem voran. Dabei ist es unerläßlich, schon um für alle Zeiten die Staatsgewalt vor illegitimen Einflüssen wirtschaftlicher Machtzusammenballungen zu sichern, daß die Bodenschätze in Staatsbesitz übergehen. Der Bergbau und andere monopolartige Schlüsselunternehmungen unseres Wirtschaftslebens müssen klar der Staatsgewalt unterworfen werden. Wir bejahen das Privateigentum, das die Entfaltung der Persönlichkeit sichert, aber an die Verantwortung für die Allgemeinheit gebunden bleibt.«

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Am 10. Juli wird die Partei von den Besatzungsbehörden zugelassen, wenige Tage später tut sie sich mit KPD, SPD und LDPD zusammen in einer »Einheitsfront der antifaschistisch-demokratischen Parteien«. Erst 1949 wird daraus offiziell der »Demokratische Block«, aber die Lektion in kommunistischer Bündnispolitik läßt nicht so lange auf sich warten. Es wird nur wenige Jahre dauern, bis CDU und LDPD unlösbar verstrickt sein werden in die weitverzweigte Struktur der Blockpolitik. Sie werden ihre politische Identität freiwillig als Wasserträger der SED bestimmen, auch wenn die einstigen Blockflöten heute davon nichts mehr wissen wollen.

 

Der Block ist ein Ergebnis der Volksfrontpolitik der Kommunistischen Internationale, wie sie auf deren VII. Weltkongreß 1935 formuliert worden ist. Für die revolutionäre Strategie und Taktik der KPD gibt es keine Stunde Null. Einheitsfront und Volksfront heißen die Durchgangsstadien auf dem Weg zur Errichtung der Diktatur des Politbüros. Welchem Zweck die Volksfrontidee folgt, beweist die Blockpolitik. Überrascht sein über die gutbürgerlichen Töne des KPD-Juniaufrufs konnte nur, wer, vielleicht aus antikommunistischer Blindheit, die Entwicklung der stalinistischen Strategie und Taktik nicht zur Kenntnis nehmen zu müssen glaubte. 

Und nur der konnte sich nach dem April 1946 einbilden, die neue sozialistische Partei, in der die angeblich ehemaligen Kommunisten ihre Macht mit tatsächlich ehemaligen Sozialdemokraten teilten, garantiere demokratische Verhältnisse. Vierzig Jahre später schreibt der DDR-Historiker Rolf Leonhardt, die Hoffnung des bürgerlichen Lagers, die Kommunisten würden »die von den Monopolen bestimmten Spielregeln des bürgerlichen Parlamentarismus« einhalten, sei nichts anderes gewesen als die Umschreibung des Versuchs, die Entwicklung der DDR zu einem sozialistischen Staat zu vereiteln »durch Ausnutzung bürgerlich-parlamentarischer Gepflogenheiten3«. Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen.

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Auch die »demokratische Bodenreform«, die entschädigungslose Enteignung allen Grundbesitzes über hundert Hektar, trug unter der antifaschistischen Garnierung die kräftige Handschrift der marxistisch-leninistischen Revolutionsstrategen. So verschieden die historische Situation sich darstellte, den Großgrundbesitz zu zerschlagen und das Land zu verteilen an die kleinen Bauern — in unserem Fall vor allem an die Neubauern — war für jeden Leninisten ein unverzichtbares Kredo, ob in Sowjetrußland oder in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ). Genauso unverzichtbar erschien es ihnen, den Bauern die Verfügungsgewalt über das Land bald wieder zu nehmen, als es darum ging, die Landwirtschaft zu kollektivieren.

Ein wesentlicher Unterschied zum russischen Vorbild bestand allerdings darin, daß es sich bei der Bodenreform im Osten Deutschlands zunächst lediglich um eine Option auf die Kollektivierung handelt, denn das Schicksal Deutschlands ist in den ersten Jahren nach dem Krieg noch nicht festgeschrieben. Zwar sind die Bestrebungen Stalins offenkundig, sein gewonnenes Vorland abzusichern, die unter ungeheuren Verlusten gewonnene Kriegsbeute zu behalten, aber die Frage, ob die sowjetische Zone dazu gehören wird, ist noch nicht ausgereizt. Die einstigen Antihitlerkoalitionäre feilschen um den Preis, und bevor sie sich schließlich nicht einigen werden, beherrschen die Querelen zwischen ihnen die Bedingungen der Politik auch in der Ostzone. Der Spielraum der CDU — wie der anderen Parteien und der Medien — bemißt sich nach den Absichten der SMAD und ihres Befehlshabers in Moskau. Er wird enger, als der kalte Krieg die internationalen Beziehungen vergiftet und die Welt sich in zwei Blöcke teilt.

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Einen fairen Wettbewerb zwischen den politischen Kräften in der SBZ hat es nie gegeben, von Anfang an usurpierte die KPD/SED den Löwenanteil der begrenzten Papierressourcen und beherrschte die Massenmedien. Die Zensur und andere Behinderungen taten das ihre, um die bürgerlichen Parteien wirkungsvoll zu schikanieren. Die SMAD diktierte, was die Parteien zu tun hatten. Sie verhaftete willkürlich Politiker der bürgerlichen Parteien, schloß Delegierte von Parteitagen aus, setzte nach Belieben Funktionäre ein oder ab. Sie schreckte auch vor Hinrichtungen nicht zurück. SMAD-Vertreter nahmen, wenn sie es wünschten, an allen Sitzungen aller Parteigliederungen teil und dekretierten deren Politik.

Der Bonner Historiker Michael Richter hat in seiner Dissertation die Methoden zusammengestellt, deren sich die SMAD und die SED bedienten, um auch gegen parlamentarische Mehrheiten ihre Politik durchzusetzen. Es ist ein besonders finsteres Kapitel der deutschen Nachkriegsgeschichte: Druck auf Abgeordnete bürgerlicher Parteien, um sie zu Fraktionsübertritten zu veranlassen; Verhaftungen; willkürliche Eingriffe in die Zusammensetzung von Fraktionsvorständen und, damit verbunden, Förderung prokommunistischer Parlamentarier; Bestechung; Vorladung von Abgeordneten der CDU und LDPD auf sowjetische Kommandanturen während wichtiger Abstimmungen; außerparlamentarische Aktionen gegen Parlamentsmitglieder; lückenlose Kontrolle aller Sitzungen der Landtage und ihrer Ausschüsse durch Sowjetoffiziere; Berichtszwang der Landtage gegenüber SMAD-Vertretern; Verbot von Gesetzesanträgen; direkte Einflußnahme auf Entscheidungen der CDU-Fraktionen durch sowjetische Kontrolleure.4

Demagogisch erklärte Walter Ulbricht, Zwangsmaßnahmen seien nicht vorgesehen. Vielmehr sollten die Kritiker der SED-Politik sich auf öffentlichen Versammlungen für ihre »Nein-Propaganda« verantworten, wie Carola Stern in ihrer Biographie des 1. Sekretärs berichtet.

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Die Betroffenen hatten keine Chance, sich gegen ihre kommunistischen Ankläger zu wehren. Wenn sie zugaben, die Politik Moskaus abzulehnen, lieferten sie selbst den Verhaftungsgrund. »Es wäre gelacht, wenn wir bei dieser Demokratie nicht gewinnen würden«, erklärte Ulbricht.5) Er sollte, wie so oft, recht behalten.

Der Begriff Psychoterror ist die einzige treffende Umschreibung für diese Art von Versammlungen. Der Druck, der so und durch denunziatorische Veröffentlichungen auf Widerstrebende ausgeübt wurde, erforderte fast übermenschliche Kraft bei den Opfern. Es ist kein Wunder, daß viele nicht standhielten, sich mit den Machtverhältnissen abfanden oder in den Westen flohen.

1950 schließlich wird der starke Mann der Arbeiterpartei den Blockfreunden bedeuten, daß seine und seiner Genossen Geduld mit demokratischen Übungen begrenzt ist:

»Wir verstehen sehr gut, wie kompliziert die Situation in verschiedenen Parteien ist. Es ist, wie wir übereinstimmend festgestellt haben, eine Wandlung in Deutschland durchgeführt worden. Wir sind nicht so naiv, daß wir glauben, daß alle Menschen das bis zu Ende verstehen. Wir wissen, daß in der CDU vielleicht die Hälfte der Mitglieder nicht alle Fragen bis zu Ende gedacht hat, sich nicht darüber klar ist. (...) Wir lassen Ihnen Zeit, daß Sie diese Menschen überzeugen. Aber der Block und die Anhänger der Nationalen Front können nicht erlauben, daß in den Parteien Kräfte organisiert auftreten, die einen Kampf dagegen führen und verhindern, daß die Menschen überzeugt werden und auf den richtigen Weg kommen.«6

Am Anfang hielten die Kommunisten es noch für erforderlich, sich wenigstens der passiven Unterstützung größerer Teile der Bevölkerung zu versichern. Auch bemühten sie sich verschiedentlich um eine gute Zusammenarbeit mit den Blockpartnern. Die Bodenreform beispielsweise, zu der die KPD im September 1945 aufrief, stieß zunächst keineswegs auf den entschiedenen Widerstand der Christdemokraten.

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Den Auftakt zur entschädigungslosen Enteignung von 7000 Großgrundbesitzern machte der Antifa-Block der Provinz Sachsen mit Zustimmung auch der CDU. Selbst wenn man in Rechnung stellt, daß die Kommunisten und die SMAD nach bekannter Manier allerorten Resolutionen für die Durchführung der Bodenreform — »Junkerland in Bauernhand« — organisierten: es kann keinen Zweifel daran geben, daß diese erste große Reform in der SBZ populär und im Kern notwendig war. Es ging zum einen darum, die Reste feudaler Strukturen aufzulösen und die Macht der ostelbischen Junker zu brechen. Diese Forderung war nicht neu, sondern hatte über die Arbeiterbewegung hinaus schon lange einen hohen Stellenwert gehabt.

Zum anderen war die Bodenreform die wirtschaftspolitische Antwort auf die Vertreibung von Millionen von Deutschen in Folge des Vernichtungskriegs Hitlerdeutschlands. Die einstigen Herren des Ostens fanden sich in Massen wieder als Neubauern in der SBZ. In den zur Verteilung vorgesehenen Bodenfonds gerieten 3,1 Millionen Hektar Land, 600.000 Hektar stammten von einstigen Nazigrößen. Die Bodenreform betraf 35 Prozent der Fläche der sowjetischen Zone.

Die Einwände der Berliner CDU-»Reichsleitung« — bald wird sie nicht mehr nur von Adenauer, sondern auch von der SMAD lediglich als Zonenleitung angesehen — richteten sich gegen den Umfang und die Entschädigungslosigkeit der Aktion, sie bestritt aber nicht die Notwendigkeit einer Bodenreform. Auch in christlich gesonnenen Kreisen herrschte die Vorstellung, daß eine Umwälzung der wirtschaftlichen Strukturen unvermeidlich sei. Die Verstaatlichung der Banken und Schlüsselindustrien sowie die Enteignung des Großgrundbesitzes erschienen vielen CDU-Mitgliedern und Wählern als unbezweifelbare Konsequenz der Nazivergangenheit. Der zitierte Gründungsaufruf widerspiegelte diese Stimmung so zutreffend wie das Ahlener Programm der CDU

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In dieser Hinsicht dachten die Deutschen Ost nicht anders als die Deutschen West. Konrad Adenauer zum Beispiel verwahrte sich im Juni 1946 in einem Leserbrief an das »Neue Deutschland« gegen den Vorwurf, in einer Rede das Großkapital von der Schuld am Nationalsozialismus freigesprochen zu haben:

»Das Großkapital ist zur Zeit in Deutschland erledigt, der militaristische Gedanke aber noch keineswegs. Im übrigen habe ich in der Rede mit großer Entschiedenheit und Deutlichkeit gegen Großkapital, Trusts und Konzerne Stellung genommen.«7

Viele waren für einen Sozialismus, ob sie ihn nun »demokratisch« oder »christlich« nannten. Die Kommunisten forderten den Sozialismus noch nicht. Dafür war ihrer dann um so realer.

Die KPD und die Besatzungsbehörden machten Druck, um die CDU-Führung dazu zu veranlassen, die Durchführung der Bodenreform zu unterstützen. Bei heftigen Debatten in dem noch »Einheitsfront« genannten Block kam aber nicht mehr heraus als eine Erklärung, in der eine »Entmachtung des feudalen Großgrundbesitzes« durch eine demokratische Bodenreform begrüßt wurde.

Seinen Höhepunkt fand der Streit, als sich der Vorsitzende der CDU Andreas Hermes im Dezember 1945 weigerte, einer Entschließung des zentralen Blocks zur Neubauernhilfe zuzustimmen, weil dies für ihn gleichbedeutend gewesen wäre mit einer nachträglichen Billigung der entschädigungslosen Bodenreform. Da Entscheidungen im Block einstimmig gefaßt werden mußten, trug der Neubauernaufruf nur die Unterschriften von KPD, SPD und LDPD.

In den Ländern und Kreisen wurden die Gliederungen der CDU bearbeitet von sowjetischen Offizieren und kommunistischen Funktionären. 

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Während es der Führung in Berlin weitgehend unmöglich gemacht wurde, ihre Positionen innerhalb der Partei wie in der Öffentlichkeit zu begründen, prasselten auf die Unionschristen in Städten und Dörfern Verlockungen, Drohungen und die Resolutionen kommunistisch gesteuerter Versammlungen ein. Als erster Landesverband beugten sich die Christdemokraten in Sachsen-Anhalt dem agitatorischen Dauerfeuer. Johann Baptist Gradl, einer der Mitbegründer der »Reichsleitung« der CDU in Berlin, berichtet in seinen Erinnerungen, daß vor der Unterstützung des Neubauernaufrufs durch die CDU Sachsen-Anhalts auch das Engagement des SMAD-Repräsentanten in Halle, General Kotikow, stand.8

Als dagegen in Berlin alles Zureden und Drohen versagte, zitierte Oberst Sergej Tulpanow, der sowjetische Aufseher über die Parteien der SBZ, die CDU-Vorständler zum Sitz der SMAD nach Karlshorst. Dort forderte er Andreas Hermes und seinen Stellvertreter Walter Schreiber auf, »freiwillig« zurückzutreten.

Hermes hatte zu Weimarer Zeiten als Zentrumspolitiker wichtige Funktionen bekleidet und war von den Nazis als Widerstandskämpfer zum Tode verurteilt worden. Schreiber stammte aus der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) und war von 1925 bis 1933 preußischer Minister für Handel und Gewerbe gewesen. Beide hatten ausreichend Format, um die Zumutung des Obersten zurückzuweisen.

Am Vormittag dieses 19. Dezember 1945 hatte Tulpanow erklärt, die SMAD habe nicht die Absicht, sich in interne Angelegenheiten der Union einzumischen. Als sich ein »freiwilliger« Rücktritt aber nicht erwirken ließ, berief Tulpanow für den Nachmittag desselben Tages eine Sitzung der Vertreter der Landesverbände ein, auf der nach einem Bericht von Hermes und Schreiber folgendes geschah:

»Nach einer einleitenden Darlegung des Obersten Tulpanow und Ausführungen einzelner Vertreter der Landes- bzw. Kreisverbände haben wir unseren sachlichen Standpunkt dargestellt. 

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Nachdem dann Tulpanow den offiziellen Befehl zu unserem Ausscheiden aus der Parteileitung bekannt­gegeben hatte, fügte er hinzu, daß wir dann (auch) nicht mehr berechtigt seien, auf der Gründersitzung das Wort zu nehmen. Wir verließen darauf die Sitzung, ohne eine Äußerung zu dem Befehl abzugeben.«9

In Publikationen der DDR-CDU liest sich das anders. Da gibt es keinen Oberst Tulpanow. Vielmehr habe Hermes' und Schreibers Kritik an der Bodenreform eine Protestbewegung der Mitglieder ausgelöst, und diese habe sie gezwungen, den Vorsitz niederzulegen. Im DDR-CDU-eigenen Union Verlag Berlin erschien in den sechziger Jahren unter dem Titel »Eine Abrechnung« das Buch eines Unionsfreunds namens Wilhelm Karl Gerst, das sich durch eine besonders perfide Argumentation auszeichnet. Im folgenden als Kostprobe seine Schilderung der »Hermes-Krise«:

»Für die Landesorganisation Mecklenburg-Vorpommern sprach Dr. Lobedanz, für das Land Sachsen der katholische Pfarrer Kisch10. Dieser mit besonderer Schärfe. Daß die Parteileitung den Neubauern die Hilfe versage, habe im Lande draußen tiefe Verbitterung hervorgerufen. Jede reaktionäre Linie in der Partei müsse bekämpft werden, ganz gleich wie sie sich darbiete. Solange nicht an der Spitze der Union eindeutig demokratische Persönlichkeiten stünden, sei die Union in Gefahr, in Verruf zu geraten. Die Parteileitung habe das Vertrauen der Bevölkerung verwirkt, der Rücktritt von Dr. Hermes und Dr. Schreiber sei erforderlich.

Am Abend des 19. Dezember trat der Zentralausschuß der Partei zusammen. Im gleichen Geiste und oft unter dramatischer Zuspitzung wurden die Vorwürfe gegen die Parteileitung wiederholt und schließlich einstimmig das Ausscheiden von Dr. Hermes und Dr. Schreiber aus dem Parteivorstand beschlossen.

An ihre Stelle rückten Jakob Kaiser als erster und Ernst Lemmer als zweiter Vorsitzender. (...) Dr. Lobedanz und Dr. Herwegen wurden in den engeren Vorstand aufgenommen.

Es ist aus den Berichten nicht zu erkennen, ob die beiden ausscheidenden Vorsitzenden an den Sitzungen dieses für die ganze CDU so wichtigen Tages teilgenommen haben.«11

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Im Weltbild der Geschichtsnumerierer war die »erste innerparteiliche Auseinandersetzung« der Ost-CDU sieghaft beendet. Jetzt standen nur noch Jakob Kaiser und Ernst Lem-mer zwischen der Ost-Christenunion und Otto Nuschke, dem »Vater und Lehrer der CDU«. Nuschke war überzeugt vom welthistorischen Sieg der Russen. Seine Verbündeten Reinhold Lobedanz und Leo Herwegen, die Landesvorsitzenden von Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt, waren schon eins nach vorne gerückt. Und im Hintergrund wartete bereits Gerald Götting - der Drahtzieher beim Marsch der Unionsfreunde vom »Sozialismus aus christlicher Verantwortung« in den realen Sozialismus der DDR, wie wir feststellen werden.

Jakob Kaiser war vor dem Machtantritt der Nationalsozialisten Funktionär der christlichen Gewerkschaftsbewegung und Reichstagsabgeordneter des Zentrums gewesen. Die Nazis hatten ihn verfolgt, er mußte sich jahrelang vor ihnen verstecken. Kaiser proklamierte einen »christlichen Sozialismus«. In Gegenwart des Obersten Tulpanow erklärte er seine Partei zum »Wellenbrecher des dogmatischen Sozialismus«. Unter Führung des gelernten Buchbinders Jakob Kaiser wurde die CDU zur stärksten Konkurrenz der SED, auch weil sie versuchte, die Lücke im politischen Spektrum zu schließen, die sich nach der Vereinigung von SPD und KPD aufgetan hatte. Kaiser und der zweite Vorsitzende Ernst Lemmer amtierten zwei Jahre lang, bis zum Dezember 1947, und auch ihre Ostkarrieren wurden beendet durch einen Befehl der SMAD.

In ihre Amtszeit fielen die ersten und letzten einigermaßen freien Wahlen in der SBZ/DDR im Herbst 1946. Ihr Gewinner war die SED, zuerst bei den Gemeindewahlen in Sachsen, Thüringen, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt im September, dann im darauffolgenden Monat auch bei den Land- und Kreistagswahlen; bei letzteren votierten 4,65 Millionen für die SED, 2,41 Millionen für die LDPD und 2,39 Millionen für die CDU.

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Aber dieser Sieg kam fast einer Niederlage gleich. Die erstrebte klare Mehrheit für die Partei wurde nicht erreicht, und bei den Wahlen zur Berliner Stadtverordnetenversammlung, bei denen auch die SPD antreten konnte, war die SED nur als Nummer drei (19,8 Prozent) eingelaufen — hinter SPD und CDU. Bei unbeschränkt freien Wahlen, ohne die Besatzungsmacht im Rücken und in Konkurrenz zur Sozialdemokratie, hätte die SED keine Chance. Das wußten auch ihre Führer. Die »Tägliche Rundschau«, das Organ der Besatzungsmacht, kommentierte den Ausgang der Kreis- und Landtagswahlen vielsagend: »Die enge Zusammenarbeit der antifaschistisch-demokratischen Kräfte erlaubte es, ein festes und stabiles Fundament für die künftige demokratische deutsche Republik zu schaffen.«12

Die Prognose sollte sich als Volltreffer erweisen. Auf dem Weg zur »demokratischen deutschen Republik« aber mußten noch einige »Unklarheiten« bei den Blockfreunden ausgeräumt werden, die sich trotz aller Behinderungen als stärker erwiesen hatten, als es der »Partei der Arbeiterklasse« lieb war. Die erste Unklarheit betraf die deutsche Einheit und die Volkskongreßbewegung, die sie herbeiführen sollte. Das jedenfalls behaupteten die Kommunisten.

Um so häufiger vom Volk die Rede ist, desto weniger hat es zu sagen. Wenn später von Volksbildung, Volkssolidarität, Volksarmee, Volkspolizei, Volkskammer usw. gesprochen wird, hat »unser Volk«, wie die SED-Führung die Bewohner ihres eingezäunten und eingemauerten Territoriums zu beleidigen beliebte, nichts mehr zu melden. Zunächst aber war Volkes Stimme gefragt. Zumindest seine Zustimmung. Denn ohne Völker können Regierungen keine Kriege führen, heiße nicht und kalte ebensowenig. Krieg erfordert, alle Kräfte zu mobilisieren. Das gilt, unter Hinweglassung militärischer Mittel, auch für den kalten Krieg.

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Das war jetzt das Gebot der Stunde. Denn nachdem der Zweck ihrer Koalition, der Sieg über Hitlerdeutschland, erfüllt war, wurden die verdrängten Antagonismen zwischen den Westalliierten und der Sowjetunion offenkundig. Es kamen neue Konfliktherde hinzu, als Moskau daran ging, in seinem frisch gewonnenen Imperium die Verhältnisse nach Gutdünken zu regeln. Aber auch die USA, Großbritannien und Frankreich wurden weniger von karitativen Absichten getrieben bei ihrem Versuch, in Westeuropa einen antisowjetischen Block zu schmieden. Der Marshallplan sollte sich als wirksames Instrument erweisen, um die Wirtschaft westlich des sowjetischen Einflußgebiets anzukurbeln. Unausgesprochen setzte er kapitalistische Wirtschaftsverhältnisse voraus und schloß damit das sowjetische Einflußgebiet von seinen nicht nur unzweifelhaften Segnungen aus. Es dürfte in den westlichen Hauptstädten niemanden überrascht haben, als Moskau den Marshallplan rüde zurückwies. Er ist die Gründungsurkunde der »westlichen Wertegemeinschaft«. Er erstickte bald die damals weitverbreitete Kapitalismuskritik, als die Schornsteine wieder zu rauchen begannen.

Und dann sollte es keinen Kapitalismus mehr geben. In einem ideologischen Verwirrspiel ohne Vorbild verdichteten sich Wirtschaftswunder und Konsumrausch, Verleugnung der Nazivergangenheit und Antikommunismus zu jener Schimäre, die als die vernichtendste Waffe im Arsenal der psychologischen Kriegführung jede Atombombendrohung in den Schatten stellen sollte: die »soziale Marktwirtschaft«. So wurde der Kapitalismus nun genannt von seinen Vertretern.

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Genauso entschlossen wie in den Westzonen wurden in der SBZ die Pflöcke der Spaltung eingeschlagen. Die »Volkskongreßbewegung für Einheit und gerechten Frieden«, die zu bilden der SED-Parteivorstand am 16. November 1947 forderte, diente - natürlich - anderen Zielen, als vorgegeben wurden. Obwohl es im sowjetischen Kalkül natürlich eine Rolle spielte, auf der Londoner Außenministerkonferenz Ende 1947 eine politische Kraft präsentieren zu können, die Moskaus Vorstellungen von einer Neuordnung der Lage in Deutschland unterstützte. Die sowjetische Führung befürchtete zu Recht, daß die Westzonen einbezogen werden könnten in ein gegen sie gerichtetes Bündnis.

Hier ist nicht der Ort, zu spekulieren über die Frage, welchen Preis die Sowjetunion zu bezahlen bereit gewesen wäre für die Neutralität Deutschlands. Die Londoner Konferenz der Außenminister jedenfalls war nicht der Markt für Geschäfte solcher Art, und wie es scheint, haben die Beteiligten das von vornherein gewußt. Die Standpunkte waren unvereinbar, eine große Stunde der SED-Propaganda schlug. Neben der Bestimmung der Schuldigen an der Spaltung Europas und Deutschlands hatte sie die Aufgabe, die Parteienlandschaft in der SBZ zu sortieren.

Die Führer und Mitglieder der bürgerlichen Parteien gerieten unter stärkeren Druck. Fügten sie sich den Wünschen der SED, verloren sie ihre Identität. Beharrten sie auf ihren Positionen, wurden sie als »Helfershelfer der Adenauer-Clique« und »Spalter« diffamiert. Niemand verstand es besser, den Volkszorn zu lenken auf widerstrebende Vertreter der bürgerlichen Parteien, als die Kommunisten. Die SED beherrschte die Presse, sie organisierte Protesterklärungen aus Betrieben und Behörden. Die Betroffenen hatten kaum eine Chance, sich zu Gehör zu bringen. Meistens genügte es, ihnen die Instrumente zu zeigen.

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Die Londoner Außenministerkonferenz scheiterte, die Volkskongreßbewegung aber sollte ihr Ziel erreichen. Keine zwei Wochen nach dem Aufruf der SED trat der »i. Deutsche Volkskongreß für Einheit und gerechten Frieden« zusammen. Von 2215 Teilnehmern stammten 664 aus den Westzonen. Sie alle waren nicht demokratisch gewählt, sondern als Delegierte bestimmt worden in willkürlich zusammengerufenen und zusammengesetzten Versammlungen unter kommunistischer Kontrolle. Als Hauptreferenten traten auf: Wilhelm Pieck und Otto Grotewohl von der SED, der LDPD-Vorsitzende Wilhelm Külz und Otto Nuschke (CDU).

Im Gegensatz zur LDPD hatte sich die CDU dem Werben und Drohen der SED und der SMAD entzogen und die Parteiführung ihren Mitgliedern die Teilnahme am Volkskongreß lediglich freigestellt. Walter Ulbrichts »Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung« nennt 219 Teilnehmer mit CDU-Parteibuch13, sie stellten also gerade zehn Prozent der Teilnehmer.

Kaiser und Lemmer konnten sich bei ihrem Widerstand gegen den Propagandafeldzug der SED auf die überwiegende Mehrheit der Parteimitglieder stützen. Sie waren im September 1947 auf dem 2. CDU-Parteitag mit überwältigender Zustimmung in ihren Ämtern bestätigt worden. Sie unterstützten den Marshallplan und wandten sich gegen die Oder-Neiße-Grenze. Alle Bemühungen des Obersten Tul-panow und der SED halfen nichts. Es war nur eine Frage der Zeit, wann das sowjetische Maß voll war. Am 20. Dezember setzte die SMAD Kaiser und Lemmer als Parteivorsitzende ab. In der offiziellen Darstellung der DDR-CDU liest sich diese Episode so:

»Die zweite innerparteiliche Auseinandersetzung fand ihren Höhepunkt im Versuch der reaktionären Parteiführung um Jakob Kaiser, Ernst Lemmer und Ferdinand Friedensburg in den Jahren 1946/47, die Blockpolitik zu unterminieren, insbesondere die Zusammenarbeit mit der Partei der Arbeiterklasse zu torpedieren, die CDU als >Wellenbre-

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cher gegen den (im Originalzitat von Kaiser steht hier: 'dogmatischen'; C. D.) Marxismus< zu mißbrauchen und die Mitarbeit in der Volkskongreßbewegung, die gegen die einsetzende Spaltungspolitik der imperialistischen Besatzungsmächte und der reaktionären Kräfte in den Westzonen entstanden war, zu verweigern. Gegen diese Machenschaften lehnten sich die fortschrittlichen Mitglieder in unserer Partei einschließlich der Landesvorstände auf, die sich bereits der Volkskongreßbewegung angeschlossen hatten. In hartem Ringen wurde dieser Gegensatz zwischen dem reaktionären Flügel in der Parteiführung und den progressiven Mitgliedern und Funktionären im Dezember 1947 zugunsten des Fortschritts entschieden. Otto Nuschke und seine Freunde - unter ihnen August Bach, Gerald Götting, Pfarrer Ludwig Kirsch, Reinhold Lobedanz und Luitpold Steidle - konnten sich, gestützt auf die Masse der Mitglieder, durchsetzen.«" (Hervorhebung im Original; C. D.)

 

Raschen Schritts nähern wir uns der »dritten und endgültigen innerparteilichen Auseinandersetzung«.

Die Geschichtsnumerierer der DDR-CDU verlegten sie auf die Jahre 1949/50, in Wahrheit fielen die zentralen Entscheidungen auf dem Weg ins Blockflötendasein im aufregenden Jahr 1948. Das Drama, dessen Schlußakt die Bildung zweier deutscher Staaten sein wird, beginnt am ersten Tag dieses Jahres: Die Vorsitzenden der CDU-Landesverbände weigern sich, die Zonenleitung weiterhin anzuerkennen, und bilden einen Koordinierungsausschuß, an dessen Spitze der sächsische Landesvorsitzende Hugo Hickmann, Reinhold Lobedanz und Otto Nuschke gestellt werden. Der Ausschuß fand in der Mitgliedschaft keineswegs die Unterstützung, die seine Vertreter sich gewünscht hätten. Nach wie vor setzte ein Großteil der Mitgliedschaft auf Jakob Kaiser.15

Es sei nur am Rand bemerkt, daß die Geschichtsschreibung der DDR-CDU statt Hickmann Otto Nuschke als Interimsvorsitzenden ausweist.16 Hugo Hickmann wurde 1950 gezwungen, als sächsischer Landesvorsitzender zurückzutreten, weil er nicht abrücken wollte von einer neutralistischen Position. Zur Strafe beförderten die Kryptostalinisten ihn in die Geschichtsschublade der Reaktionäre und Agenten des Imperialismus, denn nun war der Neutralitätszug abgefahren und die CDU im volksdemokratischen Lager angekommen.

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Nuschke kam in Wirklichkeit erst im Herbst 1948 zum Zug, auf dem Erfurter Parteitag der Union. Er war vor 1933 Journalist, Mitglied der Weimarer Nationalversammlung und Abgeordneter des preußischen Landtags für die Deutsche Demokratische Partei (DDP) gewesen. 1945 zählte er zu den Mitbegründern der CDU in Berlin. Er amtierte als Verlagsleiter der CDU-Parteizeitung »Neue Zeit« und war Mitglied der Landtage von Brandenburg und Sachsen-Anhalt.

Ab wann genau Nuschke, der sich auch als Eurasier bezeichnete, auf die sowjetische Karte setzte, ist nicht bekannt. Wilhelm Gries, den die SMAD 1947 als Chefredakteur der »Neuen Zeit« feuerte, berichtet in seinen unveröffentlichten Erinnerungen von folgender Episode, die recht aussagekräftig ist hinsichtlich der Psychologie jener Tage:

»Es war am 4. Dezember [1947], also zwischen der Absage der CDU an den Volkskongreß und seiner Eröffnung, als Otto Nuschke zu Oberst Tulpanow bestellt wurde und, von ihm zurückkehrend, das Konferenzzimmer der Redaktion der >Neuen Zeit< betrat. Die Konferenz war gerade beendet, und wir waren im Begriff, den Raum zu verlassen. Im Vorbeigehen sprach ich Nuschke an, der mir den Eindruck tiefer Niedergeschlagenheit machte. >Was war bei Tulpanow?< fragte ich ihn, >ging es um die Zeitung ?< Er schüttelte verneinend den Kopf. Meine nächste Frage: >Dann ging es um den Volkskongreß?< Er erwiderte: >Ja! Tulpanow hat mir klargemacht, daß der Volkskongreß auf der Linie der sowjetischen Außenpolitik liegt.< Dann folgte das Eingeständnis totaler Resignation mit seiner abschließenden Bemerkung: >Was wollen Sie da noch machen!< Das kurze Gespräch mit Otto Nuschke habe ich wörtlich in Erinnerung. Es hat sich mir unverlierbar eingeprägt als das Eingeständnis eines Opfers jenes psychischen Zwanges, der den freien Willen des Menschen bewegt und - nicht in seinem Denken, aber in seinem Handeln - in das Gegenteil verwandelt.«17

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Ein mildes Urteil über einen Täter, der auch ein Opfer war. So groß der Druck war, Nuschke wie andere waren nicht gezwungen, den sowjetischen Vorgaben zu folgen. Ebensowenig ist es vorstellbar, daß ein Politiker ein Jahrzehnt lang das Gegenteil von dem vertreten haben soll, was er dachte. Daß Politiker häufig anders denken, als sie reden, muß hier nicht erörtert werden, aber daß ein Parteiführer jahrelang vollkommene Selbstverleugnung praktiziert haben soll, leuchtet nicht ein. Er hätte im schlimmsten Fall in den Westen fliehen können, wo ihm als Kronzeuge gegen die Politik der SBZ/DDR genügend Aufmerksamkeit zuteil geworden wäre, um seine ausgeprägte Eitelkeit zu befriedigen.

Nuschke hoffte, die CDU erhalten zu können bis zu dem Zeitpunkt, an dem Deutschland wiedervereinigt würde. Da alle politischen Lager die deutsche Einheit im Munde führten, ist er wohl davon ausgegangen, daß die Durststrecke so lange nicht dauern würde. Und so kritisierte er nicht selten die SED, um im gleichen Atemzug die sowjetische Politik zu loben. Wie wir wissen, wurden solche Wiedervereinigungswünsche als Illusionen entlarvt, und wenn Nuschke der Taktiker war, als den wir ihn aufgrund mancher Indizien zu erkennen glauben, dann hatte er sich hoffnungslos verheddert in seiner Wunschvorstellung.

So rätselhaft uns Nuschkes Motive letztlich bleiben, so sehr sie sich eindimensionalen Erklärungsversuchen widersetzen, es bleibt festzuhalten, daß er zeitlebens kein einfacher Partner der SED war. Aber die »Partei der Arbeiterklasse« konnte in schwierigen Fällen ja auf Gerald Götting und seine Freunde zurückgreifen.

Der nächste Markstein des Jahres 1948 war der 2. Deutsche Volkskongreß am 17. und 18. März. Nun war auch die CDU offiziell mit von der Partie, 191 Delegierte vertraten sie. Auch diesmal übertraf ihr Anteil nicht die Zehnprozent-

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