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   Scheuklappen unserer Welterkenntnis   

 

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Man braucht in einer mondlosen sternklaren Nacht, fernab vor den Lichtern unserer Städte, nur den Kopf zu heben, um das Unmögliche leibhaftig vor Augen zu haben: einen Raum — der Raum der »Welt« —, dessen Unend­lichkeit ebensowenig vorstellbar ist wie seine endliche Abgeschlossen­heit.

»Wir ahnen die Unermeßlichkeit unserer Unwissenheit, wenn wir die Unermeßlichkeit des Sternhimmels betrachten.«135 Es ist typisch für uns: Während wir, aufrecht gehend, den Kopf hineinrecken in diesen Raum, dessen Natur uns ein Geheimnis bleibt, hegen wir in demselben Kopf die unausrottbare Gewißheit, daß es für alle unsere Probleme eine mit menschlicher Vernunft erreichbare Lösung geben müsse. Wir täuschen uns nicht nur über den Spielraum unserer Freiheit. Mindestens in dem gleichen Maße sind wir auch das Opfer der Illusion, die Wirklichkeit, in der wir leben, sei unserer Vernunft uneingeschränkt zugänglich.

Theoretisch ist das Problem uns seit mehr als 2000 Jahren bekannt. Plato hat es in seinem berühmten »Höhlengleichnis« ein für allemal gültig beschrieben. Wir gleichen Gefangenen, die, mit dem Rücken zum Eingang, an die Wand einer Höhle gekettet sind. Von allem, was sich »in der Wirklichkeit« vor dem Höhleneingang abspielt, bekommen wir nur das Spiel der Schatten zu Gesicht, die sich auf die vor uns liegende Wand projizieren. Diese Schatten aber halten wir, solange wir uns nicht der geistigen Mühe einer kritischen Untersuchung unserer Erkenntnisfähigkeit unterzogen haben, für die Wirklichkeit selbst.

Wie begründet die erkenntnistheoretische Skepsis ist, die aus Platos Gleichnis spricht, dafür legt die jahrhundertelange Geschichte des naturwissen­schaftlichen Erkenntnisfortschritts beredtes Zeugnis ab. Man kann das eigentliche Wesen aller naturwissen­schaftlichen Forschung sogar am treffendsten charakterisieren, indem man sie als jene Anstrengung beschreibt, mit deren Hilfe der Mensch versucht, den Augenschein, in dem die Dinge sich uns darbieten, zu überwinden. Erst dieser Vorstoß kann wenigstens ein Stück ihrer wahren, eigentlichen Natur freilegen, die der Augenschein, der sich uns als so irreführend »real« aufdrängt, in Wahrheit verhüllt. »Wären überhaupt die Dinge das, was man ihnen sofort ansieht, so müßten jede Untersuchung und Wissenschaft sich erübrigen.«136

Sie sind es in keinem Falle, und daher rührt das »detektivische Verhältnis« zwischen der Wissenschaft und der von uns erlebten Wirklichkeit.
Einige Stichworte genügen, den Fall in Erinnerung zu rufen.
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Beispiel: 

Für unser Erleben besteht die Welt aus Farben. Die Erkenntnistheorie hat dieser Variante des Augenscheins seit je entgegengehalten, daß Farben zu den Eigenschaften zu rechnen seien, die den Dingen nicht selbst, nicht »an sich« zugehörten. Natur­wissenschaftliche Forschung hat ganz konkret in einer Jahrhunderte währenden Anstrengung herausgefunden, daß es in der objektiven Realität nur elektromagnetische Wellen gibt, deren unterschiedliche Frequenzen erst in den Sehzentren unseres Gehirns in die uns geläufigen Farben des Spektrums (und deren vielfältige Mischungen) »übersetzt« werden. Wohlgemerkt: Auch im Gehirn bleibt es bei diesem Prozeß bis zuletzt »dunkel«. Farben und Helligkeiten existieren lediglich in unserer Psyche, jenseits der Grenze also, die auf eine uns rätselhaft bleibende Weise körperliche (Gehirn-) Prozesse und bewußtes Erleben voneinander scheidet.

Vergleichbar steht es um die meisten anderen Attribute, die wir als scheinbar reale Bestandteile der Welt in der von uns erlebten Wirklichkeit entdecken. Auch ihr von unseren Augen oder anderen Sinnesorganen in unser Bewußtsein projizierter »Schein« erweist sich bei näherer Betrachtung nicht als objektiv vorhandene Eigenschaft »der Wirklichkeit«, sondern lediglich als ein Teil des Bildes, das unser Wahrnehmungsapparat (Sinnesorgane plus Gehirn) uns von dieser Wirklichkeit liefert. Wie beide — Bild und objektive Realität — sich dabei zueinander verhalten, bleibt grundsätzlich offen.

Eine interessante Ausnahme bildet die Beziehung zwischen allen Formen von Ordnung und Gesetzlichkeit in der objektiven Welt und ihrer Abbildung in unserem Kopf. 

Zwar wird auch hier — wie noch deutlich werden wird — die Kluft zwischen objektiver Welt und subjektiver Wirklichkeit keineswegs etwa überbrückt. Immer dann jedoch, wenn es um Ordnung geht und Gesetz, gibt es zwischen den beiden Polen wenigstens eine einsichtige Beziehung.

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Zwischen der Farbe Rot und einer elektromagnetischen Welle bestimmter Frequenz besteht diese nicht. Beide haben keinerlei Ähnlichkeit miteinander. Sie haben »nichts miteinander zu tun« — abgesehen einzig von der Tatsache, daß das eine zur Ursache des anderen werden kann, sobald Augen und Gehirn ins Spiel kommen. Zwischen der Gesetzlichkeit und Ordnung in der Welt jedoch und unserem Abbild von ihr besteht eine über diesen rein kausalen Zusammenhang hinausgehende Strukturelle Beziehung: Die objektive Ordnung bildet sich in der von uns erlebten Wirklichkeit ab. Oder sagen wir, vorsichtiger, lieber: Bestimmten in der objektiven Realität vorliegenden Ordnungsstrukturen entsprechen vergleichbare Ordnungsstrukturen in unserer menschlichen, subjektiv erlebten Wirklichkeit.

Daß die Kluft zwischen der Welt und ihrem Abbild in unseren Köpfen in diesem Falle nicht absolut ist, hat einen sehr einleuchtenden Grund. Um in der Welt überleben zu können, ist es offensichtlich nicht unbedingt notwendig, daß wir alle ihre Eigenschaften objektiv wahrnehmen können. Um noch einmal auf das Beispiel der elektromagnetischen Wellen zurückzukommen: Es ist für die das Überleben sichernde Orientierung eines Organismus nicht unerläßlich, elektromagnetische Wellen und ihre verschiedenen Frequenzen auf irgendeine Weise unmittelbar, objektiv wahrzunehmen. Es ist unter biologischem Aspekt sogar von Vorteil, wenn der Gesichtssinn objektiv minimale Frequenzunterschiede zu den psychisch so stark kontrastierenden Farben des Spektrums — den objektiven Sachverhalt grotesk übertreibend — quasi auseinanderzieht.

Anders jedoch im Falle von Gesetzlichkeit. 

Biologische Anpassung an die Welt — Grunderfordernis aller Lebensfähigkeit — ist nur möglich, weil diese Welt gesetzlich geordnete Strukturen enthält, nämlich festen Regeln gehorchende Zusammenhänge und periodisch sich wiederholende Abläufe, auf deren Konstanz langfristig Verlaß ist. Das Chaos kann kein Leben tragen, kann Leben gar nicht erst hervorbringen.

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Mit diesen Ordnungs­strukturen aber läßt sich nun nicht so unbekümmert umspringen, wie es im Falle von Wellen­frequenzen und anderen sekundären Eigenschaften der Welt erlaubt ist. Eine auf jegliche Wiedergabetreue großzügig verzichtende, die objektive Qualität etwa im Dienste biologischer Orientierungshilfen vergewaltigende Abbildung ist, was sie betrifft, nicht ungestraft möglich. Wer in einer Welt mit gesetzmäßig festliegenden Strukturen überleben will, in dessen subjektiver Wirklichkeit müssen diese Strukturen in irgendeiner Form ihren Niederschlag finden.

Das gilt nun, eine Selbstverständlichkeit, die wir nicht übersehen dürfen, nicht etwa erst für uns. Es gilt für alle Kreatur, die überleben will. Es gilt daher auch für die sich über die Jahrmilliarden der Erdvergangenheit erstreckende Reihe unserer vormenschlichen Ahnen. Sie alle aber haben überleben müssen, ohne die »Konstanten« der Welt, in der sie das zu tun gezwungen waren, etwa lernen zu können. Abgesehen davon, daß die individuelle Lernfähigkeit in unserer psychischen Entwicklung einen ausgesprochenen Späterwerb darstellt, ist sie auch lediglich als Spezialfall einer schon lange vorher von der Evolution genutzten Form des Informationsgewinns anzusehen. Denn alle biologische Anpassung ist, von allem Anfang an, identisch gewesen mit dem Gewinn von Erkenntnis über die Gesetzlichkeiten in der die Anpassung verlangenden Umwelt. Konrad Lorenz war bekanntlich der erste, der das klar erkannt und ausgesprochen hat: »Das Leben selbst ist ein erkenntnisgewinnender Prozeß.«

»Auch in der Entwicklung des Körperbaus, in der Morphogenese, entstehen Bilder der Außenwelt: Die Flossen- und Bewegungsform der Fische bildet die hydrodynamischen Eigenschaften des Wassers ab, die dieses unabhängig davon besitzt, ob Flossen in ihm rudern oder nicht. Das Auge ist, wie Goethe richtig erschaute, ein Abbild der Sonne und der physikalischen Eigenschaften, die dem Licht zukommen, unabhängig davon, ob Augen da sind, es zu sehen. Auch das Verhalten von Tier und Mensch ist, soweit es an die Umwelt angepaßt ist, ein Bild von ihr.«138

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Mit anderen Worten: Diese Teile des Bildes der Welt sind uns angeboren. Wir erwerben sie nicht erst in der Begegnung mit der Welt, wie es die philosophische Tradition des erkenntnistheoretischen Empirismus (im Sinne von John Locke) irrigerweise angenommen hatte. Sie stecken vielmehr von Geburt an in unseren Köpfen als angeborene Denkstrukturen und angeborene Verhaltensprogramme. 

Wie wörtlich das zu verstehen ist, hat der relativ junge Wissenschaftszweig der Verhaltensphysiologie überzeugend demonstriert. Erinnert sei — neben zahlreichen anderen Methoden — insbesondere an den unmittelbarsten aller denkbaren Beweise, nämlich den direkten Abruf spezifischer, szenisch ablaufender Verhaltensabfolgen (je nach Lokalisation des Reizortes im Gehirn Balzverhalten, Feindbekämpfung, Körperpflege oder andere »Programme«) durch die elektrische Reizung bestimmter tiefliegender Hirnzentren.139

 

Karl R. Popper hat Hirnzentren dieser Art treffend »fleischgewordene Hypothesen über die Außenwelt« genannt. Sie stellen im voraus, vor aller Erfahrung, die zweckmäßigsten Reaktionen eines Lebewesens auf die wichtigsten artspezifischen Situationen bereit, mit denen der Organismus es im Verlaufe seiner individuellen Existenz mit größter Wahrscheinlichkeit zu tun bekommen wird. Die Feststellung — die sich aus Gründen, die auf der Hand liegen, nur bei Tieren so konkret experimentell untermauern läßt — gilt auch für uns. Auch in unseren Köpfen stecken derartige »Hypothesen über die Welt« von Geburt an. Schon davor sind sie, wenn man es genau nimmt, materiell und konkret vorhanden: Sie existieren bereits in der befruchteten Eizelle als der Teil des molekularen Musters innerhalb der DNS, welcher die angeboren festliegenden »Schaltpläne« im Gehirn entstehen lassen wird, die ihre körperliche Grundlage darstellen.

Die Entdeckung angeborener Denkstrukturen beim Menschen ist dem direkten biologischen Nachweis der Existenz analoger Programme im Tierversuch bekanntlich um zwei Jahrhunderte vorausgegangen. Ihre präziseste Beschreibung haben wir Immanuel Kant zu verdanken, der sie als »a priori« — von vornherein, vor jeder Erfahrung, angeboren — existierende »Anschauungsformen« und Denkkategorien bezeichnete. Zu ihnen gehören etwa die Anschauungsformen von Raum und Zeit.

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Anders als dreidimensional und dem Ablauf der Zeit unterworfen können wir die Welt nicht denken. Diese Eigenschaften kommen der von uns erlebten Wirklichkeit folglich nicht durch Erfahrung, sondern schon vor aller Erfahrung (eben »a priori«) zu. Sie sind, wie Kant an einer anderen Stelle seiner »Kritik der reinen Vernunft« sinngemäß sagt, nicht das Ergebnis, sondern die Voraussetzung von Erfahrung über die Welt. Deren eigentliches Wesen (die Natur der Dinge »an sich«) bleibt uns auch nach Ansicht von Kant definitiv verborgen.

Wir lernen also nicht in unseren ersten Lebensjahren, daß der Raum, in dem wir unser Leben zubringen, dreidimensional beschaffen ist oder daß unsere Welt und unser Leben durch zeitliche Abläufe charakterisiert sind, die von Ursachenketten kausal gesteuert werden. (Auch »Kausalität« ist uns, wie Kant entdeckte, als »Denk-Kategorie« angeboren.) Im menschlichen Erbgut sind diese und andere »Erkenntnisse über die Welt« bereits enthalten. Schon bevor wir zum erstenmal unsere Augen aufschlagen, steht fest, daß wir die Welt dreidimensional strukturiert, zeitlich geordnet und von Ursachenketten beherrscht erleben werden. Eigentlich, so meinte Kant, erleben wir daher mit jeder Welterfahrung immer wieder nur neue Formen des Abdrucks unserer eigenen Denkstrukturen und nichts, was der Welt selbst (»an sich«) zuzurechnen wäre. Grundsätzlich ist daran in der Tat nicht zu zweifeln.

Wenn das aber so ist, dann erhebt sich sofort ein neues Problem, ein Rätsel, das aufzulösen sich die Erben der Kantschen Erkenntnislehre vergeblich mühten, bis die neueste, revolutionierende Wende in der Geschichte des Problems, das Konzept der »evolutionären Erkenntnistheorie«, die Antwort fand. 

Das Rätsel lautete: Wie ist es eigentlich zu erklären, daß die uns angeborenen Anschauungsformen auf die Welt »passen«, wenn sie nicht durch Erfahrung aus der Welt abgeleitet sind? Wie ist die offenbare Beziehungslosigkeit zwischen der realen Welt und den uns angeborenen Vorstellungen Raum, Zeit und Kausalität mit der Tatsache in Einklang zu bringen, daß wir uns mit ihrer Hilfe in der Welt dennoch leidlich erfolgreich zu behaupten vermögen?

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Die — in allen wesentlichen Grundzügen — auf Konrad Lorenz zurückgehende »evolutionäre Erkenntnis­theo­rie« beantwortet diese Frage bekanntlich mit dem Hinweis darauf, daß auch die von Kant heraus­gearbeit­eten, a priori in unserem Denken verankerten Anschauungen und Strukturen in Wirklichkeit »a posteriori«, nämlich durch konkrete Erfahrung mit der Welt, erworben wurden. Nur: Es handelt sich bei ihnen um Erfahrungen, die nicht das Individuum selbst gemacht hat, sondern seine Art. Diese hat im Ablauf ihres generationenlangen Anpassungsprozesses auch diese sehr wohl der realen Welt zuzurechnenden Gesetzlichkeiten — in dieser Hinsicht war Kants Auffassung also allzu pessimistisch — in ihrem Genom, in ihrer erblichen Konstitution, »abgebildet« (gespeichert). 

Das überindividuelle Kollektiv unserer biologischen Ahnenreihe hat diese Strukturen folglich sozusagen ganz normal »a posteriori« erworben — darum »passen« sie auch auf die reale Welt — und stellt sie mit jeder Generation von neuem jedem einzelnen ihrer individuellen Mitglieder »a priori« durch Vererbung zur Verfügung. Das Apriori der Philosophen hat sich aus der Perspektive der Evolutionsforscher als ein Aposteriori der Stammesgeschichte erwiesen.

Die Geschichte ist damit noch keineswegs zu Ende. 

Es fehlt noch ein weiterer Punkt, der Schlußstein, der endlich auch verständlich macht, was dieser erkenntnistheoretische Exkurs im Rahmen unseres Themas zu suchen hat. Er besteht in der einigermaßen verblüffenden Einsicht, daß alle diese angeborenen Hypothesen über die Welt, die während eines Jahrmilliarden umspannenden Anpassungsprozesses erworben und laufend verbessert wurden und die während dieser ganzen langen Zeit das Überleben unserer Art gewährleistet haben, daß sie alle, ohne Ausnahme, falsch sind (wenn man es wirklich genau nimmt).

Damit scheint die Verwirrung zunächst komplett. Es war schwer genug, dahinterzukommen, wie das einzelne Individuum in den Besitz von Informationen über die Welt gelangen kann, ohne sie selbst zu erwerben. Es fiel nicht leicht, zu glauben, daß »passende« Vorstellungen über die Welt angeboren sein können.

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Was soll man davon halten, wenn dem jetzt noch hinzugefügt werden muß, daß die »Passung« so perfekt nun auch wieder nicht ist, daß die angeborenen Anschauungen die wirkliche Beschaffenheit der Realität vielmehr ausnahmslos verfehlen?

An der Tatsache selbst ist nicht zu zweifeln. Wieder einmal war es die — hinsichtlich ihrer philosophischen Bedeut­samkeit im Umfeld unserer geistesgeschichtlichen Tradition hoffnungslos verkannte — Naturwissen­schaft, die zu ihrer Entdeckung führte. Die Relativitäts­theorie Albert Einsteins hat uns die Augen geöffnet für die gänzlich unerwartete — und von den meisten Menschen denn bis heute auch nicht wirklich aufgenommene — Erkenntnis, daß von einer dreidimensionalen Struktur des Raumes »in Wirklichkeit« offenbar nicht die Rede sein kann.

Die angesichts des nächtlichen Sternhimmels — und grundsätzlich natürlich ebenso beim Anblick des Tageshimmels — augen­scheinlich werdende Paradoxie einer »unbegrenzten Endlichkeit« löst sich, wie Einstein in genialer Abstraktion herausfand, in dem Augenblick auf, in dem man eine ganz andere (der Realität offenbar eher entsprechende) Beschaffenheit des Raumes voraussetzt: einen Raum, der auf eine uns unvorstellbar bleibende Weise »in sich gekrümmt« sein kann, derart, daß er »in sich geschlossen« und folglich — der Oberfläche einer Kugel analog — endlich ist, ohne eine lokalisierbare Grenze zu haben.

Es muß ausdrücklich betont werden, daß diese »Krümmung« des Raums dem menschlichen Vorstellungs­vermögen — das genetisch eben auf Dreidimensionalität festgelegt bleibt — absolut unzugänglich ist. Auch Einstein hat sie sich nicht etwa vorstellen können, ebensowenig, wie das ein Mensch der Zukunft jemals können wird, solange er genetisch noch unserer Art zuzurechnen ist. 

Auch ist das Wort »Krümmung« in diesem Zusammenhang rein metaphorisch zu verstehen, nur als gleichnishafte Formulierung. Denn auch unsere Sprache, die in der Auseinandersetzung mit der von uns erlebten Wirklichkeit entstanden ist — und eben nicht in der Auseinandersetzung mit einer uns unerreichbar bleibenden »objektiven Realität« —, hält für den gemeinten Sachverhalt sowenig einen Begriff bereit wie unser Denken eine Vorstellung.

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Es handelt sich um einen der Ausnahmefälle, in denen die Kunstsprache der Mathematik ein kleines Stück weit über den uns auferlegten Erkenntnis­horizont hinaus vordringen konnte in eine jenseits des Augenscheins gelegene, von ihm verdeckte Wirklichkeit.

Das Reden von einer »Raumkrümmung« ist daher nichts als der notwendig unzulänglich bleibende, letztlich sogar irreführende Versuch, einen nur mathematisch faßbaren Sachverhalt in alltagssprachlicher Formulierung wiederzugeben. Was als gültige Information bleibt, ist andererseits die Tatsache, daß es natur­wissen­schaft­licher Forschung in diesem Falle gelungen ist, den konkreten Nachweis zu führen, daß die von uns erlebte Welt nicht identisch ist mit der hypothetisch vorauszusetzenden »objektiven Realität«.

Das wird man fürwahr als eine Entdeckung ansehen dürfen, die eine Revolution darstellt in der geistes­ge­schicht­lichen Entwicklung. Der in diesem Zusammenhang gelegentlich verwendete Begriff von der »kopernik­anischen Wende« greift nicht zu hoch. Nach Jahrtausenden entdeckt der Mensch handfeste Beweise für den ihn von Anbeginn beschäftigenden Verdacht, daß es sich bei der ihn umgebenden Wirklichkeit keineswegs um »die Welt selbst« handelt, sondern nur um deren höchst unvollkommenes Abbild in seinem Kopf.

Unvollkommen aber ist dieses Abbild, mit dem wir anstelle der Welt selbst vorliebzunehmen haben, gleich in doppelter Hinsicht. 

Es ist, erstens, unvollständig. Wir sind, so viel steht fest, für die weitaus meisten realen Eigenschaften der Welt blind. Röntgenstrahlen oder Radiowellen sind gewiß nicht mehr als »die Spitze eines Eisbergs«, bezogen auf die uns direkt nicht zugänglichen und dazu noch wer weiß wie vielen uns gänzlich unerahnbaren Attribute der Realität. Aber darüber hinaus ist auch auf das wenige, das wir überhaupt erfahren, nicht wirklich Verlaß.

Auch die Wiedergabetreue des unvollständigen Abbilds läßt in wesentlichen Punkten sehr zu wünschen übrig. Nicht nur über die Beschaffenheit des Raumes informieren uns die »angeborenen Lehrmeister« (Konrad Lorenz), unsere genetisch fixierten Denk- und Anpassungsformen, unkorrigierbar falsch.140

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Auch die objektiv nachweisbare »Konstanz« der Licht­geschwindigkeit zum Beispiel — wiederum eine in der Relativitätstheorie enthaltene Teileinsicht — konfrontiert uns mit einem drastischen und unkorrigierbar angeborenen Fehlurteil über die Welt.

Jeder gesunde Mensch hält es für selbstverständlich, daß sich Geschwindigkeiten den arithmetischen Rechenregeln entsprechend beliebig addieren lassen. Daß man sich also, wenn man etwa den Gang eines mit hundert Kilometern in der Stunde fahrenden D-Zugs im durchschnittlichen Fußgängertempo in der Fahrtrichtung entlanggeht, mit hundert plus fünf, im Endergebnis also mit 105 Kilometern pro Stunde in der Landschaft vorwärtsbewegt. Niemand bezweifelt, daß dieses Prinzip grundsätzlich in jedem Falle und in allen Geschwindigkeitsbereichen gültig ist.

Es gilt jedoch nicht. Einstein fand heraus — in komplizierten Berechnungen, die nachträglich experimentell, durch Beobachtung, bestätigt wurden —, daß sich Geschwindigkeiten keineswegs, wie der gesunde »Menschen­verstand« es unbelehrbar für selbstverständlich hält, beliebig addieren lassen. Das reale Ergebnis ihrer Addition weicht in jedem Falle von dem unserem Verstande entspringenden Resultat ab. Es fällt kleiner aus, und zwar um so krasser, je größer die Geschwindigkeiten sind, um die es sich handelt.

Im Falle des Gehenden im Gang des D-Zugs ist die relativ zum arithmetischen Ergebnis real zu verzeichnende »Geschwindigkeits­einbuße« noch unmeßbar klein (wenngleich auch hier schon vorhanden und grundsätzlich berechenbar). Im Falle der Lichtgeschwindigkeit erreicht sie das mögliche Höchstmaß. Hier läßt sich die Geschwindigkeit von 300.000 Kilometern pro Sekunde durch keinerlei Addition mehr erhöhen. Wenn ich von einem mit Lichtgeschwindigkeit durch den Weltraum rasenden Raumschiff aus einen Lichtstrahl in »Fahrtrichtung« abstrahlte, so legte auch er »nur« 300.000 Kilometer pro Sekunde zurück (und hätte nicht etwa die doppelte Geschwindigkeit). Das ist der Sachverhalt, der sich hinter dem scheinbar so unverfänglichen Begriff der »Konstanz der Lichtgeschwindigkeit« verbirgt.

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Auch hier ist naturwissenschaftliche Forschung auf eine Eigenschaft der objektiv existierenden Welt gestoßen, die grundlegend von der Art und Weise abweicht, in welcher der gleiche Sachverhalt in dem Abbild auftaucht, das unser Kopf sich von der Welt macht.

Es ist, ganz unbestreitbar, auf keine Weise verständlich oder anschaulich zu machen, warum und in welcher Weise die Summe real sich addierender Geschwindigkeiten hinter dem Resultat zurückbleibt, das unser »gesunder Menschenverstand« uns liefert, und dies um so mehr, je größer die Geschwindigkeiten sind. Aber wir haben wiederum zur Kenntnis zu nehmen, daß »Vorstellbarkeit«, wenn es um die Frage der Beschaffenheit der Welt geht, nicht als Argument angesehen werden darf. »Unvorstellbarkeit« ist in solchen Fällen nichts als ein Symptom der hoffnungslosen Unzulänglichkeit aller Versuche unseres Verstandes, die wahre Natur der Welt zu »erkennen«.141 Auf die gleiche Unzulänglichkeit stößt man bei einer genaueren Betrachtung der uns ebenfalls als »Denk-Kategorie« angeborenen Vorstellung von »Kausalität« und noch weiteren Fällen »angeborenen Vorwissens« über die Welt.

 

Zunächst aber ein Wort zu der Frage, wie es eigentlich erklärt werden könnte, daß die Evolution sich zwar einerseits der gewaltigen Aufgabe unterzogen hat, bestimmte Gesetzlichkeiten der Welt in unserer erblichen Konstitution »abzubilden«, daß sie sich dabei andererseits aber mit einer ganz offensichtlich höchst ungenauen Abbildung zufriedengegeben hat. Die Antwort auf diese wichtige Frage ist ebenso bedeutsam wie einfach. Die Evolution verfolgte ohne jeden Zweifel keineswegs etwa das Ziel, ihren Geschöpfen, also auch uns, eine objektive Erkenntnis der Welt zu ermöglichen.142  

Die evolutionäre Optimierung aller lebenden Kreatur ist vielmehr ausschließlich unter dem Gesichtspunkt einer Verbesserung der Überlebens­aussichten erfolgt. Das Gehirn ist, so habe ich es schon vor zwanzig Jahren einmal formuliert, kein Organ zur Erkenntnis der Natur, sondern ursprünglich entstanden als ein Organ zur Verbesserung unserer Überlebenschancen. Insofern könnte man seine Verwendung zu Erkenntnis­zwecken in verdeutlichender Zuspitzung sogar als eine Art von »Zweckentfremdung« bezeichnen.143

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Nun überschneiden sich die Strategien zwar, mit denen sich die Welt erkennen oder aber in ihr überleben läßt. (Biologische Anpassung ist ein erkenntnisgewinnender Prozeß!) Deckungsgleich sind sie jedoch nicht. Daher sind die in unseren Gehirnen steckenden Hypothesen über die Welt bloße Näherungshypothesen geblieben. Es ist Ausdruck der »Sparsamkeit« der Natur, der ihr eigenen Ökonomie, daß sie grundsätzlich nicht mehr tut, als zur Erreichung eines bestimmten Ziels unbedingt notwendig ist. Oder (da es sich in diesem Fall auch ohne »personalisierende« Formulierungen einfach ausdrücken läßt): Die selektierenden (aus dem Angebot der durch fortwährende Mutationen produzierten Varianten auslesenden) Faktoren verloren immer dann ihre Wirksamkeit, wenn das Ziel einer Erhöhung der Überlebenschancen im Rahmen des jeweils Möglichen erreicht war.

Deshalb ist die Anpassung unseres Erkenntnisvermögens auf die Adaption an irdische Verhältnisse beschränkt geblieben. An die Bedingungen also eines von den subatomaren Dimensionen ebensoweit wie von astronom­ischen Dimensionen entfernten »Mesokosmos«.(143) Ein Gehirn, das seinem Besitzer das Überleben sichern soll, ist unter natürlichen Umständen eben nicht darauf angewiesen, die Abweichungen erfassen zu können, die objektiv zwischen unseren Rechenregeln und dem Resultat der Addition von Geschwindigkeiten auftreten. Denn auf nennenswerte Beträge wachsen diese erst bei Geschwindigkeiten einer Größenordnung an, die für das Überleben ohne Belang sind. 

Die Schnelligkeit abschätzen zu können, mit der sich ein Raubtier nähert oder ein stürzender Baum, das ist überlebenswichtig. Die Geschwindigkeit des Lichts dagegen — und erst in ihrer Nähe werden »relativistische« Berechnungs­weisen unumgänglich — ist unter biologischen Gesichtspunkten bedeutungslos. Daher wäre es aus evolutionärer Perspektive nichts als übertriebener Aufwand gewesen, in unseren Gehirnen zu allem übrigen auch noch die überaus komplizierten Strukturen unterzubringen, die uns das von Einstein entdeckte »Additionstheorem« unmittelbar einleuchtend und vorstellbar machen würden.

Unser »Weltbildapparat« (Konrad Lorenz) ist folglich so etwas wie ein vereinfachendes Standardmodell, zugeschnitten auf ein Lebewesen, das sein Überleben unter »mesokosmischen« Bedingungen zu bestehen hat. Er ist zugeschnitten also unter anderem auf durchschnittliche Geschwindigkeiten und mittlere Distanzen, unter Verzicht auf alle Extreme innerhalb einer Welt, die sich objektiv von den Verhältnissen auf der subatomaren Ebene — auf der die uns gewohnten Begriffe Raum und Zeit fragwürdig werden — bis zu kosmologischen Distanzen und Geschwindigkeiten erstreckt, für die dasselbe gilt (»Zeitdilatation« bei Annäherung an die Lichtgeschwindigkeit!). 

Die Naturwissenschaftler haben damit einen uralten Verdacht der Philosophen konkret bestätigt: Wir leben nicht in der Welt, sondern nur in dem Abbild, das unsere Köpfe von ihr entwerfen. In einem winzigen, auf unsere biologischen Bedürfnisse zugeschnittenen Ausschnitt, der überdies den Teil der Welt, über den er uns überhaupt informiert, grob vereinfacht wiedergibt. Die uns angeborenen Anschauungsformen gleichen »plumpen kategorialen Schachteln« (Hans Mohr).144

Bis vor (geschichtlich betrachtet) kurzer Zeit war das für unsere Existenz belanglos. Der Mangel mochte die Philosophen irritieren. Einen Politiker konnte er kaltlassen. Neuerdings beginnt sich das allerdings rasch zu ändern. Kulturelle und gesellschaftliche Entwicklung haben uns in eine Situation gebracht, in der die genetische Beschränkung unserer Denkstrukturen zu den Gefahren beizutragen beginnt, die unser Aussterben näherrücken lassen. 

Unter den natürlichen Bedingungen, unter denen sie in langen Entwicklungszeiträumen entstand, genügte unsere Denkausrüstung zur Sicherung unseres Überlebens. Diese Bedingungen aber haben sich aus mancherlei Gründen inzwischen einschneidend geändert. Außerhalb der ursprünglichen Selektions­bedingungen aber wird aus angeborener Vernunft im Handumdrehen angeborener, womöglich tödlicher Unsinn.145

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