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Gehirn, Bewußtsein und Jenseitsperspektive  

 

 

342-361

Zwar halte ich die oft gehörte These grundsätzlich für falsch, daß sich "die Frage, was aus dem Menschen, aus seiner Seele, nach seinem Tod wird ... nur auf dem Plateau einer dualistischen Philosophie" stelle.167  

Andererseits ist es auch in meinen Augen der didaktisch einfachste Weg, diese Frage von einer dualistischen Position aus anzugehen. Da ich angesichts des (letztlich aller Wahrscheinlichkeit nach für uns unentscheid­baren) Leib-Seele-Problems aus Gründen, die mit der Frage einer Weiterexistenz nach dem Tode gar nichts zu tun haben, ohnehin der dualistischen Auffassung zuneige,168 ist das legitim.

Innerhalb der heutigen Naturwissenschaft nimmt nun aber der "materialistische Monismus" in Gestalt dieser oder jener seiner vielfältigen Auslegungs­varianten praktisch die Stellung einer "offiziellen Lehrmeinung" ein.169

Als erstes müssen wir daher untersuchen, worauf diese einseitige Bevorzugung zurückzuführen ist, und ihre Gründe kritisch betrachten. Wenn danach, wie ich hoffe, überzeugend, klargeworden ist, wie schlecht es um die Plausibilität der monistischen Position — all ihrer Beliebtheit zum Trotz — in Wirklichkeit steht, können wir uns um so unbeschwerter den Argumenten zuwenden, die sich für die dualistische Auffassung ins Feld führen lassen.

Gemeinsam ist allen (materialistisch) monistischen Auffassungen, daß sie das Bewußtsein (der Begriff "Seele" wird seiner noch schillernderen Bedeutung wegen aus guten Gründen meist vermieden) nicht als selbständige Kategorie gelten lassen. Aus der unbestreitbaren Beobachtung, daß Bewußtsein nur an lebende Gehirne gebunden auftritt, folgt der Monist, daß es sich bei ihm (wie bei allen "psychischen Phänomenen" insgesamt) um ein Produkt des Gehirns handele. Darüber, wie das genauer zu verstehen ist, gehen aber auch die monistischen Meinungen dann auseinander.

Der frisch-fröhliche "Klotzmaterialist" (Ernst Bloch) unseligen Angedenkens, der schlicht deklarierte, alles Geistige sei bloße Fiktion und real allein die Materie, dürfte heute endgültig ausgestorben sein. Niemand trauert ihm nach. Nicht allzu fern verwandt mit ihm ist andererseits der noch immer quicklebendige Behaviorist, der, wie zum Beispiel der namhafte amerikanische Philosoph Richard Rorty, alles psychische Erleben nicht gerade rundheraus bestreitet, es aber zur bloßen Illusion erklärt und von einer "Erfindung des Mentalen" spricht. Psychische Phänomene gelten dieser Auffassung als Scheinprodukt sprachlich irreführender Formulierungen, auf die man werde verzichten können, sobald die weitere Forschung ihren eigentlichen, neurophysiologischen Charakter erst einmal aufgeklärt habe.170

Angesichts der jedem Menschen alltäglich geläufigen Unmittelbarkeit psychischer Erlebnisse dürfte sich kaum jemand darüber wundern, zu hören, daß diese behavioristische Variante nur noch eine Außenseiterrolle spielt. Viel erstaunlicher wirkt es rückblickend, daß diese gewaltsam anmutende Umdeutung unmittelbarer menschlicher Erfahrung vorübergehend großen Einfluß hatte.

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Vorherrschend im naturwissenschaftlichen Lager sind heute dagegen zwei Spielarten der monistischen Auffassung, die unsere psychische Selbsterfahrung durchaus berücksichtigen. Ihr monistischer Charakter drückt sich bei der einen darin aus, daß sie psychische Phänomene zu bloßen Begleiterscheinungen ("Epiphänomenen") der in unserem Gehirn ablaufenden neuralen Prozesse erklärt. Diese körperlichen, also materiellen, Vorgänge sind für den "monistischen Epiphänomenalisten" folglich das einzig Wesentliche, und den sie lediglich "begleitenden" psychischen Phänomenen spricht er denn auch jede Möglichkeit ab, ihrerseits auf diese körperlichen Vorgänge einwirken zu können. Die zweite Variante nennt sich "monistische Identitätstheorie" und erklärt "aus system­theoretischer Perspektive" den Geist "zu einer Eigenschaft des Gehirns" (Franz Wuketits).

Diese, heute am weitesten verbreitete monistische Position muß etwas näher erläutert werden. Die Namen ihrer Vertreter haben Gewicht. Konrad Lorenz gehört dazu, Rupert Riedl und Gerhard Vollmer. Ihre Auffassung läßt sich am kürzesten und einfachsten (und dabei unverfälscht zutreffend) mit der Aussage wiedergeben, daß es ein und dieselben ("identischen") Hirnprozesse sind, die wir immer dann als "körperliche Vorgänge" wahrnehmen, wenn wir sie an fremden Gehirnen (sozusagen "von außen") beobachten oder registrieren, und immer dann als "psychische Phänomene", wenn sie sich in unserem eigenen Gehirn abspielen — wir sie also gleichsam "von innen" erleben. Auf eine noch kürzere Formel gebracht, behauptet die "Identitätstheorie" folglich, daß psychische Erlebnisse nichts anderes seien als quasi die "Innenansicht des eigenen Gehirns".

Die "systemtheoretische" Natur dieser Auffassung gibt sich zu erkennen, wenn man das Problem der "Entstehung des Geistes" einbezieht, für das sie ebenfalls eine Erklärung zu bieten beansprucht. "Geist" ist im Lichte dieser Auffassung ein Produkt der Evolution.

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"Die Faktoren der organischen Entwicklung, vor allem Erbänderung (Mutation) und Auswahl (Selektion), haben den menschlichen Geist erschaffen wie alle anderen Lebenserscheinungen auch."171 

Geist taucht — soll das heißen — im Ablauf der evolutiven Geschichte als neue "Systemeigenschaft" auf, sobald materielle Strukturen hinreichender Komplexität entstanden sind ("Gehirne"), die ihn als ihre spezifische Eigenschaft aufweisen. Ganz so, wie bei einer Zusammenfügung von Magnet und Drahtspule elektrische Ströme als Eigenschaft des durch die Zusammenfügung der Ausgangselemente entstandenen neuen "Systems" neu auftreten (Konrad Lorenz) oder wie aus dem sachgerechten Zusammenbau der Einzelteile eines Autos ein System hervorgeht mit der vorher nicht vorhandenen Fähigkeit zu gezielter, selbsttätiger Fortbewegung (Franz Wuketits).

 

Beide monistischen Varianten erscheinen nun denkbar unbefriedigend. Der "Epiphänomenalist" erklärt in Wirklichkeit überhaupt nichts. Er beschränkt sich lediglich auf eine (scheinbar) vereinfachende Uminter­pretation der erklärungsbedürftigen Situation (die ihn, siehe gleich, nur in neue, noch größere Schwierigkeiten bringt). Er geht der Notwendigkeit einer Erklärung der Art des Zusammenhangs von Gehirn und Bewußtsein (und damit dem eigentlichen Kern des Problems) einfach aus dem Wege, indem er die Rollen (willkürlich) neu verteilt: Die "Führung" hat der körperliche (zerebrale) Sachverhalt, die psychischen Erscheinungen "begleiten" die sich im Hirn ab" spielenden Prozesse lediglich und bleiben selbst einflußlose Phantome.172) 

Mit Recht stellt Gerhard Vollmer jedoch fest: "Wären Bewußtseinsphänomene nur Epiphänomene physikalischer Prozesse so wären sie für die Evolution entbehrlich." (S. Anm. 169, S. 37) Wir hätten sie dann als bloßen Luxus anzusehen, und den produziert die Evolution nicht.173) 

Auch die heute weitverbreitete "Identitätstheorie" entpuppt sich bei näherer Betrachtung jedoch als eine These, die nicht eigentlich eine Erklärung darstellt, sondern ebenfalls nur das Ergebnis eines freilich sehr eleganten Rückzugs bis auf eine Linie, die alle unangenehmen Fragen gleichsam "vor der Tür" läßt.

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Das klassische Problem liegt doch in der Frage beschlossen, wie der Zusammenhang zwischen zwei grundlegend ("kategorial") verschiedenen Phänomen-Reihen verstanden werden könne: zwischen materiellen (körperlichen, zerebralen) Prozessen einerseits, für welche die Kriterien der Objektivierbarkeit und räumlichen Lokalisierbarkeit gelten, die strukturiert sind, in Einzelteile zerlegbar sowie intersubjektiv (von Mensch zu Mensch) mitteilbar, und psychischen Zuständen andererseits, für die das alles prinzipiell nicht gilt und die sich nur der unmittelbaren Selbsterfahrung erschließen. Auch die "Identitätstheorie" löst nun diesen Gordischen Knoten des Problems nicht etwa auf. Sie versucht das nicht einmal. (Ein Abweichen von der eigentlichen Aufgabenstellung, das mich schon im Falle des klassischen Originals seit je irritiert hat.) Sie zerschlägt ihn aber auch nicht etwa. Sie versteckt ihn bloß.

Mir will es wie das Schulbeispiel einer Scheinlösung vorkommen, wenn der "Identitätstheoretiker" das offensichtliche Problem des Zusammenhangs zwischen den beiden kategorial so grundlegend verschiedenen Phänomen-Reihen nach Taschenspielerart mit Hilfe der Behauptung hinweg "eskamotiert", beide seien in Wirklichkeit dasselbe und alle Unterschiede nur eine gleichsam perspektivische Illusion. Bedarf diese Behauptung etwa eines geringeren Erklärungsaufwands als die Frage, auf die sie angeblich die Antwort gibt? Formuliert sie das Problem, auf das eine Antwort zu sein sie beansprucht, in Wahrheit nicht bloß auf andere Weise unverändert von neuem? Welchen Erkenntnisvorteil habe ich eigentlich mit dem Vorschlag gewonnen, mir das Problem des Zusammenhangs zweier verschiedener Phänomene um den Preis des schlichten, durch keine denkbare Begründung erleichterten Glaubens daran vom Hals zu schaffen, daß es sich bei ihnen "in Wirklichkeit" um ein und dieselben Phänomene handele?

 

Bei näherer Betrachtung entpuppt sich die "Identitätshypothese" als ein geistiger Gewaltakt, für den es positive Argumente überhaupt nicht gibt. Ihre Attraktivität beruht allein darauf, daß sie das Kernproblem der klassischen Frage nach der Art des Zusammenhangs von Geist und Materie scheinbar verschwinden läßt (wofür sie einem das nicht weniger geheimnisvolle Identitätsdogma aufbürdet) und daß sie es mit den noch zu besprechenden Einwänden gegen den dualistischen Standpunkt gar nicht erst zu tun bekommt.

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Darüber hinaus aber bedarf es nun, wie mir scheint, auch noch einer bis an die Grenzen rabulistischer Argumentation getriebenen Formulierungskunst, um diese Identitätstheorie so eindeutig von der epiphänomenalistischen Interpretation psychischer Zustände zu trennen, wie ihre Vertreter sich das aus verständlichen Gründen wünschen.

Denn auch dann, wenn unsere psychischen Erfahrungen den "Innenaspekt" (Gerhard Vollmer) körperlicher Prozesse darstellen, die sich in bestimmten Zellen unseres Gehirns abspielen, bleiben es doch diese körperlichen Prozesse, die durchaus einseitig das Geschehen bestimmen. Auch der "Identist", der die Realität seiner psychischen Selbsterfahrung immerhin anerkennt, muß doch insofern zum Beispiel die "Abfolge seiner Gedanken" als einen im Grunde belanglosen Aspekt des psychophysischen Geschehens ansehen. Denn auch für ihn wird dieser Ablauf uneingeschränkt und ausschließlich von den physikalischen und chemischen Gesetzen gesteuert, denen die Funktion seiner Hirnzellen unterworfen ist. Auch der Identist vergewaltigt folglich seine unmittelbare psychische Selbsterfahrung aus Treue gegenüber dem Naturgesetz.174

Wenn aber das Bewußtsein dem Gesamtbestand des Wirklichen nur deskriptiv, nicht aber dynamisch etwas hinzufügte — wenn es also als "Innenaspekt" neurophysiologischer Abläufe lediglich da wäre, ohne selbst etwas bewirken zu können —, dann hätten wir es, so Hans Jonas, nicht nur mit dem widernatürlichen Phänomen einer "funktionslosen Funktion" zu tun. Dann hätten wir uns angesichts der ausschließlich naturgesetzlichen Steuerung aller unserer Handlungsentscheidungen und Gedankenabläufe auch als "Puppen der Weltkausalität" zu betrachten. Freiheit und Verantwortung wären dann ebenfalls nur eine "epiphänomenalistische Illusion".175

Hans Mohr hat das Dilemma treffend zusammengefaßt: Als vernunftbegabte Wesen müßten wir an die monistische und dualistische Auffassung in einem gewissen Sinne zugleich glauben, denn wir könnten "die Vorstellung sittlicher Freiheit für die Ethik ebensowenig aufgeben wie die der kausalen Notwendigkeit für die Wissenschaft".

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Wir hätten "mit der Überzeugung zu leben, daß die Subjektivität ihrem Wesen nach fiktiv und ihrem Vermögen nach ohnmächtig sei [hier zitiert der Autor Hans Jonas], obwohl wir als moralische Subjektive gleichzeitig an Freiheit, an Verantwortung und Kreativität glauben und damit eine Intervention des Geistes in den Vorgängen der Materie voraussetzen".

 

Mit diesen Überlegungen sind die entscheidenden Einwände gegen die dualistische Auffassung implizite bereits angesprochen. Sie allein verdienen im Grunde unser Interesse. Denn für den Monismus spricht kein positives Argument. Monisten sind — zugespitzt formuliert — bloß Leib-Seele-Theoretiker, die sich vor dem Dualismus fürchten. Und zwar deshalb, weil sie glauben, daß die Anerkennung einer selbständigen, gleichberechtigten Rolle psychischer Phänomene, die dem materiellen Gehirn und der psychischen Selbsterfahrung ontologisch gleiche Rechte zugesteht, das mühsam errichtete physikalische Weltbild jählings einstürzen lassen würde. Der Gedanke an diese Konsequenz aber schreckt die meisten Naturwissenschaftler so sehr, daß sie sich in einer Art Nibelungentreue gegenüber dem Naturgesetz verpflichtet fühlen, am Monismus festzuhalten, die unmittelbare psychische Selbsterfahrung der physikalischen Theorie zu opfern und uns das Identitätsdogma als "Erklärung" zuzumuten.

"Der Dualist müßte", schreibt Wuketits, "... ein gedankliches Durchbrechen von Naturgesetzen tolerieren." (S. Anm. 167, S. 221) Präziser wäre zu formulieren, daß der Monist dem Dualisten vorhält, er toleriere gedanklich einen realen Verstoß gegen das Gesetz. "Getreue der Kausalität" nennt Hans Jonas denn auch die Monisten. Wer aber hat hier eigentlich die Beweislast zu tragen? Mit dieser Frage leitet derselbe Autor seine brillante und vernichtende Abrechnung mit der Position der Loyalisten des Kausalgesetzes ein.

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"Ich denke, also bin ich." Auf dieser Aussage gründete Rene Descartes, der vom Prinzip des totalen Zweifels ausging, bekanntlich sein philosophisches System, weil sie ihm als einzige unbezweifelbar erschien. Die Unmittelbarkeit und Gewißheit des eigenen, bewußten Gedankens — auch als Ursprung der Auslösung physischer, körperlicher Bewegung, der Bewegung meines Arms zum Beispiel — ist in der Tat nicht zu übertreffen. Auch die von uns so selbstverständlich als "real" bezeichneten Objekte der Außenwelt werden uns ja nur indirekt, durch unseren Wahrnehmungsapparat, vermittelt, unter Inkaufnahme all der Unsicherheiten und Unvollkommenheiten, die mit dieser Vermittlung einhergehen und deren Analyse das Thema der Erkenntnistheorie ist. Auf die Unmittelbarkeit aller psychischen Selbsterfahrung als den einzigen festen Punkt in all unserem Erleben beruft sich nun auch der Dualist mit seiner Behauptung, daß man dieser psychischen Dimension keine geringere Realität zuschreiben dürfe als der körperlichen (etwa der Existenz des Gehirns), von der wir erst mit ihrer Hilfe überhaupt erfahren.

Dieser Forderung widerspricht der Monist nun mit dem Hinweis auf das Naturgesetz. Dieses Gesetz, so ermahnt er uns, erlaube zwar die Entstehung von Erregungsmustern einer alle Vorstellungsmöglichkeiten übersteigenden Komplexität in unserem Gehirn. Mit ihm sei auch die Auslösung körperlicher Bewegungen durch das "Feuern" einzelner Hirnzellen mit nachfolgenden Verstärkereffekten in Einklang zu bringen. Gänzlich auszuschließen, da "gesetzlich verboten", sei dagegen die Annahme, daß psychische Phänomene — also "Gedanken" oder "Entschlüsse" oder wie immer sie subjektiv erlebt würden — auf körperliche Prozesse, also etwa auf den Erregungszustand einer Ganglienzelle im Gehirn, einwirken könnten. Diese Möglichkeit scheide deshalb aus, weil sie den als fundamental anzusehenden "Erhaltungssätzen", insbesondere dem Gesetz von der Erhaltung der Energie, widerspreche. Eine nichtmaterielle, psychische "Ursache" eines materiellen, körperlichen Geschehens (Beeinflussung des Erregungsablaufs einer Hirnzelle) sei im Rahmen des naturwissenschaftlichen Weltbilds eine unsinnige Vorstellung.

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Das Argument hat seine Wirkung nicht verfehlt. Die Zahl der real existierenden Monisten belegt, daß es imstande ist, den Glauben an die Realität der eigenen Selbst­erfahrung zu untergraben. Wie erstaunlich oft übersehen wird, leidet es jedoch an einer inneren Asymmetrie. Wer sich ihm unterwirft, opfert etwas unmittelbar Gewisses einem — noch so ernst zu nehmenden — theoretischen Konstrukt. Der Göttinger Philosoph Hermann Lotze formulierte die Unstimmigkeit schon vor mehr als hundert Jahren mit den Worten: 

"Unter allen Verirrungen des menschlichen Geistes ist diese mir immer als die seltsamste erschienen, daß er dahin kommen konnte, sein eigenes Wesen, welches er allein unmittelbar erlebt, zu bezweifeln oder es sich als Erzeugnis einer äußeren Natur wieder schenken zu lassen, die wir nur aus zweiter Hand, nur durch das vermittelnde Wissen eben des Geistes kennen, den wir zuvor leugneten."176

Das psychophysische Problem in seiner heutigen Fassung ist, woran Hans Jonas erinnert, kein natürliches, sondern ein durchaus künstliches Problem: "Es ist ein Geschöpf der Theorie und nicht der Erfahrung."

Aber auch dann, wenn man zu "spüren" glaubt, daß diese Hinweise den Kern der Sache treffen, ist man als Dualist — und als solcher bekenne ich mich hier erneut ohne Einschränkungen — selbstverständlich noch nicht der Pflicht enthoben, auf den Kausalitätseinwand mit konkreten Argumenten zu entgegnen. Zwar könnte man sich, einem Vorschlag von Hans Jonas folgend, darauf berufen, daß man, auch intellektuell, immer noch billiger davonkommt, wenn man den psychophysischen Zusammenhang unerklärt stehenläßt, als wenn man bei der Absurdität der epiphänomenalistischen "Lösung" seine Zuflucht sucht oder bei der ohne jedes reale Indiz aufgestellten Identitätsbehauptung. "Wer der Natur das Absurde andichtet, um sich ihrem Rätsel zu entziehen, hat sich und nicht ihr das Urteil gesprochen." (S. Anm. 172, S. 62) Jonas begnügt sich jedoch nicht mit dieser Feststellung, und ich will es auch nicht tun.177

Einschüchternd wirkt der Kausalitätseinwand nur so lange, wie in der äußeren Natur eine Determiniertheit vorausgesetzt wird, die lückenlos ist. Erstaunlicher­weise scheint es in diesem Zusammenhang erst Hans Jonas aufgefallen zu sein, daß davon schon seit längerem nicht mehr die Rede sein kann.

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Das "grimmige Entweder-Oder: entweder eine ausschließlich materiell determinierte oder aber eine regellose Natur, entweder Immunität von psychischer Einmischung oder Abdankung der Naturwissenschaft", an dem die Leib-Seele-Diskussion chronisch leidet, gilt den Naturwissenschaftlern längst nicht mehr in seiner ursprünglichen, klassischen Schärfe. Daß das "Kausalnetz ... weitmaschiger ist, als die Billardkugel-Mechanik es dargestellt hatte, ist seit dem Tiefenabstieg der Physik unter das Billardkugel-Modell bekannt" (s. Anm. 172, S. 70).

Im Weltverständnis der modernen Physik hat "das Naturgesetz" seinen klassisch dogmatischen Charakter längst gewandelt. "Naturgesetzlichkeit" bedeutet für den Physiker heute die statistisch gesicherte Vorhersagbarkeit bestimmter Aspekte des Verhaltens natürlicher Objekte. Die Nuance mag manchem im ersten Augenblick spitzfindig erscheinen. Im makrophysikalischen Bereich (innerhalb "mesokosmischer" Dimensionen) ändert sich mit der "Neufassung" grundsätzlich auch nichts. Hinsichtlich unseres Natur- und Weltverständnisses bedeutet sie allerdings eine grundlegende Neuorientierung. Deren in unserem Zusammenhang wichtigster Bestandteil ist eine definitive Absage an den prinzipiellen Determinismus des klassischen physikalischen Weltbildes. Die einstige Überzeugung von einer lückenlosen, keinerlei Freiheitsräume lassenden naturgesetzlichen Festlegung aller natürlichen Abläufe wird in der heutigen Physik als eine Abstraktion infolge einer allzugroßen "Idealisierung" der Beobachtungsergebnisse angesehen.178

Ich will versuchen, den zentralen Punkt dieser Aussage in (zulässiger) Vereinfachung anschaulich zu machen. Ausgangspunkt ist die Erinnerung daran, daß "das Naturgesetz", dem die Souveränität des Subjekts zu opfern uns vom Monisten zugemutet wird, nicht, wie sein Name es suggeriert, von der Natur uns vorgesetzt worden ist. Wir selbst haben es vielmehr formuliert in dem Bestreben, durch eine möglichst generalisierende Beschreibung vorhersagbarer Phänomene angesichts der verwirrenden Vielfalt der Naturerscheinungen Ordnung in unsere Erfahrungen zu bringen. Die Generalisierungstendenz aber, die Voraussetzung der Formulierung eines "Naturgesetzes" ist, hat einen Grad der Abstraktion zur Folge, die lange Zeit beträchtlich unterschätzt wurde.

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Konrad Lorenz hat darauf aufmerksam gemacht, daß selbst die triviale Feststellung, 2 mal 2 sei gleich 4, eine Abstraktion darstellt. Die simple Gleichung hat in der Realität keine Entsprechung. Strenggenommen gilt sie nur im Reich der reinen Zahl, wo allein es wirklich identische Einheiten gibt. In der Welt der realen Objekte dagegen vergewaltigt sie in ihrer verallgemeinernden Aussage deren stets vorhandene Individualität.179

 

Ein für uns nützliches Beispiel stellen die Fallgesetze dar. Auch die von Galilei entdeckte mathematische Beschreibbarkeit des Verhaltens von Körpern im freien Fall oder auf der schiefen Ebene verdankt ihre überzeugende Eleganz, pointiert gesagt, letztlich einer abstrahierenden, von der Realität des konkreten Einzelfalls großzügig absehenden Idealisierung: Noch nie ist ein wirklicher Stein exakt so gefallen, wie das Fallgesetz es behauptet. Noch nie eine reale Kugel präzise nach der Regel eine schiefe Ebene hinabgerollt. "Störungen" — durch Reibung, durch den Luftwiderstand, durch minimale Abweichungen von der idealen Kugelgestalt, durch den Einfluß anderer kosmischer Gravitationszentren und so fort — bewirken in jedem konkreten Fall geringfügige Abweichungen des Beobachtungsresultats vom Gesetz. 

Die Aussage des Physikers, das Fallgesetz beschreibe das Verhalten eines fallenden Körpers, besagt daher eigentlich nur, daß ein fallender Körper sich so verhalten würde, wie das Gesetz es befiehlt, wenn er unter absolut störungsfreien, idealen Bedingungen fiele. Die aber gibt es im ganzen Weltall nirgendwo. Daher sind die Fallgesetze der klassischen Mechanik genaugenommen von der Realität abstrahierende Idealisierungen.

Welches Argument können wir daraus nun für unsere Diskussion mit dem Monisten ableiten, der uns "verbieten" will, die psychische Auslösung einer Körperbewegung für möglich zu halten, weil das im Widerspruch stehe zu "geltenden Naturgesetzen"?

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Vielleicht den folgenden Gedankengang: Ein "Naturgesetz" beschreibt in generalisierender Abstraktion das statistische Durchschnittsverhalten einer hinreichend großen Zahl von Einzelfällen, deren grundsätzlich vorhandene individuelle Abweichungen sich gegenseitig "ausmitteln". Das Gesetz beschreibt die Wirklichkeit daher immer dann befriedigend, wenn die Individualität der in die Aussage einbezogenen Einzelfälle keine Rolle spielt, von allen individuellen Abweichungen als von "Störungen" daher unbeschadet abstrahiert werden kann. Deshalb gilt das Gesetz uneingeschränkt bei Molekülen wie bei Himmelskörpern und ebenso auch bei Bakterien oder niederen Tieren. Irgendwann jedoch beginnt, wenn man sich dem oberen Ende der evolutiven Stufenleiter nähert, das Individuelle, etwa der "Einzelfall" einer konkreten Willensentscheidung, aufzutauchen. In dem gleichen Maße aber gewinnt nun dessen konkrete Abweichung vom Gesetz, wie wir sie auch auf der physikalischen Ebene grundsätzlich schon zu konstatieren hatten, Bedeutung: Sie nimmt jetzt den Charakter eines individuellen Freiheitsgrades an.

Auf die kürzeste Formel gebracht:  

Das Gesetz gilt in der Realität grundsätzlich nur unter der Maßgabe, daß wir ihm mit dem generalisierenden Hobel der Statistik zu Hilfe kommen. Wo immer die Späne, die dabei unter den Tisch fallen, bedeutungslos sind, ist diese Methode legitim (und bei unserem Versuch, Ordnung in die Fülle der Erscheinungen zu bringen, auch erfolgreich). Wer aber hätte unter diesen Umständen nun das Recht, uns zu ihrer Anwendung auch in einem Fall zu verpflichten, bei dem sie uns das Verständnis lediglich erschwert? Also etwa angesichts einer individuellen, willentlichen Entscheidung, dem Einzelfall par excellence, dem durch keinerlei Statistik beizukommen ist? Aus welchem Grunde aber sollten wir uns dann der Forderung beugen, die unmittelbar erfahrene Macht des Subjekts dem von eben diesem Subjekt entworfenen theoretischen Weltbild zum Opfer zu bringen? Selbstverständlich kommt es mir nicht in den Sinn, etwa zu behaupten, daß diese Denkmöglichkeit schon "der wahre Jakob" sei, mit dem sich der monistische Kausalitätseinwand endgültig entkräften ließe.

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Es kam mir lediglich darauf an zu zeigen, auf wie schwachen Füßen der dogmatische Gültigkeits­anspruch in Wirklichkeit steht, den der Monist seinem Gegenargument wie selbstverständlich beimißt. Selbst dann, wenn wir — was ich für wahrscheinlicher halte als den umgekehrten Fall — niemals dahinterkommen sollten, wie die Beeinflussung des Erregungsablaufs einer Hirnrindenzelle durch einen psychischen "Impuls" tatsächlich zustande kommt, haben wir nicht den geringsten vernünftigen Grund, daran zu zweifeln, daß sie stattfindet.180

Auch an folgendes darf bei dieser Gelegenheit einmal erinnert werden: Wer die Möglichkeit dieser Beeinflussung lediglich aufgrund seines Unwissens über ihr Zustandekommen so apodiktisch bestreitet, wie der Monist es tut, nimmt eine weitaus größere Kenntnis der wahren Natur einer Ganglienzelle für sich in Anspruch, als auch das größte Genie sie heute besitzen kann. Wie legitimiert sich eigentlich die seltsame Anmaßung, mit welcher in der Diskussion stillschweigend immer ein "totales Wissen" über die Möglichkeiten und Grenzen eines materiellen Systems vom Komplexitätsgrad unseres Gehirns vorausgesetzt wird? Mit dieser kleinen Anmerkung erlaube ich mir darauf aufmerksam zu machen, daß sich die prinzipielle Unvollständigkeit unseres Wissens nicht, wie es in der Diskussion eigentümlicherweise stets unterstellt wird, nur auf die psychische Seite des psychophysischen Problems bezieht.

Aber liefert der realhistorische Prozeß der Evolution dem Monisten nicht ein unwiderlegliches Argument? Ist es etwa nicht so gewesen, daß der "Geist" — jedenfalls in der Form individuellen, an Gehirne gebundenen Bewußtseins — erst im Ablauf dieser Entwicklung auftauchte und von ihr Schritt für Schritt bis hin zu der uns eigenen Möglichkeit der Selbstreflexion "hervorgebracht" wurde? 

Unbestreitbar ist es so gewesen. Jedoch halte ich die vom "systemtheoretischen Monisten" daraus wie selbstverständlich abgeleitete Schlußfolgerung, daß "der Geist" demnach von dieser biologischen Entwicklung (oder den während dieser Entwicklung laufend vervollkommneten Gehirnen) erschaffen worden sein müsse ("erschaffen wie alle anderen Lebenserscheinungen auch") für überraschend kurzschlüssig.

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Um nicht allzu ausführlich zu werden, will ich mich darauf beschränken, die dualistische Sicht der Beziehung zwischen dem von der Evolution unbestreitbar "erschaffenen" Gehirn und dem ebenso unbezweifelbar von ihm abhängenden Bewußtsein181 mit der Hilfe einer Analogie zu erläutern.

Mir scheint zwischen einem Gehirn und dem von seinem Besitzer erlebten Bewußtsein eine Beziehung zu bestehen, die der zwischen einem Musikinstrument (oder einem "Tonträger") und einer Komposition vergleichbar ist. Auch in diesem Falle ist die "Entstehung" von Musikinstrumenten — die Entwicklungs­geschichte des Instrumentenbaus wie auch die konkrete Herstellung des aktuell benutzten Instruments — unerläßliche Vorbedingung für das Erklingen einer bestimmten Komposition in der sinnlich wahrnehmbaren Realität. Auch hier kann man mit uneingeschränkter Geltung konstatieren: "Musik tritt nur gebunden an Musikinstrumente auf."

Aber so unbestreitbar das ist, niemand würde daraus doch nun den Schluß ziehen dürfen, daß das Instrument (oder sein Benutzer) die aktuell zu Gehör gebrachte Komposition "erschafft". Das Instrument und sein Spieler ermöglichen ihr Auftreten in unserer Wirklichkeit. Jedoch hört eine Mozart-Sonate keineswegs zu existieren auf, wenn das Instrument beiseite gelegt wird (oder wenn man die Noten verbrennt, mit denen sie niedergeschrieben wurde). Daß von einer "Erschaffung" durch das Instrument nicht die Rede sein kann, wird auch durch dessen Austauschbarkeit belegt: dadurch, daß das "gleiche" Stück etwa mit einer Geige oder aber auch einer Flöte (oder noch einem anderen Instrument) realisiert werden kann, eine Möglichkeit, von der Bach und seine Zeitgenossen noch ganz bewußt ausgiebigen Gebrauch gemacht haben.

So, wie ich — aktiv als Spieler oder passiv als Zuhörer — von der Vermittlung durch das Instrument abhängig bin, um Zugang zu der Welt zu erlangen, in der Musik objektiv existiert182 oder, wenn ich Partituren "lesen" kann, von ihrer physischen Repräsentation durch eine Notenschrift —, bin ich in ganz analoger Weise auch auf die Vermittlung durch ein lebendes Gehirn angewiesen, wenn ich teilhaben will an der Welt, in welcher der "objektive Geist" existiert.

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Deshalb kann ich das Gehirn als Voraussetzung meines Bewußtseins anerkennen, ohne damit zugleich der Behauptung zuzustimmen, daß mein Bewußtsein das "Erzeugnis" (oder eine "Systemeigenschaft") dieses in meinem Kopf steckenden körperlichen Organs sein müsse. Deshalb kann ich auch die stammes­geschichtliche, historisch gewachsene Natur meines Bewußtseins anerkennen und beschreiben, ohne es als ein von dieser Geschichte "erschaffenes" Produkt ansehen zu müssen. Ja, ich kann mit vollem Recht sogar davon reden, daß die Evolution mein Bewußtsein "hervorgebracht" habe, ohne mich damit darauf festzulegen, es als seine Schöpfung anzuerkennen. (Auch die Möglichkeiten des Zugangs zur Welt der Musik sind durch die historischen Fortschritte des Instrumentenbaus zunächst geschaffen und durch die anschließende Entwicklung immer weiter vervollkommnet worden.)

Man darf das Gleichnis nicht überstrapazieren. 

Vorsorglich unterstreiche ich noch einmal, daß alle diese Überlegungen nur eine Analogie darstellen sollen, mit deren Hilfe es möglich ist, die reale "Hervorbringung" eines Phänomens durch einen körperlichen Prozeß von seiner "Erschaffung" zu unterscheiden. Ich glaube also nicht etwa, daß das Verhältnis zwischen einem Musik­instrument und der auf ihm gespielten Komposition als Modell angesehen werden könnte, mit dessen Hilfe sich die Beziehung zwischen einem Gehirn und dem von ihm vermittelten Bewußtsein erklären ließe. 

Andererseits halte ich die Analogie aber auch für alles andere als zufällig. Jedenfalls erscheint mir die Vermutung zulässig, daß der besondere und eigentümliche Rang musikalischen Genusses damit zusammen­hängen könnte, daß er uns einen Widerschein der Strukturen jener "eigentlichen Wirklichkeit" erleben läßt, die wir hinter dem unvollkommenen Abbild in unseren Köpfen gleichsam als dessen Original anzunehmen haben. (Das gleiche gälte dann, aus denselben Gründen, auch für den intellektuellen Genuß, den der Umgang mit "reiner" Mathematik bereiten kann.)

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Die Rehabilitierung der "dualistischen" Anerkennung einer selbständigen Existenz des Bewußtseins (in dem in der Anmerkung 181 näher bestimmten Sinne) ist längst überfällig. Sie konnte hier allerdings nur unter Beschränkung auf die wichtigsten Einwände durchgeführt werden. Denn sie gehört, wenn man es genau nimmt, nicht unmittelbar zu unserem eigentlichen Thema. Die Anerkennung einer von unserer körperlichen Natur unabhängigen geistigen Komponente unserer Existenz hat mit der Frage nach der Beziehung dieser Existenz zu unserem Tode direkt nichts zu tun.

Der alte Dualismus klassisch-platonischer Prägung jedenfalls muß heute als überholt gelten. In den platonischen Dialogen — etwa in dem einem Lieblingsschüler namens Phaidon in den Mund gelegten Bericht über den Tod des Sokrates — ist davon die Rede, daß die menschliche "Seele" beim Tod gleichsam übrigbleibt, daß sie den toten Körper wie ein Gefängnis verläßt, um so erst ihre eigentliche Freiheit zu gewinnen. Diese, den Seelenbegriff verdinglichende Auffassung — die sich auch in der christlichen Theologie weit über das Mittelalter hinaus behauptet hat — erscheint uns heute nicht mehr annehmbar. Aber auch Plato hatte die Unsterblichkeit der Seele schon mit einem ganz anderen, durchaus neuzeitlich anmutenden Argument begründet: Die Seele sei deshalb unsterblich, weil sie fähig sei, "unvergängliche Erkenntnisse" zu gewinnen. Dadurch aber habe sie selbst am Unvergänglichen teil.183  

Diese Begründung — Plato spricht nicht von einem Beweis, sondern von der Wahrscheinlichkeit dieses Zusamm­enhangs — ist mit einer modernen dualistischen Auffassung gut vereinbar. Mittelbar trägt diese daher sehr wohl auch zur Begründung der Vermutung bei, daß der Tod nicht den Absturz in ein absolutes Nichts bedeutet.

Nicht in der Weise freilich, daß sie die Seele als eine Art "unvergänglicher Substanz" betrachtete, die vom Tode nicht betroffen würde. Sondern deshalb, weil das menschliche Bewußtsein im Rahmen der skizzierten dualistischen Auffassung als Hinweis auf eine eigentliche, fundamentalere Realität verstanden werden kann, die jenseits unserer diesseitigen, von der Erkenntnistheorie als "unvollkommenes Abbild" durchschauten Wirklichkeit gelegen ist und diese in jedem Sinne des Wortes überhaupt erst "begründet".

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"Unsterblichkeit" ist ein irreführendes Wort. 

Auch wenn wir vom "Weiterleben nach dem Tode" sprechen, verfehlen wir das gründlich, worauf zu hoffen wir allen (rationalen) Grund haben. Der Tod betrifft den ganzen Menschen, seinen Leib und seine Psyche, mit derselben Unerbittlichkeit. Da er das Ende unseres Lebens bedeutet, macht es keinen Sinn, von "Weiterleben" über sein Eintreten hinaus zu reden. Da wir in einem gänzlich uneingeschränkten Sinn sterben werden, ist auch die Hoffnung auf "Unsterblichkeit" als eine allenfalls durch semantische (sprachliche) Verlegenheit entschuldbare Selbsttäuschung zu beurteilen. Wer in diesen Begriffen denkt — und wer von uns ertappte sich dabei nicht fortwährend —, macht es denen leicht, die uns seit Ludwig Feuerbach und Karl Marx vorhalten, daß all unsere Jenseitshoffnung nichts als "Projektion" sei, geboren aus infantilem Wunschdenken angesichts einer uns unerträglich scheinenden existentiellen Grenzsituation.

Angesichts des — betrüblicherweise nicht zuletzt innerhalb der Kirchen — verbreiteten sehr konkreten Redens von einem "Weiterleben" nach dem Tode und der tröstlichen Verheißung von "Unsterblichkeit" trifft die kritische Diagnose voll ins Ziel. Solange wir uns ein "Leben nach dem Tode" am Modell dessen, was allein wir unter "Leben" verstehen, auszumalen versuchen, liefern wir uns jeder rationalen Kritik wehrlos aus. Denn das Leben ist mit dem Tode sozusagen definitionsgemäß zu Ende.184

Eine ganz andere Frage ist es, ob der Tod identisch sein wird mit unserer Vernichtung. Fest steht: Ein Toter ist ein Mensch, der nicht mehr "ist". Dessen Beziehungen zum Leben, zu allem "in der Zeit Existierenden", total und unwiderruflich abgebrochen sind. Ein Toter ist ein Mensch, der aus dieser Welt "verschwunden" ist. Die Frage ist, ob damit für den Gestorbenen "alles zu Ende ist".

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Zwar ist Gewißheit hier auf keine Weise zu haben. Über den Bereich der in der Zeit existierenden Welt hinaus reicht keine unserer Fähigkeiten (bekanntlich reichen sie nicht einmal zur Erfassung des innerhalb seiner Grenzen Gegebenen). Auch hier wieder ist jedoch zu fragen, wer eigentlich die Beweislast zu tragen hat.

Ein Mensch, der die Überzeugung vertritt, daß mit seinem Tode für ihn "alles vorbei" sein werde, nimmt ein Wissen in Anspruch, über das er gar nicht verfügen kann. Die Gewißheit seiner Überzeugung könnte nur dann als legitim und rational angesehen werden, wenn zweifelsfrei feststände, daß "jenseits" dieser zwischen "Urknall" und "Wärmetod" als ihren zeitlichen Grenzen sich entwickelnden Welt nichts mehr existiert. 

Wer diese Möglichkeit als eine über alle Beweispflicht erhabene Selbstverständlichkeit hinstellt, muß sich aber vorhalten lassen, daß er mit ihr die zumindest gewagte Behauptung aufstellt, das Weltbild in seinem Kopfe existiere ohne ein Original. Selbstverständlich ist der Gedanke an die Möglichkeit zulässig, daß die Schatten, die wir (angekettet in der platonischen Höhle) allein zu Gesicht bekommen, nicht von "etwas" geworfen werden, das wirklicher ist als sie selbst. Aber wer diesen Gedanken vorbringt, muß, wie mir scheint, auch begründen, warum er ihn für plausibel hält.185

Die Aussagen der Erkenntnistheorie hat er jedenfalls nicht auf seiner Seite. "Aus meinem Anfangs-Satz ›die Welt ist meine Vorstellung‹ folgt zunächst: ›erst bin ich und dann die Welt‹. Dies sollte man wohl festhalten, als Antidoton [Gegenmittel] gegen die Verwechselung des Todes mit der Vernichtung." Diesen Schluß zog Arthur Schopenhauer in einem Aufsatz, dem er die Überschrift gab: "Zur Lehre von der Unzerstörbarkeit unseres wahren Wesens durch den Tod"186. Ein Philosoph also, den niemand einer sonderlich ausgeprägten Neigung zum Wunschdenken verdächtigen wird.

In demselben Aufsatz hat Schopenhauer auch in brillanter Kürze dargelegt, worin unser Irrtum besteht, wenn wir uns vor dem mit dem Tod einher­gehenden Verlust aller mit unserer Existenz in dieser Welt verbundenen Daseinsattribute fürchten: "Denn im Tode geht allerdings das Bewußtseyn unter; hingegen keineswegs Das, was bis dahin dasselbe hervorgebracht hatte."

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Und einige Absätze später: 

"... sein Wegfallen [des Bewußtseins] ist Eins mit dem Aufhören der Erscheinungs­welt für uns, deren bloßes Medium es war und zu nichts Anderm dienen kann. Würde in diesem unserm Urzustande die Beibehaltung jenes animalen Bewußtseins uns sogar angeboten; so würden wir es von uns weisen, wie der geheilte Lahme die Krücken. Wer also den bevorstehenden Verlust dieses cerebralen, bloß erscheinungs­mäßigen und erscheinungsfähigen Bewußtseins beklagt, ist den Grönländischen Konvertiten zu vergleichen, welche nicht in den Himmel wollten, als sie vernahmen, es gäbe daselbst keine Seehunde."187

Klarer läßt es sich nicht sagen. 

Das sind Sätze, die man manchen Vertretern der Kirche (vor allem der katholischen Kirche) gern ins Stammbuch schriebe, um sie davon abzubringen, ihre Jenseitsverkündigung auf das Format eines konkret ausgemalten Kinder­glaubens zurechtzustutzen und damit die Substanz dessen zu ruinieren, wovon sie ihre Zuhörer überzeugen wollen.

Gewißheit gibt es nicht. Dies trifft für sämtliche aus dem Tode abzuleitenden alternativen Möglichkeiten zu. Den religiösen Verheißungen zu vertrauen haben die meisten von uns schon lange den Mut verloren (aus Gründen, die zu erörtern hier zu weit führen würde). Aber selbst wenn man sie aus dem Spiele läßt, gilt immer noch: 

Daß ein Abbild nicht ohne Original existiert, daß die Welt, in der wir uns vorfinden, auf einem sie tragenden und ermöglichenden transzendenten Fundament ruht (wie nicht nur die Theologen es von alters her, sondern auch Philosophen uns versichern, die nicht im Sinne irgendeiner Kirche gläubig sind) und daß wir daher, wenn wir im Tode aus dieser Welt herausfallen, nicht ins Nichts fallen werden — das alles sind Aussagen, die wir getrost als glaubhaft ansehen dürfen. Im Widerspruch zu einem noch immer verbreiteten Vorurteil erscheinen sie gerade im Licht einer wirklich unvoreingenommenen, rationalen Betrachtung jedenfalls plausibler als die sich oft demonstrativ als einzig "rational" ausgebende gegenteilige Ansicht.

Jedes Wort über diese Feststellungen hinaus ist andererseits vom Übel. Denn: "Als wenig die Kinder wissen im Mutterleib von ihrer Anfahrt, so wenig wissen wir vom ewigen Leben."188  

Gesagt werden aber darf: "Das Leben kann, diesem Allen zufolge, allerdings angesehen werden als ein Traum, und der Tod als das Erwachen" (Arthur Schopenhauer, s. Anm. 186, S. 296). 

Und schließlich sind auch Gründe leicht zu finden für die Vermutung, daß wir ihn als das Erwachen aus einem Alptraum erleben werden.

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