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1.6  »Schwarz-Rot-Mostrich«

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Der paradiesische Frieden der Welt von Lensahn schloß die Eltern nicht mit ein. Die möglicherweise ein wenig branchenfremden Auffassungen meines Vaters über den speziellen Charakter seiner Pflichten wären von seinem herzoglichen Dienstherrn vielleicht hingenommen worden. Mit diesem jedoch hatte er es bei der Erledigung seiner täglichen Aufgaben gar nicht zu tun. Der Großherzog war kein Finanzgenie. Er war aber klug genug gewesen, zur Verwaltung seines über Krieg und Inflation hinübergeretteten — da vor allem aus großen Ländereien bestehenden — Vermögens Männer zu engagieren, die auf diesem Felde mit allen Wassern gewaschen waren. In deren Kreis hatte mein Vater sich zu behaupten. Und dabei zog er im Laufe weniger Jahre den kürzeren.

Von Anfang an hatte er gegen den Geruch des Außenseiters zu kämpfen, der nicht wegen einschlägiger Erfahrungen berufen worden war, sondern lediglich aufgrund einer nostalgischen Regung seines ehemaligen Kommandeurs. Den Männern, auf deren Ablehnung er stieß (und deren Ablehnung er seinerseits von Herzen erwiderte), waren die von allerlei Ehrenstandpunkten bestimmten Grenzen unbekannt, die meinem Vater unsichtbar die Hände banden.

Er versuchte wohl, den Großherzog, mit dem er persönlich gut auskam, als Vermittler anzurufen. Dieser aber zeigte sich entschlossen, die Querelen nicht zur Kenntnis zu nehmen. Seine Finanzbeamten bewältigten die an sie delegierte Aufgabe zu seiner Zufriedenheit. Sein Vermögen mehrte sich von Jahr zu Jahr. Warum hätte er die Laune dieser Männer trüben sollen aus Gründen, die neben der Sache lagen?

So nahm die Auseinandersetzung, hinter der Fassade korrekter Kollegialität mit Hilfe permanenter kleiner Intrigen verbissen geführt, rasch Formen an, die meinem Vater widerlich und schließlich unerträglich erschienen. Im Spätsommer 1927 »warf er das Handtuch«, kündigte und saß jetzt mit seiner inzwischen auf fünf Köpfe angewachsenen Familie — 1925 war eine zweite Schwester geboren worden — auf der Straße. 

Auch in dieser Situation fand sich eine Lösung, welche wenigstens uns Kindern die vollen Auswirkungen der Misere ersparte. Meine Eltern nahmen das Opfer auf sich, sich zu trennen. Wir zogen mit meiner Mutter nach Bückeburg, in das Elternhaus meines Vaters, zu meiner dort noch lebenden Großmutter (»Tante Martha«). Mein Vater überwand sich und kehrte nach Berlin, in die von ihm aufrichtig gehaßte Großstadt, zurück, nahm sich dort ein winziges Zimmer und begann mit der Suche nach Arbeit.

Für uns Kinder fügte sich abermals alles zum besten — wenn man einmal davon absieht, daß wir unseren Vater jetzt nur noch höchstens einmal im Monat für ein kurzes Wochenende zu sehen bekamen. (Häufigere Reisen scheiterten an den Kosten.) Ich vermißte den einzigen Gesprächspartner, der auf meine Fragen ernsthaft einzugehen pflegte. Immer, wenn er wieder abgereist war, verfiel ich für mehrere Tage in regelrechte Depressionen, während deren ich schlecht schlief und kaum etwas aß.

Auch in der übrigen Zeit führten wir mit unserer Mutter verständlicherweise immer von neuem Gespräche über die Gründe der väterlichen Abwesenheit, deren Abnormität wir stark empfanden und deren vorüber­gehende Natur wir uns fast täglich bestätigen ließen. Immerhin währte die Trennung länger als drei Jahre. Sonst fehlte es uns Kindern an nichts. An nichts von alledem jedenfalls, was Kinder unseres Alters zum Glücklichsein brauchten. Geld war nicht vorhanden, oder doch nur so viel, daß es mit Mühe und Not für das tägliche Brot reichte. Schuhe und Kleidung »erbten« wir von älteren Vettern und Cousinen. Süßigkeiten vermißt man nicht, wenn man sie nicht gewohnt ist.

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Ich erinnere mich noch, wie mir meine Schwester einmal erzählte, die Mutter einer Schulfreundin habe sie zu einem »Eis« eingeladen, und welche Schwierig­keiten es meiner Schwester bereitete, mir zu erklären, worum es sich dabei handelte.

Es gab nur zwei Dinge, deren Unerreichbarkeit ich in den Bückeburger Jahren schmerz­lich empfunden habe: Das eine war ein großer roter Dampfer mit Aufziehmotor und abnehmbaren (!) Rettungs­booten, den ich hinter der Schaufensterscheibe des Spielwaren­ladens Hespe entdeckt hatte und wochen­lang bewunderte, bis er eines Tages verschwunden war. Das zweite war ein Kinderfahrrad.

Meine Großmutter wohnte mit einer unverheirateten Schwester allein in der Villa, die mein Großvater noch vor dem Ersten Weltkrieg gebaut hatte — zusammen mit einer auf dem Nachbargrundstück gelegenen Villa für eine seiner Schwägerinnen — und die viel zu groß war für die beiden alten Damen. Ein riesiger Dachboden und unbenutzte Zimmer mit geheimnisvoll riechenden alten Schränken und Kommoden, in denen es verstaubte »Klamotten« gab, mit denen man sich kostümieren konnte, und eine Fülle uns zum Teil rätselhafter Gegenstände — darunter exotische Souvenirs von einer Weltreise, die ein Großonkel um die Jahrhundert­wende unternommen hatte — machten das Haus für uns zu einer Art Märchenschloß.

Man male sich die Faszination aus, die mich ergriff, als ich eines Tages auf dem Dachboden in einer sicher seit Wilhelminischen Zeiten nicht mehr geöffneten Kiste ein Stereoskop entdeckte!

Zunächst wußte ich mit dem braunen, polierten Holzkasten nichts anzufangen. Die beiden mit Linsen bewehrten Okulare und ein dicker Packen vergilbter Zwillingsphotos, die man durch einen Schlitz an der Rückseite in das Gerät schieben konnte, ließen mich schnell hinter sein Geheimnis kommen. Ich erinnere mich noch sehr lebhaft des überwältigenden Gefühls, das ich empfand, als die auf den Photos dargestellten Szenen plötzlich plastisch vor meinen Augen frei im Raum zu schweben schienen: Reiter auf Elefanten, Negerinnen mit Lasten auf dem Kopf, eine öffentliche Hinrichtung in einer chinesischen Stadt (der Kopf des einen Delinquenten lag schon auf dem Straßenpflaster, gegen den zweiten holte der Scharfrichter gerade mit einem gewaltigen Schwert aus) und andere Motive, die der längst verstorbene Großonkel während seiner Reise eigenhändig photographiert hatte, um sie nach seiner Rückkehr den staunenden Angehörigen vorführen zu können.

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Mit gesteigerter Ungeduld sah ich dem nächsten Besuch meines Vaters entgegen, beseelt von dem Wunsch, mir das optische Wunder erklären zu lassen. Als es endlich soweit war, wurde mir jedoch nicht nur der Gewinn entsprechender Informationen zuteil. Mir widerfuhr bei dieser so sehr herbeigesehnten Gelegenheit auch der schmerzlich empfundene Verlust eines nicht kleinen Teils der mir zur stereoskopischen Betrachtung verfügbaren Photographien. Der väterlichen Zensur nämlich fiel nicht nur die chinesische Hinrichtung zum Opfer, sondern zu meinem Kummer auch eine Reihe weiterer Aufnahmen, die mir recht attraktiv erschienen waren. Im Rückblick muß ich allerdings einräumen, daß es sich dabei um Motive handelte, die zu betrachten zwar auch dem Großonkel sicher kein geringes Vergnügen bereitet hatte, deren Vorführung im Familienkreise er allerdings kaum ernstlich erwogen haben dürfte.

Unter dem Einfluß der Kreise, in denen Großmutter und Eltern verkehrten, wurde in diesen Jahren auch mein Bild von der empörenden Lage des Vaterlandes geprägt. Zu seiner Entstehung trugen vor allem die nicht enden wollenden Gespräche der Erwachsenen bei über die entwürdigenden Folgen des Friedensvertrags oder vielmehr des »Schanddiktats von Versailles«.

Das Schändliche dieses Vertragswerks bestand in ihren Augen schon in der Art und Weise seines Zustande­kommens: Es handele sich um das Resultat eines schnöden Betrugs, bei dem die wie immer viel zu gutgläubigen Deutschen von ihren Feinden hinterlistig hereingelegt worden seien. Erst habe der amerikanische Präsident Wilson dem Deutschen Reich zu Anfang des Jahres 1918 nämlich indirekt eine Art Friedensvorschlag unterbreitet, indem er seine Vorstellungen über eine gerechte Nachkriegsordnung in einer vierzehn Punkte* umfassenden Erklärung vor aller Welt bekanntgegeben habe.

* Hier einige der Punkte, die meine Verwandtschaft übersah: Woodrow Wilson hatte seine in den deutschnationalen Kreisen der Weimarer Republik ständig voller Empörung zitierten »Vierzehn Punkte« keineswegs als Offerte an das kaiserliche Deutschland adressiert, sondern als eine ihm für spätere Friedensverhandlungen wünschenswert erscheinende Orientierung unverbindlich bekanntgegeben. (Übrigens forderte auch diese Proklamation schon die Rückkehr von Elsaß-Lothringen zu Frankreich sowie den »Zugang zum Meer« für ein wiederzuerrichtendes Polen.)

Ferner hatte das Reich auf die Initiative des amerikanischen Präsidenten im Januar 1918 noch nicht reagieren zu müssen geglaubt, da eine Frühjahrsoffensive vorbereitet wurde, von der man sich einen entscheidenden Erfolg versprach. Als man sich nach dessen Ausbleiben eines Besseren besann, versuchte Wilson (wenn auch erfolglos), seine »Punkte« bei den Friedensverhandlungen durchzusetzen.

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Als Deutschland sich dann »einige Monate später« (Ende Oktober 1918) bei seinem Waffenstillstands­ersuchen in gutem Glauben auf diesen Vorschlag berufen habe, seien aber statt dessen die schmachvollen Bestimmungen von Versailles auf den Verhandlungstisch gelegt worden.

Eine ihrer folgenschwersten Konsequenzen kam mir auf den Straßen Bückeburgs regelmäßig vor Augen. In der idyllischen ehemaligen Residenz der Fürsten von Schaumburg-Lippe (wenig mehr als 6000 Menschen lebten damals in dem verträumten Städtchen) hatten bis zum Kriegsende die durch ein damals vielgesungenes Soldatenlied bekannt gewordenen »Bückeburger Jäger« in Garnison gestanden. Jetzt lag ein Infanteriebataillon in dem roten Backsteinbau. Die Soldaten betrieben ihr Handwerk mit entsagungsvollem Fleiß. Von morgens bis abends (und oft genug auch noch während der Nacht) war aus allen Himmelsrichtungen das Knallen von Platzpatronen zu hören. Hinterher sah ich die Männer dann oft verschwitzt und erschöpft durch die Straßen in die Kaserne zurückmarschieren.

Bei diesen Gelegenheiten wurde ich nun wiederholt einer bizarren Konstruktion ansichtig, deren wahrhaft lächerlicher Kontrast zu dem martialischen Aussehen der mit Stahlhelm und Gewehr daherkommenden Männer die ihnen von unseren Kriegsgegnern zugefügte Erniedrigung augenfällig werden ließ: Einer aus ihren Reihen mußte hinter der Kolonne ein kastenartiges Gebilde aus Pappe und Sperrholz auf einem Fahrradgestell mitschieben, das mit Tarnfarben bemalt war und in dessen Vorderwand ein Papprohr steckte, das eine Kanone darstellen sollte. Es handelte sich um die Attrappe eines »Tanks« (wie man Panzer damals noch nannte). Ich schämte mich für den Bedauernswerten, dem diese genierliche Aufgabe zufiel, so sehr, daß ich jedesmal kaum hinzusehen wagte.

Aber so war es eben: Unsere Feinde — deren niederträchtigster Frankreich war, soviel hatte ich inzwischen begriffen — hatten »uns« den Besitz echter Tanks verboten, so daß unsere Soldaten mit derartig kindischem Ersatz üben mußten. Und das war keineswegs alles. Auch Kriegsflugzeuge waren den Deutschen nicht erlaubt, keine U-Boote und keine »Linienschiffe«.

Nicht, daß irgend jemand in meiner Umgebung sich dieses Mangels wegen bedroht gefühlt hätte. Davon war meiner Erinnerung nach niemals die Rede. Nicht zum Schutz fehlten uns Flugzeuge, U-Boote und Tanks. Sie fehlten uns als vorzeigbare Symbole unserer nationalen Ehre.

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Ich hätte diese Interpretation im Volksschulalter selbstverständlich nicht formulieren können. Die tiefe Scham, die man mich als »deutsches Kind« angesichts dieser Fakten zu empfinden lehrte, speiste sich aber aus dieser Wurzel. Unseren Feinden war es gelungen, uns zum Gespött der Welt zu machen, das war das einen echten Patrioten damals bis in den Schlaf verfolgende Gefühl. Das Ganze war um so schändlicher, als unsere Soldaten mit einem Heldenmut gekämpft hatten, zu dem Franzosen oder Engländer nicht fähig gewesen wären.

Natürlich wurde nicht nur darüber gesprochen. Insbesondere wir Kinder tobten mit unseren Freunden im Garten oder auf dem damals noch an ihn angrenzenden freien Gelände. Wir spielten Indianer und Verstecken, prügelten uns und heckten mehr oder weniger törichte Streiche aus, wie Kinder das immer getan haben. Es ist aber nicht übertrieben zu sagen, daß die »nationale Schmach« das Leitthema dieser Jahre bildete und daß das Gefühl einer »Erniedrigung des Vaterlandes« (Formulierungen dieser Art wurden mit der größten Selbstverständlichkeit gebraucht) die alltägliche Atmosphäre beherrschte. Jedenfalls »in unseren Kreisen« war das so. Und was man außerhalb dieser Kreise dachte, zählte, soweit es nationale Fragen betraf, ohnehin nicht.

Es verging längere Zeit, bevor ich überhaupt darauf gestoßen wurde, daß es außerhalb der Welt, in der ich aufwuchs, noch eine andere Welt gab. Eine Welt mit Menschen, die, obwohl auch sie Deutsche waren, die Dinge auf eine sehr irritierende Weise anders sahen. Ein Erlebnis während des Schulunterrichts gab den Anstoß. Ein Lehrer, den wir sehr mochten — schon deshalb, weil er nicht, wie sein weniger geschätzter Kollege, ständig mit dem schlagbereiten Rohrstock durch die Bankreihen lief —, hatte uns die Aufgabe gestellt, eine Burg zu malen und deren Turm »mit der deutschen Fahne« zu schmücken. Es muß im zweiten Volksschuljahr gewesen sein, denn wir machten uns mit Buntstiften an die Arbeit (und nicht, wie während des ersten Jahres, mit Griffeln auf unseren Schiefertafeln).

Als ich das Ergebnis nicht ohne Stolz und in der sicheren Erwartung auf ein Lob vorwies, wurde zu meiner größten Überraschung meine Fahne kritisiert. Das sei nicht die deutsche Fahne, behauptete der Lehrer. Dabei hatte ich doch nach bestem Wissen und Gewissen eine schwarzweißrote Fahne auf den Turm meiner Burg gepflanzt. Die deutschen Farben seien aber »Schwarz-Rot-Gold«, ob ich das denn nicht wüßte. Ich wußte es nicht.

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Zwar war mir nicht verborgen geblieben, daß an manchen Tagen vor der Kaserne, am Rathaus und sogar aus den Fenstern einiger Privathäuser gelegentlich Fahnen in den von meinem Lehrer genannten Farben hingen. Das war aber, soweit ich das zu Hause mitbekommen hatte, nur die Fahne »der Republik«, beileibe nicht die des Vaterlandes. Und die republikanischen Farben wurden, wenn überhaupt, nur als »Schwarz-Rot-Mostrich« zitiert, wobei das Wort »Mostrich« mit erkennbarer Verachtung auszusprechen war.

Als mich der Lehrer behutsam aufzuklären versuchte, kamen wir gleich noch zu einem zweiten kritischen Punkt — ganz unvermeidlich bei der Natur des Geländes, das wir da unversehens betreten hatten. In Wirklichkeit, nämlich militärisch gesehen, hätten wir den Krieg doch überhaupt nicht verloren, erwähnte ich. Das war für den Mann denn doch zuviel. Aber auf dem Bückeburger Gefallenendenkmal, an dem wir so oft der schönsten Militärmusik zuhören durften, stand doch auch: »Im Felde unbesiegt!« Wir hätten den Krieg verloren, beharrte der Lehrer kopfschüttelnd, und einige Klassenkameraden pflichteten ihm sogar noch bei. Es waren alles Kinder, mit denen ich noch nie gespielt hatte.

Einigermaßen konsterniert, brachte ich die Angelegenheit zu Hause zur Sprache. Dort fiel es den für mich maßgeblichen Autoritäten glücklicherweise nicht schwer, mein für den Augenblick doch etwas ins Wanken geratenes Weltbild alsbald wieder zu stabilisieren. Bei dem Lehrer, um dessen geradezu unerhörte Äußerungen es ging, handele es sich um einen »Sozi«, erfuhr ich als erstes. (In Bückeburg wußte jeder über jeden Bescheid.) Damit war in den Augen meiner Angehörigen im Grunde schon alles gesagt. Denn die »Roten« — und zu diesem »Gesindel« gehörten eben auch die Sozialdemokraten — waren es ja gewesen, die 1918 die Revolution angezettelt hatten, mit der man unseren tief in Feindesland kämpfenden Armeen feige in den Rücken gefallen war.

Die »Roten« waren es gewesen, die den Kaiser aus dem Lande getrieben, die Republik eingeführt und das »Schanddiktat von Versailles« unterschrieben hatten. Und rote »Verzichtspolitiker« biederten sich jetzt bei »unseren Feinden« mit unpatriotischen Zugeständnissen an in dem würdelosen Versuch, durch die Preisgabe nationaler Interessen »um gut Wetter zu bitten«.

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Wenn ich die wahre Natur der hinter diesen Anschauungen steckenden nationalistischen, friedensunfähigen Wahnwelt hätte erkennen können, hätte mich schon damals die blanke Angst packen müssen. So aber beruhigten mich diese Auskünfte ungemein. Denn nur die Wahrheit macht angst. Dagegen gibt es fast nichts auf der Welt, was einen Menschen so sehr zu beruhigen imstande ist wie eine möglichst eindringliche Bestätigung seiner Vorurteile.

Wie sehr das Gift meinen Kinderkopf durchtränkt hatte, läßt sich an einem Tagtraum ablesen, dessen ich mich heute nur noch betroffen und mit Widerwillen erinnere, den ich damals jedoch ganz und gar als Wunsch­traum auskostete. Kinder des Alters, in dem ich mich befand — sieben oder acht Jahre alt —, träumen sich gelegentlich in Rollen hinein, die ihnen in der Erwachsenenwelt Bedeutung verschaffen würden: als berühmte Fußballspieler, internationale Schlagerstars oder auch — wenn es sich um Mädchen handelt — als umschwärmte Filmschauspielerinnen.

In einem von mir damals ausgesponnenen Tagtraum erlebte ich mich nun als der von ganz Deutschland bejubelte Retter des Vaterlandes. Diese Heldenrolle schusterte ich mir in meiner Phantasie auf folgende skurrile Weise zu: Ich lag in unserem Kinderzimmer auf dem Bauch, mit einem auf die geöffnete Tür gerichteten Gewehr im Anschlag. Draußen auf dem Flur paradierte die ganze französische Armee im Gänsemarsch, ein Soldat nach dem anderen, an der Tür vorbei, und jedesmal, wenn einer von ihnen in der Öffnung auftauchte, drückte ich ab und schoß ihn tot. So würde ich selbst als Kind in der Lage sein, die gesamte französische Militärmacht zu besiegen — wenn immer nur hübsch ein Franzose nach dem anderen vor meiner Kinderzimmertür vorbeidefilierte. Ein Wunschtraum, wie gesagt.

Man kann diese Kindheitsphantasie albern finden. Über sie lachen kann man nicht. Wenn ein Junge im Alter von acht Jahren die Gelegenheit herbeiträumt, Menschen in Serie totschießen zu können, bloß weil sie in der Uniform »des Erbfeindes« stecken, besteht aller Grund, an der psychischen Gesundheit der Umgebung zu zweifeln, in der er aufwächst. Wie aber hätte ich, von meiner kindlichen Unreife einmal abgesehen, jemals zu dieser Einsicht kommen können? Angesichts der liebevollen Zuneigung meiner Mutter, von der ich mit Haut und Haaren abhing? Angesichts der erdrückenden Autorität eines Vaters, der nicht nur wußte, wie ein Zeppelinluftschiff funktioniert oder ein Telephon, sondern der aus der Erfahrung einer mit Erbitterung ertragenen mehrjährigen Kriegsgefangenschaft, also aus erster Hand, auch mit beliebigen Beispielen für die Perfidie und Minderwertigkeit des französischen Volkscharakters aufwarten konnte?

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Ein kleines Detail meines Wunschtraumes scheint mir noch erwähnenswert: Die Franzosen, die totschießen zu können ich mir so sehr wünschte, steckten nicht etwa in den feldgrauen Uniformen des zurückliegenden Weltkrieges. Ich stellte sie mir vielmehr in den blauen Waffenröcken und den roten Hosen vor, die sie während des Krieges von 1870/71 getragen hatten. Dafür gab es, wie ich nachträglich weiß, konkrete Gründe. Die Bilderbücher nämlich, mit denen man mich versorgte und aus denen ich meine Anschauungen bezog, waren nicht nur überwiegend kriegerischen Inhalts. Sie stellten auch ausschließlich Szenen aus Kriegen dar, die wir eindeutig, mit »Glanz und Gloria«, gewonnen hatten. Und deshalb kam der Krieg von 1914/18 in ihnen nicht vor. Den hatten wir zwar nicht wirklich verloren, aber richtig gewonnen hatten wir ihn auch nicht.

Meine Großmutter und die Eltern, Tante Margret Wedel und Tante Lene, Onkel Hans in Dankersen und Onkel Wilhelm in Lemmie (den beiden einzigen Gütern, die noch in Familienbesitz waren), Tante Elisabeth oder Onkel Gerhard, der als aktiver Offizier im benachbarten Minden diente und mir zum Geburtstag ein Jahresabonnement der fesselnden Zeitschrift »Kriegskunst in Wort und Bild« schenkte, und wie sie noch hießen, alle jene, die in dieser Phase meiner Kindheit um mich waren: sie alle waren Menschen mit gutem Herzen und ausgezeichneten Manieren. Sie gingen an jedem Sonntag in die Kirche und versuchten aufrichtig, nach Gottes Geboten zu leben. Sie waren freundlich zu mir und bemühten sich nach Kräften, mich für die Welt so gut zu erziehen, wie es ihnen nur möglich war.

Die Welt aber, die sie dabei im Sinn hatten, war nicht die reale Welt. Sie alle lebten in einer schwarzweißroten Wahnwelt. Niemand von ihnen wußte das. Bewohner von Wahnwelten wissen das nie. Sie alle sind sich ihrer Sache stets völlig sicher, denn sie teilen alle die gleichen Vorurteile. Ich konnte es auch nicht wissen, denn ihrer aller Übereinstimmung ließ keinerlei Raum für irgendwelche Zweifel. In dieser Atmosphäre bereitete sich der Nährboden vor für die kommenden Katastrophen, in aller Öffentlichkeit und dennoch von den meisten unbemerkt.

 

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7. Schwere Zeiten

 

Wie arm meine Eltern tatsächlich waren, das bekamen wir Kinder, so paradox es klingt, erst zu spüren, als es meinem Vater etwas besser zu gehen begann. Um soviel besser wenigstens, daß die Familie nach jahrelanger Trennung endlich wieder zusammenziehen konnte, weil es für eine bescheidene Miete reichte und der Unterhalt ohne die Ressourcen des ansehnlichen großmütterlichen Obst- und Gemüsegartens (und vermutlich auch diskrete Abzweigungen von der großmütterlichen Pension) möglich erschien.

Wir zogen, es muß Ende 1930 gewesen sein, abermals um. Diesmal ging es an den Böttcherberg in Klein-Glienicke bei Potsdam. Mein Vater hatte bis dahin als Vertreter für Siemens Telephonanlagen verkauft. Eine Tätigkeit, die er als erniedrigend empfand, der er trotzdem aber, wie bei ihm nicht anders denkbar, mit größter Gewissenhaftigkeit nachging. Die Belohnung war nach drei Jahren eine Festanstellung als kaufmännischer Angestellter im Innendienst des Unternehmens. Sie ging mit einer bescheidenen Einkommens­verbesserung einher und machte es so möglich, die Familie zusammenzuführen. 

Der Wechsel versetzte uns aus der altmodisch-üppigen Atmosphäre einer weitläufigen Gründerzeitvilla in die ärmlich ausgestatteten dreieinhalb Zimmer des Erdgeschosses eines Arbeiterhauses. Ich erinnere mich noch daran, daß ich bei der ersten Inspektion des uns (immerhin) zur Verfügung stehenden Badezimmers angesichts der frei in dem engen Raum stehenden Badewanne mit angeschlossenem Kohleofen und der in häßlicher dunkelgrüner Ölfarbe gestrichenen Wände kategorisch erklärte: »Hier werde ich nie baden!« Meine Mutter, spürbar betroffen von dieser Reaktion auf die neuen Umstände, versuchte mich zu beschwichtigen, wobei ich ihr anmerkte, wie sehr sie mich verstand.

Sie hätte sich keine Sorgen zu machen brauchen. Kinder gewöhnen sich rasch. Natürlich badete ich dann doch einmal wöchentlich in dem Raum, dessen erster Anblick mich so erschreckt hatte. An den übrigen Tagen wuschen wir uns kalt. Im Winter bedeutete das nicht selten, daß in der Waschschüssel morgens erst eine dünne Eisschicht zerbrochen werden mußte. Die Öfen — in Bückeburg hatte es Zentralheizung gegeben — wurden spät angeheizt, um Kohlen zu sparen.

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Uns Kindern machte das nichts aus. Wir empfanden es nicht als unzumutbar. Auch diesmal hatten die Eltern das Kunststück fertiggebracht, ein Domizil zu finden, das ungeachtet unvermeidlicher Einschränkungen alle Kinderwünsche erfüllte. Das Haus war häßlich und ärmlich wie die proletarische Nachbarschaft auch. Aber es stand inmitten eines großen Gartens mit einer Wiese zum Ballspielen. Daneben lag »die Wüste«: ein gänzlich verwildertes unbebautes Grundstück, auf dem wir mit offizieller elterlicher Erlaubnis machen durften, was wir wollten, solange es nicht lebensgefährlich war. Von mir dort mit Hilfe von Bierflaschen (die damals noch einen fest verriegelbaren Verschluß hatten), Karbid und Wasser angestellte Sprengversuche mußten unter diesen Umständen als inoffizielle Unternehmungen gelten, die deshalb auch nur in Abwesenheit der Eltern stattfanden.

Mein Vater hätte es nicht über sich gebracht, uns in die Enge eines Berliner Mietshauses zu pferchen. Auch ihn grauste es bei der Vorstellung, in dem »Sündenbabel« der Millionenstadt zu wohnen, in der er, schlimm genug, arbeiten mußte. Daher kam nur eine Randgemeinde, »ganz weit draußen«, in Betracht, wo die Häuser auch der kleinen Leute noch Gärten hatten und die Mieten niedrig waren. Warum er ausgerechnet auf Klein-Glienicke verfiel, weiß ich nicht. Von seiner Arbeitsstätte in Lichtenberg aus gesehen, lag der Ort denkbar ungünstig, genau auf der anderen Seite von Berlin, so daß er, um zu Siemens zu gelangen, zu Fuß, mit dem Bus und dann mit der Stadtbahn eine Reise von fast zwei Stunden quer durch die ganze Metropole zu absolvieren hatte. Zweimal am Tag und sechsmal in der Woche, denn damals wurde auch am Sonnabend noch bis mittags gearbeitet.

Er hat das fünfzehn Jahre lang durchgehalten, bis zum Ende des letzten Krieges. Wurde er von Bekannten darauf angesprochen, so stellte er es als Gewinn, ja geradezu als Privileg dar. »Wer hat denn Tag für Tag so viel Zeit zum Lesen wie ich«, pflegte er zu sagen. Das war mehr als eine bloße Beschönigung. Denn er hatte tatsächlich systematisch und mit eiserner Konsequenz während dieser Fahrten zu lesen begonnen. Mit Geschichte fing er an, dann kam die griechische Sprache an die Reihe, Altgriechisch selbstverständlich, »die Sprache Homers«, und nebenher auch noch Latein. Am Ende dieser langen Jahre stellte sich zur allgemeinen Überraschung der Familie — und vielleicht ein bißchen auch zu seiner eigenen — heraus, daß die tägliche Reiselektüre offensichtlich mehr gewesen war als nur der Zeitvertreib eines Amateurs. Denn ihre Folgen sollten das Leben meines Vaters, als er schon mehr als fünfzig Jahre alt war, noch einmal von Grund auf ändern.

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Soviel zu den Gründen, die uns nach Klein-Glienicke verschlugen. Wir Kinder hatten abermals den besseren Teil erwischt (und so war es ohne jede Frage auch beabsichtigt). Allerdings bekamen hier erstmals auch wir die wirtschaftliche Misere unübersehbar zu spüren. Daß an Urlaubsreisen während der Ferien nicht zu denken war, störte uns noch am wenigsten. Das hatte es auch in den Jahren zuvor nicht gegeben, und den Nachbarkindern, mit denen wir spielten, ging es nicht anders.

Ärgerlicher war es schon, daß jetzt gegen unseren anfänglichen Protest zum Frühstück das Prinzip »Butter oder Marmelade« eingeführt wurde. Die Zeiten, in denen wir Großmutters herrliche Zwetschgen- oder Himbeermarmelade nach Belieben auf mit Butter bestrichene Brötchen auftragen durften, waren endgültig vorbei. »Entweder Butter oder Marmelade« hieß es nun, und statt Butter gab es sehr bald Margarine, und diese wurde auch nicht mehr auf Brötchen, sondern auf gewöhnliches Schwarzbrot geschmiert. Bei Schulausflügen sahen wir anderen Kindern doch ein wenig neidisch zu, wenn die sich von mitgegebenen Groschen Bonbons kaufen und giftgrüne oder knallrote Brause trinken konnten. »Wenn ihr wirklich Durst habt, könnt ihr ja Wasser trinken«, hieß es bei uns.

Aber das alles war nicht wirklich schlimm. Als schlimm empfanden wir ganz andere Dinge, Kleinigkeiten meist. So spüre ich in der Erinnerung immer noch das tiefe Erschrecken, das sich mir auf den Magen legte, wenn ich so ungeschickt gewesen war, etwas kaputtzumachen: ein Stück Geschirr, eine Fensterscheibe. Eines Tages kam ich glücklich und erschöpft von einem Rodelnachmittag auf dem »Plateau« (so hieß der kleine Hang wirklich) des Böttcherbergs nach Hause. Glücksgefühl und gute Laune machten abrupt tiefer Niedergeschlagenheit und Schuldgefühlen Platz, als meine Mutter mich erschrocken auf einen langen Riß in meiner Hose hinwies, den ich mir an irgendeinem Ast geholt hatte, ohne es zu merken. Wir wußten, was wir unseren Eltern mit derartigen Vorfällen antaten, und konnten ihre Wiederholung, Kinder, die wir waren, trotz aller guten Vorsätze und Versprechungen niemals vermeiden.

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Am unangenehmsten aus dieser Zeit ist die Erinnerung an abgetragene schwarze Lackschuhe, die mit einer schmalen Knopfspange zu schließen waren, was den Spielkameraden ihren Charakter als Damenstiefel unübersehbar signalisierte. Eine Großtante hatte sie abgelegt — ihr Lack begann bereits in scharfkantigen Schuppen abzublättern —, und ich mußte sie wohl oder übel auftragen und konnte nicht umhin, mich auch in der Schule mit ihnen zu zeigen. Es liegt auf der Hand, was das mit sich brachte.

Die Zeiten waren schwer, selbst einem Kind blieb das nicht mehr verborgen. Ich lernte aber bald, daß es Leute gab, denen es noch viel schlechter ging als uns. Mein Freund Heinz Lehmann wohnte unter dem Dach eines Mietshauses in derselben Straße in zwei dunklen, nur behelfsmäßig ausgebauten Bodenräumen mit Eltern, Großmutter und mehreren Geschwistern. Der Vater war arbeitslos, wie die meisten Väter am Böttcherberg. Heinz führte mir seine Weihnachtsgeschenke vor: zwei Haveldampfer, von seinem Vater aus Schuhkartons gebastelt. Mit ungläubigem Staunen ging mir auf, daß Heinz mich und unsere Familie für reich hielt.

Aber Heinz und seine Angehörigen verkörperten ihrerseits bei weitem noch nicht die unterste Stufe der damaligen Gesellschaft. Diese wurde von den täglich oft mehrmals an unserer Haustür auftauchenden Bettlern repräsentiert, abgehärmten Gestalten in zerschlissener Kleidung, die bescheiden, oft geradezu peinlich unterwürfig, nur um eines baten: etwas zu essen. Sie bekamen von meiner Mutter immer etwas zugesteckt, und wenn es nur ein Margarinebrot war, für das sie sich wortreich bedankten.

Es klingt zunächst absurd, aber wir bekamen in dieser Zeit ein leibhaftiges »Hausmädchen«. In Wirklich­keit liefert der Umstand aber nur ein weiteres Beispiel für die Not dieser Jahre. Hertha Mehling — sie stammte aus Schwiebus, ein Name, der uns Kinder seiner Fremdartigkeit wegen sehr beeindruckte — kam im Alter von etwa sechzehn Jahren zu uns, schüchtern, ärmlich und ohne ein Lächeln im Gesicht. Ihre Eltern konnten sie nicht mehr unterhalten, und Arbeit hatte sie nicht finden können. Ich habe keine Ahnung mehr, wie der Kontakt zu uns zustande kam. Jedenfalls war Hertha eines Tages plötzlich da. Sie wurde in einem winzigen, muffig riechenden Kellerraum notdürftig untergebracht. Etwas anderes konnten meine Eltern ihr nicht anbieten, und Hertha war es zufrieden.

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Was meine Eltern ihr aber zu bieten hatten, das ließ Hertha innerhalb weniger Wochen aufleben. Sie aß mit uns bei Tisch und wurde von nun an regelmäßig satt. Sie wurde völlig in die Familie integriert, wenn sie auch — so sehr waren die Sitten denn trotz aller Armut doch noch nicht ramponiert — meinen Vater selbstverständlich mit »Herr Rittmeister« anredete und meine Mutter mit »gnädige Frau«. Aber sie gehörte dazu, eine Rolle, die sie sichtlich glücklich machte. Sie ging mit uns spazieren, begleitete uns bei den von den Eltern erbettelten — und ihrer Seltenheit wegen als festliche Unternehmungen genossenen — Kinobesuchen und lernte, nachdem meine Mutter ihr einen gelben Badeanzug gekauft hatte, bei unseren sommerlichen Badeausflügen zum Griebnitzsee unter Anleitung meines Vaters sogar schwimmen.

Natürlich hatten beide Seiten ihren Vorteil davon. Hertha half meiner Mutter von morgens bis abends bei allem, was anfiel. Und außer Kost und Logis bekam sie nur ein höchst bescheidenes Taschengeld (und zu Weihnachten Bettwäsche für ihre Aussteuer). In meinen Augen wäre es jedoch eine totale Verkennung der Situation, wollte jemand heute behaupten, Hertha sei von meinen Eltern »ausgebeutet« worden. Sie hatte eine Zuflucht gefunden, in der sie sich geborgen fühlte. In kurzer Zeit schloß sie die ganze Familie in ihr Herz, und wir hingen an ihr wie an einer zweiten Mutter.

So blieb sie auch bei uns, als die Zeiten sich zu bessern begannen, was ihr zu Erlebnissen verhalf, von denen sie ihren ungläubig staunenden Eltern in überschwenglichen Briefen nach Schwiebus berichtete: Sie verbrachte einen Sommerurlaub an der Ostsee mit uns (»am Meer«, schrieb Hertha nach Hause). Sie erlebte ihren ersten Theaterbesuch (und heulte nächtelang, weil es »etwas Trauriges« gegeben hatte), und sie begleitete uns bei Wochenendausflügen mit dem Auto. Als Hertha uns kurz vor dem letzten Krieg dann doch verließ — weil sie heiratete und mit dem Mann in ihre Heimatstadt zurückging —, flossen die Tränen auf beiden Seiten. Brieflich blieb die Verbindung bis Ende 1944 erhalten. Dann riß sie ab, und wir haben nie wieder etwas von Hertha gehört. Ich fürchte, daß sie mit ihrer Familie umgekommen ist, als der Krieg über Schwiebus hinwegzog.

1930 aber schien uns am Böttcherberg schon ein Tiefpunkt erreicht. Keine Besserung war in Sicht. Wir waren vergleichsweise noch gut dran, weil mein Vater wenigstens nicht arbeitslos war. Bisher jedenfalls nicht. Aber wer konnte wissen, wie lange das so bleiben würde? Hiobsbotschaften, die uns in der Schule über das Schicksal der Familien von Klassenkameraden zu Ohren kamen, sorgten dafür, daß auch wir Kinder nicht im unklaren blieben über die Ungewißheit der allgemeinen Situation. Die bedrückte Stimmung der Eltern tat ein übriges. »Wie soll das nur weitergehen?« fragte mein Vater immer häufiger, wenn er sonntags die Zeitung las. Er schüttelte dabei den Kopf und erwartete von niemandem eine Antwort.

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8. Welten hinter der Wirklichkeit 

 

In diese Jahre — es wird 1932 gewesen sein — fällt eine Episode, die mir wie in einer Offenbarung eine gänzlich neue Welt erschloß. Eine Welt, von deren Existenz ich bis dahin nichts geahnt hatte und von der eine Faszination auf mich ausging, die mich mein ganzes Leben nicht mehr losgelassen hat. Es begann mit einem Zufallsgeschenk. Von irgendwoher — aus einer der alten Kisten auf dem Bückeburger Dachboden? — kam ich unversehens in den Besitz eines uralten, primitiven Mikroskops. Sein stark zerkratzter Messingtubus wurde durch bloße Reibung von einem Eisenring festgehalten, in dem man ihn mit vorsichtig drehenden Bewegungen auf und ab zu schieben hatte, um die Schärfe einzustellen.

Mein Interesse an dem neuen Spielzeug drohte mangels geeigneter Beobachtungsobjekte schon zu erlahmen, als — zweiter Glücksfall — eine im Obergeschoß unseres Hauses wohnende Biologielehrerin sich die Mühe machte, mir ein Einmachglas mit dem Bodensatz aus einem Aquarium und ein paar Objektträger zu beschaffen. Fräulein Gaßner — mein Gedächtnis hat den Namen in unauslöschlicher Dankbarkeit bewahrt — weihte mich auch in den richtigen Umgang mit den Utensilien ein.

Und dann hatte ich plötzlich die Welt des belebten Mikrokosmos leibhaftig vor Augen: Glockentierchen, die mit ihren feinen Wimpern Wasser in sich hineinstrudelten, um sich bei der leisesten Erschütterung der Tischplatte durch das spiralige Einrollen des lebendigen »Seils«, mit dem sie sich festhielten, blitzartig aus dem Gesichtsfeld in Sicherheit zu bringen. Pantoffeltierchen, die wie kleine Boote im Zickzack durch den Wassertropfen unter dem Mikroskop kreuzten. Gefräßige Rädertierchen und wieselflinke Schwimmalgen. Wann immer ich ein neues Mikrowesen entdeckte, zeichnete ich es sorgfältig auf Papier, um mir von Fräulein Gaßner seinen Namen sagen zu lassen.

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Am meisten angetan hatten es mir die »Wechseltierchen«, die Amöben. Wie kleine Schleimtröpfchen flössen sie unter ständigem Wechsel ihrer Form träge mal in diese, dann wiederum scheinbar ziellos in eine andere Richtung. Gestaltlose Winzlinge aus Eiweiß und doch ohne jeden Zweifel »lebendig«. Ihr Anblick konfrontierte mich zwingend und unmittelbar mit der Frage, wie sie das eigentlich machten, worin das Geheimnis bestand, durch welches sie sich von »normalen« (toten) Eiweißtropfen unterschieden.

Ich hatte diese Fragen natürlich nicht in dieser Eindeutigkeit und klar formuliert in meinem Kopf. Aber die Existenz des Geheimnisses, das sich hinter den mikroskopischen Lebewesen in meinem unscheinbaren Wassertropfen verbarg, die ahnte ich mit einer Intensität, die meine Finger beim Umgang mit dem Objektträger zittern ließ. Während der unzähligen Stunden, die ich den folgenden Winter hindurch über meinem Mikroskop saß, hob ich in unregelmäßigen Abständen immer wieder den Kopf, um mich meiner Umgebung zu vergewissern. Es erschien mir nahezu unglaublich, daß die Welt meines Kinderzimmers und die Mikroweit auf meinem Objektträger zur selben Zeit nebeneinander existierten.

Heute bin ich davon überzeugt, daß dieser durch mancherlei Zufälle zustande gekommene Einblick in die Welt der Mikroorganismen vor allem deshalb eine so starke und bleibende Wirkung auf mich ausgeübt hat, weil er mir — glücklichster Zufall von allen — im »richtigen« Alter zuteil wurde. Wäre ich einige Jahre jünger gewesen, hätte mein Aufnahmevermögen mir wohl keine noch so vage Ahnung davon vermitteln können, daß ich etwas Staunenswertes vor Augen hatte. Und nur wenige Jahre später hätte die Gefahr bestehen können, daß die Gewöhnung an die Welt der alltäglichen menschlichen Begebenheiten mich schon so weit mit Beschlag belegt hätte, daß ich den Anlaß zu wirklichem Staunen nicht mehr zu erkennen vermocht hätte. Denn wenn man es sich abgewöhnt hat, Wunder für möglich zu halten, sieht man sie selbst dann nicht mehr, wenn man mit der Nase auf sie stößt.

Ich kann mich irren. Verallgemeinerungen sind immer gefährlich. Trotzdem kann ich den Gedanken nicht verdrängen, daß das für alle Kinder gilt. Es ist die geläufige Erkenntnis der Entwicklungspsychologen und selbstverständlich auch aller Eltern, welche die Entwicklung ihrer Kinder mit offenen Augen verfolgen, daß wir alle in unserer Kindheit phantasievoller, aufgeschlossener, neugieriger und schöpferischer sind als in späteren Jahren.

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Es ist, salopp formuliert, ziemlich deprimierend zu beobachten, mit welch trauriger Regelmäßigkeit aus interessierten und einfallsreichen Kindern Erwachsene mit einem ziemlich langweiligen Innenleben zu werden pflegen. Vielleicht muß ein derartiger Verlauf aber nicht als unabwendbar hingenommen werden? Ist es nicht denkbar, daß die Chance einer rechtzeitigen (zur rechten Zeit erfolgenden) Entdeckung der außerhalb des Horizontes der eigenen Alltagsexistenz gelegenen Wirklichkeiten immunisieren könnte gegen die abtötende Wirkung lebenslanger Gewöhnungsprozesse?

Zeit meines Lebens hat mich der Gedanke an die bedrückend große Zahl der Menschen verfolgt, die — ohne es zu wissen — niemals wirklich zum vollen Leben erwachen. Die den Rahmen ihrer geistigen Existenz während der uns zugemessenen knappen Zeitspanne zwischen Geburt und Tod nicht annähernd auszufüllen imstande sind, weil sie dem seelischen Abnutzungsprozeß alltäglicher Gewöhnung erliegen, ohne der Weite des ihnen grundsätzlich offenstehenden Welthorizonts überhaupt gewahr zu werden. Auch bei ihnen handelt es sich um Fälle »nicht gelebten Lebens«, so lebhaft sie in ihrer Alltagswelt äußerlich auch zu agieren scheinen.

Haben wir einen solchen Zustand womöglich als eine Art partielle seelische Blindheit aufzufassen, die sich infolge des Ausbleibens eines stimulierenden Schlüsselerlebnisses in einer »sensiblen Phase« während der Entwicklungsjahre einstellt? Vieles spricht dagegen, daß es so simpel zugeht. Auf der anderen Seite aber ist die Verantwortung der Umgebung unübersehbar. Erschreckend deutlich wird sie in den Fällen, in denen extreme äußere Not keine Chancen läßt, über die Zwänge nackten Lebenserhalts hinaus zur Besinnung kommen zu können.

In die Schuld, die wir gegenüber den am Rande des Hungertodes dahinvegetierenden Millionen in den sogenannten Entwicklungsländern auf uns laden, haben wir auch diesen Aspekt einzubeziehen. Die Menschen dort hungern nicht bloß, was allein sie qualvoll genug leiden ließe. Die bestehende politische Weltordnung, für die wir die Verantwortung mitzutragen haben, beraubt sie a priori zugleich aller Chancen, die in jedem von ihnen angelegten Möglichkeiten eigentlicher Menschwerdung verwirklichen zu können: ein Tatbestand millionenfachen Seelenmordes, der zum Himmel schreit. Auch oberhalb der Grenzen minimaler Existenzsicherung aber, und, aus anderer Ursache, gerade in den Sphären satter Wohlhabenheit, sind, was diese Fragen angeht, schuldhafte Einflüsse der Gesellschaft anzuerkennen und heute im Prinzip auch allgemein bekannt (ohne daß sich dadurch an der Situation das geringste änderte).

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In unserer Wohlstandsgesellschaft handelt es sich nicht um seelischen Mord, sondern eher um eine Art psychische Selbstverstümmelung. Man rennt bei den meisten Zeitgenossen schon offene Türen ein, wenn man auf die geist- und phantasietötenden Effekte einer alle Lebensbereiche, gerade die der Heran­wachs­enden, erfassenden Werbetechnik hinweist.

Auf eine mit Hilfe wissenschaftlicher Strategien synthetisch konstruierte »Jugendkultur«, welche den einzelnen seiner persönlichen Individualität beraubt, indem sie ihn unmerklich in das reibungslos funktionierende Objekt eines anonym bleibenden Systems kommerzieller Interessen verwandelt.

Denn die seelische Blindheit für die Faszination der hinter dem alltäglichen Augenschein gelegenen Wirklichkeiten tritt nicht nur als Folge abstumpfender Gewöhnung auf. In unserer Gesellschaft ist sie meist das Resultat einer schon in früher Jugend einsetzenden Blockierung der seelischen Aufnahmefähigkeit durch das von unserer zivilisatorisch organisierten Kunstwelt ausgehende Trommelfeuer belangloser Reize und Informationen. Die Kinder und Jugendliche mit gnadenloser Unwiderstehlichkeit in ihren Bann ziehende Attraktivität der realitätsfernen Videoscheinwelten stellt dafür nur ein (besonders perniziöses*) Beispiel dar.

Die weltweit zu beobachtenden »alternativen« Protestbewegungen erscheinen mir in diesem Zusammenhang primär als Symptome einer gesunden Abwehr, die auf diese seelenzerstörenden Zwänge unserer Zivilisation mit bemerkenswerter Instinktsicherheit reagiert. Diese Behauptung behält ihre Gültigkeit als Diagnose auch dann, wenn bedauerlicherweise zuzugeben ist, daß sich solche Bewegungen durch den aggressiven Überschwang ihres Protestes im konkreten Einzelfall unnötig oft ins Unrecht setzen.

Wie immer man die Frage der Ursachen auch beurteilen mag, das Phänomen der seelischen Blindheit besteht, und es ist bedrückend. Die Möglichkeit, daß eine individuelle Lebensspanne verstreichen kann, ohne daß der diese unwiederholbare Zeitstrecke durchlebende Mensch sich im Rahmen der ihm grundsätzlich gegebenen Möglichkeiten »zur Eigentlichkeit seiner Existenz aufschwingt« (wie ein Existenzphilosoph es formulieren würde), ist unüberbietbar tragisch. Ein Mensch, der zeit seines Lebens auf den engen Rahmen unmittelbarer sinnlicher Anschauung beschränkt bleibt, fristet ein Kümmerdasein gemessen an dem, was menschliche Existenz sein kann.

 

* detopia-2012: perniziös: ....

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Ob er sich von der Beschränkung auf solche geistige Enge nun durch philosophische Besinnung befreit oder durch die Hinwendung zu den uns von der Naturwissenschaft erschlossenen Hintergründen unserer Alltagswelt, macht letztlich keinen Unterschied. Auf beiden Wegen kann man die Grenzen naiven Welterlebens hinter sich lassen und den Horizont seiner unmittelbaren Erfahrung überschreiten (»transzendieren«). In beiden Fällen legt dieser Schritt die Sicht frei auf die Voraussetzungen und das Geheimnis unserer Existenz. Wer ihn einmal getan hat, der wird von da ab — auch wenn er zum philosophischen »Räsonieren« gar nicht neigt — sein Dasein und das seiner Mitmenschen mit anderen, neuen Augen sehen.

Die Welt der Protozoen ist ja nur ein konkretes Einzelbeispiel. Der Wege, die über die Grenzen des vom alltäglichen Welterleben ausgefüllten Horizonts hinausführen, gibt es viele.* Durch Fräulein Gaßner lernte ich einen zweiten, vielleicht noch grundsätzlicheren kennen. Allerdings muß hier verdienstes- und dankbarkeits­halber eingeschoben werden, daß der erste Anstoß, ihn zu betreten, wieder von meinem Vater ausging.

Ich erinnere mich noch gut eines gemeinsamen Spazierganges im Harri, dem fast am Rande unseres Bückeburger Gartens beginnenden Bergwald, während eines seiner sporadischen Wochenend­besuche. Auf irgendeine Weise waren wir, oder vielmehr war ich, nachdem ich mir einige in der Zwischenzeit angesammelte Fragen hatte beantworten lassen, darauf verfallen, ihm die Frage zu stellen, ob es eigentlich Dinge gebe, die man nicht erklären könne. Ich habe das damals ganz sicher nicht so präzise ausgedrückt, aber das war der Kern meiner Frage, und mein Vater verstand sofort, was ich meinte.

 

* In unserer ein wenig einseitig »geisteswissenschaftlich« geprägten Kulturlandschaft grassiert mancherorts noch immer die Meinung, daß naturwissenschaftliche Einsichten zur Erhellung menschlicher Existenz nichts beizutragen vermöchten. Ich habe in früheren Publikationen wiederholt ausführlich auseinandergesetzt, warum es sich bei dieser Ansicht um ein widerlegbares Vorurteil handelt, und möchte das hier nicht wiederholen. In Wirklichkeit ist naturwissenschaftliche Grundlagenforschung (nicht freilich die technische Ausnutzung des dabei gewonnenen Wissens, was noch immer erstaunlich selten unterschieden wird!) als eine »Fortführung der Metaphysik mit anderen Mitteln« anzusehen, wie ich es schon vor Jahrzehnten formuliert habe. Wer sich für die nähere Begründung dieser Auffassung interessiert, sei zum Beispiel auf meinen Aufsatz »Naturwissenschaft und menschliches Selbstverständnis« (1973) verwiesen (abgedruckt in: »Unbegreifliche Realität«, Hamburg 1987) oder auf mein Buch »Wir sind nicht nur von dieser Welt« (Hamburg 1981).

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Seine Antwort bestand in einem Benehmen, das auf einen zufälligen Beobachter recht seltsam gewirkt hätte: »Jetzt will ich nach links gehen«, sagte er laut in den Wald hinein — und tat es im nächsten Augenblick. »Und jetzt will ich meinen rechten Arm heben«, lautete das nächste Kommando, das er sich selbst gab und ebenso prompt ausführte. Während ich ihm etwas erstaunt zusah, begann er, mir den Zusammenhang zwischen seinen in ähnlicher Weise noch für einige Augenblicke fortgesetzten »Übungen« und meiner Frage zu erläutern. Obwohl er, so etwa lautete seine Erklärung sinngemäß, sich nach Belieben entscheiden könne, diese oder jene Bewegung auszuführen, und das dann auch tun könne (oder auch nicht, wenn er es sich anders überlege), sei er völlig außerstande, mir zu erklären, wie er das mache. Er glaube auch nicht, so fügte er hinzu, daß es irgendeinen Menschen gebe, der das wisse.

Selbstverständlich begann ich im nächsten Augenblick, die bei meinem Vater beobachteten »Übungen« nachzumachen, um auszuprobieren, ob es mir genauso ging. Es ging mir genauso, stellte ich fest, was mich offengestanden mehr befriedigte als beeindruckte, weil mir die Hintergründigkeit des Sachverhalts damals noch verschlossen blieb. Der Fall erschien mir aber doch anregend genug, um die Frage anzuschließen, ob es noch andere solche Unerklärlichkeiten gebe. Nach kurzem Nachdenken konnte mein Vater tatsächlich mit einem weiteren Beispiel aufwarten, das seiner sinnlichen Anschaulichkeit halber meinem Begriffsvermögen sehr viel angemessener war als der abstrakte Fall einer »bewußten Willensentscheidung«. Er verwies mich auf den blauen Himmel über uns und forderte mich auf, einmal zu überlegen, wie weit es da wohl hinaufgehe. In kürzester Zeit waren wir uns einig darüber, daß es sehr schwer war, sich vorzustellen, daß es dort oben »unaufhörlich weiterging«, aber gleichzeitig auch gänzlich unmöglich, sich eine Grenze auszudenken, die dieser Unaufhörlichkeit irgendwo ein Ende setzte.

Ich weiß noch, daß ich versuchte, mir eine riesige Kugel vorzustellen, die den Raum des Himmels über mir irgendwo ganz weit entfernt abschloß. Als ich meinem Vater diese »Lösung« unterbreitete, war es ihm natürlich ein leichtes, mich mit der einfachen Gegenfrage, wie es denn meiner Ansicht nach hinter dieser kugelförmigen Grenze weitergehe, aufs neue in Ratlosigkeit zu versetzen. Auch daß das für jede andere ausdenkbare Grenze ebenso gelte, leuchtete mir unmittelbar ein. Die Angelegenheit beschäftigte mich eine ganze Weile.

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Noch abends im Bett, als ich nicht einschlafen konnte, weil ich meinen Vater schon wieder auf der Rückreise nach Berlin wußte, zerbrach ich mir den Kopf vergeblich über das seltsame Geheimnis.

Der Boden war also vorbereitet, als Fräulein Gaßner Jahre später anfing, mir den Sternhimmel zu erklären. Ich erinnere mich der ersten Lektion noch in allen Einzelheiten. Wir gingen ein Stückchen die nächtliche Straße hinunter bis zu einer Stelle, an der keine Straßenlampe mehr blendete. Angesichts eines winterlich strahlenden Sternhimmels hörte ich dann zum ersten Male davon, daß alle Sterne, die ich da sah, Sonnen waren wie unsere eigene, nur eben »unendlich weit« entfernt. Meine Mentorin versuchte sogar, mir eine Vorstellung zu vermitteln von den Entfernungen, die im Spiele waren. Zum ersten Male hörte ich den Ausdruck »Lichtjahr« und hatte, wie es anfangs allen geht, Schwierigkeiten zu begreifen, daß es sich dabei um eine Entfernungsangabe handelt (»um die Strecke, die ein Lichtstrahl zurücklegt, während ein ganzes Jahr vergeht«).

Natürlich kam auch die Grenzenlosigkeit des Raumes wieder zur Sprache, den ich da leibhaftig vor Augen hatte. Und wieder wurde mir gesagt, daß es sich um eine Frage handele, auf die kein Mensch eine Antwort geben könne. Ich war elf Jahre alt, und mir schwindelte der Kopf. Abermals spürte ich geradezu körperlich die Begegnung mit einem überwältigenden Geheimnis. Die Faszination seines Anblicks ist für mich heute noch so frisch wie damals. Dabei wäre ich gänzlich außerstande gewesen, jemandem zu erklären, was es eigentlich war, das mich so in seinen Bann schlug. Noch Jahrzehnte später, als Erwachsener, empfand ich resignierend diese Unfähigkeit, sobald ich versuchte, anderen meine Faszination verständlich zu machen, um auch ihnen möglichst die Augen zu öffnen für ein Wunder, das sie nicht zu sehen schienen, obwohl sie nur den Kopf hätten zu heben brauchen, um seiner ansichtig zu werden.

Bis ich dann, noch später, auf eine Erklärung stieß, die mich endlich im tiefsten Herzen befriedigte. Karl Popper hat, wie es für seine besten Texte so charakteristisch ist, mit ganz einfachen Worten klar ausgesprochen, worauf die Erschütterung beruht, die vom Anblick des Sternhimmels ausgeht: Er führe uns das ganze Ausmaß unserer Unwissenheit konkret vor Augen. Denn unser Wissen könne immer nur begrenzt sein, während unsere Unwissenheit notwendigerweise grenzenlos sei. Und er fährt fort: »Wir ahnen die Unermeßlichkeit unserer Unwissenheit, wenn wir die Unermeßlichkeit des Sternhimmels betrachten. Die Größe des Weltalls ist zwar nicht der tiefste Grund unserer Unwissenheit; aber sie ist doch einer ihrer Gründe.«*

 

* Karl R. Popper, »Von den Quellen unseres Wissens und unserer Unwissenheit«, in: Mannheimer Forum 75/76 (1975), S. 50

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9.  Post von Adolf Hitler  

 

Während ich meine Abende über dem Mikroskop verbrachte oder mich nachts vom Wecker aus dem Schlaf reißen ließ, um mit einem von Fräulein Gaßner gebastelten Primitivfernrohr den Umlauf der Jupitermonde zu verfolgen, beschäftigten andere sich mit ernsteren Dingen. Am Böttcherberg bekamen wir davon nicht viel mit. Manchmal fuhren Lastwagen an unserem Hause vorbei, auf denen Männer saßen, die Fahnen schwenkten und sangen oder laut brüllten, daß man diese oder jene »Liste« wählen solle. Ich konnte damit nicht viel anfangen, erkundigte mich aber auch nicht bei den Eltern, weil es mich nicht interessierte.

Meine »politische Einstellung« — soweit man von einer solchen überhaupt reden konnte — war, wie nicht anders denkbar, das Echo dessen, was ich seit eh und je von den Erwachsenen zu hören bekam. Ich hatte einen »Stahlhelm«-Wimpel über dem Bett hängen — ein Geburtstagsgeschenk von Onkel Gerhard — und war im übrigen, wie mein Vater auch, von der Hoffnung erfüllt, daß irgendwann die »nationalen Kräfte« die Geschicke des Vaterlandes wieder in die Hand nehmen würden. Wenn es soweit war, das stand fest, würde es uns endlich wieder gutgehen, wenn vielleicht auch nicht wieder ganz so gut wie vor 1914. Denn das waren eben »goldene Zeiten« gewesen, wie ich den Schilderungen meines Vaters entnehmen konnte, und so etwas war selten.

Von den »nationalen Kräften«, auf die alle Hoffnungen sich richteten, hatte ich nur eine höchst nebelhafte Vorstellung. Vor meinem geistigen Auge wurde, wenn ich diesen Begriff hörte, aber jedenfalls marschiert. Auf Plakaten und Anstecknadeln war neuerdings häufig der Aufruf »Deutschland erwache!« zu lesen. Ein Schlagwort, das in jedem national gesinnten Herzen eine Saite zum Klingen brachte.

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Deutschland müsse sich endlich wieder auf seine Kraft besinnen, so ging die Rede. Ich verstand das als den Wunsch nach einer größeren Armee als jenem lächerlichen 100.000-Mann-Heer, das unsere Feinde uns gnädigst zugestanden hatten, nach Tanks und Militärflugzeugen. Nicht zum Kriegführen etwa, Gott bewahre! Nur als Beweis deutscher Gleichberechtigung mit den anderen Staaten.

Aber auch, damit endlich Schluß gemacht werden konnte mit der schikanösen Unterdrückungspolitik der ehemaligen Kriegsgegner, allen voran der Franzosen, die uns immer tiefer ins Elend trieb und die wir uns gefallen lassen mußten, weil wir wehrlos waren. Zur nationalen Schande kam jetzt noch eine sich rasch ausbreitende, Hoffnungslosigkeit auslösende Not. Äußerungen eines erbitterten Hasses auf die Franzosen hörte ich jetzt gelegentlich auch von den Eltern meines proletarischen Spielkameraden Heinz Lehmann.* Aber wir Deutschen trügen durch unsere »gottverdammte Zwietracht« ja selbst bei zu dem ganzen Elend, erklärte mein Vater. Mehrmals habe ich erlebt, wie er seine Zeitung — welche es war, weiß ich nicht mehr, aber deutschnational wird sie schon gewesen sein — nach der sonntäglichen Frühstückslektüre voller Zorn auf den Eßtisch warf, angewidert »von dem ekelhaften Parteiengezänk«, bei dem jeder nur seine eigenen Interessen verfolge, anstatt auch einmal »an das Vaterland« zu denken. Aber das »System«, das in Deutschland herrsche, hätten eben nicht Patrioten in der Hand, sondern Sozialdemokraten, Kommunisten und anderes »Pack«. Da sehe man, wohin es führe, wenn man sich auf eine Republik einlasse. In einer Monarchie wäre es niemals so weit gekommen.

 

* Dies etwa war, soweit ich mich daran erinnere, damals die Stimmung in meiner Umgebung. Rückblickend wird man sagen können, daß sie nicht allein als Ausgeburt der nationalen Neurose konservativer Kreise anzusehen war. Ein so unverdächtiger Zeuge wie der englische Historiker Alan Bullock berichtet unter anderem, daß der Versuch der Regierung Brüning, die schlimmsten Auswirkungen des Zusammenbruchs einiger der größten Banken in Deutschland und Österreich im Sommer 1931 durch eine Zollunion zwischen den beiden Ländern abzufangen, auf französischen Druck hin aufgegeben werden mußte.

Infolgedessen vertiefte sich die wirtschaftliche Notlage noch mehr: Die Zahl der Arbeitslosen stieg von drei Millionen im September 1930 auf über fünf Millionen im Dezember 1931. (Alan Bullock, »Hitler. Eine Studie über Tyrannei«, Düsseldorf 2-1953, S. 173ff.). Gleichzeitig aber hatte das Reich auch noch Reparationen an die ehemaligen Gegner zu leisten, deren Weiterzahlung unter anderem durch den Druck der zwölf Jahre nach Kriegsende noch andauernden Besetzung des Rheinlandes durch französische Truppen erzwungen wurde. Man machte es Hitler wahrhaftig leicht, die nationalen Emotionen aufzuputschen!

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Er hat es nie gesagt, jedenfalls kann ich mich nicht daran erinnern, aber ich habe keinen Zweifel, daß er damals die Ansicht vieler aus »unseren Kreisen« teilte, die ganz offen davon sprachen, daß eine Abschaffung des parlamentarischen Systems, in dem immer nur geredet und nie etwas getan werde, und die Rückkehr von Wilhelm II. aus dem holländischen Exil die einzige Lösung darstelle. Daß »demokratische Gleichmacherei« und »parlamentarische Uneinigkeit« ein Ende haben müßten, wenn Deutschland jemals wieder »gesunden« und sich auf seine wahre Stärke besinnen solle, das erschien mir ebenso einleuchtend wie meinem Vater. Das war nach eigenem Bekunden auch die Ansicht derer, die jetzt auf der Straße immer lauter »Deutschland erwache!« schrien. Die hatten zwar keineswegs Kaiser Wilhelm im Sinn. Aber in dem Haß auf das bestehende »System« war man sich in beiden Lagern einig.

Seit Ostern 1931 besuchte ich das Viktoria-Gymnasium in Potsdam. Ich hatte schon einmal während eines Klassenausfluges der Klein-Glienicker Volksschule vor dem häßlichen roten Backsteinbau gestanden, den ich, wie ich bereits wußte, bald darauf täglich aufsuchen würde. Herr Vetter, unser Klassenlehrer, erklärte uns im Verlauf seiner Stadtführung die Bedeutung auch dieses Gebäudes mit Gewissenhaftigkeit. Als er fertig war, fügte er mit halblauter Stimme in einem Ton, in dem sich Neid und andächtige Hochachtung unüberhörbar mischten, noch einen Schlußsatz hinzu. »Ja«, sagte er, den Blick sehnsüchtig auf die Gründerzeitfassade gerichtet, »wer auf diese Schule gehen darf, der bringt es zu etwas!« Wie sehr es ihn in diesem Augenblick schmerzte, selbst nicht zu den Auserwählten gehört zu haben, war mir so sehr bewußt, daß ich mich intuitiv hütete, meinen privilegierten Status zu offenbaren.

Mein Eintritt in diese »Höhere Lehranstalt für Knaben«* vollzog sich unter wenig rühmlichen Umständen. Nach der einen ganzen Tag währenden Aufnahmeprüfung stand ich mit mehr als hundert gleichaltrigen Bewerbern und einer gleichen Zahl erwachsener Begleitpersonen in Erwartung der Urteilsverkündung auf dem Schulhof.

 

* Die getrennte Schulausbildung der Geschlechter war aus Gründen, die bei der offiziellen Prüderie (und uneingestandenen Sexualangst) der damaligen Gesellschaft auf der Hand liegen, eine schiere Selbstverständlichkeit.

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Ein Lehrer begann, mit lauter Stimme die Namen der Jungen vorzulesen, die das Gymnasium aufgrund ihrer Leistungen bei der Prüfung von nun an würden besuchen dürfen. In alphabetischer Reihenfolge. Als er mit dem Buchstaben »D« fertig war und sich den mit »E« beginnenden Familiennamen zuwendete, ohne daß mein Name gefallen war, bemächtigte sich meiner neben mir stehenden Mutter eine gewisse Unruhe. Schließlich war der Lehrer am Ende der Verlesung angekommen. Während er seine Liste wieder zusammenfaltete, sagte er, mit wesentlich leiserer Stimme, den Blick zu Boden gesenkt, schließlich noch: »Mit Bedenken aufgenommen: Hoimar v. Ditfurth.«

Mehrere Gesichter drehten sich in unsere Richtung, und meine Mutter bekam einen roten Kopf. Mich selbst ließ der Vorfall völlig kalt. Das hing mit der gleichen Ursache zusammen, die sich zur Erklärung meiner offensichtlich mangelhaften Prüfungsergebnisse anführen läßt. Mein Vater hatte seit so langer Zeit schon mit der unbefragbaren Selbstverständlichkeit seiner Autorität davon gesprochen, daß ich nach der Volksschule das Viktoria-Gymnasium besuchen würde, daß der Fall für mich längst ausgemacht war, als die Lehrer damit anfingen, sich nach meiner Eignung zu erkundigen. Die Aufnahmeprüfung war für mich unter diesen Umständen nur noch eine im Grunde überflüssige Formalität, bei der sich anzustrengen pure Kraftvergeudung gewesen wäre.

Das Viktoria-Gymnasium lag am entgegengesetzten Ende Potsdams, neben dem Nauener Tor. Der tägliche Schulweg warf damit einige Probleme auf. Die Monatskarte für den Klein-Glienicke mit der Potsdamer Innenstadt verbindenden Postomnibus war zu teuer. Seine Benutzung blieb meinen im Babelsberger Prominentenviertel am Ufer des Griebnitzsees wohnenden Schulkameraden vorbehalten. Zu teuer war auch ein Fahrrad (dessen Benutzung für mich nach Ansicht meiner Eltern außerdem viel zu gefährlich gewesen wäre). So tippelte ich an jedem Morgen in aller Frühe in einem Fußmarsch von etwa zwanzig Minuten zur Glienicker Brücke, an deren anderer Seite die Linie 1 der Potsdamer Straßenbahnen ihre Endhaltestelle hatte. (Es war die Brücke, die heute, sonst für jederart Verkehr gesperrt, dazu dient, von Zeit zu Zeit Agenten oder freigekaufte Dissidenten zwischen den beiden Supermächten auszutauschen.) Begleitet wurde ich dabei auf Anweisung der besorgten Eltern von Hertha. Wir unterhielten uns immer lebhaft.

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Auf einem dieser Wege zeigte ich Hertha meine erste Mickymaus, in Gestalt einer Anstecknadel, die ich am Vortage in der Schule gegen Zigarettenbilder eingetauscht hatte. Zu meiner Genugtuung war Hertha das ulkige Wesen auch neu. Einige Zeit später hörte ich von Hertha erstmals von einem anderen Wesen, bei dem es sich allerdings nicht um eine Witzfigur handelte. Hertha erzählte mir zum erstenmal von Adolf Hitler. Es ist zwar nicht völlig ausgeschlossen, daß ich diesen Namen bei den Unterhaltungen der Erwachsenen in unserem Hause vorher noch nie gehört haben sollte. Aber er war bei mir nicht hängengeblieben, war in der Fülle der Politikernamen als einer unter vielen untergegangen.

Seine Nennung aus dem Munde von Hertha ist mir jedenfalls als die erste in Erinnerung geblieben. Zweifellos deshalb, weil sein Träger bei dieser Gelegenheit als konkrete Person in Erscheinung trat. Hitler hatte Hertha nämlich einen Brief geschrieben. Wie ich an diesem Morgen auf halbem Wege zwischen Böttcherberg und Glienicker Brücke erfuhr, handelte es sich um einen Antwortbrief, gänzlich unerwartet und die Empfängerin dementsprechend beeindruckend. In einer Aufwallung nationaler Gefühle hatte Hertha dem Führer der »nationalsozialistischen Bewegung« Wochen vorher brieflich ihre Zustimmung zu seiner Absicht mitgeteilt, Deutschland wieder groß und stark zu machen und die Arbeitslosigkeit abzuschaffen. Darauf hatte sie nun eine dankende Antwort bekommen. Es dürfte sich um einen gedruckten Standardtext gehandelt haben, eine Möglichkeit, die wir damals gar nicht in Betracht zogen. Hertha hätte sich vermutlich auch daran nicht gestört, denn zu ihrem Entzücken begann der Brief mit einer persönlichen Anrede. »Wertes Fräulein Mehling«, so habe der Brief angefangen, versicherte sie mir mehrmals mit Nachdruck.

Das aber war ein Punkt, der mich stutzig machte. Ich verschwieg es Hertha, um ihre offensichtliche Freude nicht zu trüben. Der Eindruck jedoch, den ich bei dieser ersten Gelegenheit von Hitler gewann, war, ich kann es nicht anders sagen, ausgesprochen ungünstig. »Wertes Fräulein...«, das schrieb ein Herr einfach nicht. »Sehr geehrtes...« oder einfach »Geehrtes...«, das wäre in Ordnung gewesen, ebenso auch »Verehrtes...«, meinetwegen auch noch »Liebes Fräulein Mehling«. Aber »Wertes...«, das war spießig und unmöglich. Soviel war auch mir als Elfjährigem mit absoluter Gewißheit klar. 

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Denn mochten wir auch noch so arm sein, die vielfältigen kleinen sprachlichen und Verhaltensmerkmale, die dem Eingeweihten die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Klasse signalisieren und die jemand, der nicht dazugehört, in aller Regel nicht registriert, die hatte man uns so eingedrillt, daß sie uns in Fleisch und Blut übergegangen waren. Auch wir selbst bemerkten sie nicht, weil sie uns längst selbstverständlich waren. Was uns auffiel, war ihr Fehlen. Was uns peinlich berührte, war, wenn jemand gegen sie verstieß. So jemand war in unseren Augen »erledigt« — aus dem gleichen Grunde, aus dem in den Augen eines passionierten Fußballfans etwa eine Fernsehmoderatorin »erledigt« ist, die einen traditionsreichen Fußballklub versehentlich als »Schalke 05« ankündigt (anstatt als »Schalke 04«, wie es jeder Kenner noch im Schlaf herbeten würde): Weil sie damit verrät, daß sie nicht sattelfest ist und daher dem engeren Kreise der Fußballfreunde nicht zugehörig. Scheinbar nur ein winziger Lapsus. Aber, wie sich gezeigt hat, genug, um eine Karriere zu beenden.

Nun ist bekannt, daß der Stellenwert dieser sozialen Signale, soweit sie sich auf die Zugehörigkeit zu einer bestimmten »Klasse« beziehen, seit dem totalen Zusammenbruch der deutschen Vorkriegsgesellschaft in dem Maße abgenommen hat, in dem sich die ehemaligen Klassengrenzen aufgelöst haben — was zweifellos als Fortschritt anzusehen ist. Ich verstehe deshalb gut die Motive vieler heutiger Jugendlicher, die es mitunter bewußt darauf anlegen, gegen manche ihnen übertrieben (und vor allem »sinnlos«) erscheinende Tischsitten und andere Formen der »Etikette« im sozialen Umgang zu verstoßen. (Wenn auch die meisten von ihnen dabei übersehen, daß viele dieser von ihnen abgelehnten »Rituale« so sinnlos nicht sind, weil sie, unter anderem, dazu dienen, mögliche Reibungsflächen im mitmenschlichen Umgang zu glätten.)

Aber in früher Jugend erworbene Verhaltensweisen sind tief eingewurzelt. Ich muß daher, auch auf die vorhersehbare Gefahr hin, daß mancher mich deshalb für ein Fossil halten wird, bekennen, daß es mich noch heute außerordentlich stört, wenn jemand beim Essen den Ellenbogen aufstützt oder die Kartoffeln mit dem Messer schneidet, wenn jemand am kleinen Finger einen Ring trägt oder einem das Streichholz nicht abnimmt, mit dem man ihm Feuer für seine Zigarette anbietet. Ich würde auch beschwören können, daß der Rücken meiner Mutter, bevor sie ins Greisenalter kam, bei Tische niemals eine Stuhllehne berührt hat. Und daher irritierte es mich damals als Elfjährigen unvermeidlich, daß Hitler seinen Brief an Hertha mit der Anrede »Wertes Fräulein« eingeleitet hatte. Ein »Herr« war Hitler also nicht. Soviel stand damit für mich fest. Was aber war Hitler dann?

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En miniature waren das die Fragen, die auch die deutschnational gesinnte Gesprächsrunde zu beschäftigen begannen, die sich in unserem Hause gelegentlich zusammenfand. Bei den Gesprächen, die mein Vater an den Wochenenden — wochentags war er abends zu müde — mit Verwandten und mit Offizieren der Potsdamer Garnison führte, ging es bald immer häufiger um diesen Punkt. Was war »von dem Kerl« eigentlich zu halten? Die Meinungen waren zwiespältig. Sympathisch war Hitler zweifellos nicht. Sein Auftreten war unmöglich. Bei einem ehemaligen Anstreicher, der es in vier Kriegsjahren bloß bis zum Gefreiten gebracht hatte, war das auch nicht anders zu erwarten. Und das Benehmen seiner SA im nahe gelegenen Berlin war abstoßend vulgär. Die verprügelten ihre politischen Gegner neuerdings unter den Augen der Polizei. Dabei gab es sogar Tote. Andererseits waren das in aller Regel Kommunisten oder »Sozis«. Und daß die endlich mal »einen auf den Hut« bekamen, war so schade nicht. Schön war die Art und Weise gewiß nicht, aber »wo gehobelt wird, da fallen Späne«. War es eigentlich ein Nachteil, wenn »der Pöbel sich gegenseitig in Schach hielt?« Vielleicht sollte man als Offizier froh sein, wenn Hitlers Privatarmee einem »die Dreckarbeit abnahm«?

Und das, was »der Kerl« bei seinen vielen, immer ausführlicher in den Zeitungen abgedruckten Reden so von sich gab, das ließ sich doch hören. Dem konnte man im Grunde nur beipflichten. Seine Empörung über die ungerechten Bestimmungen des »Versailler Diktats« und die offenkundigen Mißstände des republikanischen »Systems«, die Anprangerung der Ungeheuerlichkeit, daß das Ausland dem Deutschen Reich mehr als zehn Jahre nach Kriegsende immer noch die Gleichberechtigung unter den Nationen versagte, das war jedem echten Patrioten aus dem Herzen gesprochen. Daß sich der Mann außerdem stets entschieden für eine Vergrößerung des Heeres und den Abbau der Deutschland auferlegten Rüstungs­beschränkungen ins Zeug legte, war ein weiterer Punkt, den man anerkennen mußte. Dies wurde verständlicherweise vor allem von den Offizieren in der Runde beifällig zur Kenntnis genommen, nicht zuletzt von den ehemaligen Offizieren, die jetzt arbeitslos oder (wie mein Vater) in Stellungen tätig waren, die sie als unter ihrer Würde empfanden.

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Eines Tages verkündete mein Vater beim Frühstück beiläufig, daß er in die Partei Hitlers eingetreten sei, in die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiter­partei, wie sie hieß — zungenbrecherisch und schwer zu behalten. Meine Mutter, offensichtlich informiert, gab keinen Kommentar dazu ab. Mein Vater jedoch fühlte sich bemüßigt, uns Kindern seinen Entschluß zu erklären, wozu er sonst bei seiner unbefangen »autoritären« Einstellung (wie man das heute nennt) nicht neigte. Aber dieser Schritt war für ihn ungewöhnlich. Er hatte bis dahin, ungeachtet seines nationalen Engagements, nie einer Partei angehört. Auch nicht der Deutschnationalen Volkspartei Hugenbergs, der er, wie ich vermute, bei den Wahlen seine Stimme gab. Jetzt aber war er über seinen Schatten gesprungen. Daß es ihm nicht leichtgefallen war, entnahm ich der etwas gewundenen und wenig Überzeugungskraft ausstrahlenden Art und Weise seiner Begründung.

Zwar sei dieser Hitler ein unangenehmer Parvenü, so etwa bekamen wir an diesem Sonntagmorgen im Herbst 1932 zu hören, und seine SA sei, was er, mein Vater, gar nicht bestreiten wolle, ein ordinärer Trupp proletarischer Schläger. Aber man müsse doch auch die andere Seite einmal bedenken: die Tatsache vor allem, daß es so wie bisher nicht weitergehen könne. Irgend jemand müsse dieser korrupten, nur mit Postenschacher beschäftigten Bande linker Systempolitiker endlich das Handwerk legen, wenn es mit Deutschland jemals wieder aufwärts gehen solle. Und da sei weit und breit niemand zu sehen, dem man das zutrauen könne, außer diesem Hitler. Wenn aber die Clique der »Verzichtspolitiker« erst einmal zum Teufel gejagt worden sei, dann würden die »nationalen Kräfte« (zu denen in den Augen meines Vaters Hitler nicht zählte) endlich die Möglichkeit haben, die Zügel in die Hand zu nehmen, um das Vaterland aus dem Elend herauszuführen. Denn die Regierung dürfe man Hitler und seinen Kumpanen selbstverständlich nicht überlassen. Dazu fehle es dieser »Bewegung« an allen Voraussetzungen.

So (sinngemäß) der Kommentar meines Vaters, abgegeben zur Begründung seiner Entscheidung, Hitler »im Augenblick« durch den Eintritt in dessen Partei zu unterstützen. Bei den Voraussetzungen zur Übernahme der Regierung, an denen es dieser Partei nach Ansicht meines Vaters und seiner nationalkonservativen Gesinnungsgenossen so total fehlte, dachten sie alle unglücklicherweise, in (nachträglich!) überwältigend realitätsfern erscheinender Naivität, in erster Linie an die »schlechten Manieren« dieser Leute.

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Nicht nur bei Tisch. (War es nicht einfach grotesk, sich die Männer im Umkreis Hitlers etwa bei einem diplomatischen Empfang vorzustellen?) Es wurde keineswegs übersehen, daß die Manieren der Nazis, wie man sie abkürzungshalber (und damals noch keineswegs unbedingt abschätzig) zu nennen begann, auch im Umgang etwa mit der Rechtsstaatlichkeit einiges zu wünschen übrigließen.

Aber abgesehen davon, daß Zimperlichkeit nicht die Parole sein konnte, wenn sich eine Chance bot, den Klüngel der »Systempolitiker« in die Wüste zu schicken: Vor den Nazis brauchte man sich nicht zu fürchten. Von denen drohte keine Gefahr. Denn da gab es den Feldmarschall Paul von Hindenburg, den von allen Parteien seines Ansehens wegen respektierten Reichspräsidenten. Und wenn es tatsächlich einmal hart auf hart gehen sollte, gab es schließlich auch noch die Reichswehr, auf die absoluter Verlaß sein würde, wenn es wirklich — was ganz unwahrscheinlich war — notwendig werden sollte, Hitler und seine Sturmtruppen in ihre Schranken zu verweisen. Aber Hitler würde sich ja ohnehin nur wenige Monate an der Regierung halten können — und dann schlug die Stunde »der nationalen Kräfte«!

So begann man »in unseren Kreisen« mehr oder weniger unverblümt mit dem Gedanken zu spielen, daß es möglich sein müsse, diese etwas obskure Hitler-Bewegung für die eigenen Interessen einzuspannen: dafür, das verhaßte »System« wegzufegen, womit der Platz frei würde, das Ruder des Schiffes »Deutschland« endlich selbst wieder in die Hand zu nehmen.* 

Daß es allerdings eine spezielle Voraussetzung bei diesem Wettlauf zur Machtübernahme gab, hinsichtlich deren sie Hitler und seinen Gefolgsleuten hoffnungslos unterlegen waren, das kam nicht einem dieser nationalistischen Träumer in den Sinn: Auf die brutale Rücksichtslosigkeit, mit der die National­sozialisten nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler innerhalb weniger Monate alle Schlüsselpositionen bis hinab zu den kommunalen Behörden mit »ihren Leuten« besetzten (zu welchem Behufe sie die legalen Amtsinhaber einfach verhafteten oder notfalls mit Prügeln und Morddrohungen einschüchterten), war niemand von ihnen gefaßt gewesen. 

Es ist einfach, ihnen das nachträglich als schuldhaftes Versäumnis anzukreiden. Natürlich war es ihre historische Schuld. Aber post festum** übersieht man auch leicht die wenigstens diesen Teil ihrer Schuld subjektiv mildernden Faktoren: Mörderische Skrupellosigkeit in dem von den Nazis praktizierten Ausmaß war damals nicht nur ihnen unvorstellbar. Sie war neu, auch im historischen Vergleich. Nicht zuletzt deshalb verlief der nationalsozialistische Staatsstreich ja so glatt. Er überrumpelte seine Gegner. Der eigentliche Vorwurf, den »unsere Kreise« sich ohne Einspruchsmöglichkeit und mildernde Umstände gefallen lassen müssen, ist, daß sie aufgrund ihrer klassenegoistischen Borniertheit Republikfeinde, Antidemokraten gewesen sind.

Einige Wochen nachdem mein Vater aus der Partei Hitlers wieder ausgetreten war — weil das Benehmen dieser Leute ihm schließlich doch zu weit ging —, lasen wir eines Morgens in der Zeitung, daß Reichs­präsident von Hindenburg Hitler zum Reichskanzler ernannt habe. Die Reaktion bei uns zu Hause und bei Nachbarn und Bekannten war eine erwartungsvolle Spannung. Hitlers Vorgänger auf diesem Posten — Brüning, von Papen und von Schleicher — hatten sich jeweils nur kurze Zeit behaupten können. »Jetzt werden wir ja sehen«, sagte mein Vater. Seine Stimme hatte dabei den leicht spöttischen Unterton vorweg­genommener Schadenfreude.

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* Die Metapher vom Vaterland als »Schiff« war seit Wilhelminischer Zeit im Schwange, selbst bei linken Kritikern, wie ein satirischer Vers belegt, der den Mitgliedern der kaiserlichen Familie entsprechende Funktionen zuweist: »Prinz Wilhelm steht am Steuerrad / Prinz Heinrich heizt den Schlot / Prinz Adalbert zieht hinten hoch / die Fahne Schwarz-Weiß-Rot.« 

** (d-2012)  post festum ....

 

 

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