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Das Gespräch

 

 

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Zilligen Sie sind am 15. Oktober 1921 in Charlottenburg eingetroffen, »aus dem Nichts kommend«. Diese Beschreibung Ihrer Geburt zu Beginn Ihres Buches macht gleich deutlich, daß das keine Autobiographie im landläufigen Sinn ist, sondern daß es hier zwei verschiedene Ebenen gibt. Die objektive Biographie und die subjektive.

Ditfurth Ja, da meine individuelle Biographie herzlich uninteressant ist. Sie ist andererseits aber typisch in zweierlei Hinsicht. Einmal für einen Zeitgenossen, der diese doch an Ereignissen, Überraschungen und Katastrophen so reiche Zeit vom Ende des Ersten Weltkrieges bis heute miterlebt hat; oder der Eltern hat, die diese Zeit erlebt haben. Typisch zweitens dadurch, daß ich Mitglied der Art Homo sapiens bin, also die typischen Entwicklungs­phasen als Kind und Jugendlicher durchgemacht habe. Indem ich mich entwickelt habe aufgrund der Einflüsse meiner Umwelt, familiär, dann in der Schule, dann gesellschaftlich, dann politisch, dann unter dem Einfluß des Staates, der zeitweise übermächtig war.

Dies schien mir ein gutes Modell, sozusagen, um zu zeigen, daß wir nicht — wie wir es im subjektiven Erleben ständig glauben — in unbeschränkter Freiheit handeln und Entscheidungen treffen, sondern daß wir auch — ich betone auch — ein uns von unserem unübersehbar weit in die Vergangenheit reichenden biologischen Erbe uns eingepflanztes Programm entfalten, dessen nähere Betrachtung dann bei diesen einzelnen Entwicklungsstadien manches Rätsel, manches Unheimliche, manches Unverständliche am menschlichen Verhalten nicht entschuldigen, aber doch erklären kann.

Zilligen: Fünf Prozent unserer genetischen Veranlagung, schreiben Sie, nur fünf Prozent machen die einzigartige Individualität jedes einzelnen von uns aus. Was waren diese fünf Prozent an diesem Säugling Hoimar v. Ditfurth am 15. Oktober 1921?

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Ditfurth: Ich muß, um das verständlich zu machen, erst doch auf die 95 Prozent eingehen, in denen ich nicht individuell unaustauschbar bin. Dazu gehört die simple Tatsache, daß ich zwei Arme und zwei Beine habe, daß ich Augen habe, die mit einem unglaublichen biologischen Raffinement aus dem, was an Strahlung von der Sonne geliefert wird, ein Maximum an Informationen ziehen. Denken Sie nur daran, daß es, wenn wir es physikalisch nachmessen, von einem Ende bis zum anderen des Spektrums nur millionstel Millimeter sind. Wir, unsere Augen und unser Gehirn, ziehen das auseinander zu dem unüberbietbaren Kontrast von verschiedenen Farben, von Rot und Grün und Blau und Gelb — zur Verdeutlichung der Unterschiede, die in Wirklichkeit physikalisch minimal sind in unserer Umwelt. Dazu gehört auch die Tatsache, daß meine Leber nicht erst zu lernen brauchte mit ihren Tausenden von Enzymen, wie sie meinen Stoffwechsel steuern sollte.

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Wenn das alles nicht wie bei jedem anderen Lebewesen auch in mir gesteckt hätte, hätte ich die ersten Minuten nach meiner Geburt nicht überleben können.

Individuell wird es in einem relativ kleinen Bereich. Ich habe mal geschrieben, höchstens fünf Prozent; das ist eine grobe Abschätzung, berechnen kann das niemand. Individuell sind bestimmte Nervenmuster in meinem Gehirn ausgefallen. Als Ergebnis der zufälligen Mischung väterlicher und mütterlicher Keimzellen, die ein Ordnungsmuster gebildet haben von solcher Komplexität, daß man mathematisch beweisen kann, daß es seit der Entstehung des Universums noch nie genau dieses Muster gegeben hat. Das entscheidet über meine musikalische Empfänglichkeit, das entscheidet über bestimmte Vorlieben und Präferenzen menschlichen Eigenschaften gegenüber. Das entscheidet darüber, in welchem Maße und mit welchen Chancen ich in der Lage bin, meinen Stimmungen nachzugeben, zu folgen oder auch zu widersprechen und sie zu beherrschen.

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Es sind alle diese Eigenheiten, die die typische Persönlichkeit ausmachen, durch die wir beide uns unterscheiden und durch die ich mich von allen Menschen, die es gibt und die es je gegeben hat, unterscheide. Es sei denn, ich hätte einen eineiigen Zwilling, von dem ich aber nichts weiß. Diese Unterschiede kommen durch diese relativ kleine Anzahl beliebig zu einem Muster geordneter Erbanlagen zustande.

 

Zilligen: Sie schreiben auch, daß in den ersten Monaten und Jahren dreißig bis fünfzig Prozent der Gehirnzellen eines Kleinkindes und Säuglings absterben. Das hat mich unglaublich fasziniert und verblüfft.

Ditfurth: Das ist ein sehr seltsamer neuer Befund. Ich gestehe Ihnen, daß ich auch, als ich vor erst wenigen Jahren auf ihn stieß, sehr überrascht war. An sich identifiziert man das Zugrundegehen von Hirnzellen ja mit dem Nachlassen der Verstandestätigkeit, und im Alter, bei der Arthrose oder senilen Demenz, ist es ja auch so.

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Nein, das Seltsame ist — und das hat bestimmte Konsequenzen —, daß der neugeborene Mensch mit einer Überzahl an Hirnzellen auf die Welt kommt und daß dann in seiner noch vorbewußten Phase nach der Geburt nur die Zellen und Zellverbindungen bestätigt und verstärkt werden und am Leben erhalten bleiben, die immer wieder benutzt werden, die also auf typische Konstellationen in der Umwelt stoßen, und daß andere, die nicht oder wenig benutzt werden, verkümmern und zugrunde gehen. Das ist so ähnlich wie bei einer Silhouette, wo man erst eine ganz schwarze Fläche Papier vor sich hat und dann immer mehr wegschneidet, bis plötzlich aus der schwarzen Fläche sich ein bekanntes Profil oder ein Gegenstand hervorhebt.

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Hoimar v. Ditfurth (Mitte), Lensahn 1925

 

Zilligen: Sie wurden hineingeboren in das Milieu einer Offiziersfamilie mit allen Borniertheiten, die man sich überhaupt nur vorstellen kann: gegen die Roten, gegen das »rote Pack«, schreiben Sie sogar. Es war ein offenbar sehr deutschnationales Elternhaus, und wenn man das so liest, müßte man eigentlich annehmen, daß Sie in Ihrem späteren Leben entweder ein erzreaktionärer Mensch hätten werden können oder aber wirklich ein Rebell.

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Ditfurth: Ich war natürlich als Kind, auch als Schulkind, in den ersten Jahren noch total eingebunden und geborgen in diesem familiären Milieu, das in einer Welt lebte, die ich nachträglich als eine schwarzweißrote Wahnwelt bezeichnen möchte — bei allem Verstand, den es da gab, bei aller Kultiviertheit, die es da gab, doch als eine Wahnwelt. Meine Großmutter klebte die Briefmarken mit dem Reichspräsidenten Ebert so auf das Kuvert, daß der arme Ebert auf dem Kopf zu stehen kam. Auf diese Weise signalisierte man — man mußte die Marken ja nehmen, andere gab es nicht — in unseren Kreisen, daß man mit dem »System«, daß man mit dem »roten Pack«, das unserer tief im Feindesland kämpfenden Armee feige in den Rücken gefallen war und das den Kaiser aus dem Land gejagt hatte und das sich jetzt sozusagen das Reich unter den Nagel gerissen hatte und die Regierung usurpiert, daß man mit diesem Pack, gegen das man vorläufig nichts tun konnte, nichts gemeinsam hatte.

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Zilligen: In einer solchen Situation konnte und wollte Ihr Vater nicht länger Berufsoffizier bleiben und wurde Beamter in der Vermögensverwaltung des Erbgroßherzogs von Oldenburg in Lensahn. Das hat Ihnen eine unvergleichlich schöne Kindheit im Lensahner Paradies, wie Sie es nennen, beschert. Ist es nicht merkwürdig, daß es dieses Paradies nur einmal im Leben eines jeden Menschen gibt?

Ditfurth: Zum Paradies gehört Ignoranz. Das ist selbst in der Bibel so. Solange man nicht weiß, was gut und böse ist, solange einem diese Erkenntnis vorenthalten bleibt, ist man im Paradies, kann man nicht schuldig werden, kann man sich höchstens dummerhaft benehmen.

 

Zilligen: Zu diesem Paradies gehört normalerweise, eigentlich in fast allen Biographien, eine Mutter, eine dominierende Mutter. In Ihrem Fall habe ich den Eindruck, als sei Ihr Vater die dominierende Gestalt Ihres Lebens gewesen.

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Ditfurth: Ja, meines Lebens als Kind, als Heranwachsender und als Jugendlicher. Es hat dann später einen Bruch gegeben, der so schmerzhaft und so persönlich ist, daß ich ihn im Buch nicht einmal erwähnt habe — er ist ja auch für den Leser nicht interessant. 

Aber davor war der Vater die dominierende Persönlichkeit, und zwar deswegen, weil er von den ersten kindischen Fragen des Zwei- und Dreijährigen ab — soweit reichen meine frühesten Erinnerungen — alles, was ich gefragt habe, ernst genommen hat. Er hat mit mir verkehrt nicht wie mit einem Gleichaltrigen natürlich, nicht wie mit einem Gleichgescheiten. Ich habe mich an ihn gewendet, weil ich wußte, daß er mir im Wissen haushoch überlegen war. Aber wie mit jemandem, der das gleiche Recht, den gleichen Anspruch hat, mit seinen Fragen befriedigt zu werden wie er oder jeder andere. Und er hat eine unglaubliche Begabung gehabt, mir, für den kindlichen Verstand zurechtgestutzt, zu erklären, wie ein Telefon funktioniert, wie ein Fernglas funktioniert, wie ein Zeppelin funktioniert. Das war damals ein aufregendes Erlebnis, das konnte er mir erklären.

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Zilligen: Später ist er nach Berlin gegangen, um eine Berufschance wahrzunehmen, und die Familie und besonders Sie waren drei Jahre von ihm getrennt. Sie haben in Bückeburg gelebt, und in diese Zeit fällt, glaube ich, die Geburt des naturwissenschaftlich Interessierten oder des Naturwissenschaftlers Hoimar v. Ditfurth — durch einen Zufall.

Ditfurth: Das war kurz nachdem mein Vater und meine Mutter wieder zusammenziehen konnten, weil er genug dafür verdiente. Wir brauchten dann nicht mehr bei unserer Großmutter unterzuschlüpfen. Da tauchte ein uraltes Messingmikroskop auf.

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Und es kam ein zweiter Zufall dazu: Ich war schon dabei, die Geduld zu verlieren, weil ich nicht wußte, was ich eigentlich damit untersuchen sollte. Da wohnte im Haus eine Biologielehrerin, und die merkte, daß ich damit spielte, und die brachte mir Sediment aus alten Aquarien mit.

Und dann habe ich — ich bin damals zehn, elf Jahre alt gewesen — da hineingeguckt und habe plötzlich eine andere Welt vor mir gesehen, von der ich bis dahin gar nichts gewußt hatte, die in meinem Kinderzimmer neben den mir vertrauten Gegenständen existierte, deren man aber erst ansichtig wurde, wenn man sich dieses Instruments bediente: kleine, mit bloßem Auge gar nicht sichtbare Einzeller, die sich mit verschiedenen Techniken, mit Geißeln und mit Rudern, fortbewegten und ihre Form veränderten, wie es die Amöben tun, die da lebten und miteinander umgingen und ein Leben rührten, während sie von uns nichts wußten und wir von ihnen nichts wußten.

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Foto - In Bückeburg, 1925

Zilligen: Sie schreiben: durch das Zufallsgeschenk vom Bückeburger Dachboden.

Ditfurth: Ja, dieses Mikroskop stammte vom Bückeburger Dachboden.

 

Zilligen: Und Sie haben mit elf zu dieser Zeit auch durch diese Lehrerin zum erstenmal die Grenzen­losigkeit des Raums kennengelernt. Also doch zwei Ihr ganzes Leben bestimmende Erlebnisse.

Ditfurth: Ja, das sind Erlebnisse gewesen. Eines Abends gingen wir spazieren, es war ein Winterabend, ein wunderbar klarer Sternenhimmel. Und ich fragte einfach mal nach Sternbildern. Da machte sie mir klar, erzählte sie mir, die Sternbilder seien gar nicht das Interessante. Das Interessante seien die Sterne selber. Und da erzählte sie mir von den Sternen und daß das auch Sonnen seien.

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Es gibt viele Erwachsene, heute noch, die gar nicht wissen, daß unsere Sonne ein Stern ist wie die da oben, die wir am Himmel sehen, die nur so kleine Lichtpunkte sind, weil sie so unvorstellbar weit weg sind. Während wir uns im Licht der Sonne wärmen, ja sogar die Haut verbrennen können. Sie hat mir erstmals erklärt, daß die Entfernungen so groß sind, daß man sie mit Kilometern gar nicht messen kann, sondern mit der Zeit, die das Licht braucht, um von dem Stern bis zu uns zu kommen.

 

Zilligen: Sie müssen ein naturwissenschaftlich ungewöhnlich informiertes und aufgeklärtes Kind gewesen sein. Auf der anderen Seite waren Sie umschwirrt von allen politischen Phrasen der damaligen Zeit. Wir haben sie schon angesprochen: das »Schanddiktat von Versailles«, den »Erbfeind«, die »Sozis«, die »Roten«, die »Verzichtpolitiker«. Sie waren auch in dieser Beziehung ein sehr deutsches Kind. Und Ihr Vater war sogar für eine ganz kurze Zeit Parteimitglied, was sich später ja radikal geändert hat.

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Ditfurth: Ja. Mein Vater, 1932 dürfte das gewesen sein, hat uns eines Tages am Frühstückstisch erklärt, er sei nun in die Partei eingetreten. Daß er uns das mitteilte und sogar einer Erklärung für bedürftig hielt, läßt noch heute den sicheren Schluß zu für mich — das hatte er sonst nicht nötig, uns seine Handlungen zu erklären —, daß ihm das nicht ganz leichtgefallen ist. Er sagte, er müsse jetzt doch mal diesem Hitler beistehen, denn so gehe es nicht weiter, die Zahl der Arbeitslosen nehme zu, die Republik habe total versagt, das hätten ja die Monarchisten und national denkenden Patrioten von Anfang an gesagt, sie habe total versagt, jetzt müßten die patriotischen Kräfte eine Chance bekommen. Und der einzige, den er sehe, der denen die Barriere beseitigen und den Raum schaffen könne, sei Hitler. Der selber sicher ein gräßlicher Kerl sei, und seine SA, das sei ein Schlägerpack, aber die seien die einzigen, die das System beiseite fegen könnten, und dann würden die nationalen Kräfte das Ruder in die Hand nehmen.

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Da dachte er an die Reichswehr und an Hindenburg. Hindenburg war als kaiserlicher Feldmarschall und Reichspräsident die Hoffnungsgestalt für diese reaktionären nationalkonservativen Kreise. Und dann kam plötzlich Hitler. Ein Prolet, ein verachteter Mann, weil er es in vier Jahren Weltkrieg nur zum Gefreiten gebracht hatte — ich kenne die ganzen Witze noch, die gemacht wurden —, aber plötzlich ein Mann, der es fertigbrachte, mit eiserner Faust, wie man damals sagte, die »Roten« beiseite zu fegen. Und von da an hatte er gewonnen in diesen Kreisen. Da war er so etwas wie ein moderner Ersatzkaiser. Eine in ihrer Autorität nicht mehr befragbare Gestalt.

 

Zilligen: Sie beschreiben ja auch sehr eindrucksvoll die Versöhnung am »Tag von Potsdam«, dieses In-die-Hand-Versprechen, preußische Tugenden und Werte aufrechtzuerhalten.

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Foto

Die OIIIg des Viktoria-Gymnasiums, Berlin 1935 -

Hoimar v. Ditfurth: zweite Reihe, dritter von links

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Ditfurth: Da wurde die Tür zum Grab Friedrichs des Großen aufgemacht, damit der Alte Fritz in seinem Sarg hören konnte, wie der Gefreite des Ersten Weltkrieges dem kaiserlichen Feldmarschall versprach, er werde die preußische Tradition ehren und die Pflicht eines jeden Preußen dem Vaterland gegenüber erfüllen. Das war ein hochgeschickt inszenierter Theatercoup, von dem der Kerl, der diesen Schwur tat, natürlich keinen Augenblick auch nur ein Wort geglaubt hat, denn wenige Tage später ließ er sich, nachdem er die Abgeordneten zum größten Teil verhaftet hatte, das Ermächtigungsgesetz unterschreiben.

 

Zilligen: Das wiederum, schreiben Sie, haben Sie gar nicht so recht wahrgenommen. Zu diesem Zeitpunkt habe Sie eine ungetrübte nationale Euphorie erfüllt. Sie sammelten Horst-Wessel-Bilder, Göring-Postkarten, eigentlich hätten Sie damals ein klassischer Pimpf werden können.

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Ditfurth: Ein klassischer Pimpf. Sicher, ich war auf dem Wege zum klassischen Pimpf. Gott, das waren wir alle. Und komischerweise ging das eigentlich nicht mal so sehr über die Politik, sondern es ging — das kam dann ja sehr früh — über die Aufrüstung. Es war für uns ein Zeichen der Schande, daß unsere Soldaten, martialisch aussehend, schwitzend, wenn sie von ihren Übungen in Potsdam oder Bückeburg zurückkamen, Papp-Panzer hinter sich herzogen auf Fahrradgestellen. Da haben wir uns geniert, überhaupt hinzugucken. Und dann wurde uns gesagt: Ja, das ist der böse Feind gewesen, das ist das Friedensdiktat gewesen. Wir durften keine Panzer haben, keine Flugzeuge, keine U-Boote, keine Linienschiffe, und das war für uns das Stigma einer von der ganzen Welt belächelten, nicht für voll genommenen Nation. Wir wollten das alles haben. Nicht zum Kriegführen, um Gottes willen, nein. Aber um genauso stolz dastehen zu können wie die anderen.

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Zilligen: Hitler wird ja im nachhinein oft als Dämon beschrieben, als jemand, der dieses Volk verrührt hat. Aber war er nicht vielmehr der Kristallisationspunkt für all das, was in diesem Volk schon steckte?

Ditfurth: Das, was Hitler gemacht hat, ist etwas, was ich im Buch ja sehr ausführlich unter Rückbezug auch auf die Hierarchie der einzelnen Wertmaßstäbe in unserem Gehirn zu begründen versucht habe. Es gibt drei angeborene Handlungsanweisungen im Menschen. Sie stammen aus dem Pleistozän.

Sie stammen aus dem vor- und frühsteinzeitlichen Dschungel, und sie sagen erstens: Hab Angst vor jedem Menschen, den du nicht persönlich kennst. Das ist die sicherste Strategie. Damals kannten sich in den kleinen Gruppen und Horden noch alle persönlich. Zweitens: Die Rechte deiner eigenen Horde sind den Rechten aller übrigen Kollektive übergeordnet.

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Foto - Mit Klassenkameraden (Mitte), Berlin 1937

 

Drittens: Du darfst nicht nur, sondern du mußt, wenn du nicht anders glaubst das Überleben deiner Horde sichern zu können, den Konkurrenten, und sei er von der gleichen Art, totschlagen — die Kain-und-Abel-Geschichte.

Das sind die drei Gesetze des Dschungels, die noch in unserer Brust drinsitzen. Wenn wir einen Toten auf der Straße sehen oder wenn wir lesen von Horden von Fremden, die hier einwandern wollen, dann revoltiert dieses Gesetz der Steinzeit in uns. Deswegen sind wir noch keine Faschisten.

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Es ist falsch, zu sagen, ihr dürfe davor keine Angst haben. Es ist menschlich, davor Angst zu haben. Nur, dann muß die nächste Etage kommen. Dann muß die Hirnrinde eingeschaltet werden. Und rational erklärt werden, warum diese Angst eine Angst aus der Steinzeit ist, die heute keine Gültigkeit mehr hat. Und Hitler hat es doch noch in anderen Bereichen so gemacht.

Fast alle Menschen fürchten sich vor dem Unkonventionellen, sie fürchten sich vor moderner Kunst. Und sie retten sich über diese Furcht allzu oft hinweg, indem sie billige Späßchen machen: Ist ja egal, ob der auf dem Kopf hängt oder nicht, man kann ja sowieso nicht erkennen, was das ist, was da dargestellt werden soll, nämlich kein Objekt mehr, sondern eine Stimmung, ein Lebensgefühl, ein Weltgefühl, ein Traum. So weit kommen sie gar nicht. Und sie haben Angst vor Künstlern, sie haben Angst vor Schriftstellern, die die Obrigkeit in Frage stellen. Die Obrigkeit, die die Stabilität der Horde garantiert. Alles angeborene Gebote aus der Steinzeit. Und Hitler hat gesagt, ihr braucht keine Angst zu haben, das ist der gesunde Menschenverstand.

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Zilligen: Das gesunde Volksempfinden.

Ditfurth: Das ist das gesunde Volksempfinden, richtig. Ihr könnt die modernen Künstler verspotten, ihr könnt ihre Bilder verbrennen, ihr könnt die Bücher dieser Kritikaster und Meckerer, die die Obrigkeit in den Schmutz ziehen, die könnt ihr in den Ausguß werfen, die könnt ihr anstecken und verbrennen. Das alles, oder die Homosexuellen oder die Zigeuner, was immer. Wer anders aussieht, anders gekleidet ist, den könnt ihr hassen, denn er ist nicht von eurer Gruppe, ihr seid dem nichts schuldig, ihr seid schuldig nur eurem Kollektiv, dessen Rechte über alles gehen, was es sonst noch in der Welt gibt. Und da traf er auf diesen seit Jahrtausenden vorbereiteten Boden.

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Und die Euphorie, die sich damals Luft machte, war die Euphorie von Menschen, die plötzlich die entsetzliche Pflicht von ihren Schultern genommen fühlten, diesen ganzen archaischen Strebungen Widerstand zu leisten. Sie konnten sie ausleben mit gutem Gewissen. Und dieses Gefühl verleiht eine ungeheure Kraft. Das ist die Kraft, die der Rocker und der Punker heute noch spüren, wenn sie sich der Ordnung widersetzen und, vom Bier berauscht, mit Fahrradketten und anderem auf die Bürger losschlagen. Die spüren eine Kraft, und sie glauben, ihnen ist nichts gewachsen. Und dieses Gefühl der Kraft, das hat das ganze deutsche Volk besoffen gemacht. Die haben ein Gefühl gehabt: Gewissen und Skrupel - das sind jüdisch-christliche Erfindungen. Von weichlichen Nationen erfunden, weil sie anders unserer germanischen Urkraft nicht standhalten können. Und dieses Gefühl hat sich ja bis zum Schluß, von der Propaganda geschickt angestachelt, bis zu dem Wahn gesteigert: Was soll's denn, die Amerikaner, na schön, die auch noch.

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Was soll's denn, die Bombengeschwader, na schön, die auch noch. Wir werden mit unserer Kraft, mit unserem unbeugsamen Willen die Realität unseren Wünschen und den Rechten des deutschen Volkes entsprechend steuern und lenken können.

 

Zilligen: Es gibt aus dieser Zeit zwei schmerzliche Erinnerungen, von denen Sie sich auch beschämt fühlen. 1938, bei einer Fahrt nach Rügen, kommen Sie am KZ Oranienburg vorbei. Und Ihre Mutter zeigt zur Seite und sagt: »Ich glaube, Vater hat doch recht.«

Ditfurth:  Nein, darf ich verbessern. Sie hat gesagt: »Da drüben muß das Lager sein.« 1938. Daraufhin sagte ich sofort — dies nur an die Adresse der vielen, die sagen, damals habe man noch nichts gewußt —, habe ich ganz beklommen gefragt: »Sag mal, ist es wirklich so schlimm, wie Vati sagt?« Und da war eine kleine Pause, und dann sagte sie: »Ich fürchte, Vati hat recht.«

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Zilligen:  Und das andere ist, was Sie sehr persönlich betrifft, die Abiturfeier. Daß Sie als Jahrgangsbester sich feiern ließen, obwohl eigentlich ein anderer ...

Ditfurth:  ... ein anderer der Beste war, der aber wegen seiner bekannt antinazistischen Einstellung eine schlechte Note ins Abiturzeugnis hineingeschrieben bekam als billige, schäbige Rache.

 

Zilligen: Weil er es als einziger gewagt hatte zu opponieren. Das Thema des Abituraufsatzes war, wenn ich das richtig gelesen habe, eine Kommentierung der Nürnberger Rassegesetze.

Ditfurth: Richtig.

 

Zilligen: Er hatte als einziger dagegen opponiert. Sie, die anderen, müssen sich irgendwie darum herumgemogelt haben.

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Ditfurth: Wir haben uns mit der Technik, die wir damals als Halbstarke schon in Fleisch und Blut übernommen hatten, mit glatten Worten und unter Übernahme von offiziellen Phrasen, um den heißen Brei herumgemogelt.

 

Zilligen: War das damals eines der Lebensprinzipien: nicht auffallen?

Ditfurth: Selbstverständlich. Da kommen wir auf ein anderes Thema, das muß ich noch ergänzend hier einführen. Die Nazis waren ja nicht das, als was man sie heute gerne hinstellt. »Die Nazis übernahmen die Macht« — das klingt so, als ob da ein braun uniformiertes Besatzungsheer von außen kam und die armen Deutschen unterjochte. Die Nazis, das waren wir alle, fast wir alle, in verschiedenen Graden der Verdünnung.

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Zilligen: Bestand denn das deutsche Volk damals aus normalen, mitlaufenden Nazis, oder gab es eine Führungsclique, die alle beherrschte?

Ditfurth: Es gab natürlich die Führungsclique, es gab die Leute, die die Macht hatten, Macht über Leben und Tod, wie sich sehr rasch herumzusprechen begann. Aber es gab, ohne daß ich auch nachträglich eine scharfe Grenze angeben könnte, dieses Nazibraun in den Köpfen von uns allen in zunehmender Verdünnung. Ein Beispiel: der Vater meiner damaligen Tanzstundenfreundin, ein hoher preußischer Beamter, zierliches Männchen, ein Spitzwegtyp, muß man sagen, ganz liebes Männlein, vollkommen korrekt. Wir trafen uns in seinem Haus.

Ich erzählte ihm: »Ich mach' demnächst Abitur und muß dann in den Arbeitsdienst.« Er sagte mir, daß es doch eigentlich eine herrliche Sache sei. Ich sagte, na also, ich hätte ein bißchen Bammel davor, ich hätte einiges gehört, es gehe da ziemlich rauh zu.

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Beim Reichsarbeitsdienst, 1939

 

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»Ach, das müssen Sie anders sehen, Hoimar. Stellen Sie sich mal vor, wenn jetzt Generation auf Generation der Deutschen gezwungen wird, vor dem Eintritt ins Berufsleben ein halbes Jahr bei körperlicher Arbeit in frischer, freier Luft zu verbringen. Das hat die Folge, daß die Deutschen immer schöner werden und sich in ihrem Aussehen nicht nur körperlich immer mehr dem griechischen Ideal annähern.«

Ich wage zu behaupten, daß in dieser kindlich-illusionären Äußerung auch ein Stück der Atmosphäre steckt, in der die Katastrophe reifen konnte. Denn auch hier wird unterstellt und begründet, warum es segensreich sei und sinnvoll, wenn der einzelne, in diesem Fall sogar ganze Generationen, in ihrer Lebensführung der Entscheidung der zentral planenden Staatsgewalt unterworfen würde. Und ich möchte mich selbst nicht ausnehmen; wir alle waren mit wenigen Ausnahmen, mit der Ausnahme des eben von Ihnen erwähnten opponierenden Mitschülers, insofern Nazis.

Wir drückten uns um die Hitlerjugend. Mein Vater hat mir verboten, mich mit einer Hakenkreuzarmbinde zu Hause sehen zu lassen. Er konnte die Bande nicht ausstehen.

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Aber wir Jungs waren begeistert davon, daß wir jetzt Flugzeuge und Panzer und Linienschiffe hatten. Jeder von uns konnte die Tonnage vom neuesten Kriegsschiff runterschnurren und wieviel Kanonen darauf waren und wieviel Besatzung und wie weit die schießen konnten und die Feuerkraft pro Minute. Das alles begeisterte uns. Nicht weil wir Krieg führen wollten, um Gottes willen, bloß keinen Krieg. Aber weil jetzt die anderen nicht mehr über uns lachen konnten, weil man sich nicht mehr zu genieren brauchte, wenn man von Potsdam nach Berlin in der S-Bahn fuhr, und zufällig saß neben einem ein amerikanisches oder französisches Ehepaar, was ja vorkam. Das war das Lebensgefühl.

Zilligen: Sehr eigentümlich ist übrigens Ihre Beschreibung, wie Sie eingezogen werden und sagen: Wir freuten uns auf die Front. Und zur selben Zeit sagt Ihr Vater Ihnen in einem sehr intensiven Gespräch, das ist wohl das einzige Gespräch, wo Sie ganz und gar einander nahe kamen....

Ditfurth:  ....das war ein paar Jahre später.

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