Eine Rezension von Marko Ferst
Zur Kritik des Dogmas vom totalen Markt
Die Schattenseiten der Globalisierung aus dem Blickwinkel der politischen Kulturkritik Carl Amerys -
Notizen zu seinem neuen Buch Global Exit - Die Kirchen und der totale Markt, 2002
Als Autor reicht Carl Amery weit über das Etikett eines Globalisierungskritikers hinaus. In seinem neuen Buch "Global Exit" gerät die gesamte Kulturentwicklung des Menschen auf den Prüfstand, die demokratische Einbettung ebenso wie die ökologische Tragekapazität, die Frage nach der erneuerten kriegerischen Logik. All dies behandelt er unter dem zentralen Brennpunkt globalisierter Wettrenn-Gesellschaften.
Konnte im östlichen Lager von Gorbatschow vor der 89er Wendezeit noch von einem "neuen Bewußtsein" gesprochen werden, das nötig sei für eine emanzipatorische Entwicklung des Weltgeschehens, wie diffus das auch immer verortet war, so wird späterhin deutlich: Der neue Mensch hat sich der Verherrlichung des totalen Marktes unterzuordnen, so Amery. Freilich ist die individuelle Verarbeitung solcher sich verändernden Lebenswelten verschieden, doch den vom Autor skizzierten Menschen, der immer bereit ist zur sublimsten und allerhöchsten Dienstbereitschaft, wird man auf jeder beruflichen Qualifikationsstufe finden. Die sozialen Freiräume zum Ausscheren geraten immer enger, gleichwohl werden sie auch zu wenig neu besetzt. Sehr wahrscheinlich sind nicht wenige Menschen sozialpsychologisch gesehen schon zu sehr in jenen Denkstrukturen, die der totale Markt begünstigt, verfangen.
Der heutige Arbeitnehmer hat flexibel zu sein und soll jedes private Interesse nach Selbstverwirklichung, persönlicher Würde, die eigene Familie, demokratisches Engagement hinten anstellen, so dies hinderlich ist für den selbstlosen Einsatz in der Firma, für die er gerade arbeitet, führt der Autor aus. Kann der Arbeitnehmer aufsteigen in die nächstbessere Kategorie von abhängiger Lohneinkunft oder Scheinselbständigkeit, steht der Arbeitgeber gleichermaßen zur Disposition, doch das dürfte meiner Meinung nach eher die Option einer kleinen Minderheit sein.
Die Ausbreitung des Marketing-Charakters als immer stärkere sozialpsychologische Realität im Menschen wird durch die Anforderungen marktkonformer Lebensweise massiv verstärkt. Dieses Ich-bin-so-wie-ihr-mich-braucht zerstört die geistig-seelische Integrität der Gesellschaft, und zwar auf subtilere Weise, als dies über den Bevölkerungsschnitt gesehen im späten Pseudosozialismus möglich war. Zwar kann die subtile Anpassung in den östlichen Verhältnissen, denke ich, nur unterschätzt werden, aber die Widerstände gegen diese Fremdbestimmung hatten sehr viel mehr Massenbasis als der heutige Protest gegen die Auswüchse weltumspannender Plutokratie.
Nach demokratisch-kapitalistischer Doktrin sollte die Marktwirtschaft gesteuert und beschränkt werden durch die Politik und die Kräfte der Zivilgesellschaft, schreibt Amery. Diese Bedingung läßt sich immer weniger erfüllen, auch wenn sie idealtypisch noch nie eingelöst wurde. Doch indem der totale Markt über seine ökonomische Machtakkumulation die Fundamente emanzipatorischer Gesellschaftsgestaltung unterminiert und zerstört, sprengt er auch jegliche zivilisatorisch-demokratische Ordnung.
Amery sieht den Kapitalismus als Parasiten des Christentums, der sich durch die Jahrhunderte hinweg immer erfolgreicher, oft genug durch religiöse Verkleidung getarnt, an allen Barrieren vorbei zu einer eigenen Reichsreligion entwickeln konnte. Zwar würde dies nicht ganz den strikten religionswissenschaftlichen Kategorien entsprechen und bringt sicher Einsprüche von säkularisierter wie religionsinteressierter Seite auf. Er verweist in diesem Kontext jedoch auf Walter Benjamins Auffassung, der Ähnliches schon viel früher festgestellt hatte.
Die kapitalistische Religion funktioniere als Kult ohne Dogma. Anfügen könnte man auch Erich Fromms Interpretation, der in seinem Buch "Haben oder Sein" von einer Religion des Industriezeitalters spricht. Heilig seien darin die Arbeit, das Eigentum, der Profit und die Macht. Die Auflösung der Bande menschlicher Solidarität durch die Vorherrschaft des Eigennutzes und des gegenseitigen Antagonismus seien Charakteristika eines neuen Gesellschaftscharakters, auf den sich diese geheime Religion, die sich hinter der christlichen Fassade entwickeln konnte, stützen könne (1).
Der Glaube an den totalen Markt ist nicht nur von wirtschaftlichen Interessen konstituiert, er ist nicht nur ein fundamentalistisches System mit seinen eigenen Zeremonien. Amery sieht ihn in der hochpolitischen Funktion einer Reichsreligion nach Art des Imperium Romanum aufgestiegen, also einer heidnischen Religion wie sie vor der konstantinischen Wende von 312 herrschte. Man durfte unzähligen Göttern huldigen, aber gültig war und blieb, der Kaiserkult und dies galt als alternativlos.
Das Dogma globalisierter Marktmacht heißt: Alles hat seinen Preis, um gekauft zu werden. Wo der Preis noch fehlt, wird er festgestellt und verordnet. Mit diesem Herangehen wird der fundamentalistische Charakter dieser Art von religiöser Wirtschaftsordnung offenbar. Sie toleriert nichts anderes neben sich, gleicht darin dem angesprochenen Kaiserkult und kolonisiert den gesamten Lebensprozeß bis tief in die menschlichen Seelenstrukturen hinein. In seinem 1994 erschienen Buch "Die Botschaft des Jahrtausends" spricht Carl Amery davon, unsere derzeitig herrschende Wirtschaftsreligion sei im Grunde ein System der Entrückung, ein geschlossenes System ohne wesentliche Berücksichtigung der Lebenswelt. Die Volkswirtschaftslehre werde unterrichtet wie eine Frohbotschaft. Hermann Scheer kombiniert die wirtschaftliche und politische Sphäre stärker und spricht von einer Selbstideologisierung des westlichen Systems. Es sei von sich selbst besessen, darin liege seine fundamentalistische Anlage. Es gehe um eine gezielte Ausdehnung der Einflußnahmen und Ausweitung seiner Operationsräume (2).
Was die heutige Heilslehre über die Segnungen globalisierter Marktmacht radikal vom römischen Kaiserkult unterscheide, sei die ungeheure Wirkmacht, führt Amery aus. Die Einschlagtiefe der heutigen Megamaschine in die biosphärischen Gleichgewichte stelle eine regelrechte Todesspirale dar. Der totale Markt sei die gesellschaftliche Ausformung eines Bierhefeprogramms. Die Crux dabei ist: weil der materielle Fortschritt so erfolgreich in dieser Konstellation gedeiht, bricht das Ganze an seinem Erfolg zusammen, wie eine üppig wuchernde Bierhefekultur. Daß zuvor durch den Freihandel extreme soziale Schieflagen produziert werden, bleibt ein Binnenproblem dieses Prozesses.
Die Grenzen des Wachstums sind längst überrannt, und wer Nachhaltigkeit ohne eine Reduzierung unserer Energie- und Stoffverbräuche erreichen will, der lügt. Notwendig sei eine Schrumpfung unseres Wirtschaftsvolumens. Als völlig unzureichend bezeichnet Amery auch die Ökoablaßkrämerei, wo dann in die bisherige unökologische Industriestruktur ein Stockwerk Umwelttechnologie eingesetzt wird. Reparaturbetrieb und ein Schrebergarten "Politikfeld Umwelt" seien nicht mehr hinnehmbare Denkfaulheiten. Gemeint ist, daß die Rahmenbedingungen für die Existenz unserer Zivilisation ausgeblendet bleiben. Wenn das Weltklima in einen völlig neuen Zustand gesprungen sei, schwer überlebensfähig für die Gattung Mensch, dann wäre das für jedermann offenkundig. Nur dann mit dem gesellschaftlichen Lernen anzufangen dürfte gründlich zu spät sein. Wir bräuchten eine solare Energiewende, eine Revolution bei der Effizienz im Gebrauch unserer Ressourcen und eine Abkehr von Konsumidiotie, also eine kreative, intelligente Selbstbegrenzung.
Wie ist das nun aber mit dem Widerstand gegen die totale Globalisierung, deren Widerparte sich in Buchstabeninstitutionen wie: WTO, IWF, GATT etc. verschanzen? Amery thematisiert die Welle des Unmut und der Revolte, die immer stärker die Arena öffentlicher Aufmerksamkeit erreicht. Er schätzt ein, die Dichte des Widerstandes ist nach wie vor zu gering und die Ziele der Bewegung sind, soweit erkennbar, zu weit auseinanderliegend. Fehlen würde nach seiner Meinung die Festigkeit der Perspektive. Der Angriff auf die Religion des totalen Marktes müsse sehr genau auf ein erkennbares Ziel gerichtet werden. Die Globalisierung sollte in ihrer weltsozialen Ungerechtigkeit und ökologischen Zerstörungskapazität als eigene existentielle Bedrohung erkannt und erfühlt werden.
Amery sieht, daß die Kirchen in diesem Jahrhundert zu völliger Bedeutungslosigkeit herabsinken könnten. Jedoch verfügen sie über einen eminenten Vorzug. Sie brauchen nicht wie Parteien der Demoskopie hinterherzuhecheln oder werden von Aktionären und Pensionsfonds über die Quartalsbilanzen geprüft. Sie hätten die Freiheit, die Konfrontation mit dem herrschenden Mammon zu wagen. Das Herangehen des Autors läßt aber auch darauf schließen, er sucht zunächst mal eine Adresse, die er ansprechen kann. Gemeint ist am Ende schon jeder der mit wachem Auge diese Prozesse verfolgt.
Recht sparsame Auskünfte erteilt die politische Streitschrift unter dem Gesichtspunkt, wie könnte denn alternative Gesellschaft gestaltet sein? Ich bezweifle, daß man dies immer wieder in die Zukunft hinein vertagen kann. Schmidt-Bleek dürfte von der Dimension her richtig liegen, wenn er eine Dematerialisierung unserer Industriegrundlast um den Faktor Zehn hierzulande für notwendig hält, blanke Ketzerei also für eine Politik und Wirtschaftswelt, die permanent auf ökonomische Zuwachsraten stiert. Das würde natürlich Konsequenzen gravierendster Art für die materiell-technische Infrastruktur und die sozialen Strukturen unserer heutigen Lebenswelt haben.
Einige Hinweise gibt der Autor aber schon: Die globalen Finanzspiele sind auch gespeist aus unseren eignen Spareinlagen, Aktien, Fonds und Renten. In jedem Fall sind sie Teil der Mammonmacht, und wir sollten unsere Verantwortung dafür wahrnehmen. Wird damit gerade das nächste Stück Regenwald abgeholzt, von überbezahlten Wissenschaftlern die viereckige Tomate erschaffen oder das nächste klimaschädliche Kohlekraftwerk errichtet? Ein wichtiger Entscheidungspunkt ist auch der Erbgang. Jedes Jahr werden riesige Summen auf die Nachkommen übertragen. Eigentlich soll es der nächsten Generation davon (in aller Regel jedenfalls) besser gehen. Doch dieser Sinn wird in sein Gegenteil verkehrt, und man zerstört in raschester Folge das biosphärische Erbe mit diesem Angesparten. Das ausbeuterische Treiben der Renditewirtschaft sollte besser mit einer kommunitären Initiative konfrontiert werden, in Form von alternativen Stiftungen, mit denen regenerative Energien gefördert würden, eine kindgerechtere Pädagogik und anderes mehr. Kreditsysteme mit Niedrigzinsen könnten ökologisch wirtschaftenden Kooperativen unter die Arme greifen.
(1) Erich Fromm; Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft, München, 1991, S.141
(2) Hermann Scheer; Zurück zur Politik. Die archimedische Wende gegen den Zerfall der Demokratie, München, 1995, S.31, 34
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