Zukunftsarbeit: Von der Last zur Selbstverwirklichung

Beitrag zur IV. Rudolf-Bahro-Zukunftswerkstatt in Pommritz

Von Heike Koall

 

Selbstverwirklichung ist heute ein überaus schillernder Begriff. Doch um die Verwirklichung welches Selbst geht es hier? Wird ein Selbst entfaltet, welches dem wahren Kern des Menschen mit seinen Grundbedürfnissen und Werten entspricht oder geht es um ein Selbst, welches bei näherer Betrachtung nur Hüllen um einen Kern bildet? Wird beim Wirken, sei es bei beliebten oder unbeliebten Tätigkeiten der innere Wesenskern entfaltet oder zeigt sich lediglich eine Schale nach der anderen?

Ausgehend davon, daß Bedürfnisse das Wirken des Menschen bestimmen und damit wesentlich an der Schaffung von Arbeit beteiligt sind, will ich mich durch die Begegnung mit Henry und Ronny mit den gestellten Fragen auseinandersetzen. Henry und Ronny sind zwei von mir erfundene Personen, die typische Ergebnisse einer von mir bei den BewohnerInnen und ABM-Kräften des LebensGutes Pommritz durchgeführten Befragung wiederspiegeln. Beide erleben sich selbst auf ganz unterschiedliche Weise als Arbeitende. Durch Henry und Ronny versuche ich konkrete Erfahrungen der von mir befragten Personen zu skizzieren, um dadurch Aufschluß über das Verhältnis von Arbeit und Selbstverwirklichung zu bekommen, die sowohl haben- als auch seinsorientiert sein kann.

Alle bisherigen Wandlungen in der Menschheitsgeschichte gingen einher mit Veränderungen der Arbeit, so daß der Beginn einer neuen Ära ebenso mit einer Entwicklung von veränderten Arbeitsverhältnissen verbunden ist und damit heute das Verhältnis in denen Menschen ihre Bedürfnisse befriedigen, in denen sie produzieren in einen zentralen Blickwinkel rückt. Im Spannungs­verhältnis von Sinn und Sinnleere, Identität und Pseudo-Identität, Freiheit von und Freiheit zu bedarf es einer reflexiven Auseinandersetzung mit der Thematik, um immer mehr Menschen den Zugang zu den Tätigkeitsbereichen zu ermöglichen, die ihrem Wesen und ihrer Begabung entsprechen. Selbstverwirklichung verbunden mit dem Modus des Seins bekommt dann eine andere Relevanz, sie wird zu einem Prozeß, der das menschliche Wirken auf allen Ebenen durchzieht.

Die heutige kapitalistische Wirtschaftsdynamik beruht auf Prozessen, die mit einer Vergötzung der Arbeit verbunden sind. Das Problem ist dabei nicht in der Tatsache zu finden, daß in unserer Arbeitsgesellschaft gearbeitet wird, sondern um welchen Preis für Mensch und Natur gearbeitet wird. Dieser ist um so höher, je mehr der Tauschwert einer Ware gegenüber dem viel wichtigeren Gebrauchswert an Bedeutung gewinnt. Die gegenwärtige Wirtschaftsverfassung muß Stück um Stück verändert werden und zugleich brauchen wir einen kulturell-seelischen Wandel in den Individuen selbst, wie ihn Rudolf Bahro kenntlich gemacht hat. Antiquierte gesellschaftliche Strukturen müssen aufgebrochen werden. Wünschenswert ist eine lebendige Orientierung hin zum Sein anstelle der heute dominanten Haben-Orientierung. Dieser Wechsel schlägt sich dann auch in einer veränderten Ausprägung der einzelnen Bedürfnisse wie denen nach Sicherheit, Anerkennung und Zugehörigkeit nieder.

Die erforderliche menschheitsgeschichtliche Umwälzung, die mit einer Revolution der Arbeit einhergeht, beginnt in der Seele des Menschen. Hier ist der Sitz der verschiedenen Interessen und Bedürfnisse. Entscheidend dabei ist, um die Verwirklichung welches Selbst es geht, des wahren oder falschen, denn danach richtet sich auch die Unterscheidung der emanzipatorischen von den kompensatorischen Bedürfnissen. Bedürfnisse die dem Innersten des Menschen entstammen, sein Wachstum und seine Differenzierung fördern, werden als emanzipatorisch bezeichnet; jene, die dagegen die Entfaltung, Entwicklung und Bestätigung des Menschen frühzeitig blockieren und beschränken, können nur kompensatorischen Wert haben. Der Mensch ist angelegt beide zu entfalten. Entscheidend ist bei seinem Wirken allein, ob die eine oder andere Komponente dominant ist.

 

Das LebensGut Pommritz als das von Rudolf Bahro beförderte Oberlausitzer sozialökologische Modellprojekt ist eine Gemeinschaft, die durch das Leben und Arbeiten der BewohnerInnen einen zukunftsweisenden Charakter trägt. Hier lebt auch Ronny. In einem Gespräch über seine Arbeit auf dem Gutshof, konnte ich sein wiederentdecktes, jetzt ursprüngliches Verhältnis zur Arbeit kennenlernen. Mit dem Umzug nach Pommritz begann für Ronny ein neuer biographischer Abschnitt. Für ihn hängen die Zielvorstellungen, die das eigene Leben betreffen, eng mit der Arbeit im Projekt zusammen. Er gibt zu, daß er zu den 20% der BewohnerInnen gehört, die in ihrem Leben noch nie so gern gearbeitet haben. Im Projekt findet er gefallen an der Selbstbestimmung und Abwechselung, die seinen Arbeitsalltag begleiten. Dabei kann er sich ausprobieren und das optimale Maß an verschiedener Aktivität und ganzheitlichem Leben entdecken sowie private Beziehungen und Arbeit an einem Platz leben.

Arbeit ohne Streß, die Spaß macht und jeden sein eigenes Maß finden läßt, ist nur in einem offenen Gefüge möglich. Dieser Umstand birgt in sich eine ungeahnte Freiheit. Ronny fühlt sich auch von manchem gesellschaftlichen Zwang frei und weiß um die Tatsache, daß man nicht unbedingt ein abgeschlossenes Hochschulstudium braucht, um etwas Sinnvolles zu machen. Neben der Freiheit von etwas ist es insbesondere die Freiheit für etwas, die Ronny wichtig ist. Es geht ihm nicht nur um ein Recht auf Arbeit, sondern auch um ein Recht auf Muße. Beliebte und unbeliebte Tätigkeiten verlangen danach humanisiert zu werden. Zukunftsarbeit muß zu einem neuen Tätigsein führen und einen neuen Lebenssinn erschließen. Praktische Arbeit ist auch eine Säule der israelischen Kibbuzim, in denen bereits seit 80 Jahren die humanistischen Ideale einer breiten individuellen Selbstverwirklichung thematisiert sind. Das Alter eines Menschenlebens überdauert, könnten die jetzigen Zustände auch das Leben und Arbeiten der Enkel von Ronny kennzeichnen.

Die Arbeit der Kibbuzniks dient heute jedoch größtenteils dazu, die Verschuldung der einzelnen Projekte zu begleichen. Immer schwieriger wird es einmal gefundene Ideale aufrechtzuerhalten und Sehnsüchte wie die Verwirklichung des wahren Selbst zu leben, da der Individualismus auf allen Ebenen zunimmt und die jüngste Generation verstärkt abwandert. Die Gründe hierfür lassen sich erahnen, bedenkt man den Erfolg, die Sicherheit und Karriere, die ein hochdotierter Job in der freien Marktwirtschaft dem jungen Menschen versprechen.

Die israelischen Kibbuzim sind 3000 Kilometer entfernt. Die gleichen Fragen die dort einen jungen Israeli beschäftigen sind nicht erst in zwei Generationen für Ronnys Enkel interessant, sondern bewegen ansatzweise heute auch junge Erwachsene wie Henry. Seit einigen Monaten hat er eine ABM-Stelle auf dem LebensGut in Pommritz, die ihn dazu veranlaßt 32 Stunden in der Woche Bauarbeiten nachzugehen. Ronny und Henry haben sich jedoch dabei kaum kennengelernt. Sie leben in unterschiedlichen Welten, die sich bisher noch nicht begegneten.

Henrys Verhältnis zur Arbeit ist genau wie das der Mehrzahl seiner KollegeInnen ein funktionales. Das LebensGut ist sein Arbeitsplatz, die dahinterstehenden Ziele und Ideen kennt er kaum. Es ist auch schwer für Henry, Anschluß an die Gemeinschaft zu finden, was die Voraussetzung für eine Auseinandersetzung mit deren Idealen wäre. Eine stabile Identität wird dadurch natürlich kaum gebildet. Selbstfindung beschränkt sich auf das stete Neuanpassen an die durch Markt und Werbung vermittelten Ansprüche. Henry arbeitet um Geld zu verdienen oder wie er sagt, weil jeder Mensch eine Beschäftigung braucht. Die Bestätigung etwas Produktives zu leisten erwartet er dafür erst gar nicht, genau wie für ihn die Beantwortung der Sinnfrage nicht über das Versorgen der eigenen Familie hinausgeht. Kreativität und Selbstbestimmung sind in der Regel unbedeutend, statt dessen erlebt sich Henry als austauschbar. Seine ArbeitskollegInnen würden ihn beim Wegbleiben wohl kaum vermissen; ein anderer käme dann an den gleichen Arbeitsplatz. Schließlich zahlt am Monatsende der Arbeitgeber nicht für die individuell geleistete Arbeit, sondern der Arbeitsplatz wird entlohnt.

Es muß wohl nicht betont werden, daß bei Arbeitenden wie Henry vor allem die Bedürfnisse nach Sicherheit und Anerkennung eher habenorientiert ausgeprägt sind, verbunden mit kompensatorischen Interessen, welche die Entwicklung der Persönlichkeit blockieren und mit Ersatzbefriedigungen einhergehen.

Schließlich erfordert die Aufrechterhaltung der funktionalen Arbeit, eine beständige Zufuhr kompensatorischer Konsumgüter. Konsum wird das Ziel eines durch weitgehend entfremdete Arbeit bestimmten Lebens. Nur dadurch können Henry und seine KollegInnen die leidvoll ertragenen Versagungen von Freiheit und Freude während der Arbeitszeit kompensieren.

Da aber die Arbeit solange funktional bleiben wird, wie in den Industrieländern das Kapital über die Art und Weise des Arbeitens entscheidet, wird die fremdbestimmte Arbeit auf der einen Seite auch weiterhin fremdbestimmte Bedürfnisse auf der anderen Seite erzeugen. Bei einem gewandelten Arbeitstypus würden zwei große Felder wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklung eine wichtige Rolle einnehmen. Zum einen geht es um eine ökologische Neugestaltung der Gesellschaft. Andererseits würden human orientierte Dienstleistungen in den Bereichen Gesundheit und Bildung einen höheren Stellenwert einnehmen, wie dies auch Dieter Klein vermerkt.

Daß die Verwirklichung von wahrem oder falschen Selbst, die Befriedigung emanzipatorischer oder kompensatorischer Bedürfnisse durch die Arbeit nicht allein der individuellen Entscheidung obliegt, dürfte auf der Hand liegen. Das würde den Einzelnen in seiner Zuständigkeit und Handlungsmöglichkeit überfordern. Er ist nicht nur das Ensemble seiner psychischen Anlagen, sondern eingebettet in die gesamtgesellschaftlichen Struktur. Solange der Produktionsfortschritt allein über immer engere Spezialisierung und die systematische Ersetzung menschlicher durch maschinelle Arbeitskraft zustande kommt, kann nicht von einem Ende bisheriger Arbeitsstrukturen ausgegangen werden. Und solange das Glück der immer weniger werdenden Arbeitenden mit dem Kummer der vielen sich in existentieller Ausweglosigkeit Befindenden bezahlt wird, stellt sich ein humaner Fortschritt als fragwürdig heraus.

Erst Experimente, die sich einer Neuausrichtung bereits in der Aus-, Fort- und Weiterbildung widmen, können durch ihren Modell- und Experimentcharakter zu Keimzellen eines Wandels in der Arbeitswelt werden. Sie können jungen Menschen wie Henry bei steigender Anzahl Erwerbsloser Orientierung und Perspektiven aufzeigen, aber auch eine Herausforderung für die Auseinandersetzung mit der eigenen Arbeit werden, so daß die äußere Arbeit gleichzeitig zu einer inneren wird.

 

 

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