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1. Sicherung der Volkswirtschaft
Vom Ende des MfS unter der letzten sozialistischen DDR-Regierung — Das Amt für Nationale Sicherheit und der Runde Tisch — MfS-interne Rechtfertigungsversuche
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Die DDR war in den letzten Monaten des Jahres 1989 für alle erkennbar politisch und ökonomisch am Ende. Das Bild der DDR hatte viele Facetten sowohl für die unmittelbar Betroffenen als auch für die externen Beobachter. Die zunehmenden Teilnehmerzahlen an den vielfältigen Friedensgebeten und Montagsdemonstrationen, die täglichen Berichte in den Medien, die heruntergekommenen Städte, die allgegenwärtigen Versorgungsprobleme, die unzureichende Infrastruktur, die massenhafte Ausreise von Menschen in den Westen, die allgegenwärtigen Umweltprobleme — alles das sind die Themen gewesen, mit denen sich die deutsche Öffentlichkeit im Jahre 1989 auseinander setzte.
Die Frage nach den Ursachen für dieses Desaster wird noch lange auf der Tagesordnung der deutschen Politik stehen. Die Gesellschaft steht vor dem Problem, mit den vielfältigen Folgen des Systemzusammenbruchs umzugehen. Für die Wissenschaft ist das jüngste Kapitel der deutschen Geschichte ein lohnendes Feld. Die Thematik ist sehr breit gefächert. Die Geschichtswissenschaft wird dabei eine große Rolle spielen. So ist es besonders bedeutsam, daß der deutsche Gesetzgeber die umfassende Aufarbeitung der Akten des untergegangenen Regimes ermöglicht hat.
In der historischen Analyse muß es darum gehen, die Frage der Gestaltung der politischen Ordnung im engen Zusammenhang mit den Bedingungen für die wirtschaftliche Entwicklung zu sehen. Ein erweiterter wirtschaftswissenschaftlicher Analyseansatz, der die Bedeutung der politischen Rahmenbedingungen für das Handeln der vielfältigen Akteure ausdrücklich mit in die Betrachtung einbezieht, ist wichtig für die Gestaltung der Zukunft unserer Gesellschaft. Das Beispiel DDR zeigt, wie eng die politischen und ökonomischen Probleme einer Gesellschaft miteinander verknüpft sind.
Im November 1989 ging es in Ost-Berlin um die Frage der Auflösung des MfS. An seine Stelle sollte das Amt für Nationale Sicherheit (ANS) treten. Nach einem internen Arbeitspapier der Modrow-Regierung sollte das ANS sich vordringlich mit der "Unterstützung volkswirtschaftlicher und wissenschaftlich-technischer Prozesse und Erfordernisse der DDR" befassen.1) Widerstand gegen die Pläne der DDR-Regierung formierte sich vor allem am sog. Runden Tisch. Es war weniger die traditionell im MfS verankerte Aufgabe "Sicherung der Volkswirtschaft" als vielmehr die ebenfalls angestrebte Funktion eines DDR-Verfassungsschutzes, die Kritik bei den Regimegegnern am Runden Tisch heraus forderte.
Selbst in diesen, der Regierung kritisch gegenüberstehenden Kreisen des Runden Tisches hatte man keine prinzipiellen Einwände dagegen, eine wie auch immer geartete Beschaffung von ökonomischem und wissenschaftlich-technischem Know-how aus dem fortschrittlichen Westen als wichtige staatliche Aufgabe anzusehen. Man hatte lediglich etwas gegen die Weiterführung des verhaßten Unterdrückungsapparates unter neuer Adresse.
Die Staatssicherheit verfügte über alle notwendigen Daten, um die Lage der DDR-Wirtschaft realistisch zu beurteilen. Allerdings verfügte das MfS nicht über die notwendige Einsicht in die wahren ökonomischen Zusammenhänge, die den ökonomischen Kollaps der DDR-Wirtschaft unausweichlich zur Folge hatten. Ganz nach altem Muster suchte man die Schuldigen im kapitalistischen Westen:
Die Zentren der politisch-ideologischen Diversion versuchen, die Arbeiterklasse mit ihren weit differenzierten Mitteln zu demoralisieren. Das reicht vom Schmutzkübel, der mit üblen Verleumdungen angefüllt ist, bis hin zum wissenschaftlichen Scheinbeweis, daß der Sozialismus nicht in der Lage ist, Wirtschaftswachstum durch wissenschaftlich-technischen Fortschritt auf Dauer zu sichern und es sich deshalb nicht lohnt, dafür zu arbeiten.
Es ist ein Gebot der Stunde, dafür zu sorgen, daß in den Kombinaten und Betrieben Ruhe und Ordnung herrschen, daß die Produktionsprozesse nicht durch "Arbeite-langsam-Bewegungen", Leistungszurückhaltungen oder Arbeitsniederlegungen gestört werden, daß Provokateure, Rädelsführer und Organisatoren einer negativen Stimmung rechtzeitig erkannt und ausgeschaltet werden. 2)
1) Arnold Seul, Das Ministerium für Staatssicherheit und die DDR-Volkswirtschaft, Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland, Bd. VIII, Das Ministerium für Staatssicherheit - Seilschaften, Altkader, Regierungs- und Vereinigungskriminalität, Frankfurt/M. 1995, S. 580
2) Generalleutnant Kleine (MfS, Abt. XVIII) in einem Referat auf einer Dienstberatung vom 27.10.1989, BStU HA XVIII 565, S. 34 (zitiert nach Arnold Seul, Das Ministerium für Staatssicherheit, a.a.O, S. 581
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Deshalb war man im untergehenden MfS davon überzeugt, daß die Sicherung der Volkswirtschaft als dringende politische Aufgabe weiterhin für die Existenz des Organs sorgen würde. Die vor ihnen stehende Aufgabe war nach Erkenntnissen des MfS gigantisch.
1988 stiegen die Ausfallzeiten gegenüber 1987 in den produzierenden Bereichen um 19,6 Mio. Stunden auf 1,35 Mrd. Stunden bzw. je Arbeiter und Angestellten um 3,6 auf 261,6 Stunden an und entsprachen einem Arbeitsvermögen von ca. 230.000 Werktätigen. 3)
Als Gründe für diesen hohen Ausfall nannte er Warte- und Stillstandzeiten, fehlende materiell-technische Sicherstellung der Produktion und unentschuldigtes Fehlen am Arbeitsplatz. Nicht berücksichtigt wurden laut Kleine sogenannte Freistellungen, die durch Betriebsleiter genehmigt wurden, etwa für das Verlassen des Betriebes zum Einkaufen von Lebensmitteln, Baustoffen oder sogenannten Mangelwaren, Abwesenheit, weil sich Handwerker in der Wohnung angesagt hatten und Ausfallzeiten wegen gesellschaftlicher Verpflichtungen.
Es läßt sich zeigen, wie Entstehung und Aufgabengebiet der Hauptabteilung XVIII innerhalb des gigantischen Staatssicherheits-Komplexes der DDR ganz eng mit der von den Sowjets nach 1945 betriebenen Einführung des zentral gelenkten Wirtschaftssystems nach dem Vorbild der Sowjets verknüpft sind. Die in der Zeit nach 1945 folgende Sowjetisierung der Ökonomie und Politik der SBZ/DDR hat tiefe Spuren hinterlassen, die natürlich noch heute zu erkennen sind.
Horst Roigk, zuletzt Oberst und Abteilungsleiter in der für die Sicherung der Volkswirtschaft zuständigen Hauptabteilung XVIII des MfS schreibt noch im Jahre 1995 einen vor Selbstgerechtigkeit triefenden Beitrag, mit dem er die Aktivitäten dieser Hauptabteilung rechtfertigen will.4) Er spricht dabei von den zwei offenen Grenzen, mit denen die DDR im Laufe ihrer Entwicklung zu tun hatte.
3) Ebenda, S. 30
4) Horst Roigk, Die Tätigkeit des ehemaligen MfS zur Sicherung der Volkswirtschaft der DDR, in: ZWIE-GESPRÄCH, Nr 28/29 (1995), Seite 12-23
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Die Grenze nach Westdeutschland war bis zum Mauerbau im Jahre 1961 weitgehend offen. Millionen von Menschen haben über sie die DDR verlassen. Sie waren hoch qualifiziert und bedeuteten einen großen Verlust an Humankapital. Roigk schiebt die Verantwortung für diesen Exodus dem imperialistischen Westen zu. Nicht den unmenschlichen Auswirkungen des eigenen Unterdrückungsapparates, dem die verzweifelten Menschen durch Abstimmung mit den Füßen etwas entgegen setzten. Der Mauerbau hat die Transaktionskosten der unzufriedenen Menschen sicherlich entscheidend erhöht, aber auch nach diesem einschneidenden Ereignis haben sehr viele Menschen mit den unterschiedlichsten Methoden und unter großen Opfern erfolgreich die DDR verlassen. Der Druck auf die Regierenden wurde in Folge des Helsinki-Prozesses natürlich immer größer und die Unterdrückungsaufgaben der Staatssicherheit wurden schwieriger. Sie mußten sich auf eine neue Dimensionen einstellen.
Die "offene Grenze" nach Osten wird von Roigk in ihrer wahren Bedeutung erst in den letzten Jahren der DDR bemerkt. In Richtung Osten flossen in der Tat umfangreiche und wichtige volkswirtschaftliche Ressourcen, nicht nur in den ersten Jahren nach Kriegsende als kriegsbedingte Demontagen und Reparationen sowie Lieferungen aus laufender Produktion (Wismut) sondern auch bis zum Ende der DDR als Lieferungen aufgrund von Vereinbarungen im Rahmen des COMECON unter Bedingungen, die Preise von DDR-Exportgütern niedrig und der Importe aus der Sowjetunion in die DDR zunehmend zu Weltmarktpreisen kalkulierte.
Dies hat in seinen Augen die ökonomischen Probleme der DDR nur erschwert. Das kann man nur verstehen, wenn man dahinter das wahre Ausmaß der jahrzehntelang andauernden ökonomischen Ausbeutung erkennt. Mit dem Phänomen der "offenen Grenze" nach Osten verbindet Roigk aber wohl auch den Gedanken, daß die DDR durch die Politik Gorbatschows allein gelassen wurde.
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Roigk beschreibt die Rolle der Hauptabteilung XVIII des MfS mit der Aussage:
Unsere Informationstätigkeit hatte nicht die erhoffte Wirkung. Im gesamten Zeitraum wurden von der Hauptabteilung XVIII mehr als 500 Informationen für die Parteiführung erarbeitet, um auf die tatsächliche Lage in der Volkswirtschaft hinzuweisen. ... Bereits 1980 wurde eine Information dieser Art fertiggestellt und darin prognostiziert, daß bei einer Fortsetzung der von Mittag betriebenen Wirtschaftspolitik der wirtschaftliche Zusammenbruch unausbleiblich ist. Die Verschuldung gegenüber dem Nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet (NSW) hatte zu diesem Zeitpunkt die 20 Mrd. Grenze überschritten. Da ich Mitautor dieser Information war, weiß ich, daß selbst die Führung des eigenen Hauses Zweifel an dieser Aussage hatte.
Natürlich wurden nicht nur Informationen mit diesem umfassenden Charakter erarbeitet. So gab es Informationen über
den technischen Zustand der chemischen Industrie,
die angespannte Lage in der Energiewirtschaft,
schwerwiegende Mängel in der Ersatzteilversorgung für landwirtschaftliche Maschinen,
den technischen Zustand der Schlacht und Kühlhäuser,
Defizite bei der Bekämpfung von Tierseuchen,
Engpässe in der Bevölkerungsversorgung, u.a. bei der Ersatzteilversorgung von Pkw.
Die Themenbreite ließe sich weiter fortsetzen Ich wollte nur beispielhaft darstellen, worüber informiert wurde. Diese Informationstätigkeit erfuhr eine völlig unterschiedliche Bewertung: Für Honecker waren die Informationen "schlimmer als in der Westpresse", während Gerhard Schürer meinte, daß die Leute in der Hauptabteilung XVIII im Schnitt ihr Handwerk verstanden. Was sie zur Krise der DDR-Ökonomie zu sagen hatten, war hart an der Grenze zur Wirklichkeit.
....
Ich darf ohne Übertreibung sagen, daß wir zu gesuchten Ansprechpartnern vieler Funktionäre wurden, die zu uns mehr Vertrauen hatten als zu manchen Mitgliedern der Parteiführung oder des Parteiapparates. Sie hofften, daß ihre Bedenken gegen die Wirtschaftspolitik, ihre Feststellungen über Mißstände in der Volkswirtschaft auf dem "geheimen Kanal" der MfS-Informationen die Parteispitze erreichen würden, ohne Gefahr der persönlichen Diffamierung.5)
5) Hervorhebung durch den Verfasser (OD, 2007: ??)
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Es gab ausreichend Beispiele dafür, daß die Darstellung der realen Situation als Haltung gegen die Parteibeschlüsse ausgelegt wurde; nicht selten war die Ablösung von der Funktion das Ergebnis für das Bemühen, die Wahrheit zu sagen und sich den Realitäten zu stellen.
Ich will kein Verständnis für die Mitarbeiter der Hauptabteilung XVIII erheischen. Tatsache ist, daß sie durch die Kenntnis der Lage in der Volkswirtschaft bzw. auf bestimmten Teilgebieten, für die sie zuständig waren, zunehmend in Konflikt mit der offiziellen Parteipropaganda gerieten.
....
Seit Beginn der achtziger Jahre bestand die Haupttätigkeit der Mitarbeiter der Hauptabteilung XVIII in der Auseinandersetzung mit volkswirtschaftlichen Problemen, nicht in der Aufklärung und Abwehr gegnerischer und krimineller Angriffe gegen die Volkswirtschaft. Die Objektivität gebietet es, darauf hinzuwiesen, daß es in nicht wenigen Fällen gelang, die notwendigen Impulse zu geben, um Mißstände zu beseitigen, Schäden vorbeugend zu verhindern und zumindest für einen begrenzten Zeitraum volkswirtschaftliche Prozesse und Vorhaben zu stabilisieren.Die Zusammenarbeit mit den inoffiziellen Mitarbeitern war entsprechend den sich verändernden Bedingungen von den Prioritäten der zu lösenden Aufgaben bestimmt. Waren es bis Mitte der sechziger Jahre hauptsächlich IM, die in die Bearbeitung von verdächtigten Personen eingeführt werden konnten und die in der Lage waren, zu ihnen vertrauliche Beziehungen herzustellen, wandelte sich die Struktur des IM-Netzes und das Informationsaufkommen der Hauptabteilung XVIII bis zum Zusammenbruch der DDR grundlegend.
Sprunghaft stieg die Zahl der IM, die über die Lage in der Volkswirtschaft sachkundig informieren konnten. In der überwiegenden Mehrzahl waren das Personen, die aus einer inneren Grundüberzeugung heraus, etwas für die Stärkung der DDR zu tun, freiwillig mit dem MfS zusammenarbeiteten, um durch Informationen über Mißstände in der Volkswirtschaft Einfluß auf Entscheidungen mit dem Ziel von Veränderungen zu nehmen. Und es ist auch nicht zu bestreiten, daß der Inhalt dieser inoffiziell erarbeiteten Informationen weitgehend die Interessen, aber auch die Sorgen großer Teile der DDR-Bevölkerung widerspiegelte.
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6)Soweit es die Volkswirtschaft betraf, lag die Hauptursache im Unverständnis von Werktätigen über die sich häufenden Fehlentscheidungen in der Wirtschaftsführung, die sich in letzter Konsequenz bis zum letzten Arbeitsplatz auswirkten.
Aus dem Unverständnis entwickelte sich Widerspruch gegen eine unfähige Führung und der von ihr verursachten irreparablen Mißstände. Darin bestand auch ein wesentlicher Inhalt der Berichte der IM; es gab in weiten Teilen der Bevölkerung Sorgen um die weitere Existenz der DDR und nicht das Bestreben, die DDR zu liquidieren.
Über diese wesentliche Seite der Tätigkeit der IM, in anonymer Interessengleichheit mit großen Teilen der Bevölkerung Mißstände in der Volkswirtschaft aufzudecken und einen Beitrag zu ihrer Überwindung zu leisten, ist in den Veröffentlichungen der Gauck-Behörde nichts zu finden. IM wurde zum Synonym für Bespitzelung, Nötigung, Erpressung und Verrat. Mit solchen festgelegten Klischees — herausgelöst aus allen gesellschaftlichen Zusammenhängen - ist eine sogenannte Aufarbeitung der IM-Tätigkeit nach objektiven Gesichtspunkten nicht möglich.
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So weit dieser Beitrag aus der Sicht eines der Verantwortlichen der Hauptabteilung XVIII. Es soll jetzt nicht im einzelnen auf die vorgebrachten Argumente eingegangen werden, denn das Kernproblem der DDR-Ökonomie ist die ungelöste Frage der Instandhaltung des volkswirtschaftlichen Kapitalstocks in einer mengengesteuerten Wirtschaft.
Auf diesen Zusammenhang wird später ausführlich eingegangen. An dieser Stelle genügt zunächst das Eingeständnis Kleines, daß nach Erkenntnissen des MfS am Ende der DDR-Wirtschaft...
...18 % aller in der Produktion beschäftigten Personen mit Instandhaltungsarbeiten beschäftigt waren. Immer mehr Mittel, die in Rationalisierungsmaßnahmen zur Steigerung der Produktivität fließen sollten, wurden für Einzelteilfertigung und Instandhaltungsleistungen verbraucht. 7)
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6) Roigk, a.a.O.
7) Kleine, zit. nach Seul, a.a.O, S. 582#